Zehntes Kapitel

DIE GRÜNDUNG DER NATURACHSE IM LICHTE DER TRANSZENDENTALEN LOGIK

 
 

In der Lehre von der Abstammung des Menschen aus tierischen Vorfahren spezifischer Art erreicht die Biologie und Abstammungslehre ihren dramatischen Höhepunkt. Man darf nicht vergessen, daß, als sie zum ersten Male unseren Urgroßvätern zu Ohren kam, diese von ernstem Schrecken befallen wurden, denn sie sagten sich: wenn das wahr ist, so steht unser Seelenheil in Frage! Und das ist freilich auch richtig. Seitdem sind hundertfünfzig Jahre vergangen und von Generation zu Generation gewöhnte man sich immer mehr an jene demagogisch andrängende Lehre; bis das heutige Geschlecht schon gar nichts mehr dabei findet, ja stolz darauf ist, es von tierischen Vorfahren her so weit gebracht zu haben, und sich auch von dem wahrhaft apokalyptischen Zustande, in den es dadurch hineingeriet, nicht mahnen läßt. Es hält diesen vielmehr für einen unverkennbaren Beginn des Aufstiegs des Menschengeschlechtes aus eigenen Mitteln. Noch unsere Großväter festigten sich dagegen durch Glauben und religiöse Überzeugung, die ihnen Schutz boten. Beides ist zusammengebrochen. Bleibt nur das Wissen, woran - wenn es will - das kommende Geschlecht sich halten kann. Aber dieses »nur« müssen wir freilich, kaum ausgesprochen, in seiner eigentlichen Bedeutung wieder zurücknehmen. Wissenschaft und Philosophie greifen hier gewaltig ein, um das Menschengeschlecht vor solchen verhängnisvollen Irrtümern zu bewahren.
Sage ich, mit der Wissenschaft: der Mensch kann nicht vom Affen abstammen, weil, nach dem Dolloschen Gesetz, sich spezialisierte Formen nicht zurückbilden, so enthält diese Erkenntnis, so wertvoll sie an sich ist, immerhin noch einen deutlich spürbaren Rest von Unsicherheit: denn das Dollosche Gesetz ist empirisch ohne Notwendigkeit; man könnte sich sehr wohl denken, daß es anders wäre. Sage ich aber: die Vernunft, das Merkmal des Menschen steht zum Verstand, dem Merkmal der Tierheit, in keinem Entwicklungsverhältnis, und weise das nach, so ist das eine transzendentale Überlegung, und dieser hängt Notwendigkeit an. Der Mensch kann nicht vom Tiere abstammen. Ehe man aber von einem Phänomen nicht weiß, warum es notwendig sein muß und nicht anders, hat das Wissen von ihm noch keine transzendentale Basis und bleibt daher »doxa«. Und sage ich nun gar: Vernunft kommt nicht vor, wie die rote Farbe vorkommt, sondern sie gehört zum transzendentalen Subjekt, so ist damit die Achse der Natur berührt; denn ich habe deren subjektiven Pol erwähnt. Mit ihr aber und durch sie weiß ich erst wo alles liegt; nur durch sie entsteht Topographie und Perspektive. Ich sehe die Dinge richtig liegen und mit ihnen die Formen und Kräfte, durch die sie Erfahrung werden.
 

1. KANTS UNBEWUSSTE ARBEIT AN DER ACHSENGRÜNDUNG
Die Achsengründung war, so behaupte ich, der geheime Antrieb, der Kant dazu vermochte, eine Kategorienlehre aufzustellen, freilich eben, ohne diesen Antrieb zu kennen, ja in ständigem Verstoß dagegen. Seine transzendentale Logik aber bekommt erst Gesicht, das heißt Perspektive, wenn man die Naturachse einfügt. Von Aristoteles aber muß man sagen, daß er nur den Namen gab und nichts von einem solchen dunklen Antrieb in sich getragen hat; das kann man an seiner Methode erkennen. Sie ist ein Produkt sammelnder Gelehrsamkeit. In Kant aber steckt eine bestimmte Dynamik: wie ist es möglich - da es doch wirklich ist -, daß etwas so den Dingen Fernes, ja das Allerfernste, wie die Denkgesetze der reinen Logik, zu konstituierenden Prinzipien der anschaulichen Welt werden, die doch in unmittelbarer Dingberührung steht? Wie und wo hakt das ein? Wie ist »Logik der Dinge« möglich? Sollte etwa gar der scholastische Satz richtig sein: per intellectum fit omnia? Denn wenn auch die Vernunft im trügerischen Gebrauch des Menschen (also die »menschliche« Vernunft) in den Jahrtausenden, da wir ihre Tätigkeit beobachten können, Wahngebilde über Wahngebilde aus ihrer eignen Natur heraus hervorgezaubert und Gebäude der Metaphysik und anderer Scheinwissenschaften aufgeführt hat: manchmal ist doch echte Wissenschaft vorgekommen, von deren tiefster Giltigkeit in jede Formation der Dinge hinein wir völlig überzeugt sind. Und diese Überzeugung von der Giltigkeit der Wissenschaft macht allein deren Würde aus und ist damit ein Teil der Würde des Menschengeschlechtes. Wie aber geht das zu an jener entscheidenden Stelle, an der reine Denkgesetze Kategorien werden und damit die anschauliche Welt durchgängig bestimmen? Diesen Ort und diesen Vorgang zu bestimmen, ist Kants tiefste und dämonische Denkertat. So liegt seine Fragestellung, und sie allein ist dynamisch und trifft die Wirklichkeit.
