Elftes Kapitel

DIE RELIGION ALS REINES EREIGNIS DER NATUR

 

1. ÜBER NATÜRLICHE RELIGION
Sollte es mit der Religion ebenso stehen wie mit der Erkenntnis? Auf den ersten Blick erscheint das wie eine Blasphemie; auf den zweiten wird es wie ihre Rettung erscheinen. Denn die Erkenntnis bekommt erst dadurch ihre Dignität, daß sie aufhört, Sache des sogenannten Menschengeistes zu sein, und eine solche der Natur selber wird. Stünde es also mit der Religion ebenso, dann wäre ihre Unaufhebbarkeit gesichert; freilich müßte man sehr viel opfern, was von jeher als ewige Wahrheit galt und was sich doch nur als sekundäre Bearbeitung der Vernunft herausstellt.
Hier stoße ich nun zum zweiten Male auf einen in der Jugend - um die Dreißig - begangenen genialischen Streich, der mich schuldig machte, und diese Schuld zu tilgen, muß ich mich jetzt bemühen. Ich meine den irgendwo in meinen früheren Schriften vorkommenden Satz: Die Heilung des blutenden Fingers und die Heilung der menschlichen Seele sei ein- und dieselbe Sache. Auf diesen Satz stieß Konrad Wilutzky und trieb das Problem weiter. Vor mir liegt eine Arbeit in Schreibmaschine von neunundsiebzig Seiten mit dem Titel »Kritik des Christentums, zweiter Teil«, die er als seine letzte bezeichnet und die mir der Verstorbene zu treuen Händen übergeben hat. Zudem fielen in diese Zeit mehrere persönliche Gespräche über dieses Thema, so daß es sich oft schwer auseinanderhalten läßt, wo die Arbeit des einen und wo die des anderen einsetzt. Da Wilutzky so sehr großen Wert darauf legte, stets genannt zu werden, so möchte ich mich der Pflicht, hier seines Verdienstes zu gedenken, nicht entwinden, zugleich aber vorziehen, eigene Wege zu gehen. Denn die Sprache, in der Wilutzky das Thema behandelt - er nennt es eine populäre Schrift - ist ein derartig unerträgliches Deutsch, daß ich sie, auch in Zitaten, nicht verwenden kann. (Man soll nicht populär sein wollen, sondern so schreiben, wie es die Sache erfordert. Gelingt es, das in ganz einfacher Form zu tun, so ist der Höhepunkt des Populären damit erreicht. Alles andere ist Treubruch an der Sache zugunsten der eigenen Geltung.) Ich bin also wieder allein und rede auf eigne Verantwortung.
Die Blasphemie scheint durch jene Gleichsetzung des blutenden Fingers mit der blutenden Seele noch weiter getrieben, allein wenn man annimmt, daß dieses beides in demselben Verhältnis zueinander steht, wie der Fall irdischer Körper auf die Erde und der Lauf der Gestirne, so bekommt die Sache bereits ein anderes Gesicht. So wie durch den Begriff der Gravitation das gewöhnliche Fallen geadelt wird, so auch hier. Religion ist Hilfe und weiter nichts. Da es aber eine andere (und doch die gleiche) Sache ist, ob einem durch die Axt verwundeten Baume das heilende Harz hilfreich zufließt (mag der Baum wollen oder nicht) oder ob der Mensch ruft: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt« - so wird die Blasphemie aufgehoben; denn der Mensch ist Anrainer der Achse der Natur, seine Leiden sind über ihren empirischen Vordergrund hinweg metaphysisch verwurzelt; und wenn die Natur auch hier Hilfe schickt - ob der Mensch will oder nicht -, so ist das die größte Sache, die es überhaupt geben kann; denn die Natur steht hier in vollem Aufgebot. Religion ist daher der Heilungsprozeß der Natur, ist ein objektiver Vorgang, den man so wenig aufhalten oder »abschaffen« kann wie eben jenen gewöhnlichen Harzfluß.
Wilutzky hat in seiner Arbeit eine wichtige SCHOPENHAUER-Stelle zu diesem Thema verwendet, der ich mich hier in meiner Art anschließen möchte. Sie steht in den »Parerga und Paralipomena«, Bd. 1 (S. 141, Reclam), und lautet:
«Der Theismus ... ist in der That kein Erzeugnis der Erkenntnis, sondern des Willens. Wenn er ursprünglich theoretisch wäre, wie könnten denn all seine Beweise so unhaltbar seyn? Aus dem Willen aber entspringt er folgendermaßen. Die beständige Noth, welche das Herz (Wille) des Menschen bald schwer beängstigt, bald heftig bewegt und ihn fortwährend im Zustande des Fürchtens und Hoffens erhält, während die Dinge, von denen er hofft und fürchtet, nicht in seiner Gewalt stehn ... - diese Noth, dies stete Fürchten und Hoffen, bringt ihn dahin, daß er die Hypostase persönlicher Wesen macht, von denen Alles abhinge. ... Der Mensch verläßt sich lieber auf fremde Gnade, als auf eignes Verdienst: Dies ist eine Hauptstütze des Theismus. Damit also sein Herz (Wille) die Erleichterung des Betens und den Trost des Hoffens habe, muß sein Intellekt ihm einen Gott schaffen; nicht aber umgekehrt, weil sein Intellekt auf einen Gott logisch richtig geschlossen hat, betet er. ... Weil also gebetet werden soll, wird ein Gott hypostasiert; nicht umgekehrt. Daher ist das Theoretische der Theologie aller Völker sehr verschieden an Zahl und Beschaffenheit der Götter: aber daß sie helfen können und es tun, wenn man ihnen dient und sie anbetet - dies haben sie alle gemein; weil es der Punkt ist, darauf es ankommt.« (Letzte vier Sperrungen von mir.) Hier erscheint also das Gebet  als ein Hilferuf der Natur, der unwillkürlich einsetzt, also selber aus dem Willen stammt und sich, erst in seinem zweiten Akt, vermöge des Intellektes, Wesen schafft, die das individuelle Gebet hören. Da diese Tätigkeit des Intellektes aber sekundär ist und mit dem Hilfsvorgang selber nichts zu tun hat, so ist es kein Wunder, daß die theologischen Inhalte der unzähligen Religionen, die über die Erde gegangen sind, alle ganz verschieden aussehen, während der eigentliche Vorgang, die Hilfe, stets derselbe bleibt. Der unwillkürliche Gebets-Antrieb gehört also zur Substanz der Religion, ja ist sie selber, die gedachten Adressaten dagegen sind Akzidenzien, die wechseln. Also ist jeder Versuch einer »rationalen Theologie« von vornherein zum Scheitern verurteilt. Nur ist hier sorgsam darauf zu achten, daß unter Wille nicht die volkstümliche Auffassung davon verstanden wird, sondern die transzendentale: Wille als Materie von innen gesehen, wie wir das früher ausgeführt haben.
Was aber jenen Gebetsimpuls angeht, der zwar erst beim Menschen voll herausbricht, weil er Worte hat, so ist das rein Willentliche an ihm doch bis in die anderen Naturreiche hin zu verfolgen. Wenn wir es auch nicht nachweisen können, so können wir doch per analogiam schließen, daß zwischen dem Axthieb, der den Baum verwundet, und dem ersten Fließen des heilenden Harzes eine Art flehender Seufzer der gepeinigten Pflanzenkreatur anhebt, der die Hilfe aus dem Unbekannten herbeiruft; das verwundete Tier schreit und schon durch diesen, doch eigentlich sinnlosen Akt, der nur die Aasgeier herbeiruft, findet es Erleichterung und verstärkten Zufluß der heilenden Säfte. Wenn der Psalm singt:

   Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser,
   So schreit meine Seele zu Dir, Herr ...«,

so ist dieses »Wie« kein bloßer Vergleich, sondern es redet dieselbe Sache an. Nur so verstanden erhält das Gebet volle Naturgewalt; aus dem Schrei des leidenden Tieres quält sich beim Menschen das Wort heraus, das in ihn eingehüllt war, und wird zum Gebet. Aber es ist derselbe Vorgang.
Nun schreit auch Orestes nach Erlösung, als er von den Erinnyen verfolgt wird, und hier meldet sich bereits die Frage: woher kommt es, daß er sie nicht findet? Die Antwort lautet für uns - was das Altertum nicht wissen konnte -, daß die Adresse falsch war. Apollon Loxias, der Mitschuldige am Muttermord, ist kein befugter Spender der Erlösung. Diese Antwort setzt aber doch, über Schopenhauer hinaus, das Bestehen einer objektiven Theologie voraus, das heißt einer solchen, die mindestens sagen kann, was richtige und was falsche Gebete sind. Das aber wiederum hat nur Sinn, wenn die objektiv helfende Macht eine bestimmte Struktur hat und nicht willkürlich als vages Gefühl umher schweift. Da nun jedes Gebet aus Worten besteht, nicht bloß aus Lauten, so können diese nach dem Gebet auch in ein Urteil umschlagen - was sie unvermeidlich tun -: und hier beginnt bereits die Krisis der Theologie, also sehr früh. Worte nämlich, die als Gebet wahr und richtig sind, brauchen es noch keineswegs als Urteil zu sein: hier sind sie anfechtbar, dort nicht.
Ich hatte einen Patienten, einen hochgebildeten Mann von völlig rational-merkurischem Charakter, der auch nicht die leiseste Spur von Religiosität verriet, im übrigen aber nicht etwa der Meinung war, das Christentum ließe sich durch Aufklärung widerlegen. Er war aus der Kirche ausgetreten, weil, was kaum zu bestreiten ist, die protestantische Kirche liberaler Richtung in der Verbreitung langweiligsten Unsinns zu den freigebigsten Institutionen gehört. Was soll da ein Vorstandsmitglied der I.G.-Farben drin? Das alles war in Ordnung; ich sagte nichts dagegen. Aber dieser nüchterne Geschäftsmann litt an schweren Angstanfällen mit grausigen Visionen im Halbschlaf. Eines Tages kam er mit seltsam versonnenen Blicken an und meinte, es sei ihm diese Nacht etwas ganz Sonderbares passiert, was er nie für möglich gehalten habe. Er hätte einen scheußlichen Anfall gehabt mit Aufschrei, so daß seine Frau erwachte; gräßliche Gestalten seien ihm erschienen. Da habe er ich in der äußersten Not gar nicht anders zu helfen gewußt und sei auf einen ganz ausgefallenen Gedanken geraten. Ich fragte danach. »Ich habe laut gebetet«, antwortete er mir. »Und was?« »Denken Sie sich: Der Herr ist mein Hirte ...!« » Und was geschah darauf?« »Sofort war alles weg! Ich kann es heut noch nicht verstehen.« Ich fragte ihn, ob er sich darüber wundere, und er meinte: nein, eigentlich nicht. Eben weil es natürliche Religion war, deshalb wunderte er sich nicht. Ich drang indessen weiter in ihn und fragte: »Was Sie also sonst über die Religion denken, z. B. ob es einen Gott gibt oder nicht, das hat sich als gänzlich belanglos herausgestellt gegenüber dem religiösen Vorgang, der sich hier, ob Sie wollten oder nicht, abspielte?« »Genau so ist es.« - »Und meinen Sie etwa«, forschte ich weiter, »daß das ÇSuggestionë gewesen sein könnte?« - »Ja, dann müßte eben die gewöhnliche Außenwelt und ihre Vorgänge auch Suggestion sein: jedenfalls hatte dieser Vorgang den gleichen Realitätscharakter, und vor allem; die Wirkung war ja da und hielt an.« Ich: »Und wie kamen Sie gerade auf diese Worte und nicht auf irgendwelche anderen, etwa selbsterfundenen?« Er: »Die drängten sich mir auf; ich hatte sie in der Schule gelernt.« Ich: »Das heißt also hier genauer: in der Kirche - aus der Sie ausgetreten sind. Ja - und woher hat die Kirche sie?« Er: »Sie würden sagen, von den Propheten Israels.« Ich. »Gewiß, das würde ich sagen; aber weiter: woher habe die Propheten sie?« Er: »Ich kann nichts anderes sagen als, wie Sie es immer ausdrücken: Der Prophet ist religiöser Genius und hat seine Inhalte unmittelbar aus dem Naturhintergrunde.« »Und woran kann man deren objektive Giltigkeit und Richtigkeit erkennen?« Er: » Allein daran, daß sie helfen.« Ich: »Das aber tun sie, seit sie gesprochen wurden, also seit guten dreitausend Jahren, ohne die geringste Schwächung.«
Das Gebet ist also der subjektive Pol des Hilferufes der Natur, der in der Religion, das heißt in der vollzogenen Hilfe, seine Antwort findet. Man lasse diesen Pol weg, und die Religion bricht zusammen; aber er läßt sich nicht weglassen, da der Intellekt und der individuelle Wille, das zu tun, zu schwach sind; es setzt immer wieder von selbst ein; denn die Religion ist ein »Erzeugnis des Willens«. Die Hilfsleistung auf den Schrei der Kreatur hin ist dünn bei Pflanze und Tier; denn diese sind allemal nur gelegentlich verwundet. Beim Menschen aber, der anderen Stammes ist, muß die Natur in vollem Aufgebote kommen. Der Mensch ist seinem Wesen nach krank. Die beiden Haupteinfallspforten für das Leid aber sind das Unglück und die Schuld. Das Unglück wird in der Gestalt des Hiob verkörpert, die Schuld in Orestes. Die Schuld aber ist, trotz äußerem Widerschein das schlimmere Übel. In beiden Fällen aber liegt die Sache so, daß es Tiefpunkte gibt, in denen der Mensch nicht aus noch ein weiß, sich aus eigenen Mitteln zu helfen, und nun jenen Schrei ins Unbekannte ausstößt in dunklem Vertrauen, daß von dorther ihm Hilfe kommt.
Hierbei ist es eine verständliche Sache, daß das Gebet zuerst stets in seiner naiven Form auftritt und die Erfüllung privater Teilwünsche erfleht. Der Kranke bittet um Genesung, der Arme um Reichtum, der vom Tode Bedrohte um Leben; an diese naive Gebetspraxis knüpft sich dann das heikle Gebiet der »Erhörungen«. Das eigentliche Thema des Gebetes aber ist immer die Wiederherstellung der Person. Wer am Aussatze leidet, dessen Person ist gefährdet; das erhörte Gebet aber bewirkt entweder, daß diese wieder hergestellt wird und so die Krankheit ertragen werden kann oder, falls der pathologische Ort von der zuströmenden Kraft der Religion getroffen ist, daß durch die Wiederherstellung die Krankheit von ihm abfällt. Es gibt durchaus Wunderheilungen durch das Gebet, nur darf man kein Aufheben davon machen. Religion ist eine schweigsame Sache.
Man kann kulturgeschichtlich feststellen, daß eine bereits geformte Religion in dem Moment aufhört, Religion zu sein, in dem sie das Gebet abschafft. Das ist im indischen Altertum durch das Auftreten des Buddhismus geschehen. In der Vedanta-Religion gibt es Götter, zu denen gebet wird. Das charakteristische Merkmal aber des Buddhismus ist die Abschaffung dieses Aktes und sein Ersatz durch Einsicht in die karmische Kausalverknüpfung. Zwar erkennt er auch Götter an, aber man betet nicht zu ihnen, sondern sie unterliegen, wie alles Lebendige, dem heiligen achtfachen Pfad, der zu ihrem Verlöschen führen soll. Daß der einfache Buddhist freilich sogar zum Buddha betet, zeugt nur von der Unauslöschlichkeit des Gebetsdranges, ist aber natürlich nach der Lehre unsinnig und verboten wie jedes Beten. Die Buddhisten nennen ihre Lehre ausdrücklich eine »Religion der Vernunft« (siehe Dahlke), woraus hervorgeht, daß sie eben keine Religion ist, sondern Weltanschauung, die man in der Sprache europäischer Schulphilosophie mit »materiellem Idealismus« bezeichnen müßte. - Ein zweiter Fall, der uns auf der Haut brennt, ist der liberale Protestantismus des vergangenen Jahrhunderts. Auch er hat die Religion abgeschafft, wenn er sie auch mit falschen Organen anerkennt und halten will. Bei ihm kommt nicht mehr wirklich durch das Gebet »die Hilfe von den Bergen«, sondern es ist ein schöner Gedanke, daß es so sein möge. Er wird aber, wie alle Gedanken, immer dünner, immer verschlissener und endet schließlich in vollem Verlöschen. Die Religion ist Bildungsgut geworden. Diesem Kulturprotestantismus, einem Vetter des »deutschen Idealismus« und auf dem gleichen Boden gewachsen, steht das alte orthodoxe Luthertum in gesicherter Stellung gegenüber, ebenso die katholische Kirche. Beide würden nicht einen Augenblick zögern, die objektive Korrelation von Gebet und Hilfe als den Kern der Religion anzuerkennen, nur daß sie sich hierfür theologischer Formeln bedienen.
 

2. ISRAEL UND DER PROPHETISCHE MONOTHEISMUS
Der Schrei des Orestes nach Hilfe verhallt im Altertum unerhört. Die Frage tritt auf, warum das so sein muß.
Wir hatten in den Kapiteln über die Grundlegung der Ethik festgestellt, daß deren formale Seite sich bis auf den Höhepunkt transzendentaler Gewißheit führen läßt, daß aber ihr Inhalt aus keinem allgemeinen Prinzip abgeleitet werden kann, vielmehr durch einen genialen Vorgang auf die Welt herabgekommen ist. Genau so also, wie das Gravitationsgesetz durch Newton entdeckt wurde, so der Inhalt der Ethik durch die Propheten Israels. Bei aller Verschiedenheit in den Charakteren und den historischen Lagen sagen sie doch alle ein und dasselbe aus: nämlich daß die Quelle, aus der die Lebewesen, aber auch die mineralische Natur fließen, und die Quelle der ethischen Inhalte dieselbe ist. Diese aber ist persönlich und nicht individuell. Was also sagt: »Es sprieße auf allerlei Gewächs aus der Erde, ein jegliches nach seiner Art« und: »Du sollst nicht töten! Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht ehebrechen!« - das ist dieselbe Person, die keine Individualität besitzt.
Dieser Gedanke Israels wirft alle Altäre um. Er war für die heidnische Umwelt des Altertums eine Ungeheuerlichkeit. Und er kann es auch an Paradoxie mit jedem andern, der aus genialer Quelle stammt, aufnehmen. Denn der Götterkult des Altertums beruhte fest auf der Individualität der einzelnen Götter; es verrät sich damit deren menschliche Abkunft, und es erklärt sich ihre selbstverständliche Vielzahl. Das nun, was das alte Israel und auch noch das heutige »Jahve« nennt, ein Name, den auszusprechen mit Recht verboten ist, dieser Heilige Israels ist gänzlich anderer Abkunft, und durch das bloße Fehlen der Individualität ist der Monotheismus als selbstverständlich da. Nicht also dadurch, daß unter vielen Göttern sich einer die Herrschaft errungen und damit Monarch geworden ist, sondern so, daß in dem Bezirk, in dem hier von Gott die Rede ist, es andere Götter nicht geben kann. Und dieser Bezirk ist der für die Religion allein giltige. Hierbei ist allerdings zu bemerken, daß der hebräische Text der ersten drei Kapitel Genesis den Monotheismus noch nicht so sicher hervortreten läßt, wie man vermuten sollte; auch ist er nicht frei von individuellen Zügen. Das aber wirft einen Schatten auf die Schöpfung selber, wie auf den Sündenfall.
Man soll sich davor hüten, gedankliche Vorgänge auf den Höhepunkten des griechischen Geistes für Vorstufen der israelitischen Religion zu halten. Jene Behauptung des Clemens Alexandrinus, Platon habe den Mose gelesen und plagiiert, ist bestimmt falsch, weil nämlich das hier allein Entscheidende, nämlich die Stromrichtung , genau umgekehrt ist. Die Griechen lebten in der großen Zeit ihres Altertums in der homerischen Götterwelt, die aus dem Mythos stammte. Diese Götter waren im Ethischen nicht besser und nicht schlechter als die Menschen, und sie waren auch keineswegs etwa Schöpfer der Welt, hatten das Schicksal nicht in der Hand, sondern das Schicksal sie, und es findet sich nichts von einer sittlichen Weltordnung und ausgleichenden Gerechtigkeit. Da bemächtigten sich die Dichter und Denker dieser Götterwelt, und man bemerkt einen langsam sich vollziehenden Prozeß, die Gestalt des Zeus umzuwandeln und ihm die Funktion des Weltenrichters zu übertragen. Der Zeus des grüblerischen Aischylos ist daher ein gänzlich anderer als der homerische, dem man dies Ansinnen gar nicht hätte stellen können, und so etwas zu sagen wie: ((Zeus ostis pot estin)), »Zeus wer immer er auch sei ...« (Ag. 160), wäre fünfhundert Jahre vorher unmöglich gewesen. Ebenso die Worte wie:

   ((upatos daion h tis Apollon
   h Pan h Zeus))...
   »Aber irgendein höchster Apollon
   Oder Pan oder Zeus hat es vernommen ...«

Es wird schließlich in Zeus eine Eigenschaft hineingelegt, die dem menschlichen Bedürfnis nach ausgleichender Gerechtigkeit entgegenkommt.
Bei Platon hat Zeus seinen Namen verloren, und wir finden den Ausdruck ((o theos)), als ob wir uns im Neuen Testament befänden. Die Götter aber, denen Sokrates opfert, sind Volksgötter, die man veneriert, teils weil es ungehörig, teils weil es gefährlich ist, in einer sykophantischen Demokratie das nicht zu tun.
Diesen Prozeß der gedanklichen Höherspannung des Zeus nennt JACOB BURCKHARDT treffend einen »monothëistischen Aufschwung«, der aber, und das ist das Entscheidende, eine Tat des grübelnden Menschengeistes ist, will also sagen der Vernunft. Auch was wir bei den Lateinern, bei Cicero und Seneca, finden, ihr geheimer Monothëismus, ist nichts als eine Wiederholung dieses griechischen Denkprozesses bei den Gebildeten Roms.
Aber es ist falsch, was die liberalen Theologen oft meinen, daß wir uns bei diesem »monotheistischen Aufschwung« und den Gottesvorstellungen, die er erzeugte, bereits mit einem Fuß auf biblischem Boden befänden. Denn was uns dort entgegentritt, ist nicht das Ergebnis eines Denkprozesses, sondern das einer abkunftlosen Offenbarung; es ist genialer Natur. Völlig unmittelbar, überfallartig bricht es auf den fast zusammenstürzenden Empfänger herein: »Ich bin der Herr, dein Gott!« Es kommt vom Objekt her, auf das Subjekt zu; der »monotheistische Aufschwung« aber ist eben ein Aufschwingen des Subjektes über sich selbst hinaus, ohne Boden im Objekt zu finden. - Während also das Aufklärungszeitalter die Religion »läutern« wollte, indem sie nur das an ihr anerkannte, was mit der Vernunft übereinstimmte, und alle Offenbarung ablehnte, ist es gerade umgekehrt; nur die ungeläuterte Religion aus Offenbarung ist echt und hat den Mutterboden der Natur unter sich, alles andere ist Menschenerfindung. Eine Religion muß sich also ausweisen können und zeigen: wir haben Propheten, und diese haben Offenbarungen gehabt - sonst gilt sie nicht. Nur durch die Prophetie beweist sich die Religion als legitim.
Was also in der Wissenschaft der gründende Genius ist, was in der Kunst der Dichter, das ist in der Religion der Prophet. Nur eben daß es hier um alles geht, und daß, was sich hier offenbart, um keinen Preis aufgegeben werden kann. Man kann ohne Kunst und ohne Wissenschaft leben; aber wenn die Natur, aus der wir bestehen, keine Rückverbindung hätte, so glichen wir einem Baume, dem der Harzfluß fehlt; er würde infolge der geringsten Verletzung absterben wie ein menschlicher Hämophile, der ausblutet, wenn er sich in den Finger geschnitten hat.
Wie sich die Spuren der Kunst und der Wissenschaft in den Werken ihrer Genien zeigen und nur hier, so verläuft die große Spur der Religion in denen der Propheten, die die empfangenen Inhalte niedergeschrieben haben. Daher hat die orthodoxe Theologie völlig recht, wenn sie sagt: nur in den Schriften der Bibel hat Gott gesprochen und nicht auch in anderen. Nur in ihnen kommt der begründende Ton der Verkündigung vor. Die Frage, wie weit die Apokryphen doch mit dazugehören, bleibe hier offen.
Verkündigung ((kataggelia)) ist der Stil und die Ausdrucksweise, tiefergehend, das eigentümliche, nur hier vorkommende Gedankengepräge der Religion. Wenn die Worte fallen:

   »Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde
   Und die Erde war wüst und leer«,

so ist das nicht Dichtung, wie etwa die Szene aus Hesiods Theogonie, in der aus dem Chaos Gaia, die Erde, hervorgeht und aus ihr Uranos, der Himmel, der, die Nacht mit sich heraufführend, die verhängnisvolle Hochzeit vollzieht; es ist nicht Dichtung, sage ich, denn jener Unbekannte, der sie schrieb, war kein Dichter, sondern Prophet. Es ist auch nicht Wissenschaft, denn er war kein Forscher. Gott ist nicht Ursache, sondern Grund der Welt. Würde man die Anfangsworte des Buches Genesis in die Sprache der Wissenschaft übersetzen und etwa sagen: »Zu Beginn der Welt hat ein höheres Wesen, primo motore, prima causa, den Anstoß zum Weltverlauf gegeben« - so ist ein solcher Satz weder wahr noch falsch, sondern eine leere Hilfsformel, die eben nur gerade dem Satze vom Widerspruche genügt, sonst aber nichts besagt. So aber, wie die Worte vom Propheten gesprochen wurden, sind sie Verkündigung, und als solche bedeuten sie allerdings etwas. Sie stehen am Anfang eines Heilungsprozesses, nicht aber eines der Erkenntnis. Die Frage aber zu stellen: »ob es denn überhaupt einen Gott gibt?«, das ist genau so angemessen wie wenn jemand fragte: ob das Fließen des heilenden Harzes einen Grund, ((ousia)), hat. Im Dienste dieses Heilungsvorganges aber stehen letzten Endes die Anfangsworte der Bibel, und da sie aus prophetischem Munde stammen, nicht aber vom Dichter und nicht vom Forscher, so muß man sich auf sie verlassen - oder man bekümmert sich überhaupt nicht um Religion. Denn der Prophet ist der Genius der Religion Organ der Natur und ihres Grundes.
Letzten Endes gehören demnach alle Disputationen über das »Dasein Gottes« zu den Hänschen Luther-Fragen. Dieser intervenierte bekanntlich bei seinem Vater mit den Worten, was denn der liebe Gott getan habe, ehe er die Welt geschaffen, und bekam die Antwort: »Er saß auf einem Birkenbaume und schnitt Ruten für naseweise Jungen, die so dumme Fragen stellen.« - Solange das heilende Harz fließt und solange die gepeinigte Menschenseele Trost findet, solange ist auch die Religion im Vollzuge, und die Verkündigung spricht durch den Mund der Propheten alles aus, was zu erkennen heilsam ist. Mehr bedarf es nicht; denn die Religion stammt nicht aus dem theoretischen Bedürfnis der Welterklärung, sondern aus dem Willen. Wäre es umgekehrt, dann gäbe es keine.
Der heraufgeklügelte, wenn auch mit frommen Gefühlen belegte Monotheismus der griechischen Philosophie trägt also in sich einen unverkennbaren Substanzunterschied zum biblischen Gottesglauben. Das kam einmal sehr deutlich zur Sprache, als der Apostel Paulus in Athen redete. Denn hier hatte er sie vor der Klinge, die Epikuräer, Stoiker und Neuplatoniker, und konnte mit ihnen umspringen, wie er wollte. Er konnte ihnen zeigen, daß sie in einer Sackgasse festgefahren waren. Was uns von der großen Rede auf dem Areshügel überliefert ist, sind nur Stichworte, die der Verfasser der Apostelgeschichte (17, 16ó34) sich wohl auf notiert hat; aber man sieht doch an ihnen, daß er den wesentlichen Gang der Religion damit traf. Es geht da zunächst um die unterschiedliche Art, wie der Mensch jenem »unbekannten Gott« zu begegnen in die Lage kommt, falls er ihn sucht. Wenn ein heidnischer Gott an einen Sterblichen nahe herantritt, so wie Athene an Odysseus, so bleibt immer ein Zwischenraum, eben weil die Götter mit der Individualität belastet sind. Diese hört auch dann nicht auf, wenn der monotheistische Aufschwung erfolgt ist; denn jener Gott der Stoiker und Neuplatoniker kann durchaus seine Herkunft nicht verleugnen. Der unbekannte - und unerkennbare - Gott Israels aber hat diese Belastung nicht; er »ist nicht ferne von einem Jeglichen unter uns« und nimmt voll von der Person des Sterblichen Besitz, denn »in ihm leben, weben und sind wir«. Diese zwischenraumlose Besitzergreifung aber ist eben gerade deshalb allein möglich, weil Gott reine Person ist, ohne Individualität. Und hierbei steht die Person Gottes zu der des Menschen wie das Unendliche zum Endlichen. Keinesfalls aber darf man diesen Übertritt und das »Leben, Weben und Sein« als Pantheismus verstehen, so wie man etwa von »Alles in Gott«, »Gott in Allem«, »Gott-Natur« und ähnlichen Formeln redet: so etwas kommt im ganzen rechtgläubigen Christentum, noch weniger aber in Israel vor, sondern immer bleibt die Person und das Schöpfertum gewahrt. Wenn Luther sagt, Gott sei in jedem Blatt, so meint er nie »deus sive natura«, sondern immer Gott als Schöpfer und Person. Daher gibt es seit der Verkündigung durch die Propheten Israels und die Apostel nur entweder Gottesglaube oder Atheismus, aber nichts dazwischen. »Pantheismus« ist, wie Schopenhauer das richtig sah, ein unsinniger Gedanke und nur eine höfliche Form des Atheismus, zu dem auch jede Art von gedachtem Gott gehört. Paulus nun in Athen meint, Gott habe jene Zeit des Heidentumes mit seinen individuellen Göttern - einschließlich des gedachten Monotheismus - »übersehen« ((uperidon)); jetzt aber sei es Zeit, die Verkündigung seiner selbst zu hören und »umzudenken« ((metanoein)). Der stoische und neuplatonische Weg sei nicht mehr gangbar; denn das seien Menschengedanken, die zu nichts führen und schließlich stehen bleiben. Der Glaube aber an den lebendigen Gott, der sich durch den Mund der Propheten als Offenbarung kundtut, führt zur »Auferstehung des Fleisches« ((anastasis ths sarkos)). Unter »Fleisch«, so fügen wir hinzu, ist nicht nur der physische Stoff dieses Namens gemeint, sondern auch dessen Manifestation im inneren Sinn, der Wille. Auferstehung des Fleisches ist ein anderer Ausdruck für den Heilungsvorgang der Natur, auch beim harzenden Baum; »Auferstehung von den Toten« aber, das ist der äußerst mögliche Fall, der bisher nur einmal vorkam. Dieser Weg aber, so sagt der Apostel, ist der einzige, der zum Heile führt.
Man kann sich denken, daß eine solche Rede für die Zuhörer in Athen neuartig und verwirrend gewirkt hat; denn in der Tat: so etwas hat es im ganzen Altertum nicht gegeben. Deren Mehrzahl verblieb denn auch bei den alten Meinungen und schüttelte die Köpfe. Bei einigen Wenigen aber vollzog sich doch jener Prozeß, der mit »metanoia« bezeichnet wird und den man keineswegs immer, hier jedenfalls gar nicht, mit »Buße« übersetzen darf. Diese Wenigen spürten die Umkehrung der Stromrichtung, die sich beim Worte »Gott« innerlich vollzog, wenn es von Paulus kraft apostolischer Autorität ausgesprochen wurde. Die Bekehrungen aber, die hier am Schlusse als Ertrag der Reden stattfinden, machen den Eindruck von Einzelereignissen bei hervorragenden Personen; so werden mit Namen genannt Dionysios Areopagita und eine Frau namens Amaris: unter der Menge bloßer Zuhörer fanden sich hier diese Wenigen »und einige Gefährten«, bei denen die »Umkehr« innerlich während der Verkündigung stattgefunden hat. Das entspricht der Tatsache, die Christus stets betonte, daß das Christentum eine natürliche Seltenheit ist. An anderen Stellen der Apostelgeschichte finden wir dann freilich wieder Szenen offenbaren Massenwahns, wie das berühmte »Zungenreden«, bei deren Lektüre einem angst und bange werden kann.
Der prophetische Monotheismus des alten Israels hat eine feste Barriere gegen alle anderen Religionen errichtet. Wir verstehen es heute kam noch, daß die Propheten und Könige des Alten Testamentes mit solch unerbittlicher rabies gegen den »Götzenkult« vorgingen; diese Wut erscheint uns beinahe überflüssig und wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel: denn es gibt ja eben keine Götterkulte mehr, und jeder Versuch, sie wieder zu beleben, würde den Fluch der Lächerlichkeit auf sich laden.
Das hat schon Kaiser Julianus Apostata, der ja noch in zeitlicher Berührung mit ihnen lebte, erfahren müssen. Nach zwei christlichen Kaisern hatte sich die Korruption der Kirche und ihrer Beamten in einer Weise geltend gemacht, die eine unerträgliche Lage im Reiche bewirkte und die Sehnsucht nach den alten Göttern im Gemüte des edelmütigen, aber weltfremden Julian aufkommen ließ. Er war eine anima candida und glaubte, wenigstens als Übergangslösung eine Art Vermischung der christlichen Wahrheit mit der heidnischen heraufführen zu können. So hielt er selber Ansprachen ans Volk, in denen er es etwa in die Geisteslage zurückbringen wollte, in der sich Dionysios Areopagita und Damaris kurz vor ihrem Übertritt befanden. Und das schien auch zu gelingen, die heidnische Restauration in bestem Gange zu sein. Da setzt er eines Tages alles auf eine Karte und veranstaltete ein Opferfest zu Ehren des Apollon. Die christlichen Festgenossen kamen schon mit sehr erstaunten Gesichtern hin, leisteten aber immer noch keinen Widerstand im Vertrauen auf die Toleranzedikte des Kaisers. Wie aber Julianus selber, als Opferpriester auftretend, dem ersten weißen Stier die Axt in den Nacken sausen ließ, da war es aus mit der christlichen Geduld. Das Volk erhob sich und schrie: »Gotteslästerer! Götzendiener!«, ein Tumult entstand, den auch die Legionäre nicht bändigen konnten; dazu ging plötzlich ein wolkenbruchartiger Regen auf das Haupt des unglückseligen Apollonpriesters nieder, und der tötende Fluch der Lächerlichkeit war da. - Wer, um ein modernes Beispiel anzuführen, sich jenes Wiedertäuferspukes erinnert, der die letzten zwölf Jahre des Deutschen Reiches vor seinem Untergang erfüllte, der wird auch daran denken, daß man von diesen »germanischen Orden« aus auf eine Wiederbelebung der nordischen Götterwelt sann, daß man aber, obwohl man sich doch sonst alles leistete und obwohl rechtgläubige Priester der Religion in Gefängnissen schmachteten, man eben dies nicht wagte. Man sah schon tempelartige Gebäude mit Pferdekopf-Motiv hie und da aus der Landschaft herauswachsen, und zwar gar nicht schlechte, die Opfermesser aber blieben unterm Tisch und die Priester der germanischen Restauration mußten stillschweigend zugestehen, daß es eben nur den Gott Abrahams, Mose und der Propheten gibt, sonst keinen.
Weniger sicher hat die Barriere des verkündeten Monotheismus gegenüber dem andern Religionskomplex gehalten, der aus dem alten Indien stammt. In den Upanishaden der Veden wird das Schwergewicht der Lehre gerade auf die Unpersönlichkeit des objektiven Welthintergrundes, genannt brahmân, gelegt, zudem man gelange, wenn man das subjektive Prinzip, atmân, durch einen allmählichen Abbau alles Individuellen, also Beschränkenden, frei macht. Die Identität von brahman und atman ist darum das hohe Ziel der Erkenntnis und damit der Erlösung; hierbei wird die Außenwelt, aber auch die innere, zu bloßem Schein (nicht Erscheinung!). Das ist der Standpunkt der Mystik, die sich ja auch im christlichen Abendlande findet; hier aber kann sie nie ganz frei auftreten, da das Trinitäts-Dogma Schwierigkeiten bereitet. Nun besteht kein Zweifel, daß das mystische Grunderlebnis, die unio mystica, das »Einssein mit Gott«, von hohem religiösen Range ist, wie die großen Mystiker selber; eine andere Sache aber ist, ob das Urteil, das daraus gefällt wird, sich halten läßt. Denn wenn ernsthaft behauptet wird, Gott und Ich könnten in das Verhältnis der Identität geraten, so kann die Philosophie den Dominikanern nur recht geben, wenn sie dem großen Meister Eckehard auf die Finger sahen. Luther, der starke mystische Einschläge hatte, wäre nie in diese Verlegenheit geraten; er hatte, wie Sokrates, hier sein sicher warnendes »daimonion«. Und auch unsere religiöse Urteilskraft ist im Recht, wenn sie gegen die berühmten Worte des ANGELUS SILESIUS, daß Gott »ohne mich auch nicht ein Nu kann leben«, Worte, die durch ihre hybride Großartigkeit wirken, doch eben Einspruch erhebt. Es ist natürlich völlig falsch, wenn unter dem Ich hier das empirische verstanden wird - so aber ist es nicht gemeint -, aber der Einspruch gewinnt an Richtigkeit, wenn vom transzendentalen Subjekt die Rede wäre. Da aber Gott nicht zum transzendentalen Gegenstande gehört, sondern transzendent ist, weicht die Wahrheit auch hier noch zurück. Sagen aber: »Ich und der Vater sind Eines«, durfte nur Einer; dessen Subjekt aber hatte eine andere Lage. Es gibt im übrigen keine Stelle im Universum, an der nicht das Objekt stärker wäre. Die Sinnesorgane liefern uns nur Fragmente aller sinnlichen Möglichkeiten, in der genialen Zone drückt die Natur stets aus einer überstarken Tiefe auf das Subjekt, und dieses Kraftverhältnis verstärkt sich nur noch, wenn der Mensch vor den Grund der Natur tritt; dafür sind die Propheten Zeugen. Niemals aber kommt es dazu, daß Subjekt und Objekt sich die Waage halten und gar identisch werden. Wäre das so, dann könnte das Subjekt ja das Objekt zwingen, bei ihm zu bleiben, und das wäre das Erste, was es wegen der großen Seligkeit täte; das ist aber nicht der Fall, sondern das Objekt zieht sich aus Freiheit wieder zurück, wie es aus Freiheit kam. Die Heilsquelle der Religion fließt nicht reichlich. Gott ist nur gerade eben »nicht ferne von einem Jeglichen unter uns«. Der Bau des Universums selber aber ist es, der die mystische Theologie zum Scheitern bringt.
Diese Lehre, die im vergangenen Jahrhundert, in dem sich in Europa der Aufklärungsprozeß und damit die Säkularisierung der Religion vollzog, Eingang in die gebildete Welt fand, stützte die schon vorhandene Tendenz, nicht mehr an einen persönlichen Gott zu glauben. Man galt als ungebildet, wenn man das tat. Aber hier liegt nur eine Verwechslung vor; man unterschied nämlich nicht das principium individuationis, dem Gott nicht unterliegt, von dem der Personalität, das er selber ist; denn »Jahve«, das ist der »eigentlich Seiende«. Da es nun besonders in der Pädagogik unvermeidlich ist, daß sich das individuelle Prinzip heimlich einschleicht, eben weil die paradoxe Lehre von der reinen Personalität schwer begreiflich ist und nur im Stile der Verkündigung faßbar, und da die Erzieher der Jugend meist keine Gläubigen, sondern Schulmeister sind, so ist die Erziehung schlecht, der reifende Mensch streift bald die Fesseln ab und schüttelt mit der Individualität Gottes - die es nicht gibt - auch die Personalität aus, die er im Momente des Abfalles vom Glauben der Väter mit ihr verwechselt. So entsteht - als mißglückte Pädagogik - die Gebildeten-Religion vom »unpersönlichen Gott« = »Deus sive natura«, »Gott-Natur« und dergleichen, die aber an der nächsten windigen Ecke des Schicksals in Scherben geht; denn es sind lauter Phrasen.
Der wahre Unterschied aber zwischen dem gebildeten Gläubigen und dem naiv-frommen Manne aus dem Volk ist nicht der, daß der Gebildete an keinen persönlichen Gott glaubt, während es der Einfältige tut, sondern sie glauben beide an den persönlichen Gott, nur daß beim einfachen Manne sich unvermeidlich die Individualität einmischt, während der Gebildete durch Wissen imstande ist, die Trennung zu vollziehen. Die Philosophie hat ihn belehrt, aber sie hat ihm nichts von seinem Glauben genommen, ganz einfach, weil sie das nicht kann.

Glauben aber ist die Urteilskraft der Religion. Genau so, wie jemand, der durch Belehrung davon überzeugt werden soll, daß ein Gegenstand der Erfahrung schön sei, dies doch nicht zu erleben vermag, es sei denn, er habe ästhetische Urteilskraft - die von den Dingen selber ausgeht -, genau so wird niemand der Religion teilhaftig, der die hierfür spezifische Urteilskraft, also den Glauben, nicht besitzt. Daher sind alle religiösen Behauptungen nur durch den Glauben wahr. Diesen aber als geminderte Erkenntnis anzusehen, ist ein grobes Mißverständnis. Mit »für wahr halten« hat er nichts zu tun, und »religiöse Überzeugungen« sind leeres Stroh. Mit der Definition aber des Glaubens als religiöser Urteilskraft ist der Streit zwischen Glauben und Wissen beendet.
Man sieht an dieser Stelle deutlich, wie unabkömmlich der Begriff der Naturachse auch für die Religion und die Theologie ist. Kant hat die Urteilskraft in die Philosophie eingeführt; aber er hat nicht bemerkt, daß in ihr zwei deutlich geschiedene Elemente mit verschiedener Stromrichtung enthalten sind. Er schlug sie ganz auf die subjektive Seite, wie als sei sie ein Stück Vernunft. Dabei rumorte unter ihm der Boden und trieb Dinge wie das »Schema« und das »Monogramm (der Natur in [HB.]) der Einbildungskraft« hervor, rätselhafte Gebilde, die es ihm anrieten, das schwankende Territorium schnell zu verlassen. Das alles kommt daher, daß die Achse der Natur mitten durch die transzendentale Urteilskraft hindurchläuft, das Wort in zwei Teile zerlegt und gebieterisch die »Kraft« auf die Seite des Objektes, das »Urteil« aber auf die des Subjektes verweist. In diesem tiefen Begriff ist etwas los, und er gehört zu Kants größten Griffen. Genau so aber ist der Glaube beschaffen. Nur läßt sich das Wort nicht teilen, und es gilt hier einen Kampf gegen den Sprachgeiz. Es stecken in ihm gleichfalls zwei Elemente mit verschiedener Stromrichtung, die erst durch Übersetzung in alte Sprachen einigermaßen zum Vorschein kommen. »Pistiw« und »fides« kommen auf die objektive Seite zu stehen, wurzeln dort, »credo« und »puto« auf der andern. So zerteilt wird der Glaubensvorgang durchsichtig, indem sich wiederum die Achse der Natur dazwischenschiebt und unerbittlich trennt. Von der objektiven Seite her strömt etwas herauf, das, aus dem Grunde der Natur kommend, den Menschen anruft, ihm zu vertrauen; das ist die Glaubenskraft, die aus Freiheit geschenkt wird. Der Intellekt aber fängt sie auf und bildet, um auch für ruhige Zeiten gesichert zu sein, das Dogma. Das aber ist keineswegs ein willkürliches Gebilde der Vernunft, sondern ein notwendiges des Glaubens, und stellt sich fast automatisch ein. Das »credo« aber, das hier einsetzt, hat Stromrichtung vom Subjekt zum Objekt und bleibt daher leer, falls es vom Glauben alleingelassen wird. («Begriffe ohne Anschauung sind leer.«) Daher sind alle Sätze des Dogmas nur im Glauben wahr - wobei das »nur« aber eine Erhöhung bedeutet. NOVALIS hat es richtig erfaßt: »Glauben ist hienieden wahrgenommene Wirksamkeit und Sensation in einer anderen Welt, ein vernommener transmundaner Aktus«.

3. DER BIBLISCHE SCHÖPFUNGSBEGRIFF
Die Offenbarung an die Propheten Israels ist original und leitet sich nicht aus anderen ab. Hierfür ist kennzeichnend der Schöpfungsbegriff der Bibel, der, wenn man ihn im ganzen nimmt, keine ƒhnlichkeit mit irgendeinem andern hat. Wenn man die Schöpfungsberichte liest, die uns das hellenische und lateinische Altertum hinterlassen hat, so handelt es sich bei ihnen immer um eine handwerkliche Tätigkeit des Demiurgos oder »ille opifex rerum«, kurz jeder Art von erdachten Weltschöpfers. Ein Absenker davon ist noch der zweite Schöpfungsakt des Buches Genesis, in dem der Mensch aus einem Erdenkloß, also von außen her wie von einem Töpfer, gemacht wird.* Wovon aber wirklich die Rede ist und was die Propheten im eigentlichen meinen, wenn sie von der Schöpfung sprechen, das ist der geniale Akt, der aus der Tiefe der Person kommt und das Werk ganz durchdringt.** Die menschliche Entsprechung hierzu wäre also die Tätigkeit des Genius in statu nascendi, und zwar im besonderen des Genius der Kunst. Die Israeliten haben während des ganzen Verlaufs ihrer Geschichte die bildende Kunst verworfen, weil diese nach ihrer Meinung die Gefahr des Götzendienstes heraufbeschwört. Der Dichtung aber ließen sie freien Lauf, und das Alte Testament erreicht in seinen Höhepunkten auch den der großen Dichtung aller Zeiten. Daher geht die Welt folgerichtig aus dem Worte Gottes hervor, das tief bis in jede Faser des Geschaffenen dringt und dort auch anhält. Wenn daher »Gott in jedem Blatte« ist, so ist das Blatt damit keineswegs Gott, wie es der Pantheismus will, sondern es bleibt in ihm stets geschieden: der Schöpfungsakt und das Geschaffene. Man rede hier nicht von »Anthropomorphismus« - der geniale Akt ist ein Vorgang der Natur selber, der nur über den Menschen läuft. Daß aus diesem Stoffe aber der Heilungsprozeß der Natur besteht, das ist die Entdeckung der Propheten Israels.
Dabei muß man bemerken, daß überall, wo der Mensch durch geniale Akte Werke erzeugt, diese, trotz ihrer Schönheit, doch eben mißlingen; daß aber der Schöpfungsakt Gottes dem nicht unterworfen ist und daher die Worte der Genesis zu Recht bestehen: »Und Er sahe, daß es gut war«. Zum mindesten gilt das allemal dort, wo Gott in vollem Singular und unbeeinträchtigt durch störende Mächte schafft. Dies Gefühl des Mißlingens aller menschlichen Werke dringt in das Bewußtsein aller Völker ein. So gibt es einen japanischen Holzschnitt in der Manier des Hokusai, der den heiligen Berg Fujijama im Hintergrunde zeigt, davor einen Dichter, der auf einer Tafel die Zeichen aufgemalt hat, die den Schöpfungsakt wiederholen sollen; er stützt aber mit verzweifelt gerungenen Händen und verzerrtem Gesicht hintenüber in der vernichtenden Erkenntnis, daß sein Menschenwerk, schon ehe es zustande kommt, mißlingt. Der Fujijama aber steht da in seiner Herrlichkeit.
Daß die Propheten Israels ihren Schöpfungsbegriff in Verwandtschaft mit dem künstlerischen gedacht haben und nicht dem handwerklichen, das geht, wenn nicht schon aus der allgemeinen Stimmung, in der alles gehalten ist, so aus Worten hervor wie »nach dem Angesichte Gottes geschaffen«, dann aber auch der Haltung der Psalmen. Es geht alles von innen nach außen, nicht umgekehrt. So konnte Paulus, darauf fußend, später den Sprung tun zur Wiederholbarkeit des Schöpfungsaktes im Menschen und von einer »neuen Schöpfung« ((nea ktisis)) reden.
Die Schöpfung aber ist immer von der Zeugung zu trennen, und auch die Beziehung von Idee und Einzelwesen liegt von ihr getrennt. Die Sonnenblume, die hier vor mir im Garten steht, zeugt und ist gezeugt über ihren Samen weg; und, daß aus ihm stets wieder Sonnenblumen kommen, das erfolgt aus ihrer Idee; das ist gewiß ein Wunder der Natur, aber nicht das Schöpfungswunder. Das liegt vielmehr darin, daß sie überhaupt da ist, daß da etwas ist, was Sonnenblume sein will; daß diese prachtgründige Form den Willen gefunden hat, der ihr Dasein in der Materie verbürgt, das ist das Schöpfungswunder. Also nicht immanent »die Welt im Innern zu bewegen«, sondern gerade transzendent »ein Gott, der nur von außen stieße« - nur ist das eben eine falsche Sache und ein falsches Bild; es heißt nun einmal »Und Gott sprach: es werde Licht!«, denn nur das ist Verkündigung. Und es hat sich so gefügt, daß diese immer akustisch ist (eine »Audition« nach MARTIN BUBER) und nie optisch. Diese protologischen Ereignisse können nur gehört werden, weder gesehen noch gedacht. Hier wirkt sich der ständig und verhängnisvoll übersehene Unterschied von Verstand und Vernunft auch in der Theologie aus. Jeder Künstler aber weiß, daß, wenn er eine Blume zeichnet, er dies aus der Freiheit seiner Person tut, ohne die jeder Strich unmöglich wäre: die Propheten Israels aber verkünden, daß die wirkliche Blume und alle Umwelt um sie, aus der Freiheit der Person Gottes heraus ins Dasein getreten sind. Und darum preist der Psalmensänger:

   «Herr Gott, wie sind deine Werke groß und schön.
   Du hast sie alle weislich geordnet
   Und die Erde ist voll deiner Güter«.