Wie man weiß, legte Kant Wert darauf, im Gegensatz zu Aristoteles seine Kategorientafel nicht »rhapsodisch«, das heißt auf gut Glück, zusammengesucht zu haben, sondern sie einem genialen Einfall (aber das sagt er nicht) zu verdanken, nämlich dem, daß die Kategorien dasselbe in der anschaulichen Welt seien wie die Urteilsformen in der reinen Logik. Der Gedanke ist in der Tat auf den ersten Blick überzeugend in seiner Einfachheit; es fragt sich nur, ob er dem zweiten standhält. Das ändert nichts an seiner Leuchtkraft in statu nascendi, ja an seiner Unvermeidlichkeit; nur scheint mir eben der actus demonstrandi nicht geglückt. Ich vermag es zum Beispiel nicht einzusehen, wie das hypothetische Urteil die Entsprechung für die Kategorie der Kausalität sein soll, nachdem Kant doch in so lichtvoller Weise bei der Unterscheidung von bloßen Wahrnehmungsurteilen und Erfahrungsurteilen gezeigt hat, wie durch den Hinzutritt der Kausalität eben gerade diese Vorwandlung in ein Erfahrungsurteil zustande kommt. Sage ich, meint KANT: »Wenn die Sonne scheint, wird der Stein warm«, so habe ich damit nur eine Wahrnehmung ausgesprochen in der Form des hypothetischen Urteiles; ich kann den Satz auch umkehren und sagen: »Wenn der Stein warm wird, scheint manchmal die Sonne«. Alle rein logischen Urteile kann ich auch umkehren, ich muß nur das Gesetz der Umkehrung universaler Urteile befolgen, die allemal dadurch partikular werden; daher in unserem Falle das »manchmal«. Sage ich dagegen. »Die Sonne erwärmt den Stein«, so habe ich die Sonne zur Ursache und die Erwärmung zur Wirkung gemacht, das Band der Notwendigkeit hergestellt und dadurch ein Erfahrungsurteil gewonnen, das seine tiefere Begründung nun in der Wissenschaft finden kann. Diesen Satz kann ich nicht umkehren, weil die Dinge selbst diese Reihenfolge bestimmen und keine andere. Also gerade anstelle des bloß hypothetischen Urteiles tritt das Gesetz der Kausalität; sie ist ihm gegenüber etwas Neues. Die wirkliche Entsprechung aber liegt zwischen dem Satz vom zureichenden Grunde des Erkennens (ratio cognoscendi), der ein Denkgesetz ist und überall in der reinen Logik gilt, und der Kausalität (causa fiendi), welche die zugehörige Kategorie ist. Die innere Verhakung aber der beiden ist das eigentliche Thema der Kategorienlehre. Hier hilft, um es anschaulich zu machen, wieder das Bild der arabischen »8«, bei der sich der obere logische Teil in den unteren realen am Kreuzungspunkte verhakt. An ihm wird das Denkgesetz des Satzes vom Grunde transzendental.
Ich möchte nun durchaus der Versuchung widerstehen, im einzelnen abzuhandeln, wie und wo Kant sich hier vergriff; denn wir stießen damit in ein wahres Wespennest der Kantscholastik. Kants großes Verdienst bleibt, als erster und auch heute fast noch als einziger das Problem überhaupt erst gesehen zu haben. Wenn er in der Darstellung scheiterte, so spricht das nicht gegen ihn und niemand, der im einzelnen gegen ihn recht haben möge, hat es damit im ganzen; denn Philosophie strömt nicht von Buch zu Buch, sondern wird inkarniert. Man hätte natürlich erwartet, daß er, seiner sonstigen Genauigkeit gemäß, gerade hier im einzelnen durchgeführt hätte, wie jede der zwölf Urteilsformen sich in eine Kategorie verwandelt. Indessen, wir werden hier von ihm im Stich gelassen und starren ratlos auf die beiden großen Tafeln. »Wieso denn eigentlich?« fragen wir.
Nur zwei Kategorien habe es vermocht, ihre bevorrechtigten Forderungen bei ihm durchzusetzen : die Kausalität und die der Substanz. Die Kausalität ist die große Kategorie der Wissenschaft, aber auch der Ethik. Hinter der Substanz steckt noch anderes; Schopenhauer meint, sie sei »im Grunde« dasselbe wie die Materie, Kant hält beide nicht genügend auseinander; es sind zwei völlig verschiedene Begriffe. Substanz ist ein reiner Verstandesbegriff, und an ihr kann man sehr deutlich die Entsprechung zur reinen Logik erweisen: sie entspricht nämlich dem Verhältnis vom grammatischen Subjekt zum Prädikat in einem assertorischen Urteil. Ich kann nur nicht finden, daß sie einer der zwölf Urteilsformen selber entspricht. Wenn ich eine Reihe von Aussagen über einen und denselben Gegenstand mache, die eine Veränderung an ihm betreffen, so kann ich das nur, weil ich vorher (a priori) die Kategorie der Beharrlichkeit, also der Substanz angewandt habe. Ich sage über einen Baum im Laufe eines Jahres lauter verschiedene Wahrnehmungsurteile aus, die aber immer den Begriff Baum als Subjekt haben und zugleich damit die Beharrung des Gegenstandes gegenüber seinen wechselnden Qualitäten behaupten. Die Substanz wird niemals Prädikat, sie dauert vielmehr als ständiges Subjekt gegenüber allen nur möglichen Prädikaten durch. Ohne sie kann ich von keiner Veränderung an einem Gegenstande reden. Diese Beharrung hat nun gar nichts mit der Konstanz der Materie oder der Erhaltung der Energie zu tun; jene werden gewogen oder gemessen, diese gedacht. Man wir auch sofort heraushören, daß von etwas ganz anderm die Rede ist, wenn ich sage »die Substanz des Baumes« oder »die Materie des Baumes«. Von der Substanz des Baumes kann ich nur gerade eben solange reden, als das Subjekt als geformter Gegenstand da ist; solange also wie der Baum noch nicht völlig verfault und in Humus übergegangen ist, kann ich von ihm, also auch von seiner Substanz reden. Von dem Augenblicke an, da er seine Form an die Materie zurückgegeben hat, greift eben sie ein, die keine Kategorie ist, sondern als »allgemeiner Gegenstand der Empfindung« das Element der Schwere, der Unzerstörbarkeit und Undurchdringlichkeit als Prädikabilien enthält.
Jener Schwierigkeit aber, zu deren Behebung sich KANT so ausschweifende Mühe gegeben hat, nämlich der Frage: »Wie ist es möglich (da es doch wirklich ist), daß unser Denken Gesetz für die Erfahrung wird?«, was er also die »transzendentale Deduktion der Kategorien« nannte, jener Schwierigkeit kann man auf leichtere Weise begegnen, indem man sagt: die Natur selber hat den Intellekt in zwei Aggregatzustände gespalten und durch diese Verflüssigung des Verstandes im Intellekt den Erkenntnisprozeß ihrer selbst als Erscheinung eingeleitet. Es ist daher wohl ein unfaßliches Wunder, daß es so ist; aber es ist kein Rätsel mehr, daß gewisse Gebiete der reinen Logik jenen Stammbegriffen der anschaulichen Welt genau entsprechen. Denn sie sind ja aus demselben Material, dem Intellekt, gemacht, »durch den alles geschieht«. Wie sollte es da anders sein? - Aber man darf freilich nicht so verfahren, wie Kant und Schopenhauer - sonst sieht man es nämlich nicht -, daß man Verstand und Vernunft, der eine richtig, der andere falsch, bloß begrifflich trennt und auf dem Papier nebeneinander hinschreibt; sondern man muß zeigen, welches von den beiden den Dingen näher steht - was natürlich nur bei der richtigen Trennung Schopenhauers geht -, welches von beiden voller gesogen ist von der Substanz der Dinge. Nur so entsteht ein gerichtetes, ja aufgerichtetes Bild der Welt mit einer Achse der Natur.
 

2. SCHOPENHAUERS VERDIENST UM DIE LOGIK
Hier treffen wir unmittelbar auf Schopenhauers großes Verdienst um die Ordnung des Intellektes: seine Trennung von Verstand und Vernunft. Es ist begreiflich und zu billigen, wenn die akademische Philosophie der Seminare und Dissertationen Schopenhauers Pessimismus nicht mitmacht, weil das seine Sache ist, nicht die der Philosophie; es ist auch zu billigen, wenn sie seine Anwartschaft, Kants eigentlicher Schüler zu sein ablehnt, einfach deshalb, weil dieser Anspruch verfehlt ist. Aber es ist unbegreiflich, daß man dasselbe auch mit jener Trennung tut, hinter der offensichtlich der Stempel der Natur steht; denn erst nach ihr kann man zupacken und greift nicht ewig ins Leere. Zudem ist das alles so vorzüglich geschrieben, daß es schwer fällt, davon zu berichten; denn man kann es allemal nur schlechter. Die Hauptstellen darüber befinden sich in der »Vierfachen Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«, und zwar in dem Abschnitt »Der Verstand«; ferner im ersten Kapitel »Das Sehen« in der Farbenlehre, aber auch sonst allenthalben verstreut in seinen Werken; denn er kommt immer wieder auf dieses wichtige Grundthema zurück.
Ein Sinneseindruck, z. B. des Auges - meint Schopenhauer -, ist zunächst nichts anderes als ein Reizzustand der Retina, der nur Bezug auf den Willen hat, sofern er angenehm oder unangenehm ist, und von dem auch noch gar nicht ausgemacht werden kann, ob er endogener Natur sei oder von außen kommt. Erst dadurch, daß dieser Reiz als Wirkung aufgefaßt wird, dem ein Gegenstand außerhalb als Ursache korrespondieren muß, erst dadurch entsteht die objektive Außenwelt der Wahrnehmung. Das geschieht aber nicht vermittels des Satzes vom Grunde, indem diskursiv, abstrakt mit der Vernunft geschlossen wird, sondern unmittelbar ohne Worte durch den Verstand, der so handelt, als ob er schlösse. Wir sehen hier ganz handgreiflich das Spiel zwischen Denkgesetz und Kategorie, wobei die Kategorie sich durchsetzt. Die Kausalität ist daher ständig am Werke und beginnt schon im bloßen Akte der Wahrnehmung von etwas außer mir. Als schönes Beispiel gibt Schopenhauer das Verhalten des menschlichen Säuglings, der in den ersten Monaten seines Daseins nur Sinneseindrücke empfängt und die Augen passiv je nach der Richtung ihres Einfallens spielen läßt. Doch eines Tages fixiert er: er hat jene sonderbaren Reize als Boten von äußeren Gegenständen verstanden; sein Verstand (nicht seine Vernunft) ist erwacht, und er lächelt das erste Mal ob dieses siegreichen Gelingens. Hier schließen sich nun Schopenhauers völlig überzeugende Theorien an über das Aufrechtstellen des umgekehrten Netzhautbildes, das Einfachsehen trotz doppelten Bildes, das stereoskopische Sehen trotz planimetrischer Eindrücke, ferner die über die Sinnestäuschungen, vor allem die scheinbare Vergrößerung des Mondes am Horizont, welches alles durchweg als Aktion des Verstandes erklärt wird unter Ausschluß aller physiologischen Begründungen. »Die reine Intellektualität der Sache, mit Ausschließung aller anderweitigen, namentlich physiologischen Erklärungsgründe, läßt sich auch noch dadurch bestätigen, daß, wen man den Kopf zwischen die Beine steckt oder am Abhange, den Kopf nach unten, liegt, man dennoch die Dinge nicht verkehrt, sondern ganz richtig erblickt, obwohl den Teil der Retina, welchen gewöhnlich das Untere der Dinge traf, jetzt das Obere trifft, und alles umgekehrt ist, nur der Verstand nicht« (Sperrung von mir). Man kann wohl sagen: SCHOPENHAUER hat all diese Fragen einfach gelöst; sie stehen aber noch heute als »Frage« und »Rätsel« in allen Lehrbüchern der Physiologie der Sinnesorgane.
Besonders schön kommt die Aufspaltung von Verstand und Vernunft bei Gleichheit ihres intellektuellen Wesens dort zutage, wo er sagt: Die Vernunft, die eine Sinnestäuschung klar als solche erkennt, überzeugt doch den Verstand nicht, der hartnäckig bei seinem einmal gefaßten Urteil bleibt und den Mond über dem Horizont weiterhin zu groß erscheinen läßt. Vernunft kann nur Vernunft überzeugen; der Verstand bleibt beharrlich in seiner Position. Er macht Fehlschlüsse, die man »Schein« nennt; die Fehlschlüsse der Vernunft aber heißen »Irrtum«.