Zur Erklärung des Naturverlaufes ist die Annahme eines persönlichen, aber auch eines unpersönlichen Gottes überflüssig und störend. Die Forschung soll nur wacker atheistisch sein und nicht mit »Gott-Natur« sich und anderen die Gedanken vernebeln. In dem Augenblick aber, da die Natur rückläufig wird, ihrer Verwundung zu erliegen droht, setzt das prophetische Wort ein und verkündet den persönlichen Grund im Schöpfungsbestande der Dinge. Das würde es heute und sofort, in diesem Augenblicke tun, wenn es nicht vor viertausend Jahren geschehen wäre. Die Medizin ist eingeschenkt. Denn die Religion ist nichts anderes als der Heilungsprozeß der Natur in toto. Die Psalmen aber sind nicht Dichtung, obwohl sie in ihrem Gewande auftreten, sondern gehören in eine objektive Wirkungsebene, in der es, genau wie in der Heilkunde, richtig und falsch gibt.
 

4. DAS GESETZ UND DIE ANTINOMIE DES GESETZES
Die Philosophie hat feststellen müssen, daß die Gründung der Ethik auf einem ihr fremden Territorium erfolgte. Es hat sich gezeigt, daß ihre eignen Mittel nicht hinlangen, um eine Konstituierung glaubwürdig zu machen; es reicht nicht hin und nicht her, und die Rechnung geht nie auf. Leitet man die Ethik aus der Vernunft ab, so entsteht im Handeln selber ein Hohlraum, der den Täter fast lächerlich macht; greift man aber, was im Prinzip richtig wäre, einen materialen Faktor auf und wählt das Mitleid, so fällt wohl der Hohlraum fort, aber die Inhalte der Ethik selber kommen zu kurz. Weder Hohlraum, noch Armut treten auf beim Entdeckungsakt der Propheten, der besagt: daß es ein- und dieselbe Person sei, die der Welt als Schöpfer zum Grunde liegt und die aus derselben Freiheit gebietet, was sein soll. Natura naturata also und Ethik sind nicht ableitbar, sondern müssen entgegengenommen werden so wie sie sind. Ich kann nichts daran ändern, daß vor mir diese Sonnenblume im Garten blüht, mit dem Ewigkeitsstempel der Schöpfung versehen; ich kann sie ausreißen, aber den Schöpfungsakt greife ich damit nicht an. Und ich kann nichts daran ändern, daß es heißt: »Du sollst nicht töten!« Ich kann das deshalb nicht, weil es ein- und dieselbe Quelle ist, aus der beides kommt. Schöpfung und Ethik sind unergründlich.
Wen mich nun jemand fragen würde, welchen Wahrheitscharakter das hat, was die Theologie das »Wort Gottes« nennt, so antworte ich: Jener - und kein anderer - Apfel, der vor den Augen Isaak Newtons - und niemandes sonst - zu Boden fiele und das Gravitationsgesetz in ihm auslöste, rückte in diesem Augenblick in die mythische Ebene der Erkenntnis ein, die aber, da sie Wissenschaft war, sogleich deren Ausdrucksweise annahm. Wäre das Gravitationsgesetz falsch, so wäre das bloß ein gewöhnlicher Apfelfall gewesen und die geistige Tätigkeit Newtons bloß subjektiv. Ebenso sind die Worte der Propheten Israels - und niemanden sonst - Worte sakralen Gehaltes; auch sie stehen in der mythischen Ebene, aber sie werden nicht Wissenschaft - und als solche sind sie ohne Wahrheitsgehalt - sondern Verkündigung. Führten diese Worte nicht zur Hilfe, so wären sie bloß subjektiv und Produkte kranker Menschen; da sie aber helfen, so stammen sie aus dem Objekt und sind damit »Worte Gottes durch die Propheten«, deren Deutung freilich oft den größten Schwierigkeiten unterliegt. Aber der Heilungsvorgang ist da, und deshalb bestehen sie zu Recht. Das heißt: wir haben hier wieder einen Wahrheitsbeweis ex juvantibus; der aber ist giltig, weil die Religion nichts anderes ist als Hilfe. Einen anderen könnte man gar nicht gebrauchen. Würde man darauf bestehen wollen, daß sie außerdem noch Erkenntnisquelle sei, so fiele alles zusammen und nichts ließe sich halten. So aber ist ihr Dasein genau so gesichert wie das der Natur selber. Es liegt hier ein ähnlicher Beweisgang vor wie in der Philosophie Kants, in der die Giltigkeit der transzendentalen Logik und damit der Naturwissenschaft dadurch gesichert wird, daß die Welt Erscheinung ist. Nimmt man sie als Ding an sich, so ist Erkenntnis überhaupt nicht möglich, alles wird Unsinn und löst sich in Hänschen Luther-Fragen auf. Die Beschränkung aber hier auf »Erscheinung«, dort auf »Hilfe« ist nur eine scheinbare; es ist doch vom Ganzen die Rede.
Wo aber fragt man nun, liegt das subjektive Kriterium dafür, daß die Bloßlegung des Grundes der Ethik auch wirklich zu Recht besteht? Wie sich das Gravitationsgesetz an der Bewegung der Gestirne erweist, so muß es auch hier einen Prüfstein geben. Der aber kann naturgemäß nur in der moralischen Urteilskraft liegen, die ja älter ist als jener Entdeckungsakt. Und da entsinnen wir uns, daß eine hohe Welle von Ehrfurcht (verecundia) in uns aufstieg, als wir erfuhren, daß jener Mörder vom Morde abließ, als er dabei auf den Willen Gottes stieß, über den sein Gehirn in ruhigen Zeiten jeden beliebigen Unsinn ausplauderte. Wir lächelten noch, als er es mit der »praktischen Vernunft« machte, aber hier vergeht uns das Lachen. Wir wissen seitdem von ihm, daß er weit sicherer als jeder andere davor geschützt ist, wirklich einen Mord zu begehen; in seinen Schoß können wir uns weit ruhiger legen als in deren, die Gott nur in Gedanken-Spaß kennen. Sein inneres Mördertum wird durch die Macht des Schöpfers in Schach gehalten. Aus dieser Urszene wissen wir ja auch, daß Gott - wenn überhaupt - so nur persönlich sein kann; denn nur eine Person kann zu mir sagen: »Du sollst nicht töten!« An diesem ethischen Du aber entzündet sich auch die Personalität des Schöpfers. - Das ist es denn auch, was Kant gemeint hat, als er sagte, eine Handlung sei erst dann wahrhaft gut, wenn sie »um des Gesetzes willen« getan werde und allein aus ihm. Er genierte sich hier, den Namen des persönlichen Gottes zu nennen; denn er fürchtete, dem Zeitgeschmack gemäß, für abergläubisch gehalten zu werden. Darum sprach er nicht vom Gesetzgeber, sondern vom Gesetz. Aber es ist klar, daß er hier nur die Unterscheidung von Individuum und Person unterlassen hat; das erste wäre Aberglauben, das zweite Glauben und Wissen zugleich.
Könnten die Tiere denken, so würde ein jedes auch seine Art denken können; ein Pferd würde bald darauf stoßen, daß seine Individualität ihm durch seine Idee garantiert wird; solange es lebt, kann es durch seine »Pferdhaftigkeit« immer Pferd sein. So aber ist es auch beim Menschen, nur, daß seine Beziehung zur »Menschhaftigkeit« ihn gar nicht interessiert; sie hat nur etwa Bedeutung in der Abstammungslehre. Darum hat der Verfasser des Buches Genesis diese Beziehung auch vergessen zu erwähnen, obwohl er sie bei den Tieren immer nennt («ein jegliches nach seiner Art«). Anders steht es mit der Personalität. Dieses Einmalige, das ich selber bin, steht zur Person Gottes in demselben Verhältnis wie das einzelne Pferd zu seiner Idee. Was aber Person ist, das lernen wir am sichersten in der irdischen Liebe kennen; und Gott bewilligte mir eines Tages durch den Zeugungsakt meiner Eltern mein Dasein auch in der empirischen Welt. Meine Person findet in der unendlichen Personalität Gottes ihren transzendentalen Grund. Davon aber reden die Propheten im Stile der Verkündigung, der hier allein am Platze ist, und weshalb ich das Thema abbreche. - Weil also die moralische Urteilskraft erst hier aus vollem Tiefgang anschlägt, deshalb ist die Entdeckung der Propheten Israels auf Wahrheit gegründet. Niemand kann sich ihr entziehen, ob er will oder nicht.

Wenn Religion nichts als Hilfe ist, dies ihre nüchternste, aber zuverlässigste Formel, und wenn die Ethik in ihr gründet, so fragt es sich: wie paßt das beides zusammen? Zur Hilfe gehört Not. Die eine kommt von außen durch Unglück, die andere von innen durch Schuld. Als Sokrates die Frage stellte, was besser sein, Unrecht tun oder Unrecht leiden, wurde er ausgelacht - aber Orestes lachte nicht. Den hatte es erfaßt. Daß Unrecht-Leiden das Schlimmste sei, was dem Menschen begegnen könne, das drängte sich dem Altertum mit solcher Lebhaftigkeit auf, daß darunter die Frage nach dem Unrecht-Tun ganz verschwand. Und man weiß nie recht, ob das heute so sehr viel anders geworden ist, wenn man es rein empirisch nimmt. Die Menschen denken doch auffallend lange darüber nach, wenn man ihnen diese Frage vorlegt. Aber es gibt auch ein Schuldigwerden aus Versehen, verbotene Früchte, denen man es nicht ansieht, was in ihnen lauert. So wie neben dem Edelpilz, ihm täuschend ähnlich der giftige wächst, so gibt es unter den menschlichen Taten einige, die besonders verlockend sind, auf denen aber ein objektives Verbot ruht; das zu übertreten, bedeutet, daß aus unergründlicher Tiefe die Erinnyen heraufkommen und das Gemüt des Täters zerstören. Solange die Menschheit besteht, hat es das gegeben; aber es gab niemanden, der der geheimnisvollen Sache dieser Gewissenskrankheit auf den Grund kommen konnte. Da fiel der Spruch der Propheten Israels und seitdem weiß der Mensch, prophylaktisch, vor allem, was er nicht tun darf, damit er nicht in Schuld und Leid verfalle. Jetzt aber kommt, kaum geboren, die große Antinomie.
Wenn nämlich Orestes das Gebot Gottes »Du sollst nicht töten« und »Mein ist die Rache, spricht der Herr« gekannt hätte und abgelassen vom Muttermord, so wäre er nicht den Erinnyen verfallen, aber - er wäre nicht Orestes. Und hier liegt die Grenze des Gesetzes Mose. Ehe Orestes in die Lage kam, den Doch zu zücken, war er Orestes; der Schöpfungsakt seiner Person geht voraus und kann nicht aufgegeben werden. Er war zur Blutrache für den Vater zwar erzogen, aber auch geboren; und dahinter in der Tiefe steht ein Schöpfungsakt. Die Taten des Menschen stammen nicht vom »Menschen überhaupt« - wie die des Pferdes -, vielmehr von einem jeweils besonderen; der aber ist der Repräsentant eines einmaligen Schöpfungsaktes. Von der »Idee des Menschen« ist in der Religion nirgends die Rede. Darum ist sie auch im Schöpfungsberichte ausgelassen, der aufs Ethische zielt und nicht aufs Biologische, und daher führt die Linie, die von der steten Befolgung des Gesetzes bezeichnet wird, wohl zum »rechten Israeliter«, der schließlich der »wahre Mensch« wird, - aber nicht weiter. Indessen erst jenseits dieser Grenze beginnt das Tun des Menschen echte Tiefe zu bekommen. Das ist es ja, was den Nikodemus beunruhigt: er hat das Persönliche, das eigentlich Geschaffne, in sich verdrängt und ist durch das Gesetz zum großen Pharisäer geworden, mit gutem Gewissen - aber krank. Er sieht nicht, daß die weite Ebene des Allgemein-Menschlichen eine Sackgasse ist. Daher das Wort Christi, der ihn durchschaut: »Und wenn du nicht wiedergeboren wirst, so wirst du nicht in das Reich Gottes kommen«. Das alles will sagen, daß es ein Irrtum der nachchristlichen Synagoge ist, das Alte Testament auf sich und das Volk Israel zu beziehen und die Religion damit für abgeschlossen zu halten. Denn es entsteht hier ein Widerspruch, den die Synagoge nicht lösen kann: ich bin, was meine Personalität betrifft, Geschöpf Gottes, habe mich nicht selbst gemacht, und das hat doch etwas zu bedeuten; zugleich aber stehe ich dem Gebote Gottes gegenüber, das ja aus derselben Quelle stammt, und dieses kann mich hindern, gerade die Tat zu begehen, die meinem und keines anderen Charakter entspricht: womit ich aber Verrat an meinem Geschaffensein verübe. Man braucht nicht gleich ein geborener Bluträcher zu sein, um das an sich zu bemerken. Was für ein Wagnis geht doch jeder ein, der aus tiefster Überzeugung sich zu geistigem Tun berufen fühlt und beim Vollzuge dieses Tuns Gram und Elend auf seine alten Eltern bürden muß! Das aber ist ein unvermeidlicher Vorgang, wie fast jede Biographie geistiger Menschen uns erzählt. Er ist so unvermeidlich wie das »Ansehen, ihrer zu begehren«, das schon Ehebruch ist. »... Ich habe das Talent auf Kosten des Menschen genährt; was in meinen Dramen als aufflammende Leidenschaft Leben und Gestalt erzeugt, das ist in meinem wirklichen Leben ein böses unheilgärendes Feuer, das mich selbst und meine Liebsten und Teuersten verzehrt« (HEBBEL, Tagebuch 2509). Unter dem Gesetz also - das doch gilt! - kommt Orestes nicht dazu, Orestes zu werden, sondern er wird Tugendhafter und Gerechter vor dem Herrn. Aber, was soll das...? Wieso ist das Religion...? Wo ist hier Hilfe? Gesetzt, die Menschheit in toto handelte danach, so würde sie aufhören, persönlichen Schöpfungscharakter zu tragen. Sie mündete dann in ein »wahres Menschentum« ein, in eine »Idee des Menschen«, so wie es eine Idee des Pferdes gibt: diese aber hat das Buch Genesis geflissentlich ausgelassen! Dieser Verrat an Gott, dem Schöpfer, aber ist das heimliche schlechte Gewissen aller Pharisäer. Denn es handelt sich in der Religion nicht darum, die Menschheit zu verbessern und sie ihrer »Idee« näherzuführen, sondern darum Hilfe zu bringen, wenn die Tat geschehen ist und ihre Folgen ruchbar werden. Hierzu aber reicht das Gesetz des Mose nicht aus; denn es bewirkt ja gerade das, was der Apostel Paulus an ihm als seine einzige Funktion entdeckte: dem Menschen die Sündhaftigkeit alles Tuns vor Augen zu führen. MEISTER ECKEHARD hat einmal gesagt: »Ich möchte zwar um keinen Preis sündigen; aber wenn ich gesündigt habe, so möchte ich um keinen Preis nicht gesündigt haben.« Das ist ein für einen rechtgläubigen Israeliter völlig unverständliches Wort; aber es dürfte zu den tiefsten gehören, die je ein Christ über das menschliche Tun gesprochen hat.
Da ich geschaffen bin, bin ich unschuldig; sowie ich dem Gesetz gegenübertrete, das vom selben Schöpfer stammt, und nur darum, bin ich schuldig: kein Mensch kann diese Antinomie lösen, die ja kaum noch eine des Gedankens, vielmehr des Fleisches ist. Sie entstand aber erst in dem Augenblick, als die Propheten Israels den Schöpfer und den Gebieter in Eines setzten. Es ist eigenartig, daß die nachchristliche Synagoge gerade dieses entscheidende Stück nicht beachtet und damit ihre eigne Bedeutung verkennt. Aber freilich: würde sie das tun, so müßte sie zum Christentum übertreten; und damit sie das - aus unerforschlichen Gründen - nicht tue, ist ihr »die Binde vor die Augen« gelegt. Hier liegt die Grenze Israels.

5. DER DEKALOG UND SEINE VARIANTEN
Durch die Tat der Propheten werden alle Versuche der Philosophie, aus eignen Mitteln Ethik zu begründen, abgetan. Deren Inhalte werden schlechterdings gegeben, genau, wie die der empirischen Außenwelt. Man kann nicht sagen, warum es Elefanten gibt, außer, weil sie geschaffen sind, und man kann nicht sagen, warum das Gebot »Du sollst nicht töten!« gilt, außer, weil es verkündet ist, und zwar von derselben Macht. Man kann immer sagen, daß jedes Lebewesen a priori zweckmäßig ist, und jedes Sittengebot trägt die Form des kategorischen Imperatives an sich: aber das Was ist vom Gedanken unauflösbar. Auch ist die immanente Zweckmäßigkeit a priori, die von der teleologischen Urteilskraft erfaßt wird, nicht dasselbe, wie die relativen Zwecke, die ein Lebewesen etwa erfüllt (so, daß der Elefant dem Menschen Elfenbein liefert); ebenso sind die Zwecke der Ethik, ihre Wirkungen (daß etwa die Menschen sich nicht alle gegenseitig töten) nicht dasselbe wie ihr Sinn, der um seiner selbst willen da ist aus unbegreiflichen Gründen. Es hat wirklich keinen Zweck, einen blödsinnigen Krüppel, der »sich und anderen zur Last« ist, am Leben zu erhalten auf Kosten einer gesunden Umwelt; aber es hat einen Sinn, wenn es ein barmherziger Samariter es dennoch tut und sein Leben dafür läßt. Ethik lebt auf eigenem Boden.
Aber genau so, wie im Laufe der Jahrmillionen die Tier- und Pflanzengeschlechter ihre Inhalte wechseln am Leitfaden ihrer Archetypen, so auch die der Ethik. Die Plesiosauren und Mammuts sind aus der Schöpfung zurückgenommen; an ihre Stelle sind andere Tierarten getreten, die durch den Ausfall belebt wurden, aber immer ist die Tierwelt in reicher Vollständigkeit da. Ebenso unterliegen die ethischen Inhalten den Wandlungen. Wir wissen aus der Völkerkunde, daß vieles heute und bei diesem Volke als erlaubt gilt, was morgen und bei jenem die schrecklichsten Zerklüftungen des Gemütes zur Folge hat. Immer aber ist etwas da, was den Menschen in sie hineinzutreiben droht, und dieses unterliegt den sittlichen Gesetzen, ganz gleich, ob man das weiß oder nicht. Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe. Denn das Gesetz hat seine Wurzel nicht in der Vernunft, die es nur bewacht, sondern in demselben Grunde der Natur, aus der die Tier- und Pflanzengeschlechter stammen. Dort, in er Schöpfungstiefe sind sie miteinander verwachsen. Daher beobachten wir im Laufe der Jahrtausende ein gewisses Verwelken und dann Absterben vorher heilig gehaltener Gebote, dafür ein Heraufkommen und Festigen anderer.
Da ist an den breiten Gürtel des jüdischen Zeremonialgesetzes zu erinnern, das, wie mir von theologischer Seite berichtet wird, über sechshundert Einzelgebote zur Führung des jüdischen Lebens enthält. Es hat die Funktion der Sicherung jenes eigentümlichen, nur bei Israel vorkommenden Prozesses der Samengründung, der mit Abraham beginnt und sich durch die prophetischen Jahrhunderte bis auf die heutige Zeit fortsetzt. Immer handelt es sich hier darum, ein Volkstum zu sicher, das seine Wurzeln nicht im Erdhaft-Biologischen hat, sondern im Vorgang der Gesetzesoffenbarung. Von einem sehr begabten Halb-Israeliten, der durch seine schwierige Blutmischung zu ernstem Nachdenken gebracht wurde, Herrn EUGEN KAHN, übernehme ich gern den Begriff der »volkstumslosen Volksgemeinschaft«, den er für die Juden prägte. Anstelle der erdhaften Elemente des Volkstums tritt hier das Zeremonialgesetz. Dessen Herkunft aber erklärt sich aus der Wirksamkeit uralten Schamanentums. Wir hatten bei jenem indianischen Schamanen schon erfahren, daß die Archetypen der natürlichen Dinge sich nicht nur an den Intellekt wenden und dort als Artbegriffe auftreten, sondern auch - aber als Ausnahme - an den Willen, so daß eine Verfügungsgewalt besonderer Art entsteht. Aus dieser Quelle stammt das Zeremonialgesetz, dessen Bestimmungen aus folgerichtigem Denken gar nicht zu erklären sind; so entsteht etwa der Begriff des »unreinen Tieres«, der nichts mit Unsauberkeit zu tun hat. Es hat hier in der Tradition offenbar ein hartnäckiges Ringen der israelitischen Priesterschaft mit den Tierkulten ƒgyptens stattgefunden, die ihre Forderungen übersteigerten. »Und es wurde Mose in der ganzen ägyptischen Weisheit erzogen« (Apg. 7. 22). Daß Israel hier unübersteigbare Grenzen setzte, war zweifellos der Hauptgrund für den Exodus. Daß aber das Verbot des Schweinefleisches etwas mit einer vorgeahnten Trichinengefahr zu tun habe, das ist natürlich eine Auslegung, würdig des Jahrhunderts, das sie aufgebracht hat.
Dieses Zeremonialgesetz, dem jede gesamtmenschliche Bedeutung fehlt und das eben nur auf Israel Bezug hat, wurde nun aber auch von diesem in vollem Ernste hingenommen, so daß man den Unterschied zum Dekalog kaum bemerkt. Es sind ja eben beide Gesetzesteile Offenbarungen Gottes, und das Zeremonialgesetz bestimmt jenen zweiten Schöpfungsakt am Volke Israel, durch den es zur Sakralrasse wurde; kein Wunder, daß es für die Juden in den Dekalog überging. Der Nichtjude sagt sofort: was geht uns das an? Der gläubige Israelit aber zermürbt sich Herz und Hirn, wenn er ein Gebot übertritt, weil er weiß, daß er damit Gott verletzt. Wie zäh aber das Zeremonialgesetz mit dem Dekalog verschmolzen war, geht u. a. aus der Einigungsformel hervor, die man auf dem sogenannten Apostelkonzil des Jahres 51 zwischen der judenchristlichen Gemeinde und Paulus fand. »Darum urteile ich, daß man denen, so aus den Heiden zu Gott sich bekehren, nicht Unruhe mache, sondern schreibe ihnen, daß sie sich enthalten von Unsauberkeit der Abgötter und von Hurerei und - vom Erstickten und von Blut« (Apg. 15. 19/20). Die Vollwichtigkeit der ersten beiden Forderungen ist ebenso einleuchtend wie die gänzliche Gleichgiltigkeit der dritten; denn was hat es schon auf sich, ob ein Christ, ja überhaupt ein Mensch (außer den Juden), »Ersticktes« ißt oder nicht! Aber damals drehte sich ein Stück Weltgeschichte um diese Forderung.
Das Gebot »Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen« schwankt in seiner Kraft während der Zeitläufe. Am stärksten ist es im israelitischen Altertum, wo es das Bollwerk gegen die heidnischen Individualkulte war, während es für uns überhaupt nicht mehr besteht; denn niemand wird die »Schöpfung Adams« von Michelangelo als Gotteslästerung betrachten. Dann machte es Gelegenheitsvorstöße bei den Ikonoklastenkaisern in Byzanz und bei den Bilderstürmern in der Reformation; aber es hat doch kein eignes Leben mehr. Ein Gebot dagegen, das danach schreit, wieder Leben zu bekommen, ist dies: »Du sollst den Namen des Herrn deines Gottes nicht unnützlich führen«; die frommen Juden nehmen in tiefer Einsicht in die innere Gewalt der Namengebung dieses Gebot furchtbar ernst und sprechen den Namen Gottes überhaupt nicht aus, umschreiben ihn vielmehr mit der wunderbaren Formel »Der Heilige Israels, gesegnet sei Sein Name!« Aus dieser Haltung spricht eine religiöse Begabung, wie sie noch nie ein Volk gehabt hat. In dem Nicht-Aussprechen und doch Wirkenlassen des Namens liegt der ganze Ernst der Religion; es ist, wie wenn die Natur, auf ihren Grund kommend, den Atem anhielte. Und das wird gefordert. Jedes Aussprechen aber ist eine Minderung; und welcher Schwund seit zwei Jahrtausenden durch die immer mehr zunehmende Geschwätzigkeit der Kirchen, besonders der evangelischen, eingetreten ist, das bemerken diese selber leider am wenigsten, vor allem aber zu spät. Israel aber bleibt noch immer dem Gebote treu und verstummt vor dem Namen.*
Gegenüber diesen zur Veränderlichkeit neigenden Geboten - denen man noch etwa das über die Sabbatheiligung hinzufügen kann - stehen auf festem Grunde das fünfte und sechste, die die Mitte des Dekaloges erfüllen: »Du sollst nicht töten!« und »Du sollst nicht ehebrechen!« Mord und Wollust, diese zwei Handlungen des Menschen, die sich ihm am lautesten aufdrängen, haben die am meisten zerrüttende Gewalt über sein Gemütsleben. Dadurch aber, daß sie nicht von individuellen Landesgöttern, sondern von der einzigen Person des Weltschöpfers verboten werden, wird ihre Unterlassung von einer bloß legalen zu einer guten Tat umgeprägt; es entsteht immerhin ein positiver Kern im ethischen Tatgefüge des Menschen; er begeht gute Taten, die ihren ständigen und sicheren Grund haben. Es ist schön und erhaben, wenn Achill den alten Priamos nicht tötet, der in seiner Gewalt ist; aber es ist eine andere Sache, wenn so etwas aus Gehorsam gegenüber dem Gebot überhaupt nicht geschieht. Freilich hat man schon gesagt, daß das die schlechtere Sache sei; und auch das läßt sich hören, sowie man die Klippe sieht, an der das Gesetz Mose eines Tages scheitern muß.
Mit dem sechsten Gebot »Du sollst nicht ehebrechen«, aber hat es noch eine besondere Bewandtnis; denn es ist nicht einzusehen, warum eine letzten Endes menschliche Institution mit wechselnder Personenzahl und wechselndem Inhalt den Rang einer freien Schöpfung Gottes, wie es das Leben jedes einzelnen Menschen ist, einnehmen soll. Würde der Ton und die Bedeutung des Gebotes auf die Erhaltung dieser jeweiligen Institution zielen, so wäre es mehr als ein Variante des siebenten («Du sollst nicht stehlen«) anzusehen. Auch kann man unmöglich glauben, daß die kasuistischen Vorschriften des codex canonicus darüber, was hier Sünde sei und was nicht, den Kern der Sache treffen. Die Spärlichkeit des Erlaubten beim sogenannten coitus canonicus verwehrt dem Menschen in der Tat hier jede Kultur und setzt den Eros zum bloßen Zeugungsakt, wie beim Tiere, herab. Indessen ist der Wortlaut zweifellos die Umkleidung von etwas tiefer Gelegenem, auf das allerdings nicht verzichtet werden kann, ohne das höhere Menschentum anzugreifen. Ein mir befreundeter märkischer Edelmann macht mir eines Tages, wie er sagte, das »Geständnis«, daß er keusch in die Ehe gegangen sei. Auf meine erstaunte Frage, wie das gekommen wäre, da ihm doch jede Befangenheit in diesen Dingen und jedes Muckertum fehle, erzählte er mir, wie sein Vater ihn beim Ausbruch der Geschlechtsreife zu sich gerufen und ihm die bekannten Ermahnungen habe angedeihen lassen. Es kam aber anders als gewohnt. »Ich weiß, mein Junge«, habe der alte Graf gesagt, »was du jetzt von mir hältst. Du denkst, ich werde dich verwarnen und abschreckende Bilder vor dich hinzeichnen, damit du vielleicht ganz gegen deine innerste Natur, aus Angst unterläßt, was du eigentlich gern tun willst. Freilich sage ich dir, welche Gefahren du läufst; aber ich weiß ja, daß du sie meistens schon kennst und vielleicht nicht einmal scheust. Aber eines sage ich dir mit aller Dringlichkeit: »Vergiß nicht, daß du es hier mit einer heiligen Sache zu tun hast! - So, nun geh, und tu, was du willst«. - Das war sechstes Gebot.
 