Das ist bei Schopenhauer alles mit solcher Klarheit gefaßt, daß im wesentlichen nichts hinzugefügt werden kann und es das volle Entzücken jedes erregt, der es liest. Freilich drängt sich immer wieder zwischendurch die Tendenz hervor, die Außenwelt zu bagatellisieren, ihr den unverbrüchlichen Objektcharakter zu nehmen und sie als ein »Produkt« des Verstandes darzustellen; Worte wie »Gehirnphänomen« dürften eigentlich nicht fallen, auch »Werk des Verstandes« ist nicht treffend; denn allemal fällt dem Verstande nur eine deutende, nie aber eine schaffende Rolle zu, und immer kommt das Objekt selber vollgiltig von außen. Hier wird nicht projiziert, sondern verstanden. Besonders aber ist es eine Überschätzung der Funktion des reinen Verstandesbegriffes, wenn SCHOPENHAUER ihm zutraut, daß er »nach erlangter Übung die Gestalt (Sperrung von mir), Größe, Entfernung und Beschaffenheit der Körper konstruiert und sogleich anschaulich darstellt« (S. 54 der zweiten Auflage). Wiederholt behauptet er, dieser sein Verstand, dessen alleinige Funktion das Gesetz der Kausalität sei, »konstruiere die Gestalt« eines Gegenstandes. »Aus dem Geruch können wir nie die Rose konstruieren«, meint er Seite 53, wohl aber an Hand des Gesichtes durch den Verstand - Es ist nahezu unbegreiflich, daß solch ein klarer Augenmensch wie Schopenhauer, der einen präzisen Sinn für das Ursprüngliche der Gestalt hat, der das Dritte Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« über die platonische Idee geschrieben hat, wie solch ein Mensch behaupten kann: aus optischen Eindrücken könne das bloße Gesetz der Kausalität, also der Verstand, eine Rose, das heißt also eine spezifische Naturgestalt »konstruieren«! Das ist eine unvollziehbare Vorstellung ähnlich der Entstehung eines Organismus aus Urgallerte und äußerer Einwirkung. Wir stecken hier tief in den Absurditäten des »deutschen Idealismus«, der Intellekt-Funktionen für Ideen hielt, und es wird höchste Zeit, dem echten, dem platonischen, wieder das Wort zu geben. Denn Schopenhauer mit seinem gestaltenschaffenden Verstande hat falsche Stromrichtung.
 

3. DIE ENTDECKUNG DES EMPIRISCHEN BEGRIFFES DURCH SOKRATES
Das Gespräch zwischen Sokrates und Theätet war an der Stelle ins Stocken geraten, an der es sich um die Möglichkeit »falscher« Vorstellungen« handelte, die doch unmöglich wären, wenn Erkenntnis nichts anderes sei als Empfindung ((aisthsis)). Nun sind diese falschen Vorstellungen aber wirklich, das bezweifle niemand, und also könne jene These nicht stimmen. SOKRATES will dem ratlos gewordenen Theätet auf die Sprünge helfen und ihm klarmachen, daß eine falsche Vorstellung nur durch ein begriffliches Element möglich sei, das selber niemals bloße Empfindung sein könne, gerade deshalb aber Maßstab. Und er kommt ihm mit dem weltberühmten Gleichnis von der »wächsernen Tafel« ((khrinon ekmageion)) zu Hilfe, die man später auch die tabula rasa genannt hat, indem er sagt:
»Denke dir denn der Untersuchung wegen, es sei in unserer Seele eine wächserne Tafel, bei dem einen größer, bei dem andern kleiner, bei dem einen von reinerem, bei dem andern von schmutzigerem, bei manchen von härterem, bei manchen von weicherem Wachs, bei manchen aber auch im Mittelmaß. Sie sei also, wollen wir sagen, ein Geschenk der Mutter der Musen, der Mnemosyne, und auf ihr präge sich ab ((apotupousthai)), was wir in unserem Gedächtnis behalten wollen von Dingen, die wir gesehen, gehört oder selbst gedacht haben, indem wir sie der Einwirkung der Empfindungen und Gedanken hingeben, gerade wie wenn man mit Siegelringen Siegel irgendwo einprägt ((osper daktulion shmeia eshmainomenous)). Und was sich da ausgeprägt hat, dessen erinnerten wir uns und wüßten es, solange das Abbild davon da wäre ((to eidolon auton)). Was aber verwischt wird oder nicht imstande ist sich auszuprägen, das komme in Vergessenheit, und wir wissen es nicht.« (PLATON, Theätet, Steph. 191.)
Diese »Abdrücke« nun haben in dem folgenden die charakteristischen Bezeichnungen: ((shmeia, mnhmeia, tupos)), und Sokrates will natürlich hier auf jenes begriffliche Element hinaus, das erst einmal da sein muß, um überhaupt die Möglichkeit einer »falschen Vorstellung« und einer »Verwechselung« zu geben. Das eben leistet nur der empirische Begriff, der exakt ist, daß man von richtig und falsch reden kann. Hier liegt das Anliegen des SOKRATES und zugleich seine Entdeckung. »Nicht wahr, indem ich den Theodoros kenne und seines ƒußeren in meinem Innern mich erinnere, und ebenfalls den Theaitetos, sehe ich sie doch bisweilen, bisweilen auch nicht, betaste sie manchmal, manchmal auch nicht, höre sie oder mache irgend eine andere Wahrnehmung von ihnen, manchmal aber habe ich gar keine Wahrnehmung von euch, erinnere mich jedoch eurer nichtsdestoweniger und bin mir dessen in mir bewußt?« Dieses Sicherinnernkönnen ist das begriffliche Element im Erkenntnisprozeß, das nicht aus den Sinnen stammt und durch dessen Dasein »falsche Vorstellungen« überhaupt erst möglich werden, aber auch, und das ist seine Funktion, jede Verwechslung ausgeschlossen werden kann.
Es fragt sich nun, welcher Herkunft ist dieses begriffliche Element, das wir die exakte Signatur der Dinge nannten? Es fehlt ja im platonischen Denken noch der Begriff des Transzendentalen, und die Sache sieht so aus, als kämen jene Eindrücke, genannt »typoi«, von den empirischen Dingen, und die wächserne Tafel hätte die Funktion einer photographischen Platte. Aber so ist es nicht gemeint; denn eine Reihe von Abdrücken hintereinander würde immer nur ƒhnlichkeit - approximativ - ergeben, nie aber exakte Signatur, nie Begriff. Das, was KANT das »Verbundensein im Objekt« nennt, die »Giltigkeit«, das käme nie heraus. Die wächserne Tafel erweckt noch den Anschein der Passivität, während in Wirklichkeit von ihr aus, wenn man das transzendentale Subjekt hinter ihr lauernd sich vorstellt, ein aktiver Zugriff erfolgt, der die Allgiltigkeit der typoi zur Wirkung hat und sie der Logik einverleibt; das wäre KANTs »Produktivität des Verstandes«. Der Typus muß also aus der Tiefe des Archetypus stammen, dann hat er transzendentale Befugnis, dann wurzelt er im Objekt, dann ist er gesichert. Und so hat es Sokrates zweifellos auch gemeint; denn nur das ist empirischer Begriff, was die Idee zum Hintergrunde und Achsenpartner hat; und nur deshalb gibt es Wahrheit, weil der Begriff aus diesem Reiche stammt. An diese Stelle kommt unser wichtiger Satz zu stehen, den ich wiederhole: Die platonische Idee hat die doppelte Funktion: sie sichert den Bestand und das wirkliche Dasein der empirischen Dinge; durch sie allein wird der Kiefer ihre Existenz als Kiefer verbürgt für alle Zeit; zugleich aber schafft sie allein den empirischen Begriff im Intellekt am andern Achsenpol.
Schopenhauers »Rose« aber wird keineswegs durch Sinneseindrücke des Auges und kausalen Verstand »konstruiert«, sondern durch jenen Abdruck, der gleich als ein Ganzes von der platonischen Idee der Rose her im Intellekt auftritt und ihm aufgenötigt wird. Alles, was Gestalt ist, wird, über das Bild hinweg, dem Verstande schlechterdings gegeben; hier steckt auch nicht der leiseste Schluß darin. Ein Maler, der das liest, wird mir ohne weiteres recht geben; die Denker aber müssen vorher erst kuriert werden, damit sie endlich lernen die Augen aufzutun.
So aber muß man aus einzelnen Fragmenten die platonische Ideenlehre wiederherstellen, um genau zu wissen, was Platon damit hat meinen müssen, wenn er auch anders und verworren darüber spricht. In dieser Theätet-Stelle tritt sie am klarsten zutage, und von ihr kann er nicht mehr zurück. »Typos« heißt »Aufschlag« - wir fragen: Aufschlag von was ...? Und müssen antworten: nicht von den empirischen Dingen - denn das gäbe nur ƒhnlichkeit -, sondern durch sie hindurch schlägt aus der Tiefe der Natur her der »Archetypus« an, der das »eigentliche Sein« des Dinges ist, und dadurch allein bekommt der Aufschlag in der wächsernen Tafel transzendentalen Rang: er ist der Begriff ((eidos, orismos)) des Dinges und hat die Art einer exakten Signatur; richtig gebraucht aber hat er die Fähigkeit, etwas vom Wesen selber her auszusagen ((idea, ousia)), eben, weil er davon stammt. Die Idee selbst aber ist metaphysisch, und von ihr kann man nichts aussagen, außer daß sie mit Notwendigkeit existiert.
Schopenhauers sonst richtig gefundenem Begriff vom Verstande aber muß, damit er vollständig werden und nicht hinke, eben noch die Funktion hinzugefügt werden, den aus dem archetypischen Arsenal der Natur heraufkommenden Ideenkräften begriffliche Festigung zu geben, so daß sie nunmehr als empirische Begriffe konkret in der anschaulichen Welt auftreten können und gleich darauf abstrakt in der begrifflichen. Die spezifische Gestalt der Rose aber trägt autonomen Charakter und läßt sich nicht aus der Sinnesempfindung und der Kategorie der Kausalität ableiten. Erst hier kann man eigentlich in der Erkenntnistheorie von »Idealismus« reden; denn hier tritt eine wirkliche archetypische Idee auf. Der ganze Verstand aber ist , wie wir schon früher erfuhren, stets sprungbereit für die Abstraktion, das heißt für die Vorstellung in Vernunft durch bloßen Übertritt in den zweiten Aggregatzustand des Intellektes. Da wird denn aus dem konkreten - mit der anschaulichen Welt »zusammengewachsenen« - Begriff der Rose, der an ihr Bild gebunden ist und den man nicht bemerkt, der abstrakte («abgezogene«), mit dem man denkt; und aus der Kategorie der Kausalität, die gleichfalls unbewußt ist , wird das Denkgesetz des Satzes vom Grunde, der es niemals ist. Und so erhalten wir auf eine einfache Weise die Deduktion der Kategorien, wenn man den Weg nicht, wie Kant das tut, von der Vernunft zum Verstande, sondern umgekehrt vom Verstande zur Vernunft begeht.
 

4. DAS PHƒNOMEN DER »AGNOSIE«
UND SEINE ERKENNTNISTHEORETISCHE BEDEUTUNG
SCHOPENHAUER schreibt Seite 57 des »Satzes vom Grunde« (zweite Auflage): »Denn, was beim Sehen die Empfindung liefert, ist nichts weiter als eine mannigfaltige Affektion der Retina, ganz ähnlich dem Anblick einer Palette, mit vielerlei bunten Farbenklexen: und nicht mehr als dies ist es, was im Bewußtsein übrig bleiben würde, wenn man dem, der vor einer ausgebreiteten reichen Aussicht steht, etwa durch Lähmung des Gehirns plötzlich den Verstand ganz entziehen, jedoch die Empfindung übriglassen könnte: denn dies war der rohe Stoff, aus welchem vorhin sein Verstand jene Anschauung schuf.«
Dieses gedankliche Experiment ist hundert Jahre später durch praktische Fälle bestätigt worden, die in der Medizin den Namen »Agnosie« tragen; sie entstehen durch Schußverletzung und stets zufällig. - Ein mir befreundeter Arzt erzählte mir, daß er vor kurzem einem alten Kriegskameraden begegnet sei, der ihn auf den ersten Anhieb nicht recht habe erkennen wollen. Er fragte ihn daher erstaunt: »Kennst du mich denn nicht mehr ... ?« »Ja, jetzt doch«, erwiderte jener, »aber du mußt wissen: ich bin blind.« Da indessen die Augen ganz ungetrübt aussahen und jenen hilflosen Blick der Blinden vermissen ließen, so fragte mein Bekannter weiter und bekam die Auskunft: ein Schuß quer durch die Unterseite des Gehirnes habe auf beiden Seiten gewisse Zentren am Ende des nervus opticus zerstört, so daß er zwar die Licht- und Farbeindrücke habe, sie aber nicht verstehe; so erkenne er von ihm, seinem Freunde, rein gar nichts, sondern habe nur vage Empfindungen von hellen und dunklen Flecken. Daß er Dr. B. sei, das schlösse er aus der Stimme.« - Das ist also ganz genau der von Schopenhauer theoretisch beschriebene Fall: dem Verwundeten ist der Verstand des Auges fortgeschossen worden; die Vernunft blieb voll erhalten. Und zwar erfahren wir hier durch das Experiment, daß offenbar jedes Sinnesorgan seinen eignen Verstand hat; denn mit dem Ohr hört er ja artikulierte Laute, die er als Worte versteht. Genau so also wie bei dem früher erwähnten Tierexperiment von Flourens durch Exstirpation gewisser Hirnlappen die besondere Lokalisierung der Sinnesempfindung gegenüber dem Intellekt bewiesen wurde, so hier noch einmal die Trennung des Intellektes in Verstand und Vernunft durch besondere Zentren. - Wenn daher so die Natur mit ihren kräftigsten Mitteln darlegt, wie sie es zu halten wünscht, und wenn sie es so deutlich sagt, daß Sinnesempfindung, Verstand und Vernunft drei völlig klar geschiedene Dinge sind: so darf die Philosophie nicht so tun, als wisse sie es besser und könne ex cathedra erklären: »Verstand ist das Vermögen der Regeln« (KANT), »Vernunft ist das Vermögen der Ideen« (KANT) usw. Schopenhauers bedeutender Blick aber hat hier den Sieg davon getragen, und das bleibt sein unsterbliches Verdienst.