6. SAULUS VON TARSUS ENTDECKT DIE ERBSÜNDE
((xoris tou nomou amartia nekra))                     Röm. 7,8.
 

Es ist ein verführerischer und gar nicht zu vermeidender Gedanke, der sich mit der Sicherheit eines Reflexes einstellen mußte, daß ein Gesetz, von solcher Herkunft und von dieser Autorität verkündet, zu gar nichts anderm da sein könne als allein dazu, erfüllt zu werden. Und da sich an diese Erfüllung sogar die Verheißung knüpfte, daß durch sie das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit auf der Erde kommen würde - gebunden und verbürgt durch die Existenz Israels -: wie könnte man anders denken, als daß damit auch die Bedeutung des Gesetzes erschöpft sei? Zudem ruht im Ethischen tief verborgen doch eben immer der Gedanke, daß es sich lohnt.
Es ist der Orden der Pharisäer, der als Träger der Gesetzesgerechtigkeit und des Guten aus dem Gesetz jene Auslegung auf die Spitze getrieben hat. Man muß ihn zunächst des Odiums der Heuchelei entkleiden, unter dem er im Neuen Testament zu leiden hat; vielmehr spielt er eine gewisse tragische Rolle im Prozeß der Ethik, weil sich an ihm die Unhaltbarkeit der Auffassung am deutlichsten erweisen sollte. Denn das Gesetz Mose und der Propheten ist so gebaut, daß es nicht gehalten werden kann, die Pharisäer aber so, daß sich ihr ganzes Leben auf der These von seiner Erfüllbarkeit aufbaute. Der erste Teil dieses Satzes klingt für ein israelitisches Ohr wie eine Gotteslästerung; denn da ja auf der Erfüllung des Gesetzes die messianische Verheißung ruht, so wäre ein unerfüllbares Gesetz eine Untreue Gottes an seinem Volk, Und so denkt auch noch heute jeder gläubige Jude. -
Es handelt sich hier aber nicht um eine quantitative Unerfüllbarkeit. Wenn das Gebot lautet: »Du sollst den Feiertag heiligen«, so enthält dieses einen unzerstörbaren Kern, der aus dem Wesen des Gesetzes selber stammt; wenn aber nun, im Kommentar dazu, eine Unzahl von Einzelgeboten herausgebracht wird, die besagen, wodurch diese Heiligung stattfinden soll, so liegt darin eine quantitative Ausweitung in actu demonstrandi, die steigend lauter Erschwerungen des natürlichen Lebens enthält und damit das Gesetz - das ja hier auch ins Zeremonialgesetz überwechselt - an die Grenze der Unerfüllbarkeit rückt. Und so bei allen andern Geboten auch. Aber diese ist nicht gemeint, sondern die qualitative und dem Gesetze wesentliche steht zur Rede. Das Gesetz Mose enthält ontische Antinomien: es steht im organischen Widerspruch mit sich selbst, dessen Aufhebung nur durch eine andere Kraft erfolgen kann. Würde es sich um die Gesetze handeln, die Lykurg oder Solon oder Hamurabi erlassen haben, so träte eine solche Antinomie nicht auf, obwohl sie den gleichen Inhalt zu haben scheinen; sie werden gehalten oder übertreten, ohne daß am Menschen etwas geändert wird. Das Gesetz des Mose, das auf anderm Grunde ruht, verlangt die Anwesenheit Gottes in den menschlichen Taten. Das heißt: die Ethik nimmt Bezug darauf, daß sie aus derselben Quelle stammt wie die Geschöpfe der Natur. Wenn von einem dieser Geschöpfe aber Gott sein Wort zurücknimmt, so kann es nicht mehr leben und wird aus der Schöpfung ausgeschieden. Das geschieht allenthalben im Laufe der Erdzeitalter. Vom Menschen aber wird dieses Wort niemals zurückgenommen. In der Ethik nun muß Gott ebenso da sein, und das müßte sich in einer eigentümlichen Schöpfungsfreude erweisen, die sich deutlich von allen anderen Freuden des Lebens abhebt und die wohl jener fromme Chasside gemeint hat, als er von der »Süße des Gesetzes« sprach - sonst ist das Handeln tot, und der Mensch, wenn er auch als Individuum am Leben bleibt, stirbt doch als Person ab. Nun liegt es aber nicht in der Hand des Menschen, Gott zu zwingen, in seinen Taten bei ihm zu sein, sondern es gehört zur Freiheit Gottes, dies zu tun, aber auch, ihn zu verlassen, so wie er aussterbende Tierarten verläßt, die dann an irgendeiner Ursache zugrunde gehen.
Die Wahrheitsliebenden unter den Pharisäern waren nun auf diesen betrüblichen Tatbestand gestoßen, der sich in der Griesgrämigkeit ihrer Gesetzeserfüllung bemerkbar machte; der aber mußte sie notwendigerweise am Gesetz irre werden lassen. Daher stellten sie immer dieselbe Frage an Christus: »Herr, wie komme ich ins ewige Leben...?« Dieses »ewig« hat nichts mit der Zeit zu tun und bedeutet weder »nicht endend«, noch »Leben nach dem Tode«, sondern es bedeutet »nur« das Leben der Person im Gegensatz zu dem des Individuums. Das ewige Leben gebietet dem ständigen Sterbevorgang der Person Einhalt und bewirkt die »Auferstehung des Fleisches«, also einen Heilungsprozeß. Der aber geschieht durch den Geist. Auch hier wird es wieder klar, daß dieses mißbrauchte Wort nichts mit dem Intellekt zu tun hat, sondern Geist ist das »Herüberwehende« (pneuma); es ist also von derselben Substanz wie das, was beim genialen Vorgang die Entscheidung herbeiführt. Hier aber im Ethischen, wo es ums Ganze geht, trägt er noch den Namen Àgiow, das heißt »heiliger Geist«. Man wundert sich immer darüber, daß Christus in so herber, fast liebloser Weise jene wahrheitssuchenden Pharisäer abweist, den reichen Jüngling, indem er ihm unmögliche Zumutungen stellt, und Nikodemus, indem er ihm die Lehre von der Wiedergeburt entgegenwirft, der jener fassungslos gegenübersteht. Der Grund dafür liegt wohl darin, daß der Vollzug dieser Heilungen von seinem eignen Opfertode abhängig ist, der ja noch nicht eingetreten war.
Die größte Klippe des Gesetzes Mose aber ist seine eigne Zusammenfassung in der gedrängten Form: »Du sollst Gott deinen Herrn lieben und deinen Nächsten als dich selbst«: Eine gesollte Liebe aber ist ein Widerspruch in sich selbst. Wenn das Wort einen Sinn haben soll, so kann es nur der sein, den die Erfahrung gibt, nämlich die wirkliche Liebe von Person zu Person; deren Hauptmerkmal aber ist, daß sie niemals einem Imperativ gehorcht. Ich bin nicht imstande, meinen Nächsten zu lieben, außer in Freiheit, und wenn ich es auf Grund des Gesetzes versuche, so muß das herauskommen, was man den Pharisäern immer als die üble Seite ihres Charakters vorgeworfen hat: die Heuchelei. In der Tat: gesollte Liebe gibt es nicht. Damit aber ist nicht gesagt, daß es nicht Nächstenliebe gibt als natürliches Gebilde; diese aber stammt nicht aus dem Gesetz.
Die Pharisäer hatten nach oben zu eine aufgelockerte Schicht, die heimlich zweifelte, die aber schwächlich war und nicht durchkam. Anders der Jüngling Saulus aus Tarsus Schüler des großen Gamaliel, der von Anfang an als Genie auftritt. In den Jüngern Jesu war ihm etwas entgegengetreten, was er bisher noch nicht gekannt hatte; diese Menschen handelten aus einem Motiv, das ihm neu war, von dem sein sicherer Pharisäer-Instinkt ihm aber sagte, daß es die Grundlage der Lehre vom Gesetz erschüttern mußte. Das aber geschah unbewußt, und ebenso war auch die Reaktion, die es auslöste: er »schnob und mordete wider die Apostel« (Apg. 9. 1), er besichtigte mit Vergnügen das Martyrium des Stephanus und betrieb systematische Inquisition. Aber eben, weil das alles nur eine unbewußte Abwehr gegen das aufkeimende bessere Wissen war, eine Verdrängung, eben deshalb konnte es nicht vorhalten. Der Tag von Damaskus, wie wir ihn in der Apostelgeschichte geschildert finden, ist die dramatische Umkleidung des genialen Durchbruches, und zwar von einem Ausmaß, wie wir es sonst nirgends, weder in der Wissenschaft noch in der Kunst, finden. Es handelt sich ja auch um die Ethik und um nichts weniger. Was hier geschah, ist nicht die Gründung eines christlichen Dogmas, sondern eine Entdeckung des Christentums, die jedermann annehmen muß. Die Erbsünde, also der Inhalt des genialen Durchbruches, ist keine christliche Sonderlehre, wie etwa die von der jungfräulichen Geburt Jesu, sondern der modus des menschlichen Handelns überhaupt, ganz gleichgiltig, ob man sich zum Christentum bekennen will oder nicht.
Mit einem Schlage bricht die bisher krampfhaft festgehaltene pharisäische Auffassung vom Gesetz bei Saulus von Tarsus zusammen, zugleich er selbst, mit ihm sein Name, und es entsteht die paradoxe Lehre: der wesentliche Sinn des Gesetzes ist kein praktischer, sondern gehört in die Erkenntnis; diese aber lautet, daß der Mensch durch das Gesetz die Sünde im Singular, als die Form a priori seines Tuns begreift. Man nehme alle Sünden, die im Gesetz stehen, fort: die Sünde ((h amartia)) bleibt übrig - genau, wie der Raum übrig bleibt, wenn man alle in ihm erscheinenden Gegenstände fortnimmt. Paulus begeht das transzendentale Experiment mit der Sünde und beweist, daß sie dem menschlichen Tun immanent ist. Er bedient sich dabei der dialektischen Methode, indem er sich in Gedanken einen Gegner schafft, den er in der Unterhaltung (dialegesthai) widerlegt. Diese ist in die Verkündigung eingewoben, spielt meistens die führende Rolle, und ist ihrem ganzen Charakter nach echte Wissenschaft (Theologie).
So, wie die Stoffe zur Materie, so verhalten sich die Sünden des Gesetzes Mose zur Sünde. Und wie die Stoffe während ihrer Verwandlungen niemals die Materie loswerden, da diese transzendental ist, so wird das Tun des Menschen, auch das Gute durch das Gesetz, niemals die Sünde los - weil diese gleichfalls transzendental ist. Die Sünden des Gesetzes und ihre Unterlassungen sind abgeteilt, diskontinuierlich, kasuistisch faßbar, wie die Stoffe; die Erbsünde aber ist das ethische Kontinuum des menschlichen Geschlechtes. Das ist kein Teil des christlichen Glaubensbekenntnisses, das man haben kann oder nicht, sondern die Entdeckung des Christentums, die jedermann annehmen muß, auch wenn er nicht will. Goethe wollte nicht, denn es ging ihm nicht in den Sinn, daß unschuldige Kinder »schon« sündig sein sollten; aber er hatte nur nicht genügend darüber nachgedacht; denn sonst hätte er nicht die Erbsünde mit dem Bösen verwechselt, womit sie nichts zu tun hat.
Jetzt fallen die meilentiefen Worte des Römerbriefes: »Getrennt vom Gesetze war die Sünde ein Leichnam. Ich aber lebte einst getrennt vom Gesetz; da aber das Gebot ankam, da lebte die Sünde auf, - ich aber starb ab. Was mir also Leben bringen sollte, das Gebot, das brachte mir den Tod« (7.8). Mit andern Worten, die auch im Römerbrief stehen: das Gesetz Mose ist nicht dazu da, um die Sünden aus der Welt zu schaffen, dadurch daß es dem Menschen gebietet, sie nicht zu begehen (denn das tut es), sondern um ihm klar zu machen, daß er, der Mensch, in seinem tiefsten Wesen, dem ethischen, krank ist. Was für eine Sicht! Welch ein blendendes Bild war hier durch Mose und die Propheten aufgestellt! Ein ganzer großer Blütenkranz göttlicher Gebote, tief überzeugend, genial gefunden, den Stempel der Offenbarung an sich tragend: sie erfüllt - und die Menschheit blüht herrlich auf, ohne Zorn widereinander, ohne Mord, ohne Diebstahl und Ehebruch, ja nicht einmal mit Begehren zu alledem; und die geheiligten Feiertage betonen in gemessenen Abständen die Herkunft des Menschen nach dem Angesichte Gottes! Ja, wenn nur eines dieser Gebote wirklich und von jeder Tiefe her erfüllbar wäre, es risse die andern fort wie im Spiele, und die »Süße des Gesetzes« wäre der Geschmack, den, unter Führung Israels, alle Menschenkinder auf der Zunge hätten! Aber dies alles ist falsch, sagt der Apostel Christi. Dazu ist das Gesetz nicht da - das im übrigen in voller Giligkeit bleibt; es trägt den Stempel herausfordernder Unerfüllbarkeit an sich bei voller Geltung! Und solange es besteht, damals doch schon tausend Jahre seit dem Sinai, hat die Natur des Menschen sich noch nicht um einen Deut geändert, und heute, dreitausend Jahre nach dem Sinai, genau so wenig. Die Juden, sagt der Apostel, mißverstanden seinen Sinn, und es ist höchste Zeit, das Denken zu ändern ((metanoein)) und zu sehen, daß die Sünde mir wesentlich innewohnt als die Form a priori meines Tuns ((h oikousa en emoi amarti)). Hier also ist, durch den Apostel, die Religion wieder erreicht, die Hilfe gegen Krankheit ist. Die Erbsünde aber, als die Materie der Sünden, wurde durch die Entdeckung des Apostels - eine Art umgekehrte kopernikanische - in die Sphäre des Erlebnisses gerückt, was vorher unmöglich war. Da sie Wille ist, wird sie mit Lust gewollt, und in dem Augenblick, in dem sie sich spürt, weiß sie sich zugleich als das kategorisch Nicht-Seinsollende. Wie, als ob der Raum nicht sein dürfte. Ecce homo!
Die Erbsünde ist echte Krankheit, die nicht dadurch behoben werden kann, daß man, dem Gebote gemäß, versucht, nicht zu sündigen. Die einzelne Sünde wäre dann freilich nicht getan und würde »nicht angerechnet«, aber die Sünde bliebe. Es ist genau dasselbe, wie in der Medizin, in dem man von »Disposition« ((katastasis)) spricht; jeder Mensch ist prinzipiell zur Krankheit disponiert, und jeder hat einen locus minoris resistentiae, an dem eine bestimmte Krankheit bei ihm Einzug hält. Die Disposition ist die »Krankheit zum Tode« in der Medizin.
Wir befinden uns mitten im größten Entdeckungsakt der Ethik und an deren tiefster Stelle: weiter geht es nicht. Dem Saulus von Tarsus war, wie wir schon erwähnten, contre coeur aufgefallen, daß die Jünger Jesu und was weiter um sie war, Handlungen begingen und ertrugen nach einem Prinzip, das geheimnisvoll war, wie jeder echte Anfang, und das nicht aus dem Gesetz stammte. Die Jünger selber wurden damit nicht fertig, und es war höchste Zeit, daß der erste Theologe des Christentums auftrat, der die Sache richtig stellte. Es handelte sich also nicht, und des handelt sich auch heute nicht um »christliche Ethik«, so wie man von mohammedanischer, israelitischer, buddhistischer oder heidnischer Ethik spricht, wobei man jeweils im Zweifel sein kann, welches wohl die beste sei, sondern es handelt sich um die Entdeckung der Ethik durch das Christentum, eine Sache also, der niemand ausweichen kann. Was den Saulus zunächst verwirrte und ihn in die Opposition trieb, war eben jene Unableitbarkeit dieses neuen Tuns aus dem Gesetz; das durfte nicht sein für einen rechtgläubigen Israeliten! Was aber den Umschwung, das heißt Damaskus, herbeiführte, war die Tatsache, daß der Grund dieser Handlungen stärker war als er. »Es wird dir nicht gelingen, wider den Stachel zu löcken!« - Ist es ein Zufall, daß Dionysos als unbekannter Gott in den Bacchen des Euripides (795) dieselben Worte »((pros kentra laktizoimi))« gegenüber dem ungläubigen Pentheus - auch einem Tugendhaften und Gerechten nach heidnischer Fasson - gebraucht?
Es gibt gute Handlungen aus dem Gesetz, und es gibt Handlungen aus Güte »getrennt vom Gesetz«. Diese aber kommen erst seit der Erscheinung Christi vor; und das wollte Saulus von Tarsus im ersten Zusammenstoß nicht verstehen: gerade er, der Pharisäer höchsten Grades, durfte es ja am wenigsten. Wenn jemand einen unentdeckbaren Mord, der ihm allen Reichtum eingebracht hatte, schließlich doch nicht begeht, und zwar nur, weil Gott es verbietet, so ist das ein gute Handlung aus dem Gesetz (in der Form der Unterlassung). Wenn jemand, der das Weib eines andern schon in der Gewalt hat, es schließlich doch nicht berührt, so ist das eine gute Handlung aus dem Gesetz, wenn es aus Ehrfurcht vor dem Gebote Gottes allein geschieht; und eine gute Handlung aus dem Gesetz ist es auch, wenn jemand selbstlos dem leidenden Nächsten hilft, weil Gott es so will. Nur dadurch werden die Handlungen gut, daß sie diese Basis haben. Aber das alles ist das Gute aus dem Gesetz. Wenn aber jemand, statt seinen Mitmenschen zu ermorden, diesen und seine Angehörigen mit Wohltaten überschüttet und sein ganzes Leben damit zubringt, so daß niemand weiß, woher der Segen auf einmal kommt: so ist das ein Handlung aus Güte »getrennt vom Gesetz«. Güte aber ist nicht zu verwechseln mit Gutmütigkeit - wir haben es ja mit einem angehenden Mörder zu tun; Gutmütigkeit ist eine angeborne Eigenschaft des empirischen Charakters wie die Farbenblindheit oder die Schwindelfreiheit, nur mit einem ethischen Einschlag. Güte aber ist niemals angeboren, da sie niemals Eigentum des Menschen wird. Handlungen aus Güte kommen erst seit der Erscheinung Christi vor und durch sie. Achill, der dem flehenden Priamos die Leiche seines Sohnes zurückgibt, handelt nicht aus Güte, sondern aus Edelmut; weder im klassischen noch im israelitischen Altertum gibt es auch nur eine einzige Handlung aus Güte. Was aber den Saulus vor Damaskus zum Paulus machte, war neben der dialektischen Einsicht auch diese rein ontische, daß in der Person des von ihm verfolgten Rabbi Jesus von Nazareth die reale Bürgschaft für die Giltigkeit dieser Einsicht lag und daß es ohne ihn nicht geht.
Ich muß hier ein Stück empirischen Weges zurücklegen, was in der Philosophie oft genug angebracht wäre, wenn das systematische Denken an einer verwickelten Stelle angelangt ist. - Bekanntlich hat Dostojewsky mehrfach in seinen Romanen Menschen geschildert, die einer solchen rätselhaften Umwandlung unterliegen, wie jener Mordwillige, der sein Opfer mit Wohltaten überhäuft, und von hier stammt der Begriff der »russischen Seele«, von der Dostojewsky meinte, daß an ihr einmal die Welt genesen werde. Ich habe Gelegenheit gehabt, diese russische Seele in empirischen Fragmenten zu erleben und sie auf den Kern zu prüfen.*
In mein Haus drangen in den Tagen der Eroberung Berlins russische Plünderer ein, von denen mir einer in besonderer Erinnerung geblieben ist. Es war ein wilder Geselle von unheimlichem Gesichtsausdruck, der mit einer Axt über der Schulter einbrach und zunächst einige Zerstörungen anrichtete, ehe ich im entgegentreten konnte, und der nun ans Stehlen ging. Er war dabei, mir meine Winterhandschuhe zu entwenden, als es mir gelang, ihn zu stellen. Was sollte ich, ein waffenloser Mann ohne russische Sprachkenntnisse, diesem Ungeheuer gegenüber tun? Was anderes, als ihm zunächst ruhig ins Auge zusehen und keinerlei Furcht zu zeigen. Ich nahm dabei eine Haltung an, wie als wollte ich ihm sagen, daß »Eigentum« etwas sei, das noch unter einem anderen Schutze stünde als der ist, den der Staat gewährt, oder, in diesem Falle, nicht gewährt. Wie es nun geschehen war, weiß ich nicht: jedenfalls bemerkte ich eine gewisse Unsicherheit in seinem Wesen; er war in seinem brutalen Raubwillen irgendwie geschwächt. Inzwischen kam ein Dolmetscher an, und wir verhandelten; er ließ mir sagen, daß er mir die Handschuhe wiedergeben würde, wenn ich ihm dafür zwanzig Zigaretten gäbe. Ich willigte ein, ging ins Nebenzimmer und holte das Lösegeld. Als ich wiederkam, zog er bereits die Handschuhe aus. Aber wie ich ihm die Zigaretten geben wollte, bemerkte ich eine vollkommene Wandlung in seinen Zügen: er fing an zu lächeln, gab mir die Handschuhe zurück - lehnte aber die Zigaretten ab. Statt dessen fing er an in seiner Hosentasche zu kramen, holte ein Stück Zeitungspapier und eine Dose Tabak heraus, drehte daraus in Blitzesschnelle eine Zigarette und bot sie mir mit den Worten: »Gut Freund!« an. Dabei legte er die Hand auf meine Schulter und betrachtete mich mit vollkommener Friedfertigkeit. Dann ging er an mein Sopha, hob das Kissen auf und zog darunter drei Eier hervor, die er vorher aus einem Hühnerstall gestohlen hatte: »Da! Gut Freund!«, sagte er wieder mit einem eigentümlichen, fast umflorten Blick in den Augen. Er ist dann noch eine Zeit lang in meinem Haus geblieben, hat sich alles mit Neugier und Verwunderung angesehen; dann lief er hinaus, wo sein Steppenpferd an einem Baum angebunden stand, und ritt ohne Abschied von dannen. - Ich frage mich und frage den Leser: woher stammt dieses überschüssige Tun? Ich meine jene plötzlich aggressive Friedfertigkeit und Freundlichkeit, die sich auf einmal über das Wesen dieses sonst wilden Gesellen ergoß? Er hätte es ja mit dem Austausch der Handschuhe gegen die Zigaretten bewenden lassen können, das wäre guter Kriegsbrauch und anständig gewesen. Aber nein, seine Seele fand kein Genüge daran, sondern mußte »Überschüssiges tun« - und das nennt Dostojewsky die »russische Seele«.