 

5. KANTS LEHRE VOM »SCHEMA« DER DINGE
Indessen, auch Kants begrifflich getrübte Einsicht hat hier ein Wort mitzureden, das aber freilich haarscharf an einer sich eben meldenden Achsengründung vorbeigeht. Ich meine das seltsame Kapitel über die »transzendentale Urteilskraft« und den »Schematismus« der reinen Verstandesbegriffe in der »Kritik der reinen Vernunft«. Es ist ein schnell wieder von ihm verlassenes Thema, wie als ob ihm dabei unheimlich zumute geworden wäre. Man muß diese Seiten, wie so oft bei ihm, mehr mit einer Art Gedankenlesekunst in sich aufnehmen als in achtsamem Verfolg von Satz zu Satz, wie es die notorischen Kant-Scholastiker tun. Ich komme dabei zu folgender Auffassung: alles, was vor und nach diesem Kapitel in der K.R.V. steht, beschäftigt sich mit Formen des Intellektes und der Sinnlichkeit, über die ein jeder ohne weiteres verfügt ohne daß er es zu wissen braucht. Auf einmal aber stoßen wir auf diese »Urteilskraft«, von der Kant ausdrücklich sagt, daß sie nicht jedermann habe, daß sie eine Art »Mutterwitz« sei, über den der eine verfüge und der andere nicht. Was soll das in der »Kritik der reinen Vernunft«? Wie kommt auf einmal dieses: »Hic Rhodus, hic salta!« hinein? Für einen kurzen Moment befinden wir uns in einem Kraftbereich der Erkenntnis, und es ist aus mit den reinen Formen. Welcher verständige Leser hat je diese Seiten überflogen, ohne nicht zu sagen: »Uff!«? Ich glaube, alle, denn sonst hätte sich schon früher jenes erstaunte Gefühl der Beklommenheit geltend gemacht, das uns hier ergreift. Für uns erhebt sich gleich die Frage: Woher stammt diese »Kraft«, die sich in dem Worte »Urteilskraft« meldet? Sie ist nämlich hier kein bloßes Wort wie etwa in Einbildungskraft«, die mit sich selber spielt, ohne wirklich Kraft zu sein. Die Urteilskraft dagegen ist eine wirkliche Kraft; denn sie hat die gar nicht leichte Aufgabe, den Akt der Subsumtion zu vollziehen, an dem im kritischen Falle, oft alles hängt. Ich will es vorwegnehmen und sagen, was ich darüber denke: diese echte Kraft muß von den Objekten stammen und zum Subjekte hinführen und hat in diesem ganzen Gebäude von reinen Formen des Intellektes und der Sinnlichkeit nichts zu suchen. Sie springt heraus, aber sie springt in Richtung der Achse der Natur. Und, um diesem Gedanken auszuweichen, hat Kant schnell wieder die Akten über sie geschlossen. Er hat einen wahren horror vor einem echten Weltbild, das Perspektive hat. Dann aber läßt es ihm keine Ruhe, und er schreibt ein neues Buch, das der ästhetischen und teleologischen Urteilskraft gewidmet ist: spezialisierten Formen der ursprünglich transzendentalen; auch eine moralische gibt es noch, wie wir früher sahen.
Das alles also ist Kraft und nicht Intellekt, kommt vom Objekte und stößt in Richtung auf das Subjekt zu - nicht umgekehrt -, trifft einzelne und nicht alle. Hier hat das kantische Weltbild einen Sprung; aber man bekommt durch ihn einen Blick nach außen, dem Objekte zu.
Es geht nun weiter: Subsumtionen gibt es zweierlei, die eine von einem empirischen Begriff unter einen andern; die zweite von einem empirischen unter einen reinen Verstandesbegriff. Da bei dieser zweiten nun die beiden Faktoren keinerlei ƒhnlichkeit miteinander haben, so muß, damit die Subsumtion vollziehbar wird, es etwas Drittes geben, über das hinweg sie sich vollziehen kann. »Nun ist es klar, daß es ein Drittes geben müsse, was einerseits mit der Kategorie, andererseits mit der Erscheinung in Gleichartigkeit stehen muß und die Anwendung der ersteren auf die letze möglich macht. Diese vermittelnde Vorstellung muß rein (ohne alles Empirische) und doch einerseits intellektuell, andererseits sinnlich seyn. Eine solche ist das transzendentale Schema« (K.R.V., S. 177, 2. Aufl.).
Es ist der »sinnliche Begriff eines Gegenstandes« - also eigentlich ein Widerspruch in sich selbst - und ein rätselvolles Gebilde: Durch das Schema wird das platonische Wort »eidos« noch einmal kurz bestrahlt, das ja auch halb Bild, also sinnlich, halb Begriff, also intellektuell ist, und man merkt hier, daß Kant für einen Augenblick den Erkenntnisprozeß gesehen hat, nämlich das Sich-Abheben des Begriffes vom empirischen Gegenstande. Das Schema liegt gerade genau an der Stelle, die den Ort der Entstehung des Begriffes bezeichnet; hier schiebt es sich ein, wie als ob die Natur für einen Augenblick ihren Gang von der Idee zum Begriff- wohl ein schmerzlicher - hemmen wollte, um schnell, ehe der Weg zur Abstraktion mit Riesenschritten begangen wird, den paradiesischen Vorrang der anschaulichen Welt noch einmal zu sichern.