Da ich ähnliche Schilderungen von anderen hörte, so nehme ich an, daß es sich hier um einen charakteristischen Zug handelt. Besonders lehrreich sind dabei noch die Berichte, die ich über die vielbesprochenen Frauenschändungen hörte. Ich glaube durchaus, daß so etwas vorkommt, einfach weil besonders auf diesem Gebiet es kaum etwas Unmögliches gibt. Ich glaube aber ebenso, daß die weitaus größte Zahl dieser Vorgänge den Namen nicht verdient, weil sie auf einer tiefgeheimen, oft nur sekundenhaft bewußten, dann wieder verdrängten Zustimmung der Frau beruhen. Wo aber der Eroberer auf Abwehr stieß, da stellten sich mit einer zum Nachdenken zwingenden Regelmäßigkeit jene Überschuß-Handlungen ein, von denen wir nicht sagen können, woher sie stammen. Diese Abwehr mußt aber eine absolute sein; das heißt, sie mußte einer Nachverkündigung des Gesetzes Mose gleichkommen, für die man bereit ist, das Leben ohne jedes Zögern zu lassen; denn man hat es hier »mit einer heiligen Sache zu tun«, wie der alte Graf Finckenstein sagte. Davon berichtete mir ein junges Mädchen persönlich, ohne recht zu wissen was sie damit sagte. Sie wohnte in einer Stadt, die, was Frauenschändungen betraf, besonders hart mitgenommen war. Aus altem Adelsgeschlechte stammend, nahm sie ein derartig stolze Haltung ein, daß sie, das verkörperte sechste Gebot ohne Worte, völlig unberührt die böse Zeit überstand. Als eines nachts Plünderer in ihr Haus eindrangen und einer von ihnen die bewußte Forderung an sie stellte, drang er zwar hart vor, ließ aber dann auf einmal nach, beruhigte sich und - küßte der weinenden alten Mutter, die dabei stand, die Hand.
Diese russischen Plünderer hatten nun ihr Leben lang nicht vom Gesetze Mose gehört. Im Gegenteil, ihre Weltansicht, die sie von Kindheit an in der Schule gelehrt bekamen, verbot ihnen den Gedanken an Gott; und in Gedanken waren sie auch ganz gewiß redliche Atheisten. Trotzdem arbeitet das Gesetz; denn es tut seine Wirkung. Es ist also genau so wie bei der Erdbahn: sie lief schon immer um die Sonne, aber erst durch die kopernikanische Lehre wurde ihr Lauf entdeckt, die Menschheit dabei innerlich verändert, indem der unendliche Weltraum, hohlraumschaffend, in ihr lebendig wurde. Das Gesetz Mose arbeite auch vor Mose - es war schon immer objektiv verboten zu töten - und Orestes war sein Opfer; durch die Verkündigung aber kommt es ins Bewußtsein der Menschheit, verändert sie, indem es den ethischen Hohlraum der Erbsünde schafft. Es ist also echte Entdeckung in des Worte präziser Bedeutung.
Also ist es gleichgiltig, ob jemand in einem theologischen Sinne »an Gott glaubt« oder nicht, und »Gottlosenbewegungen« tun nichts zur Sache, so wenig wie das Gegenteil: die Natur aber bricht niemals ihr Gesetz. Unweigerlich fällt das Meteor zur Erde, sowie dessen Schwere die Kraft der Eigenbewegung übersteigt; und ebenso unweigerlich wird der Mensch durch das Gesetz Mose als Sünder à tout prix ertappt, sowie er eine Handlung begeht, die objektiv verboten ist. Dann leuchtet für einen Moment die Erbsünde als Erlebnis auf, des Apostels Paulus ((epignosis ths amartias) (LUTHER: Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde, Röm. 3. 20), und das allein ist der Sinn des Gesetzes. Auf diesem Boden nun, und auf keinem andern, gedeihen jene Taten, die wir hier an der russischen Seele bewundern. Es ist nämlich so, daß dieses Erlebnis der Sünde nicht lange ausgehalten werden kann und daß der Mensch sofort sich hilfesuchend umsieht; denn er ist in dieser Lage ((talaiporos)) = unglücktragend (LUTHER: »elend«). Aber, und das ist das christliche Tatgeheimnis: diese selbe Erbsünde hat seit dem Opfertode Christi die Fähigkeit, in Gnade umzuschlagen und Taten hervorzubringen, die als Überschuß und Heilkraft wirken und die ihrer Natur nach außerhalb des Gesetzes stehen ((xoris tou nomou)).
Daß jener Frauenschänder der weinenden Mutter die Hand küßt, das steht nicht im Gesetz und kann nicht in ihm stehen; denn diese Tat würde völlig ihres Glanzes und ihrer inneren Würde verlustig gehen, wenn sie aus einem »Du sollst« erfolgte. An dieser Stelle wird die Ethik auf einmal frei von der Form des kategorischen Imperatives, aber nur hier. Diese Taten tragen das Merkmal an sich, daß sie durch und durch und bis in ihre letzte Faser hinein positiv sind. Die Taten aus dem Gesetz sind durchweg verhinderte Negativa: »Du sollst nicht ...«, und wo es heißt »Du sollst«, da kann man stets das Gesetz auch negativ ausdrücken. Aber jener Kuß auf die Hand der Mutter paßt in kein Gesetz und verträgt nie eine negative Ausdrucksweise. Positive Handlungen aber sind seltene Handlungen, und jene alchymistisch zu nennende Umwandlung der Erbsünde in Gnade geschieht auf Auswahl ((eklogh ths xaritos)) und als freies, unverdientes Geschenk ((dorean)).
Hier folge als Beispiel noch eine Variante aus dem angelsächsischen Kulturkreis. FRANK HARRIS erzählt in seiner Selbstbiographie (S. Fischer Verlag, Berlin 1926) von seinem ersten Theaterbesuch: »... Es war eine gewöhnliche, romantische Liebesgeschichte, aber die Heldin war wunderschön, liebevoll und treu; und ich verliebte mich in sie auf den ersten Blick. Als das Stück zu Ende war, kam ich auf die Straße mit dem festen Entschluß, mich für eine solche Frau wie die Heldin rein zu halten. Keine Morallehre, die ich vorher oder seither bekam, kann mit dieser ersten Theatervorstellung verglichen werden. Die Wirkung hielt monatelang an. Die Prediger mögen diese Tatsache in Ruhe verdauen.« - Da die Prediger des bürgerlichen Christentums überwiegen Gesetzesprediger sind, nur daß sie dem Gesetz des Mose noch ein - vorgebliches - Gesetz Christi anhängen, so wird ihnen diese Verdauung nicht gelingen. Man erkennt aber die erstaunliche Geistesschärfe des Verfassers, der ganz richtig sieht, daß hier ein Problem liegt, und zwar das des Christentums selber. Denn keineswegs ist es möglich, seine Tat, den freiwilligen Keuschheitsentschluß, aus dem sechsten Gebote des Dekalogs abzuleiten; er verlöre damit seinen eigentümlichen Glanz, um den es ja eben geht, und weshalb die Tat der Erwägung wert wird. Diese ist vielmehr gleichfalls ein Tun aus Güte, das seinen subjektiven Pol in der Liebe hat; und man kann es hier ganz deutlich sehen, daß es nicht gebotene Nächstenliebe ist, sondern die wirkliche: die Liebe zur Schauspielerin. Diese aber erschöpft sich nicht im Habenwollen oder Verzichten, wie das üblicherweise so geht, sondern sie empfängt, Organ geworden, einen Zustrom von Güte aus der Tiefe der Natur, und aus beider glücklichem Zusammentreffen entsteht die ungebotene Keuschheit von rein positivem Charakter. Güte aber ist wiederum nicht die menschliche Gutmütigkeit, auch nicht die platonische »Idee des Guten«, sondern die paulinische »Agathosyne«. Man sieht: ein völlig anders gebautes Tatgefüge als das unter dem Gesetz, und zwar ein höher geartetes. Denn niemand, der Geschmack für das Ethische hat, wird bezweifeln, daß diese Keuschheit mehr wert ist als die aus dem Gesetz.
Nachdem also die Erbsünde einmal entdeckt ist, wird es klar, daß der Mensch nicht ohne sie handeln kann und daß auch, Luthers Einsicht zufolge, die guten Werke unter ihrem Gesetze stehen. Um aber überhaupt rein positiv, das heißt aus Gnade handeln zu können, ist die Sünde ebenso nötig wie der Humus für den Pflanzenwuchs; sie ist der Boden aller Taten, die die größte Bewunderung des Menschengeschlechtes verdienen. Luther hat daher in seiner drastischen Weise das berüchtigte Wort geprägt: »fortiter pecca!« - »sündige kräftig«. Das ist natürlich eine bedenkliche Formulierung und hat ihm Karlstadt und Thomas Münzer auf den Hals gehetzt; denn das absichtliche Sündigen bringt gar nichts ein außer einer Schlechtigkeit. In die letzte Tiefe des christlichen Tatgeheimnisses dringt dagegen jenes Wort des MEISTERS ECKEHARD, das wir schon erwähnten: »Ich möchte zwar um keinen Preis sündigen; aber, wenn ich gesündigt habe, so möchte ich um keinen Preis nicht gesündigt haben«.
Diese Empfindung, wenn auch ganz dunkel und verworren, muß jener Frauenschänder gehabt haben, als er nach dem Kuß auf die Hand der Mutter das Haus verließ. Er befand sich, eben weil ihm »durch Auswahl der Gnaden« eine jener seltenen rein positiven Handlungen gelungen war, für eine Zeit im Zustande des ewigen Lebens. Und da Religion - ganz gleichgiltig, was für eine religiöse Überzeugung der Mensch hat - nie etwas anderes ist als Heilung, so können wir sagen: würde der verwundete Baum, der den zuströmenden Heilungssaft spürt, in menschlicher Weise empfinden können, so würde er gleichfalls den Geschmack des ewigen Lebens haben. Der Mensch aber muß am Rande der Sünde stehen, wenn er zu solchen Handlungen oder gar zu einem Dauerzustande für sie befähigt werden soll. Aus den Tugendhaften und Gerechten wird gar nichts. Wieviel Erbsünde aber ein Mensch im Antlitz trägt, daran kann man ermessen, wie tief er ist.
Da die Sünde nun ein Krankheitszustand des Menschen von kosmologischem Charakter ist, so folgt daraus, daß alle seine Handlungen, sofern er sie aus sich selbst heraus begeht, »unter der Sünde stehen«. Sie tun das aus derselben transzendentalen Notwendigkeit mit der die Dinge der Außenwelt materiell sein müssen, eben weil die Materie selbst transzendental ist. Es gibt daher keine guten Werke des Menschen von rein positiver Natur. Der geringste Versuch einer selbstlosen Wohltat aus eigner Kraft belehrt den Wahrheitsliebenden, was für ein Betrüger er ist. Die Einsicht aber, daß es so ist und nicht anders sein kann, trägt den Namen des Sündenbekenntnisses. Dieses bezieht sich allein auf die Erbsünde und ist nicht mit der Ohrenbeichte zu verwechseln, die auf einzelne peccata geht. Das Sündenbekenntnis aber bedeutet, nachdem das christliche Faktum nun einmal in der Welt ist, die Voraussetzung für das höhere Menschentum. Denn es handelt sich hier um eine Entdeckung der Ethik, nicht etwa um kirchliches Sondergut. Niemand kann daran vorüber.
Das griechische Wort für Sünde, »»martia«, ist von großer Durchsichtigkeit. Es heißt soviel als »Verfehlung« und wird schon gebraucht, wenn jemand mit dem Stein wirft und danebentrifft. Das ist nun schon bei der bloß handwerklichen Tätigkeit der Fall: der Schuster bringt den Stiefel nicht so heraus, wie er sein soll; da aber der Stiefel selber Gebilde des menschlichen Intellektes ist, so wird das nicht als verhängnisvoll empfunden, zudem seine Vorteile überwiegen. Da nun die Menschenwelt in ihrer technischen Entfaltung voll ist von tüchtigen Schustern, so hält sie sich unisono für gesund und auf dem besten Wege. Anders ist es schon in der Kunst. Hier schafft der Mensch nicht nach dem Maßstabe seiner eignen Gebilde, sondern er ahmt den Schöpfungsakt nach. Im Gesichte jenes japanischen Dichters, der den heiligen Berg Fujijama in Worten nachzubilden versucht, malen sich deutlich die Spuren der Verzweiflung und fast der Schuld ab. Die geheime Melancholie der großen Künstler ob der Mißratenheit ihrer Werke ist bekannt; sie nimmt mit dem Range zu. In der Ethik aber kommt die Sünde zur vollen Entfaltung; denn hier ist sie wahrhaft zu Hause. Unser innerstes Wesen, das, was wir an uns selber sind, wird plötzlich vom Lichte des Gesetzes angestrahlt, und im selben Augenblick ist die Sünde da. So ähnlich, wie jene an sich dunklen Leuchtfarben in phosphoreszierendem Schimmer verharren, wenn sie erst einmal belichtet sind, so ähnlich entsteht durch den Licht-Druck des Gesetzes in uns das Grundwissen davon, daß wir von Natur sündig sind, und leuchtet als Erlebnis auf. »Das Gesetz ist zu uns gekommen, damit die Sünde vollendet werde« (Röm. 6. 20), ((ina pleonash to paraptoma)) (wörtlich: »das Danebengefallensein«). Hier kommt in diesem Worte »paraptoma« das notorisch Singularische der Sünde klar zum Ausdruck. Man versuche es doch einmal und schenke in einer Hungersnot, in der man selber steht, einem weinenden Kinde auf offener Straße ein Stück Brot, und hinterher, wenn man allein ist, frage man sich, was man denn eigentlich getan hat. Und je länger und unbarmherziger gegen sich selber man nachdenkt, umso mehr wird man finden, daß jene Tat aus einer Gruppe von Motiven zusammengesetzt war, die sich nicht alle sehen lassen können; keinesfalls war sie so gebaut wie die Lilie auf dem Felde; und wenn doch - so war es ein andrer, der sie tat. Kann man daher schon bestenfalls sagen: diese Tat war summa summarum eine gute, so ist es doch ganz unmöglich zu sagen, daß man selber, ihr Täter, gut sei. Die Schamröte steigt uns bei diesem Gedanken ins Gesicht. Aber die Versuchung ist da, so zu denken, und da wir ihr beinahe erliegen, so reut uns fast unsre immerhin gute Tat, die uns zu dem Frevel führt, uns selber für gut zu halten. - Und trotzdem gibt es Handlungen aus Güte; es fragt sich nur, wie diese Entlassung ((aphesis)) der Erbsünde möglich ist.
Um diese Gedankengänge kreist Nietzsches »Immoralismus«. Man muß Nietzsche überhaupt als homo et philosophus christianus ansprechen. Es ist kein Zufall, daß das einfache Volk in Genua ihn »il santo« nannte, noch weniger, daß seine letzte Tat jene Umarmung des geprügelten Esels auf der offnen Straße von Turin war, ein Tun aus Güte von rein positivem Charakter. Niemand hat durch seine ganze Philosophie und durch sein Leben deutlicher gezeigt als er, daß das eigentlich wesentliche Tun des Menschen erst jenseits der Moral beginnt, dort, wo das »Du sollst« gerade eben aufhört, am Rande der Sünde. Es ist im Grunde gar kein Unterschied zwischen ihm und dem Apostel Paulus. Nietzsche ist übrigens ein Denker, bei dem in actu demonstrandi fast alles falsch ist, in statu nascendi aber alles auf dem rechten Fleck sitzt. Darum nützt es gar nichts, ihn zu »widerlegen«. Die Sache Nietzsche steht im Schutz der genialen Zeugung, und der Grund seines Erfolges liegt in dem gewaltigen Arbeiten christlicher Kräfte im Kosmos.
Im christlichen Altertum hat Markion aus Sinope die paulinischen Gedankengänge einseitig auf die Spitze getrieben. Er unternahm einen heftigen Angriff auf das Alte Testament. Markion ging nun soweit zu sagen, daß sehr wohl Nero und Caligula sowie alle sonstigen Unholde und Sünder der heidnischen Welt die Möglichkeit hätten, in den Himmel zu kommen, nicht aber die Gestalten des Alten Testamentes, Mose und die Propheten. Jene großen Sünder, so argumentierte er, könnten eben wegen ihrer Sünden leicht durch die Buße hindurch in den eigentlichen Kern, die Erbsünde, vorstoßen und von da aus sich der Gnade öffnen. Wer sich aber für gerechtfertigt hält durch seine guten Werke, der schließt sich damit eben von jenem kritischen Vorgang aus und ist verloren. Der Fehler in der sonst fruchtbaren Überspitzung Markions liegt nur darin, daß die Gestalten des Alten Testamentes ja eben nicht Vorläufer des Pharisäerordens sind, sondern christliches Archaicum, was ihnen freilich nur hin und wieder, so bei Jesaia, zum Bewußtsein kommt. Aber darin behält Markion für immer recht: mit den Tugendhaften und Gerechten ist gar nichts anzufangen. Sie verstehen nicht einmal, worum es hier geht.
Der Ausdruck des APOSTELS PAULUS ((xoris tou nomou)) »getrennt vom Gesetze« (LUTHER: »ohne des Gesetzes Werke«) trifft ganz genau; aber es ist zu beachten, daß eingefleischte Pauliner - stets Protestanten - leicht in eine falsche Animosität gegen das Gesetz geraten und damit die neuentstandene Situation zuschanden machen. Aus diesem Grunde hat auch die katholische Kirche mit ihrer überlegnen Menschenkenntnis stets noch den Standpunkt des Jakobusbriefes unterstrichen, und man kann wohl sagen: sie liebt es nicht, wenn allzuviel vom Apostel Paulus geredet wird. »Getrennt vom Gesetze« aber ist völlig richtig; nur heiß das ja nicht, daß man sich vom Gesetze trennen könne und dieses der Vergangenheit angehöre. Es heißt nur, daß der entscheidende Vorgang sich außerhalb seiner abspielt, es aber doch zur Voraussetzung hat. Darum muß das Gesetz stets mitgenommen werden: nur freilich wie ein Ballast, der zum Abwerfen da ist. Denn ohne das Gesetz gibt es keine Sünde, ohne Sünde aber, die unvermeidlich ist, keine Erkenntnis des großen harmatologischen Singulars, ohne ihn keine Krankheit zu Tode, ohne sie aber keine Genesung. Und hier, wo die Genesung einsetzt, liegt auch der Mutterboden für jene Taten, die es erst seit dem Tode Christi gibt. Dieser humus aber ist zugleich Verwesung und fruchtbares Erdreich, aber auch lebendiges Erleiden. Jener Frauenschänder der die Hand der Mutter küßt und geht, muß am Rande der Sünde gestanden haben, muß Frauenschänder der Gesinnung und der Tat nach gewesen sein, sonst ist jener Kuß sinnlos, ja er käme gar nicht zustande. Der Kuß eines Tugendhaften und Gerechten aber ist gar nichts wert. Und es kommen doch noch ganz andere Dinge auf solchem Wege zustande. Die Religion aber wird durch diese und keine andere Deutung des Gesetzes wieder in ihre alte Funktion eingesetzt, nämlich, Hilfe zu sein und nichts anderes. Eine bloße Gesetzesreligion, wie das Judentum, entfernt sich von deren Wesen genau so, wie es eine Erkenntnisreligion nach Art des Buddhismus oder die Aufklärung auf ihre Weise tun. Hier aber wird ein zum Bluten gekommenes Menschenherz geheilt. Mag sein, daß das bei unserem Beispiel nicht allzu tief ging; aber das Herz des Orestes blutete ja gewaltiger und so, daß es mit den Mitteln des Altertums nicht zu stillen war. Eine geringe Seligkeit aber muß doch ins Herz jenes Russen eingebrochen sein, und in der Ethik ist es gleich, ob es um Nüsse geht oder um Königskronen. Diese Seligkeit aber heißt im Neuen Testament »ewiges Leben«; so, in diesem Zustande der Genesung von der Sünde möchte man immer sein und würde sogar dabei den Tod nicht schmecken: es sei denn selber als Seligkeit. Und da, nach einer Bemerkung des Apostels im Römerbrief »alle Kreatur mit uns stöhnet und Schmerzen trägt« (Röm. 8. 22), so bezieht sich jene Genesung auch auf die übrige Natur, in der sie, ungehemmt durch den menschlichen Gedanken, sich von selber vollzieht. Es ist der gleiche Vorgang. - Das alles aber geht nur, wenn das Gesetz in voller Kraft und Giltigkeit bleibt ohne jeden Abzug von seinem Wesen. Dieses Wesen aber hat seit dem Apostel Paulus einen anderen Sinn.
Man könnte den Versuch anstellen und, vor den Spiegel tretend ernsthaft und in voller Verantwortung behaupten, daß der Mensch, der mir entgegentritt, gut sei; nicht aber nur ein guter Vater oder Gatte, ein guter Patriot oder ein guter Kerl überhaupt, das alles nicht, sondern eben gut schlechthin, ohne jede Beziehung worauf. Und diese Behauptung möge mit dem Ernst aufgeführt werden, daß man sich dafür hängen ließe - im Dunkeln, versteht sich. Man wird bei diesem Experiment finden, daß es nicht geht. Die Behauptung wird, je ernsthafter sie gestellt ist, um so mehr als völlig absurd, aufreibend und zunichtemachend empfunden werden, und meine wahrhaft transzendentale Eigentumslosigkeit an dieser aus einer anderen Dimension kommenden Güte tritt mit aller Schärfe hervor. Ich kann mich auch ohne Schaden gutmütig nennen, aber »gut« - hier tritt ein Tabu auf, das unüberschreitbar ist. Wert und Gehalt dieses Wortes sind geschützt. Kein Grieche des Altertums würde je auf den Gedanken kommen, solch ein Experiment zu machen, außer etwa Platon, in dessen Werken es im Ansatze vorkommt; aber es scheitert auch schon in ihm.
 