Ich glaube nun, um das Ergebnis vorwegzunehmen, nicht, daß es Schemata von reinen Verstandesbegriffen gibt, sondern nur von empirischen Dingen. Diese aber muß man zu den großen Entdeckungen Kants rechnen; denn niemand vor ihm hat sie gesehen. Es gibt ja auch keine Ideen von Kategorien., sondern nur von Naturgeschöpfen, und zwar aus dem gleichen Grund. Ich vermag nicht einzusehen, wozu sich ein solches Schema beim Akte der gewöhnlichen Subsumtion dazwischenschalten sollte: es ist gar kein Patz da. Wenn es regnet, so ist hier in der anschaulichen Welt der empirische Vorgang ohne weiteres von der Natur - die sich in einem ständigen Erkenntnisprozeß befindet - unter das Gesetz der Kausalität und der Substanz sowie der anderen Kategorien gestellt, sonst verstünde ich den Vorgang nicht. Die Natur subsumiert von allein. Sage ich nun in einem Urteil: »Die Regentropfen fallen wegen ihrer Schwere zur Erde« und subsumiere damit die Tropfen gedanklich unter die Kausalität, so geschieht das gleichfalls ohne Zwischenglied, nur habe ich anstelle des konkreten Begriffes Tropfen den abstrakten benutzt und den - gleichfalls abstrakten - Wissenschaftsbegriff der Schwere hinzugefügt. Auch hier ist kein Raum für ein Schema. Und wenn man sich KANTs »Schemata der reinen Verstandesbegriffe« bei Licht besieht, so, finde ich, sind das nichts weiter als deren Definitionen, erzielt durch analytische Urteile, z. B. »Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit« usw.
Aber: als ISAAK NEWTON zum ersten Male sagte: »Die Tropfen fallen durch ihre Schwere zur Erde« und dabei mitdachte, daß der Mond dieser selben Schwere unterliegt, aber nicht fällt, da war das Schema der Schwere mit im Spiel. Indessen, diese Subsumtion war keine von einem empirischen Gegenstande unter eine Kategorie, sondern es war eine paradoxe zwischen zwei empirischen mit genialem Inhalt. Ich meine die gewöhnliche irdische Schwere und die Gravitation, die auch empirisch ist, aber zugleich transzendental.
KANT hatte also durchaus die rechte Witterung, nur bezog er sie falsch; und sie kommt durch seine späteren Worte klar und schön zum Ausdruck, wenn er schreibt: »Dieser Schematismus unseres Vertandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele (Sperrung von mir), deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen, und sie unverdeckt vor Augen legen werden. So viel können wir nur sagen: das Bild ist ein Produkt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Produkt und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori ..« (K.V.R. S. 181, 2. Aufl.). Es müßte natürlich heißen: »Monogramm der Natur in der reinen Einbildungskraft a priori« entsprechend den »wahren Handgriffen der Natur«. Aber davor scheut sich Kant; denn er will »subjektivisch« bleiben und das Gitter nicht durchbrechen, das sein Charakter ihm auferlegt. Indessen, er hat sich bereits verraten; denn, wenn er hier von »Natur« spricht, so meint er ganz etwas anderes als sonst, nämlich nicht das »Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«, sondern die richtige Natur, so wie wir sie hier auch meinen, die natura naturans. Wer spürte sie nicht wirklich an dem ihr aufgenötigten Erkenntnisprozeß arbeiten, wenn man solche Worte, wie die vom »Monogramm« und den »wahren Handgriffen« liest ...! Sie hat es mit ihrer Achse zu tun, die ihr Schicksal ist.
Das Dasein der Schemata empirischer Dinge kann man durch empirisches Experiment beweisen, das von reinen Verstandesbegriffen nicht. Man könnte, als eine Art Wettbewerb, siebzig Zeichnern - um die gewohnte Zahl zu wahren - den Auftrag geben, mit so wenig Strichen wie möglich das Charakteristische eines Tieres wiederzugeben, das jedermann als einen Hund ansprechen müßte, und zwar möglichst so, daß man nicht die besondere Rasse, noch gar ein einzelnes Individuum, sondern nur den Hund überhaupt wiedererkenne. Jeder dieser Zeichner wird unbedingt anerkennen, daß so etwas zu machen gehe und daß es nur auf die Begabung ankommt, wer von ihnen sich der Forderung am meisten nähert. Alle werden irgend etwas davon erfüllen, einer sicher wird den Preis davontragen. Und wenn man sie fragt, ob das, was da auf dem Papier steht, erfunden ist, so wie man eine Fabrikmarke erfindet, oder ob die Natur des Hundes hier Modell gestanden und mitgearbeitet hat, so werden sie alle miteinander dieses zweite sagen; denn sie sind ja Künstler. Diese Schemata des Hundes kommen vom Hunde selbst und lagern sich in der Urteilskraft, die hier auf einmal zugleich ästhetische und teleologische wird, ab. Das Schema eines Dinges ist sein charakteristisches Imaginationsminimum: ein Strich zu wenig, und man sieht nicht mehr, daß es ein Hund ist; ein Strich zu viel, und es ist schon Bild geworden. Wer unter den Siebzig genau diese Grenze getroffen hat, dem gebührt der Preis. Um aber das Wort richtig zu verstehen, muß man eigentlich Griechisch können; denn als deutsches Fremdwort ist es verballhornt. Im Griechischen heißt es soviel wie »die typische Art, sich zu halten« (?xv-sxhsv), lateinisch genau wörtlich »habitus«. Auf dem Schema beruht, ästhetisch genommen, die Kunst der Karikatur. Jedermann kennt jene humoristische Studie, die Wilhelm Busch, der seine ganze Kunst aus dem Schema bezog, von Schopenhauer gemacht hat: man sieht da den alten Herrn von hinten mit seinem großen Schlapphut in der Hand und seinem Pudel Atman spazierengehen, und es ist an dieser Skizze so wenig wie möglich an Strichen verschwendet. Während die übrige Malerei auf dem vollen Bilde beruht, hat die Karikatur ihre Basis auf dem Schema; das ist ihr Reiz und ihr Geheimnis. - Aber ich finde auch sonst in der bildenden Kunst Verwendungen dieser Art, schematisch-schemenhaft zu sehen. So besitze ich