7. DIE STELLE IM ERSTEN KORINTHERBRIEF
Im Briefe an die Römer hat der Apostel Paulus in dialektischer Methode die Funktion des Gesetzes klargelegt; diese Sache ist so schwer zu verstehen und liegt in solcher Höhenschicht, daß man erst die Jahresringe von gut fünf Jahrzehnten angesetzt haben muß, um diesem Thema zu genügen; auch die Kritik der reinen Vernunft beansprucht dies Altersgrenze. Im dreizehnten Kapitel des ersten Korintherbriefes dagegen schlägt das Thema in die Form der Verkündigung um, und es fallen die berühmten rein evangelischen Worte: »Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete, und hätte der Liebe nicht ... und wenn ich weissagen könnte und hätte der Liebe nicht ... und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und hätte der Liebe nicht ...«. Dieses berühmte Kapitel hat die Welt erschüttert und geht - scheint es - unmittelbar auf dem Wege der anschaulichen Welt (nicht der optischen, sondern der akustischen) in die Herzen und in die Erkenntnis ein. Die religiöse Urteilskraft genannt Glaube, scheint hier ihre volle Befriedigung zu finden. Es fragt sich nur, was das ist, was hier mit »Liebe« (agapesiehe Barmherzigkeit) angeredet wird und was seitdem für den Kern des Christentumes gilt. Es fragt sich auch, ob das, was der Apostel hier schreibt, »aus seinem Eignen« stammt, also aus subjektiver Begeisterung, die in Verkündigung ausbricht, oder, ob es schlechthin giltig ist, »im Objekte verbunden« - kurz, ob es Entdeckung ist.
Von der Beantwortung dieser Frage hängt in der Tat alles ab; sie kann aber nicht durch die Theologie geschehen, die hier in eigner Sache spräche. Sind die Worte des Apostels nur subjektive Verkündigung, ist also der Stil Inhalt geworden, so können sie keine andre als bloß subjektive Bedeutung haben etwa nach Art der vielfachen Verkündigungen des Anbruches Tausendjähriger Reiche, die bisher noch allemal falsch gewesen sind. Hüllt aber die Verkündigung eine Entdeckung ein, so kann sie nicht falsch sein und enthält objektive Geltung. Mit andern Worten ausgedrückt: liegt hier ein reines Ereignis der Natur vor oder nicht? Ist das aber so, dann kann man nicht mehr sagen: das Christentum, dessen Kern hier angeredet wird, sei eine Religion unter vielen, und andere hätten »in ihrer Art« gleiche Berechtigung. Sondern dann stehen alle andern Religionen zum Christentum wie mißlungene Experimente zum treffenden Wurf. Es »soll« dann keine andre geben, sondern es kann keine andre geben. Die Philosophie vermag das Wissen zu sichern, daß Christentum und Religion identisch sind; aber freilich, den Glauben kann sie so wenig schaffen, wie die ƒsthetik einen Dichter. Man kann also haarscharf wissen, was Christentum ist und was nicht, aber, ob man selber Christ sei, das liegt in einer andern Hand, und das sollte auch ja niemand unbesehen von sich behaupten.
Es wird immer wieder vergessen, daß das Wort Evangelium »frohe Botschaft« heißt, also eine Mitteilung ist und keine Aufforderung. Es wird mitgeteilt, daß im Kosmos etwas vorgegangen, ein reines Ereignis der Natur eingetreten ist, wofür die Geburt Christi und sein Leben die irdischen Kennzeichen und Merkmale sind. Diese sind also mit dem reinen Naturereignis realiter verbunden. Das hier nun erscheinende Christentum, das sich nicht etwa aus einer andern Lehre entwickelt hat, sondern buchstäblich vom Himmel herabgefallen ist, kann seinem ganzen Wesen nach keinen Imperativ enthalten, sowenig, wie ein Heilkraut, das nur dazu da ist, die ihm zugehörige Krankheit nach dem Simile-Gesetz »in sanfter Weise von uns zu nehmen« (HAHNEMANN). Die dem Evangelium zugehörige Krankheit aber ist die Erbsünde, oder die »Krankheit zum Tode«, an der laut der Entdeckung des Paulus die ganze Menschheit leidet. Demnach kann auch die Liebe, von der der Apostel im Korintherbrief redet, nicht etwa die Nächstenliebe sein; denn diese ist eine contre coeur gebotene; sie ist niemals real, sondern immer gesollt. Und da dieses Gebot nie erfüllt wird, weil es ja in seinem Vollzuge selber unter der Sünde steht, so stünde damit das Evangelium auf tönernen Füßen. Es bleibt demnach durchaus nur und unweigerlich die Liebe übrig, die niemals unter dem Gebote steht, daß aber heißt die natürliche Liebe, der Eros, die vom Hohenliede Salomonis besungen wird. Die Bibel reicht uns selber den Text. Aber sie allein macht es auch nicht; denn das wäre nichts Neues, keine zweite Geburt, die doch eben das Evangelium ausmacht. Das durchaus Neue vielmehr, das nur einmal und für immer geschehen ist, besteht darin, daß die Liebe, deren Wesen es ja ist, Organ für die Person zu sein, zum zweiten Male Organ wird, und zwar für die Güte. Diese aber, nämlich die Güte, kommt damit außerhalb der Menschennatur zu liegen; sie ist nicht Eigentum, sondern »Kraft der Natur« (Wilutzky), die aber erst durch die Liebe, als deren Organ im Subjekt, sich zu ereignen vermag. Genau so, wie beim Akte des Sehens die ƒtherwellen außer dem Auge liegen, aber erst durch das Auge sich als Licht ereignen, so wird die Güte durch die Liebe Ereignis, und zwar in der Ethik. Der Unterschied liegt nur darin, daß die ƒtherwellen dem Vordergrunde der Natur angehören (man kann sie messen), die Güte dagegen aus ihrer Tiefe stammt und keiner Bemessung zugänglich ist. Die Ethik bleibt damit immer metaphysisch. - Es geht aber freilich aus den bloßen Worten des Paulus nicht hervor, daß jene Liebe, von der er redet, in sich selber zwei Richtungen enthält. Genau so, wie der Blitz nichts Einfaches ist, das wie ein Meteor vom Himmel fällt, sondern der Kraftausgleich zwischen einer positiv elektrisch geladenen Wolke und der negativ geladenen Erde unter ihr: so besteht auch die Liebe, die durch das Christentum in die Welt kam, aus einem Ausgleich zwischen der Güte im Objekt und der bisher sogenannten Liebe im Subjekt, beide aus deren letzter Tiefe aufbrechend. Jede andere Deutung der christlichen Liebe ist irreführend und zieht dem eben begründeten Christentum den Boden unter den Füßen weg.
Die Philosophie hat in der Tat an dieser Stelle zum ersten Mal in ihrer nachchristlichen Geschichte die Mittel in der Hand, um jeden, der über das Christentum spricht, sei es als dessen Priester, sei es als Laie, zu stellen und ihn zu zwingen, Farbe zu bekennen. Entweder - spricht die Philosophie - ist der Kern des Christentums, also die Liebe, ein Abkömmling der gebotenen Nächstenliebe und hängt mit ihr, und nur mit ihr, genuin zusammen: dann tritt die unentrinnbare und zerstörende Konsequenz ein, daß es auf etwas beruht, das, nach eigner Lehre, in seinem Vollzuge der Sünde unterliegt; und dann wird eines Tages niemand mehr daran glauben. Oder: sein Kern ist die Liebe des Hohenliedes Salomonis, also die natürliche: dann gibt es nichts, was es jemals stürzen kann, und alle andern Religionen verschwinden eines Tages wie wesenloses Schatten. Denn dann steht das Christentum allein da als einziger Träger der von der Natur unaufhörlich gestützten Religion. Der Zeitpunkt ist da, an welchem die Philosophie zum ersten Mal in ihrer Geschichte aus Freiheit dem Christentum - das unglaubwürdig geworden ist - Hilfe leistet.
Die Liebe also, aus transzendentalem Altertum heraus gewohnt, Organ zu sein und nur in dieser Bahn laufend, löst sich eines Tages (»und den Menschen ein Wohlgefallen«) von der Person los und öffnet sich für die Güte, die aus dem Tiefenraume der Natur auf sie zukommt. Sie tut also dasselbe, was das Auge tut, wenn es, gewohnt, empirische Dinge der Außenwelt zu sehen, auf einmal der Schönheit begegnet, die auch nicht von dieser Welt ist, aber in ihr ankommt. In beiden Fällen bleibt die ursprüngliche Organbeziehung voll erhalten. Der Baum in der Landschaft wird weiter gesehen nach den gewöhnlichen optischen Gesetzen, und die Person wird weiter geliebt wie im Hohenlied Salomonis. Wäre der, dem die Auslösung jenes Ereignisses bei der Liebe aufgetragen war, von einem Charakter gewesen wie der Prometheus des Mythos: wer weiß, wie die Liebe dann ausgesehen hätte, als der Titan am Kaukasus verschmachtete. So aber trägt sie den Stempel dieses Charakters. Es ist, wie wenn ein Blutstropfen von Golgatha in sie hineingeträufelt wäre. Oder, wie wenn in einen Becher edlen Weines ein Tropfen Wermut fällt; er bekommt dadurch einen amaren Geschmack - aber es ist derselbe Wein. Fragt man nun, woher das stammt, was seitdem Barmherzigkeit, misericordia, caritas, agape heißt, und was auf einmal da war, so lautet die Antwort: nur aus dieser Quelle, niemals aber aus dem Gebot der Nächstenliebe. Denn gerade das ist ja eben das Wesentliche am Tatgeheimnis des Christentums, daß es nicht aus dem Gesetze stammt, sondern getrennt von ihm aus dem Blute Christi, das in die Liebe eingeträufelt ist in dem Augenblick, als diese jene Rangerhöhung erfuhr und Organ für die Güte wurde. Hierbei zerriß der Vorhang des Tempels.
Es handelt sich also um einen kosmischen Vorgang, der entlang der Achse quer durch die Natur verläuft und nicht etwa um ein Menschheitsphänomen. Darum ist es auch der ganze unteilbare Eros, der sich hier als das Organ des Subjektes der Güte öffnet, und es liegt nicht in der Macht des Menschen, hier etwas abzuhandeln. Der Eros aber, das hörten wir, ist ein echtes Amalgam aus Erkenntnis und Willen, getragen von jenem nur ihm eignen Lustgefühl, das jeder kennt und nie verwechselt. So wie man nicht wissen kann, an welcher Stelle der Blitz einschlägt, so kann man auch nicht wissen, wohin die Güte trifft, ob in die feineren Bezirke oder in die Wollust. Beide sind ja auch bloße Vorlagerungen, und erst hinter ihnen, tiefer im Subjekt, liegt der transzendentale Ort, an dem die Organtätigkeit lebendig wird. Wir sahen ja, daß jener russische Frauenschänder mitten im wollüstigen Begehren halt machte und, von der Güte getroffen, abließ, nicht vom Gesetze bewogen. Die Taten, die das Menschentum in Freiheit erhöhen, gedeihen nur am Rande der Sünde. Wie wenn jenes Mädchen, nachdem sie sah, wie der wüste Geselle der Mutter die Hand küßte, von dieser Tat aus Güte tief im Herzen getroffen, auf einmal für ihn entbrannt wäre und sich ihm aus Freiheit gegeben hätte ...? Mit andern Worten: der gesamte Bezirk der Sinnlichkeit im Eros bleibt voll erhalten und frei zur Verfügung der Güte, und man darf hier ja nicht von »Vergeistigung« und dergleichen reden. Das sind krumme Wege der Unredlichen.
 

8. DIE ASKETISCHE MACHTERGREIFUNG IM CHRISTENTUM
Darum ist auch die mortifizierende Askese eine Fehlrechnung. Es hat Menschen gegeben, einzelne, Gruppen und ganze Schwärme, die der Meinung waren: wenn sie die von ihnen sogenannte Fleischeslust gewaltsam abtöteten, sie dadurch Verdienst erwürben, sei es - wie im indischen Religionsraum - in Form einer erhöhten Wiedergeburt, sei es, wie im christlichen, als Lohn im Himmel. Allein alle bewußte Unterdrückung des Trieblebens, sowie die unbewußte Verdrängung - zwei sehr verschiedene psychische Mechanismen - schaffen dessen Energie nicht aus der Welt; sie wandeln sie nur um und keineswegs in etwas Besseres, sondern meistens in Angst, die genau so Gewalt über das Gemüt erhält wie der ursprüngliche Trieb. Was immer also auch auf diesem Wege an Träumen und Visionen zustande kommt, es bleibt alles subjektiv und ohne jede Sanktion. Daher verbot schon der letzte Buddha Gotama in seiner überlegenen Einsicht die mortifizierende Askese; er hatte ihren Trug an sich selbst und bei anderen durchschaut. Es ist nichts heilig, was auf diesem Wege zustande kommt, und die Charaktere, die so erwuchsen, sind unglaubwürdig und verdächtig. Es ist ein schwerer Verlust, den das Christentum gleich in den ersten schrecklichen Jahrhunderten seines Bestehens erlitten hat, daß es in die Hände von Asketen fiel, es erfuhr dadurch eine Ablenkung von seiner Bahn, in der es sich heute noch befindet und durch die es sich ungerechterweise in den Ruf einer weltverneinenden Religion nach Art der indischen gebracht hat. Wenn es aber so ist -, und es ist unwiderleglich so - daß das Kernereignis des Christentums die Organverlagerung der natürlichen Liebe in Richtung auf die Güte ist, so schließt dieser Vorgang die Askese im mortifizierenden Sinne aus, verbannt sie sogar als eine seelische Ungezogenheit. Christus selbst hat sich deutlich von ihr abgewandt, und seine vierzig Tage in der Wüste haben nicht das geringste mit denen der christlichen Asketen in der Thebaïs zu tun. Es besteht keine Spur einer ƒhnlichkeit zwischen ihm und all diesen sonderbaren Heiligen, deren Hauptwirkung auf den Betrachter doch die der Unappetitlichkeit ist. Wenn man in einem großen Wiederaufnahmeverfahren die Heiligenprozesse der katholischen Kirche revidierte, so glaube ich, würden deren Anzahl weit heruntergedrückt. Einige freilich blieben übrig. Wo also Erscheinungen und Stimmen nicht psychische Produkte sind, sondern objektiv und mit Stromrichtung von dort her, da muß man Halt machen.
Und der Heilige wäre auch eine verlorene Sache - wie ihn der geizige Protestantismus verlor -, wenn die Askese nicht doch noch einen andern Boden hätte, dessen Schicht archaisch tief in der Natur begründet ist. Es hängt dies mit dem aristophanischen Mythos zusammen. Die Einsicht nämlich, daß hinter jedem persönlichen Liebesbunde, wie hoch er sich auch hinaufschwingen möge, das Verfehlen der wahren Hälfte steht, der allein die geschlechtliche Hingabe gilt, diese Einsicht kann Erlebnis werden - und wird es nicht bei den Schlechtesten - und eines Tages zwingend die Entsagung fordern, denn man hat es hier mit einer heiligen Sache zu tun. Diese Entsagung fällt dann aber leicht, und was geübt werden muß ((askein)), ist nur die Beseitigung stehengebliebener Reste der Wollust, die keinen Boden mehr haben und darum unsinnig sind. Aber es muß eben etwas da sein, was der Übung unterworfen wird, nämlich die durch freie Einsicht natürlich gewachsene Keuschheit, der auch der scheele Blick auf die Wollust anderer fremd ist. Es gibt eine empirische Keuschheit, eine negative, die im Geheimen auf ihre Beendigung wartet, und eine positive, rein natürliche, die ihre Enthaltung als höchstes Gut ansieht. Da aber alles Empirische seine Wurzel im Metaphysischen hat, so strömt die Kraft, die der Keuschheit ihren Halt gibt, von diesen entsagenden Heiligen aus und nicht von tugendhaften Pastorenfrauen. Bei diesen Heiligen aber - man denkt da unwillkürlich an Frauen, deren Keuschheit mehr Gewicht hat als die männliche - findet in dem Augenblicke, da die echte Entsagung durchbricht, jene wunderbare und gar nicht zu enträtselnde Besitzergreifung durch die Person des Heilandes statt («mirabili et ineffabili modo ...«, SCOTUS), die sich, falls das alles reinen Herzens geschieht, unwiderstehlich aufdrängt. Es ist das keine »Übertragung« im psychologischen Sinne; auch die schwüle Jesus-Inbrunst der Pietisten trifft es nicht. Es ist eine Übertragung besonderer Art auf die Person Christi, die hier merkwürdige Weise bereitsteht und die das eben kann, weil diese Person »besonderer Art« ist durchaus in dem Sinne, wie man in der lebendigen Welt von »Art« spricht. Das aber kann vorläufig noch nicht geklärt werden.
Aus alledem folgt, daß es erst mit der Erscheinung Christi wirkliche Heilige geben kann, die frei von mortifizierender Askese sind und die ihren Schwerpunkt in der Liebe haben. Um aber sicher zu gehen, wäre es für den Fall der Revision der Heiligenprozesse angebracht, wenn der advocatus diaboli darauf achtete - durch strenge Auslese biographischen Materials -, daß niemals ein giftiger Blick auf die Wollust anderer gefallen ist. Christus zeichnete Figuren in den Sand, als man ihm damit kam.
 

9. GESETZ UND EVANGELIUM
Man kann den Unterschied zwischen Gesetz und Evangelium - jene Frage, für die so viel Theologenblut geflossen ist - an keinem anderen Beispiel so gut erläutern wie am Gebot der Nächstenliebe, jenem Inbegriff des Gesetzes. Dieses Gebot, alttestamentarisch gelesen, trägt alle Zeichen der Unerfüllbarkeit auf der Stirn und an ihm sind von jeher die besten Gemüter gescheitert. Denn es ist offenbar, daß, wenn Liebe irgendeinen realen Sinn haben soll, sie dann an ihre Organtätigkeit gebunden ist, und daß sie sich allemal nur auf die besondere Person beziehen kann, nie aber auf die beliebige, wie es das Gesetz fordert. Denn der Nächste ist jedermann. Dies Gebot erfüllen wollen, heißt, eine eingleisige, vom Objekt nicht zurückkommende Liebe ausstrahlen können, - das aber geht so wenig, wie der Blitz nicht einschlägt, wenn auf der Erde keine negative Ladung herrscht. Auch bei der unglücklichen, aber realen Liebe kommt vom Objekt etwas zurück, wenn auch nicht das, was man sich wünscht; ja, der Dichter hat gesagt, daß bei ihr mehr zurückkommt als bei der glücklichen. Nun ist aber das Gebot »Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst« trotzdem mit Offenbarungscharakter versehen, das heißt, es gilt, und die Sache bleibt ein Geheimnis, bis es durch ein objektives Geschehen im Kosmos gelichtet wird. Solange dies nicht eingetreten ist, bleibt es offenbar, daß jeder Versuch, es ernsthaft zu erfüllen, zur Zerstörung des Gemütes führt, das ihn unternimmt; und daran sind die ernsteren Pharisäer fast zugrunde gegangen. Um aber das nicht wirklich zu müssen, rührten sie lieber nicht daran. Es ist darum eigentlich, wenn man die Natur der Liebe ansieht, gar nicht zu fassen, wie eine Religion heute den Gedanken vertreten kann, das Gesetz sei dazu da, um erfüllt zu werden. Während es doch an seiner obersten Stelle, beim Versuche der Erfüllung, nichts anderes zurückläßt, als ein verzweifeltes Gemüt.
Dies gilt, solange die Liebe notgedrungen alttestamentarisch, eingleisig, gelesen werden muß. In dem Augenblicke aber, da »der Vorhang des Tempels zerriß« und die Liebe Organ für die Güte wird, liegt die Sache anders. Von da an ist sie, wie der Blitz, ein Phänomen aus zwei Faktoren: einem subjektiven, eben das, was man ex homine Liebe nennt, und einem objektiven, der Güte, die aus der Tiefe der Natur herangesogen wird. Daher muß man im Neuen Testament, wenn das Wort Liebe vorkommt, stets - oder doch meistens - an diese zweipolige Gestaltung denken, und es so lesen. Denn nachdem der Vorgang im Kosmos geschehen ist, wird es wenigstens möglich, daß jemand, statt seinen Nächsten zu ermorden, ihn schweigend mit Wohltaten überhäuft. Dann aber ist das Gebot, das inzwischen seine imperative Form verloren hat, erfüllt. Man muß das Wort Erfüllung sogar ganz buchstäblich nehmen und die Ausfüllung des Hohlraumes darunter verstehen, den das Gesetz im Menschen hinterlassen hat. Diese Möglichkeit der Erfüllung aber heißt Evangelium.
Das Christentum ist in Verruf gekommen und hat den Makel der Lächerlichkeit auf sich nehmen müssen, indem seine falschen Freunde - voran das säkularisierte Judentum - sein vorgebliches »Gebot der Feindesliebe« rühmend hervorhoben, als sei das nun noch ein Fortschritt über die Nächstenliebe hinaus. Dabei mißlang es ja ständig und trug als Frucht nur Heuchlertum ein. Es versteht sich von selbst, daß Christus die Feindesliebe nicht so einfach »geboten« hat, wie das Gesetz das tut. Er kann gar nicht im Stil des Gesetzes sprechen, das er ja durchschaut hat. Jenes »Gebot« gehört vielmehr auf die Seite des Evangeliums. Es ist ja auch zunächst, wenn man seinen Vordergrund betrachtet, nur im Rahmen jener Gesetzesverschärfungen zu verstehen, die er in der Bergpredigt verkündet, um sich gegen den Vorwurf, das Gesetz auflösen zu wollen, zu verteidigen. Es ist also nur indirekt und hat einen deutlichen Geschmack von Ironie. In der Sache selbst aber ist etwas ganz anderes gemeint. So wie das Auge trunken werden kann von Schönheit, so kann die Liebe trunken werden von Güte: und dann möchte ich einmal die mißliebige Kreatur sehen, die es sich herausnimmt, »mein Feind« sein zu wollen! So sieht das aus. Die großen Märtyrer der Diokletianischen Verfolgung haben in der Tat so gehandelt, daß sie für ihre Peiniger beteten, und dieses wahre Wunder der Ethik ist es gewesen, das ihnen den Sieg über die gewaltige Übermacht des heidnischen Staates verlieh. Aber das geschah nicht aus einem »Gebot der Feindesliebe«, sondern weil sie so waren, daß das bei ihnen geschehen konnte. Aus dem Gesetz heraus gelingt eine solche Tat gar nicht; sie würde schon im Ansatz an ihrer inneren Unglaubwürdigkeit scheitern. Das aber ist ja gerade das christliche Tatgeheimnis, daß genau dort, wo das Gesetz aufhört und seine Reichweite erschöpft ist, die eigentliche Fruchtbarkeitszone der Ethik beginnt; sie wird erst hier genial.
Es ist ein bloßes sprachliches Mißgeschick, daß sich die imperative Flexionsform einschaltete; die Sprache kommt nicht mit. Das Christentum hat so wenig einen Imperativ wie die Medizin, sondern es reicht aus dem von ihm gehobenen Schatze die zugehörigen Heilkräfte dar. Das ist ja gerade seine Entdeckung, daß es die Stelle fand, an der die Ethik die imperative Form abstreift (eigentlich eine contradictio in adjecto), die Stelle also, an der Schopenhauer auch beinahe war, aber mit seinem »Mitleid« zu kurz griff. Das Christentum sagt zu Orestes: »Lies das Evangelium und höre!« Hier allein ist wenigsten Linderung, wenn nicht Heilung. Seine Tat bleibt Verbrechen, auch wenn sie ihn zum Helden macht. Aber er bedarf der Vergebung der Sünde - und das konnte der antike Mensch nicht begreifen. Erlöst werden aber kann Orestes nur, wenn er ORESTES wurde, das heißt, wenn er die Tat beging, nicht aber, wenn er als Tugendhafter und Gerechter, vom Gesetz gewarnt, davon abließ.
Das Christentum läßt also zunächst einmal den empirischen Charakter bestehen und rührt nicht an ihm; es setzt voraus - und hier liegt seine ganze Tiefe -, daß es unaufhörlich, kraft Schöpfungswillen Gottes, Gestalten wie Orestes geben wird, die ihre aufgetragenen Verbrechen auch wirklich begehen. In ihm kommt nie der Gedanke einer Verbesserung des Menschengeschlechtes auf; vielmehr steht alles, was der Mensch tut, unter der Sünde, auch seine guten Werke. Und so wie sich in der Chemie die Verbindung zweier Stoffe nicht in diesen selbst, sondern am kulminierenden Punkte ihrer Materie abspielt, so alle Taten des Menschen als empirische facta auf dem Boden der Sünde, von der er niemals frei kommt. Nur wenn diese von der einstrahlenden Kraft des Evangeliums beleuchtet wird, nur dann tritt »Vergebung der Sünden« ein und setzt den Menschen in Freiheit. - Ganz anders das Gesetz, das - vergebliches Bemühen! - das Zustandekommen des empirischen Charakters, falls er »böse« ist, verhindern will. Nach ihm also darf es Orestes gar nicht geben. Es gibt ihn aber doch, weil es Schöpfungswille Gottes ist. Auf die Frage aber: »Soll ich denn Orestes sein?« antwortet das Christentum: »Ich möchte zwar um keinen Preis sündigen, aber wenn ich gesündigt habe, so möchte ich um keinen Preis nicht gesündigt haben.« Ja, ich soll Orestes sein.
 

10. DIE OBJEKTIVE KONSTITUTION DER KIRCHE
Die antiken Mysterienkulte fanden kein Mittel, um die heilige Krankheit des Orestes zu heilen; sie konnten dem Druck der Erinnyen nichts Wirksames entgegensetzen. Der Mythos hatte ihn heraufgespült, und der Genius des Aischylos brachte ihn zur Darstellung. Er war ja nicht etwa bloße Erfindung, Produkt des Subjektes, sondern ihm lag etwas zum Grunde, was den Griechen Angst und Schrecken einjagte, und dieser Grund lag in der Tiefe der menschlichen Natur verborgen. Die mißlungene Sühnung in den Eumeniden war offensichtlich, denn Euripides, in dessen Dramen er sich reichlich skandalös benimmt, läßt ihn noch immer mit dem unheilvollen Fluch beladen umherirren. Nirgends ist auch nur die leiseste Spur einer Rettung zu sehen. Wie aber, wenn er, statt zum pythischen Apoll und zur taurischen Artemis zur - christlichen Kirche gestoßen wäre? Die war doch auch Mysterienreligion durch und durch und verfügte über nachhaltige Kulte und Weihen; von ihnen eingehüllt zudem über eine Heilslehre, die überhaupt erst auf den Kern der Sache kam. Wenn man von dem herausfordernden Anachronismus absieht, der in dieser Zusammenstellung liegt, so muß man doch zugeben, daß die Verbindung sonst sinnvoll ist. Denn die Kirche hat sich immer als Heilsanstalt aufgefaßt und für ihre Tätigkeit rückwirkende Kraft beansprucht; und es ist auch glaubwürdig, daß sie heilend wirkt, denn der Beweis wird tausendfach geboten; nur steht das unter der Voraussetzung, daß das »Eigentlich Seiende« an ihr, der prägende Urbestand, auch wirklich ist. Denn nur wirkliche Heilmittel können helfen, nicht erdachte Lehren; dieses Helfende also muß vom Objekt her besiegelt sein. Die Kirche selbst drückt das im Dogma als dritte Person der Trinität aus, womit sie sehr weit gegangen ist; denn man muß schon sagen: der Heilige Geist als Person gedacht, bereitet Schwierigkeiten, über die sich die Kirche im geheimen auch klar ist. Doch sei dem, wie ihm wolle: die Realität, Objektivität und Unaufhebbarkeit der Kirche, ihr Zugehören zum Schöpfungsbestande vom Augenblicke ihrer Stiftung an, das alles muß ihr eigentümlich sein, wenn sie heilen und helfen will. Da aber Heilungsakte durch sie ständig vorkommen, so muß sie auch real sein, genau so wie die Pflanze Belladonna, nur freilich mit anderem Realitätscharakter.
Es gibt noch heute durch Aufklärung abergläubisch gewordene Menschen, die allen Ernstes meinen, daß, wenn sie »aus der Kirche austreten«, diese dadurch um den Betrag ihrer Person gemindert werde, so daß, wenn dies alle täten, die Kirche eines Tages aufhörte, zu existieren. Genau ebenso dachte auch im Jahre 1789 jener Jakobiner, der in einer Sitzung des Klubs feierlichst seinen »Austritt aus dem Staate« erklärte und der baß erstaunt war, als er auf dem Heimwege von königlichen Garden verhaftet wurde; drei Jahre später hätten es die Schergen der Jakobiner selber getan. In der Tat: es gibt sowenig Kirchenaustritte wie es Staatsaustritte gibt, wenn man dem Worte Çgebenë hier irgendeine ernsthafte Bedeutung zubilligen will; denn jene bloß empirischen Fälle von Austritt haben eben kein eigentliches Sein und treffen die Substanz nicht. Daher stoßen sie auch ins Leere und ändern nichts am Bestande von Kirche und Staat, die sich beide leidenschaftlich ergänzen würden, wenn jene Austritte eine bedrohliche Zahl erreichten. Beide eben sind in der Natur verwurzelt, und keiner ist vom Menschen durch Willensentschluß gemacht:

   »Ein tief Geheimnis, welches kein Bericht
   Noch je enthüllt, wohnt in des Staates Seele,
   Des Wirksamkeit so göttlicher Natur,
   Daß Sprache nicht noch Feder sie benennt«
     (SHAKESPEARE, Troilus und Kressida III, 3).

Dabei hat der Staat nur Vordergrundbedeutung, vermag aber sein reales Dasein und seine Unaufhebbarkeit kräftiger auszudrücken, ist robuster in seinen Willensäußerungen, bezahlt aber diese Aufdringlichkeit mit einem jeweils kürzeren Leben. Die Kirche dagegen wirkt aus der Tiefe her; ihr Dasein steht mit jener Organverwandlung der Liebe in festem Zusammenhang, ist demnach transzendental (wobei wir alles Transzendente hier füglich beiseite lassen). Kein Wunder also, daß sie die Zeiten der Staaten überdauert und während derer Lebenskämpfe kaum mit der Wimper zuckt. Beide aber, Kirche und Staat, unterliegen dem von Aristoteles gefundenen Satz, daß der Mensch ein zoon politikon sei. Das heißt hier soviel als: wie der Staat die Ethik bindet, so bindet die Kirche die Religion; beide bis zu einer bestimmten Grenze. Jenseits dieser aber gibt es in beiden freibleibende Gebiete.
Alle Zweckverbände haben genau soviel Kraft wie die Summe ihrer Mitglieder; sie werden von Menschen gemacht, und man kann aus ihnen effektiv austreten. Alle Bünde dagegen wurzeln in der Natur, beziehen daher den wesentlichen Teil ihrer Kraft, und die Mitglieder sind ihre wirklichen Glieder. Zweckverbände unterliegen dem Gesetze der bewegenden Kraft, wie eine Maschine, Bünde dem der bildenden, wie ein Organismus. Von diesen kann man daher im voraus niemals sagen, was alles in ihnen enthalten ist, so wenig, wie man das von der Natur überhaupt kann. Von jenen aber weiß man es ganz genau; denn man hat sie ja selber gemacht.
Als die große Diokletianische Verfolgung über die Kirche hereinbrach, glaubte man zu wissen, wie das Ende sein müßte. Denn hier rüstete sich der gewaltigste aller antiken Staaten mit allen Machtmitteln, mit allen ausgebildeten Methoden der Geheimpolizei, mit allen Grausamkeiten, die ein römisches Gehirn ersinnen konnte, zum Vernichtungskampf gegen eine waffenlose, durch unkriegerische Ethik gebundene, lebensuntüchtige Gemeinschaft: was sollte man da anders denken können, als daß diese dem Untergange verfallen sei? Aber da geschahen auf einmal bei den Verfolgten Taten, die für jedes antike Vorstellungsvermögen unmöglich und absurd waren: ein freudiges Erdulden, ein herausforderndes Aufsichnehmen, ein glühendes Bejahen der Leiden furchtbarster Art, und - unfaßlich - ein Flehen um Vergebung der Sünde für die Quäler. Und dies alles nicht hie und da, von diesem einmal und dann von jenem, sondern unisono von der Gemeinschaft, die hier auf einmal ihren Charakter als organisches Gebilde bezeugte: und die christliche Kirche siegte über den heidnischen Staat! Es trat also das Umgekehrte ein von dem, was man erwarten mußte; denn die Kirche war eben kein Zweckverband, bestehend aus ihren Mitgliedern, sondern war »Leib Christi« selbst, wie sie sich nannte, und das war eine andere Sache. Und es gibt keinen Augenblick in der Geschichte ihres Bestehens, in dem nicht, bis auf den heutigen Tag, sich dasselbe erweisen würde. Die Zahl der Abtrünnigen spielt dabei keine Rolle; sie ist in diesem Zeitalter groß, in jenem gering. Niemals aber bewirkt sie die Auflösung des Ganzen, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Es bleibt immer das Wesentliche übrig, nämlich sie selbst, die Kirche Christi.
JACOB BURCKHARDT, der zu den bedeutendsten Verfügern über das deutsche Sprachgut gehört, schildert am Beginn seiner »Griechischen Kulturgeschichte« das Entstehen der Polis in höchst eindrucksvoller Weise und nennt sie ein »höheres Naturprodukt«. »Wir erkennen an«, meint er, »daß wir vor einem Urformen bildenden Mysterium stehen. Ein feuriger Verschmelzungsprozeß, für uns unvorstellbar, bringt ein Volkstum zustande, welches dann in seinen Einzelstaaten sich fast regelmäßig in seiner Urform ausspricht« (Seite 58, Kröner). Genau nach demselben Muster - denn die Natur arbeitet stets mit den gleichen Mitteln -, völlig unaufhaltsam, leidenschaftlich und mit der Sicherheit organischer Bildungsvorgänge ist auch die Kirche, aus noch größerer Tiefe her, entstanden. Die Apostel kamen in die Marktflecken und Städte des Mittelmeerraumes, verkündeten das Evangelium und, gehorsam den Reizworten, die hier fielen, bildeten sich spontan die Gemeinden: sie wußten kaum, wie es über sie kam. Hierbei darf man als Basis die Mysterienkulte annehmen, die der christlichen Verkündigung entgegenkamen. Es ist jedenfalls auffallend zu sehen, wie sich unabhängig voneinander, ganz schnell und sicher das gemeinsame Glaubensbekenntnis als Erzeugnis dieser Gemeinden bildete, die sogenannte regula fidei, die dann später die Grundlage für das erste dogmatische Gebäude auf dem Konzil von Nicaea (325) wurde. Es lag also ein geheimer consensus omnium zu Grunde, latent, wie ein Wachstumsvorgang, der sich später auf dem Konzil manifestierte.
Die Kirche trägt demnach alle Merkmale eines »höheren Naturprozesses« an sich und keines einer Menschensatzung. Sie ist, wie die Sprache, ((phusei)) und nicht ((thesei)). Damit wurzelt sie wie jedes lebendige Wesen in der Natur und hat teil an ihrer Tiefendimension. Wie aber nun die empirische Lebenslänge der hellenischen Polis - sie ist untergegangen - an das Leben des hellenischen Ingeniums gebunden war, so ist das Leben der Kirche an das Leben ihres Herrn gebunden, dessen Untergangsmöglichkeit zu untersuchen wäre. Ist dieses Leben Christi selber bloß ein empirischer Vorgang, der mit dem Tode am Kreuz und einem gewissen Nachhall, den man zubilligen muß, abschließt, so ist das Leben der Kirche besiegelt; man könnte ihre Jahre fast an den Fingern abzählen. Ist aber dieses Leben in seinem innersten Kern reines Ereignis der Natur, dann kann die Kirche mit derselben Lebensdauer rechnen wie die Erkenntnis, die Schönheit und alles andere, was im Bereiche ihrer Achse liegt. Da es sich aber noch dazu hier um die Religion handelt, so kann sie freilich noch größere Ansprüche stellen.
Aber ihr Verhältnis zur Person Christi und seiner Lehre - wenn man davon reden kann - ist ein anderes, als das der Synagoge zu Mose, ein anderes auch als das der buddhistischen Kirche zum Buddha. Man hat bisher noch nicht darauf geachtet, weil man den Bau der Natur nicht kannte. Die Synagoge legt aus und deutet, was Mose und die Propheten gelehrt haben; hierbei ergeben sich Varianten, die aber geringfügig sind. Ebenso steht es beim Buddha oder im Vedanta-System. Das Leben Mose aber bleibt dabei rein anekdotisch; es hat mit Inhalt und Erfolg der Lehre nichts zu tun, und wenn man von ihm keine biographischen Notizen hätte, wie das bei den Gründern des Vedanta-Systemes der Fall ist, so bliebe die Lehre selbst davon unberührt. Das Leben Christi dagegen ist nicht anekdotisch, sondern der Kern der Religion selber, um den sich die Lehre legt; wäre er ein anderer, so fiele alles dahin. Die Kirche steht überhaupt in keinem wesentlich lehrhaften Verhältnis zu Christus, sondern in einem naturhaften, was eine ganz andere Sache ist. Sie ist ein autonomes Gebilde, wie der Staat, mit dem Zweck, religiöse Kräfte, die plötzlich frei geworden sind, zu binden, damit sie nicht sprengen. Denn zum Sprengen haben sie alle Gewalt. Dieses Binden ist aber kein Fesseln, sondern entspricht der Art, wie das Wasser in allen Gebilden der Natur gebunden vorkommt und sie, einschließlich der Gesteine, erst lebensfähig macht.
Die Lehre Jesu von Nazareth ist, wenn man sein eignes kurz geprägtes Wort dafür verwenden will, das »Mysterium vom Himmelreich«, ((to musthrion ths basileiaw ton ouranon)). Wenn das etwas Reales sein soll, so muß es den Stempel der Natur tragen, sonst würde diese keinen Raum in ihm haben. Nun geht aber die Natur auf der Bahn ihres naiven Vorwärtsstürmens durch die Mysterien hindurch. Jeder Naturliebhaber des neunzehnten Jahrhunderts, dem allerhand von ihr zu erforschen gelungen ist, muß doch zugeben, daß etwa der Befruchtungsvorgang eine unerforschliche Tatsache, also mindestens der Rohbau eines Mysteriums ist - wie wenig er auch befugt sein möge, dieses Wort auszusprechen. Denn es hat bei ihm einen negativen Klang, und im Geheimen denkt er: wenn der Menschengeist nur erst soweit sein wird, dann werden wir diesem vorgeblichen Mysterium schon auf seine Schliche kommen! Allein, die Zeugung ist ein positives Mysterium, unauflösbar und dem Menschen als Mahnung gesetzt. In ihrer Rückläufigkeit aber, also in der Religion, da soll sie kein Mysterium haben, diese soll »frei von Aberglauben« bleiben, so verlangt es die bürgerliche Aufklärung. Das aber ist ein unbilliges Verlangen und zudem unmöglich. Die Religion muß vielmehr durch ein Mysterium gehen, wenn anders sie überhaupt Zusammenhang mit der Natur haben will. Das Christentum aber hat stets die ganze Natur in seine Lehre eingeschlossen, nicht etwa bloß ihre wundeste Stelle, das menschliche Innere (vgl. hierzu Röm. 8, 21ó23). War man aber einmal erlebnishaft zu der Einsicht gekommen, daß die Natur auf ihrem vorwärtsstrebenden Aste unweigerlich in den Schiffbruch trieb, so war die Erlösererwartung, die sich schließlich durch die gesamte Welt des Altertums unter Führung der Mysterien zog, die natürliche Reaktion. Es war der Schrei nach dem Heilmittel. Dieses aber konnte nur auf dem Boden eines Mysterium wachsen, ähnlich dem der natürlichen Zeugung. Es gehört also mit zur Natur, sowohl auf ihrem Hinwege, wie auf dem zurück.
Auf einmal war dieses Heilmittel da. Und zwar - so hieß es - in der Person jenes Jesus von Nazareth, der gekreuzigt wurde und nach drei Tagen von den Toten auferstanden ist. Diese Botschaft war es, die die Apostel in den Mittelmeerländern verkündeten; und das war es, woran man entweder glaubte, oder nicht. Das heißt aber: die gläubigen Christen kamen zu der Überzeugung, daß der Tod jenes Jesus von Nazareth am Kreuz die einzige Opferhandlung war, die wirklich gelungen ist. Alle vor ihr waren zweifelhafte Experimente, bezogen sich zudem auf Teilgebiete des menschlichen Lebens; alle nach ihm unterlagen - wie das Beispiel des Julianus Apostata bewies - dem Fluche der Lächerlichkeit. Die Opferhandlung an diesem Menschen also war das Mysterium der Rückläufigkeit der Natur, das dem der Zeugung die Waage hält und es überbietet. Wie Ei- und Samenzelle durch eine unio mystica die Basis für ein neues Lebewesen gleicher Art bilden, so der Opfertod Christi die Basis zu einer neuen Zeugung höherer Art ((nea ktisis)). Man kann hier nie naturhaft genug denken; und die alten Christen dachten so. Nur muß man beachten, daß dieses Mysterium eine Dimension tiefer in die Schöpfung hineinragt und über die Zeugung hinweg Anschluß an die Schöpfung findet.
Nun war aber in dem Leben Jesu ein großes ƒrgernis enthalten, über das man nicht hinwegkommen konnte: die dringende Prophezeiung, das, worum sein ganzes Leben kreiste, war nicht eingetroffen! Er hatte seinen Jüngern den Hereinbruch des Reiches für kürzeste Zeit geweissagt; er sandte sie aus, um noch schnell, ehe es zu spät sei, die Menschen Israels zur Buße zu rufen, und er rechnete nicht mit ihrer Wiederkehr. »Wahrlich ich sage euch: Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn komme!« (Matth. 10. 23). Aber die Jünger kamen wieder, und nichts änderte sich am Weltlauf. Er verlängerte den Termin »Einige sind unter euch, die werden den Tod nicht schmecken« - also wenigstens noch vor dem Aussterben dieser, der letzten Menschengeneration: aber alles blieb dasselbe. Die fieberhafte Erwartung aber blieb erhalten, und die Apostel hatten in ihren Briefen alle Mühe und Not, sie zu dämpfen und das Ausbleiben der Parusie aus dem Ratschlusse Gottes zu erklären. Aber es hilft nun einmal nicht: man muß zugeben, daß Jesus sich im Hauptteil seiner Verkündigung geirrt hat, und bekanntlich ist das noch bis auf den heutigen Tag der Haupteinwand der Synagoge gegen seine Messianität. Und es ist, kann sie mit Fug und Recht sagen, seit fast zweitausend Jahren nicht das leiseste Anzeichen davon zu bemerken gewesen, daß Jesu Prophezeiung je eintreten könnte. - Was macht man mit solch einem Propheten?
Ein zweites ƒrgernis liegt in der Asozialität der Lehre Jesu. Man kann die Verkehrtheit im Urteil nicht weiter treiben, als wenn man in Jesus den »ersten Sozialisten« sehen will. Von dieser Gesinnung fehlt in seinem Leben so ungefähr alles, was man von ihr verlangt, von seiner Lehre ganz zu schweigen. Wenn er zum reichen Jüngling sagt: »Geh hin und verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen« , so sagt er das nicht um der Armen, sondern um des reichen Jünglings willen; ebenso gut hätte er sagen können: »Wirf alle deine Schätze ins Meer!« Wenn er gegen den Einspruch des »Sozialisten« Judas jenem Weibe gestattet, seinen Körper mit den köstlichen Ölen zu salben (»Arme habt ihr immer, mich aber habt ihr nicht immer« ) - ich möchte wissen, wie man der innersten Gesinnung nach unsozialer sein kann, und wie man besser das aristokratische Prinzip der Natur vertritt. Vor der Himmelreich-Lehre aber steht wie der Cherub mit flammendem Schwerte das grausame Gesetz von Verschwendung und Auswahl. Denn diese seine Lehre gehört selber zur Natur und ist Natur. Wir treffen sie daher ganz unmittelbar in fast jeder seiner ƒußerungen, am deutlichsten in jenem Gleichnis vom Säemann, das immer so arglos hingenommen wird. Hier sieht man deutlich, daß das Himmelreich den Naturvorgängen angeschlossen ist. Der meiste Same wird verschwendet; er fällt auf den Weg oder auf steinichten Grund oder unter die Dornen; dort hat er sogar Gelegenheit, leben zu bleiben, seine Gestalt als Same zu erhalten. Einiges aber fällt auf guten Boden und trägt hundertfältige Frucht - aber dafür muß er auch sterben und auferstehn. Es ist der glückliche Wurf, der die Voraussetzung dazu schafft. Dieser ist hier immerhin gelenkt durch die Hand des Säemanns, während in der freien Natur das Gesetz von Verschwendung und Auswahl rigoros waltet. Es nützt also nicht, bloß guter Boden zu sein: denn wenn kein Same auf ihn fällt, so wächst auch nichts auf ihm; und der Same wiederum bedarf des guten Bodens, um - sterben zu können. Hier steckt Jesus tief in alter Mysterienweisheit, und er kommt auch einmal darauf zurück, als Griechen ihn vor Jerusalem sprechen wollen: da redet er im Stil der Eleusinien zu ihnen vom Weizenkorn, das er selber ist (Joh. 12, 20ó25). Es ist also der glückliche Wurf, der nicht nur die Entstehung des neuen Lebewesens ermöglicht, sondern der auch den Erlösungsvorgang einleitet. Denn die Natur bricht niemals ihr Gesetz.
Dieses Gleichnis vom Säemann*, das wegen seiner scheinbaren Harmlosigkeit den Kindern in der Schule zuerst vorgeführt wird, um den lieben Herrn Jesus kennen zu lernen, enthält in Wahrheit das ganze Christentum und das Leben Jesu; es ist voller Rätsel und bedeutete, als es ausgesprochen wurde, eine Herausforderung an die ganze Welt. »Wer Ohren hat zu hören, der höre!« , schließt es ab, und damit ist gesagt, daß hier ein Mysterium verborgen liegt. Die Jünger fragen ihn, warum er zum Volke in Gleichnissen rede, und er antwortet: »Euch ist gegeben, daß ihr das Geheimnis des Himmelreiches vernehmet, jenen aber ist es nicht gegeben!« Man fragt sich unwillkürlich: woher diese Bevorzugung? Welche Charakterzüge an ihnen können den Anspruch erheben, mehr zu wissen als das Volk, unter dem doch gewiß manch klüger und nachdenklicher Kopf lebt? Man kann nur sagen: keine. Oder findet man, daß jene zwölf Jünger je etwas anderes tun als immer das Falsche? Sie sind es doch, die »den Kindlein wehren«. Sie stellen die törichtesten Fragen danach, wie es im Himmelreiche sein werde, und welchen Platz ein jeglicher einnehmen werden; sie schlafen ein, wo sie wachen sollten. Sie, gerade nur eben als fliegende Boten zu gebrauchen, ahnen gar nicht, was sie verkündigen sollen und freuen sich, daß sie wiederkehren, während der Herr darüber in Melancholie versinkt. Sie tragen den Namen ((mathtai)), aber sie wissen noch vor dem Kreuze nicht, was sich hier eigentlich abspielt. - Es ist in Wirklichkeit nur die sakrale Zahl zwölf, durch die sie bedeutsam sind und die auch von jedem anderen hätte ausgefüllt werden können. Man muß sich damit begnügen, festzustellen, daß der Herr sie nun einmal ausgewählt hat und daß das seine Sache war, nicht unsre; wenn die Kirche sie zu Heiligen erhebt, so ist das ihr gutes Recht, denn ihre Tradition fordert es; die Philosophie hat ihr da nicht dreinzureden; aber es darf ihr auch nicht versagt werden, wie immer, so auch hier, einen skeptischen Blick auf diese sonderbaren Gestalten zu werfen, die uns so überflüssig vorkommen. Es scheint aber auch so, daß die furchtbar drückende Nähe des Herrn sie niedergehalten hat; denn »wer mir nah ist, der ist dem Feuer nahe, wer mir fern ist, der ist ferne dem Reich«. In der Apostelgeschichte, nachdem der Druck von ihnen genommen, leben sie sichtlich auf. Das ist besonders bei Johannes zu bemerken, dem Verfasser des Evangeliums und der Apokalypse, der als »Jünger, den der Herr lieb hatte« sich nicht anders benimmt als die andern auch, nach der Auferstehung des Herrn aber in steiler Kurve nach oben schießt. Auch Petrus erholt sich von seinem Charakter.
Nun lädt Jesus auf die Schultern dieser unbedeutenden Leute, die nicht wissen, wie ihnen geschieht, die folgenschweren Worte: »Denn wer da hat, dem wird gegeben werden, daß er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch noch genommen, was er hat«, um, auf ihre Frage antwortend, ihnen zu erklären, daß diese Gleichnisse nicht dazu da seien, jenem Volke, das da vor ihnen lagert, etwas klar zu machen, damit sie es verstehen (denn dazu sind doch Gleichnisse eigentlich da), sondern umgekehrt, damit sie es nicht verstehen »auf daß sie sich nicht dermaleinst bekehren und ihre Sünden ihnen vergeben werden!« (Mk. 4. 12). Man traut seinen Augen kaum, wenn man das liest. Wer kann diese Haltung, die der Herr ständig einnimmt, mit irgend etwas vergleichen, was man Menschenliebe nennt? Es geht einfach nicht.
Nun aber fährt er fort: »Aber selig sind eure Augen, daß sie sehen und eure Ohren, daß sie hören. Wahrlich ich sage euch: viel Propheten und Gerechte haben begehrt zu sehen, was ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und zu hören, was ihr höret, und haben es nicht gehört!« Also wieder die Bevorzugung! Was sie da aber sehen mit ihren seligen Augen, das ist seine eigne Person, die selber das Samenkorn ist; von diesem aber gilt sein Ausspruch zu den Griechen vor Jerusalem (bei Johannes), daß nur, wenn es stirbt, es Frucht trägt. Es ist der Opfergedanke, der das Geheimnis seines Lebens ist und den die Jünger nicht begreifen wollen. Das Samenkorn muß seine ganze Natur hergeben, damit die Auferstehung in einem neuen Leben möglich werde. Es handelt sich also nicht nur um die Kreuzigung seines Leibes, sondern um die seines ganzen Lebensplanes. Beim heidnischen Menschenopfer war es gleichgiltig, was der Mensch dachte, dessen Blut vom Altare floß: hier aber wird der Lebensgedanke mitgeopfert. Nach einem unwirschen Vorwurf an die törichten Jünger »Verstehet ihr dies Gleichnis nicht? Wie wollt ihr denn die andern alle verstehen...?« (bei Markus); »erklärt« er nun gerade das an ihm, was jedermann, auch der Einfältigste, sofort versteht und wozu ein Gleichnis nicht nötig gewesen wäre: nämlich, was für Leute das sind, die er da mit dem »steinigen Boden«, mit dem »am Wege« und »unter den Dornen« meint - das eigentliche Geheimnis, das von Verschwendung und Auswahl, sowie das seiner Person, umgeht er bei dieser »Erklärung«. Wenn man das alles liest, kommt einen eine tiefe Unzufriedenheit an, das Gefühl, umgangen zu werden -, es sei denn, daß man den wahren Kern seines ganzen Verhaltens erkannt hat.
Diese zwei großen ƒrgernisse im Leben Jesu liegen also vor: Das Nichteintreffen der Prophezeiung, für die er gelebt hat, und die Asozialität seiner Lehre von den Auserwählten. Wäre er nun ein »falscher Prophet« gewesen, so hätte sich nach Analogie der zahllosen anderen dieses Genres zwar sicher eine feste Gemeinde um ihn gebildet, diese aber hätte sich auch bald nach seinem Tode verlaufen, und es wäre nichts von ihm übrig geblieben, als hie und da eine anekdotische Bemerkung bei einem alten Chronisten und bestenfalls eine Biographie. So erging es ja seinem Altersgenossen und Doppelgänger, dem damals hochberühmten Apollonios von Tyana, dessen Gestalt viel menschlicher und anheimelnder ist als die des furchtbar-erhabenen Menschensohnes. Die Natur als ein Ganzes in ihrer Lückenlosigkeit reagiert nicht auf falsche Propheten. Der Kern des Lebens Jesu aber lag im Bereich ihrer Achse, und sein Leben selbst ist die empirische Kundgebung eines reinen Ereignisses der Natur.