von dem verstorbenen Maler WALT LAURENT einen Zyklus Schwarzweißzeichnungen mit dem Titel »Von Mann und Weib«, worin das Aufeinanderwirken der beiden Substanzen (nicht der »Materien«) in der Natur in eben dieser schemenhaften Manier, aber doch schon stark nach dem Bilde zu, meisterhaft dargestellt ist. Man bekommt dabei das Gefühl: man kann es nicht kürzer und klarer sagen. Das so verwendete Schema ist der Aphorismus in der bildenden Kunst. Aber natürlich: alle diese Skizzen sind nicht etwa das Schema selber, so wie Kant es meint, sondern dessen Niederschlag im actus demonstrandi durch die Kunst. Derselbe Niederschlag kann durch die Wissenschaft erfolgen, und in diesem Falle bleibt es selber ungezeichnet und nur im genialen Vorgang der subsumierenden Urteilskraft tätig. Davon ein Beispiel: »In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte in Darmstadt ein Chemiker, der FRIEDRICH KEKULÉ VON STRADOWITZ hieß. Er gilt heute als ein Bahnbrecher der modernen Chemie; denn ihm gelang es, eine Theorie von dem chemischen Bau des Benzols aufzustellen, auf der heute das Riesengebäude der organischen Chemie ruht. Den Grundgedanken für diese Theorie empfing er durch eine regelrechte ÇEingebungë, über die er uns selbst berichtet hat. Er fuhr in London auf dem Dach eines Omnibusses und war damit beschäftigt, über seine wissenschaftlichen Probleme nachzugrübeln. Plötzlich tauchte vor seinem Bewußtsein ein Bild auf: ÇDa gaukelten vor meinen Augen die Atome. Ich hatte sie immer in Bewegung gesehen, jene kleinen Wesen; aber es war mir nie gelungen, die Art ihrer Bewegung zu erlauschen. Heute sah ich, wie vielfach zwei kleinere sich zu Pärchen zusammenfügten, wie größere drei und selbst vier der kleineren festhielten und wie sich alles in wirbelnden Ringen drehte. Ich sah, wie größere eine Reihe bildeten und nur an dem Ende der Kette noch kleinere mitschleppten. Ich verbrachte einen Teil der Nacht, um wenigstens Skizzen dieser Traumgebilde zu Papier zu bringenë« (Aus dem Aufsatz »Der Funke der Erleuchtung« von H. Graupner vom 19. Sept. 1944).
In einer Freudschen Zeitschrift glaube ich vor etwa einem Vierteljahrhundert einmal gelesen zu haben, daß Kekulé zu seiner Entdeckung des Benzolringes »durch« Phantasien über Spermatozoenbewegung gekommen sei. Ich bin davon überzeugt, daß er solche Phantasien gehabt hat, einfach weil sie jeder hat; nur sind sie nicht der Grund, sondern bloß die Ursache für seine Entdeckung gewesen. Denn daß sie zum Schema wurden, das ist eben nur ihm und niemand anderm begegnet, und dieses Schema ist der Grund, der aus dem Objekt stammt, und nicht aus dem psychischen System. Die Kraft aber, die da wirft, ist eine wirkliche, gesonderte, spezifische und kommt im Subjekt als »transzendentale Urteilskraft« an. Davor aber bebte Kant zurück.
Das geistvollste und tiefste, dabei kürzeste Gespräch, das in dieser Sache geführt worden ist, war zweifellos das zwischen Goethe und Schiller bei deren ersten Begegnung im Jahre 1794. Es ist in letzter Zeit, seit der Sieg der Goetheschen Naturauffassung gegen Darwin auf der ganzen Linie sichtbar geworden ist, schon häufig zitiert worden, und es verlohnt sich immer, die ganze Partie in GOETHEs Tagebuch nachzulesen; ich zitiere hier nur die unser Thema berührende Stelle, wobei die Sperrungen von mir stammen: »Wir gelangten zu seinem Hause, das Gespräch lockte mich hinein; da trug ich die Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor und ließ, mit manchen charakteristischen Federstrichen, eine symbolische Pflanze vor seinen Augen entstehen. Er vernahm und schaute das mit sehr großer Theilnahme, mit entschiedener Fassungskraft; als ich aber geendet, schüttelte er den Kopf und sagte: Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee. Ich stutze, verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste gezeichnet.« (Es ist die fehlerhafte Verwendung von »Idee« durch Kant und die richtige, platonische, durch Goethe.) »Die Behauptung aus Anmut und Würde fiel mir wieder ein, der alte Groll wollte sich regen, ich nahm mich aber zusammen und versetzte: Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe .... Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung aussprach, so mußte doch zwischen beiden irgend etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten.« («Goethe« von A. v. Gleichen-Rußwurm, Deutsche Bibliothek Berlin, Seite 265.)
Dieses Vermittelnde aber ist eben das Schema, jene »symbolische Pflanze«, die er, genau wie wir es eben bei dem fingieren Wettbewerb der siebzig angenommen hatten, vor seinen Augen durch »charakteristische Federstriche« hatte erstehen lassen. Das entspricht auch dem, was Kant im Grunde unter dem Schema verstanden hat. Freilich mit der schwerwiegenden Berichtigung, daß es das nur von Naturgebilden gibt und sich nur beim Entdeckungsakte meldet. Goethes Entdeckung aber lautete: alles an der Pflanze ist Blatt; also eine paradoxe Subsumtion.

Was in diesen langen und abwegereichen Kapiteln über die Ordnung des Intellektes und die transzendentale Logik vorgetragen wurde und dem Leser hart ans Gehirn ging, diente im Grunde der Einlösung eines alten Versprechens. In irgendeiner meiner früheren Schriften vor fast einem Vierteljahrhundert kommt die kurze, in apodiktischer Form ausgesprochene Bemerkung vor: »Erkenntnis ist ein Vorgang der Natur.« Da es nicht erlaubt ist, so folgenschwere Sätze in genialischer Unbekümmertheit hybride hinzuschreiben, ohne sich am Geiste der Philosophie zu vergehen, so habe ich nunmehr, an der Schwelle des Alters, nachgetragen und begründet was ich, in jünglingshafter Laune, damals glaubte der Öffentlichkeit anbieten zu dürfen.
 



 

 

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