Der Herr hat gelehrt, daß die Natur (nicht bloß die Menschenseele) in kurzer Zeit zum Stillstande kommen und dem Himmelreiche weichen werde. Voran geht als Abschluß der geschichtlichen Phase der peirasmow oder die Drangsal. Das war die Prophezeiung, die nicht eintraf, obwohl man im apostolischen Zeitalter inbrünstig auf sie wartete. Man nennt das in der Sprache der Theologie die Parusie und ihre Verzögerung. Die Natur lief unbeirrt weiter; aber sie beschritt dabei einen durchaus charakteristischen Weg. Sie war von jeher so verfahren, daß sie beim Menschengeschlechte eine deutliche Abtrennung vornahm zwischen Volk, das in Masse auftritt, und betonten Personen besonderer Art, die immer nur als einzelne erscheinen. Beide aber haben das Evangelium gehört und auf beide traf es zu. Über dieses einmal eingeschlagene Verfahren gelangt die Natur nicht hinaus, und daher kommt es auch, daß wir in der Apostelgeschichte sowohl die Massenbekehrung wie die von Einzelnen berichtet finden. Die Massenbekehrungen haben ganz und gar den Geschmack der öffentlichen Suggestion an sich, und man könnte fürchten, daß sie jeden Augenblick in offnen Dämonismus umschlagen. Man erinnere sich der Szene bei der Pfingstausgießung des heiligen Geistes im Anschluß an das öffentliche Zungenreden (Apg. 2. 1ó41) ein Vorfall, den Petrus gerade eben noch zu bändigen vermag. Demgegenüber stehen die Bekehrungen von Einzelpersonen, von denen die hervorragendste Dionysios Areopagita ist, dem Paulus bei seiner Rede in Athen begegnet. Dann noch die Beinahe-Bekehrung des Königs Agrippa und der Berenike, vor denen Paulus als Gefangener in Fesseln stand; er hatte ihn so mit seiner Rede getroffen, daß der König schließlich sagte: »Es fehlet nicht viel, du überredest mich, daß ich ein Christ würde!« (Apg. 26, 28). Was dann daraus geworden ist, weiß man nicht. Man hat bei diesen Einzelbekehrungen das Gefühl, daß das Christentum hier jedenfalls besser aufgehoben ist. Auch könnte es sein, daß es erst jenseits dieser eigentlich beginnt. Was jene Beinahe-Bekehrten wahrscheinlich ausdrücken wollten, ist dies, daß sie den Akt der Bindung, der schon bei Paulus anhebt, nicht mitmachen wollen, sondern die Freiheit vorziehen. Man weiß auch nicht, wieviele von den Oberen es sonst noch gegeben hat, die heimlich übertraten, ohne davon ein Aufhebens zu machen; und das passiert auch heute noch, obwohl es keine Apostel mehr gibt. Eines aber haben sie und das niedere Volk gemeinsam: sie sind beide Natur (natura naturata) und haben beide dasselbe Erlösungsbedürfnis, das sich damit als ein allgemeines Kennzeichen der Natur überhaupt erweist. Die ganze Natur schiebt sich gewissermaßen ihre wundeste Stelle als locus minoris resistentiae der heilenden Kraft entgegen. Dionysios Areopagita nun hat sich in den Dienst der Kirche gestellt, weil er Verantwortung für das niedere Volk in sich fühlte. Andere haben das nicht getan, und von ihnen schweigt die Überlieferung. Das sagt aber nicht, daß sie keine Christen sind.
Aus jenen halbwilden Massensuggestionen, die darum nicht weniger Naturprozesse sind, und dem Eingriff der Verantwortung, getragen von den Oberen, entsteht die Kirche Christi als höheres Naturprodukt, unaufhaltsam, unwiderstehlich wachsend und ausladend, weil sie eine echte Reaktion auf das ebenso echte reine Ereignis ist, das hinter dem Kreuzestode steht. Beide gehören zusammen; nur geht die Kirche vom Sozialen aus, Jesus aber vom Prinzip der Auswahl. Denn die Natur, zu der beide gehören, die Auserwählten und die Verworfenen, tut einen einzigen Schrei nach Erlösung und fragt nicht danach, wer auserwählt ist. Von ihrem Standpunkte aus, der immer ein sozialer ist, müssen alle Menschen selig werden.
Was aber der Gekreuzigte auf alle Fälle als Vermächtnis hinterlassen hat, das ist die Buße ((metanoia)). Schon der Täufer hatte als Vorbedingung für das Himmelreich gepredigt »Tuet Buße!«, und das wiederholte Jesus von Nazareth wörtlich. Buße ist ein dem heidnischen Altertum wie der heutigen Zeit ganz fremdartiges Element im Seelenleben. Es ist das erlebnishaft auftretende Bewußtsein von der Nichtigkeit und Sündhaftigkeit des menschlichen Tuns, wenn man es allein läßt. Sie ist also ein innerer Akt, kein tun; Sack und Asche bedeuten dabei nichts, sondern nur jene Umkehr des Willens und der Erkenntnis, durch welche die natürliche Gradlinigkeit ihres Fortschreitens gebrochen wird. Da nun der Wille im Menschen tatsächlich gebrochen ist (was die Antike nicht einsehen wollte), so bedurfte es eines Erkenntnisvorganges, um dies hervorzuholen. Daher »metanoeite«, das heißt, ein gedanklicher Einspruch gegenüber dem natürlichen Tun. Der Spiegel aber, der dem Menschen hier vorgehalten wird, damit er deutlicher sähe als es im heidnischen Altertum möglich war, ist das Gesetz des Alten Testamentes.

Manche Philosophen der neueren Zeit sind der Ansicht, daß die Menschheit durch den Eingriff des Alten Testamentes erst künstlich krank gemacht worden sei und daß das besser hätte unterbleiben sollen. Das wäre zu erörtern, wenn Orestes nicht auch ohne jenen Eingriff wahnsinnig geworden wäre, bloß weil er der Meinung war, daß man sich sein Gewissen selber mache. Zudem hält jener »verhängnisvolle Eingriff« in unverminderter Stärke bis auf den heutigen Tag an. Er ist also nicht historisch, sondern metaphysisch. Bußetun aber ist nichts, was man auslassen kann; man kann es versäumen oder falsch machen. Daß aber beides nicht geschähe, dafür Sorge zu tragen, ist Amt der Kirche, der es auch stets gelingt, vorausgesetzt, daß sie selber ständig Buße tut und niemals »siegt«. Und da die Buße à tout prix nötig ist, unabhängig von dem Satz »denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«, so bleibt ihr Amt erhalten, auch wenn die Prophezeiung im zeitlichen Sinne falsch war. Denn die Basis der Buße wurzelt im Gesamtmenschlichen, gehört seinem genus an und damit der Natur. Wie es nun erlebnishaft das Gefühl des Glückens menschlicher Handlungen gibt, so gibt es auch als dessen dunklen Widerpart das Erlebnis der Mißratenheit; sobald es sich um das Ethische handelt, lautet es Sündhaftigkeit und ist mit dem Gefühle der Schuld verbunden. Wer das nicht hat, verbleibt unterhalb des Standes, von dem an das menschliche Tun Bedeutung hat. Die Porträts aller derer, die sich gern Wohltäter der Menschheit nennen lassen, ja sogar glauben, daß sie es sind: diese Porträts verraten eindeutig, besonders im Auge, die Unberührbarkeit von jedem Gedanken an Buße und Sünde. Es ist der seit einem Jahrhundert herrschende Menschenschlag, der den Untergang des Abendlandes betrieben hat. Aber wie lange wird die betrogene Menschheit diese nichtigen Gesichter noch in der Erinnerung behalten...? Dagegen stehen die andern, die, mögen sie sonst heiter und kräftig sein, den heimlichen Zug der Melancholie nicht zu verbergen vermögen, wodurch überhaupt erst die Tiefe des Angesichtes entsteht. Sie haben das Erlebnis der Sündhaftigkeit aufgegriffen und tragen es mit sich herum; damit haben sie das Thema der Buße bei sich angeschlagen. Es scheint mir die Stelle zu sein, an der König Agrippa kurz vorher abgeschwenkt und ins heidnische Altertum zurückgekehrt ist.
Was nun bei den Oberen sich in der Form der Melancholie zeigt, das macht sich in den unteren Menschenschichten durch plötzliches, schreckhaftes Bußverlangen bemerkbar, das leicht in Massenwahn umschlägt und dann in Geißlerscharen durch die Straßen schwärmt: wehe dem, der nicht mitmacht! Andre wieder entmannen sich oder verhungern bei lebendigem Leibe. All diesen Erscheinungen aber liegt als Gemeinsames das Erlebnis der unbekannten Schuld zum Grunde, von der das menschliche Gemüt natürlicherweise bedrängt wird. Und das wird so bleiben, solange man nicht weiß, ob auch das größte aller Werke, das ein Mensch vollzog, es aufwiegen kann, daß dieser selbe Mensch ein hungerndes Kind an der Straßenecke stehen ließ.
In alledem Ordnung zu schaffen, die wilden Bußerscheinungen zu bändigen, die zu leicht genommenen zu vertiefen, das ist das erste Amt der Kirche, das in ständiger eigner Buße vollzogen werden muß; denn sie sagt sich mit Recht: geht das so weiter mit den Erfolgreichen, den Tugendhaften und Gerechten, den Glücklichen und den Wohltätern der Menschheit, wird diese Art der herrschende Typus so fällt die Menschheit über kurz oder lang in die furchtbarsten Hände, in die sie überhaupt nur fallen kann: in die des Menschen: Wo aber Bußbereitschaft im Ansatze da ist, da ist auch die Möglichkeit, daß das Himmelreich durchbricht; ob es das tut, das ist freilich nicht in unsere Hand gelegt.
Das zweite Amt der Kirche ist die Begründung des Dogmas. Wenn man den Kern alles dessen, was im Laufe von zwei Jahrtausenden bei allen Konfessionen des Christentums am Gebäude dieser Sonder-Wissenschaft erarbeitet worden ist, aufdecken will, so kommt man darauf, daß er in der Beantwortung der einen Frage zu suchen ist: »Wer war das...?« Jener Hauptmann, der am Kreuze den fürchterlichen Todesschrei des Menschensohnes hört und ausruft »Wahrlich, das ist Gottes Sohn gewesen!«, stellt die erste dogmatische Behauptung über die Person Jesu von Nazareth auf, und zwar gleich auf den ersten Hieb die richtige. Denn in der Tat liegen die Dinge ja so, daß das ganze christliche Dogma auf diesem einen ruht. Man streiche es fort, und das Christentum hat seinen Sinn verloren. Denn wenn jemand anderes dort am Kreuze verschieden war, so war das kein Opfertod objektiver Art, sondern ein bloßes Martyrium für eine private - noch dazu nicht eingetroffne - Prophetie. Wer also behauptet, es könne so etwas geben wie »dogmenfreies Christentum«, der hat schon im Ansatz falsch zugegriffen. Jedes Wort, das der Herr spricht, ruht auf dogmatischem Grunde, jeder von den vier Titeln, die er trägt, ist ein dogmatischer Titel; und es ist kein Gefängnis, aus dessen Gitterstäben heraus er spricht, sondern der Knochenbau der ganzen Sache, um die es geht. Wenn man undogmatisch reden will und glaubt, damit höher zu stehen, so kann man vom letzten Buddha, von Laotse, von Sokrates oder von Goethe reden und anderen Blüten der Menschheit - der Auswahl ist genug -, wenn man aber überhaupt von Jesus Christus spricht, der Weizenkorn, also Same, ist, so kann man es gar nicht anders als dogmatisch.

Es hat sich im vergangenen Jahrhundert unter der Vorherrschaft des protestantischen Bildungsphilisters ein vorwitziger Ton eingewöhnt, der etwa ging auf Goethe »und« Christus oder »schon« Christus hat gesagt; dem Völkchen, das so etwas tut, geschieht nichts weiter, denn sie wissen nicht, was sie tun. Wenn aber Hölderlin sagt: Bacchos, Herakles »und« Christus, so trifft ihn der Wahnsinn. Ihm, dem Genius, durfte das nicht begegnen. Von einer bestimmten Höhe an aufwärts darf man ex cathedra nichts wesentlich Falsches mehr sagen, sonst sind die Erinnyen da, die freilich bei Hölderlin zu einer recht domestizierten Abart gehören. Es war ein dogmatischer Irrtum: Dieses »und« gibt es nicht.
Wenn die Kirche in ihrer Sprache Jesus Christus als Gottes Sohn bezeichnet, so meint sie damit nicht etwa eine Analogie zu Herakles, dem Sohne des Zeus; sie meint es auch nicht so, daß man dazu die Frage stellen könnte: »wie kann Gott einen Sohn haben?«, sondern ganz anders und dabei völlig original. Stoße ich bei irgend einem Mitmenschen über seine bloße Individualität hinaus in seine Person vor, so treffe ich schließlich auf seinen Schöpfungsgrund, über den hinaus es nichts mehr gibt; meine Vernunft aber sagt mir, daß dieser Akt unzählige Male von unzähligen Menschen wiederholt werden kann. Und wer nicht weiter kann, der hat natürlich auch bei jenem Rabbi Jesus von Nazareth nichts anderes ergründen können. Wer aber weiter kann, der stieß auf die ungeheuerliche Tatsache, daß jener Schöpfungsgrund bei ihm durchlässig und daß die Person Jesu identisch war mit der Person des Weltschöpfers. Das ist der Glaubensgrund der ersten Christen, der bei jenem Hauptmann durch den Todesschrei am Kreuz als Ursache ausgelöst wurde. Wenn es überhaupt wahr ist, daß der Schöpfer der Welt persönlich ist und identisch mit dem Offenbarer des Gesetzes, so war diese irdische Person des Jesus von Nazareth die Erscheinung Gottes im Fleisch. Man könnte auch von einer zwiefachen Unendlichkeit der Person reden. Das aber heißt »Gottes Sohn«. Daß es erlebt wurde und nicht erdacht, das geschah durch das Medium des Glaubens, der, wie der Apostel Pauls tiefsinnig fand, eine Modifikation der Liebe ist. Natürlich ist das hier Vorgetragene ein Mysterium und für das Gedankliche im Grunde inkommensurabel; in dessen, wenn es das nicht wäre, dann käme auch an dieser Stelle keine Religion zustande.
Mag man es leugnen - aber man wird damit nicht weit kommen; jedenfalls hat durch die Erscheinung Christi und die Vorgänge auf Golgatha eine tiefgreifende Umprägung derer stattgefunden, die in seiner Nähe waren. Die Christen sind durch einen Umwandlungsprozeß physisch entstanden, und dieser besorgte einen eigentümlichen, man könnte etwa sagen telepathisch wirkenden consensus, der mit großer Instinktsicherheit auf jene Grundfrage des Dogmas zu antworten vermochte: Wer war das...? Bald stieß man allenthalben auf die sich fertig ausbildende Formel »Jesus Christus Gottes Sohn Retter.« Man wird an die Samenumwandlung bei Abraham erinnert, nur handelt es sich hier nicht um eine Mutation, denn sie ist nicht erblich; vielmehr muß die Erhaltung des christlichen Menschenschlages ständig durch Pflege des Dogmas gesichert werden. Dessen Grundkräfte aber, eben jener consensus, bleiben ohne Unterbrechung, auch noch heutigen Tages, am Werke. Das Dogma ist demnach ein eigentümliches geistiges Gebilde, das nur hier vorkommt und an jeder anderen Stelle unsinnig ist (so etwa, wenn Schopenhauer seine Lehre vom Willen als Ding an sich ein »Dogma« nennt). Es hat nur Sinn verbunden mit dem Element des Glaubens. Der aber ist keine Entscheidung des Intellektes, sondern stammt »von den Dingen« selber, hier also von Jesus, ist Kraft und nicht Urteil, wird geschenkt und nicht erworben. Das Dogma also lebt vom Glauben, den es auf der anderen Seite wiederum stärken, halten und mehren soll. Man sieht: das ist eine verfängliche Lage, die die Keime der Entartung in sich trägt. Denn fast unwiderstehlich ist die Verführung, die Lehrsätze des Dogmas unabhängig vom Glauben auch als an sich wahrzunehmen. Es entsteht dann der eigentliche Dogmatismus, dem Kant ein Ende bereitet hat. Zu behaupten, am Anfang habe ein göttliches Wesen die Welt geschaffen, und das sei unwiderleglich wahr, ist nichts als leeres Stroh. Die Anfangsworte des Buches Genesis aber, in gläubiger Versenkung, so wie sie da stehen, ausgesprochen, bezeichnen die Spur eines religiösen Vorganges.
So wenig durch eine richtige religiöse Überzeugung Frömmigkeit, Glaube und Religion entstehen, so sehr kann eine falsche das Wachstum dieser Güter stören. Daher muß der intellektuelle Teil des Glaubens - den er ja immerhin auch haben muß - in Ordnung sein. Das Dogma sorgt für diese Ordnung. In der Kirchengeschichte tritt es immer defensiv auf, das heißt als autoritative Antwort der Kirche auf herumschwirrende und gefährlich werdende Irrlehren, die alle miteinander stets die eine Tendenz haben, die Frage: »Wer war das...?« falsch zu beantworten. So erregte die Lehre des Bischofs Arius von der »Gottähnlichkeit« Jesu nachgerade ƒrgernis und gefährdete den Glaubensbestand. Diesen Jesus von Nazareth als eine Art Halbgott wie das Altertum zu denken, hieß, den welterlösenden Opfertod in Frage stellen. Daher wurde durch Konzilbeschluß von Nicaea im Jahre 325 diese Irrlehre zugunsten der richtig sehenden des Athanasius verdammt. Das hier entstandene Apostolische Glaubensbekenntnis ist noch bis auf den heutigen Tag das einzige Dogma, das von allen christlichen Kirchen bekannt wird und sozusagen das Minimum, an dem man erkennen kann, ob jemand Christ ist oder nicht. Die Philosophie, die das alles von außen her betrachtet, kann sich oft den geheimen Wunsch nicht versagen, daß es bei diesem ersten Konzil hätte bleiben mögen. Allein die Kirche geht ihre eignen Wege, und das ist ihr gutes Recht.
Im Gegensatz zu den Entdeckungstaten der Erkenntnis und den Schöpfungen der Kunst geht die Bildung des Dogmas nicht über das Genie, sondern über den consensus, der sich in Konzilbeschlüssen ausdrückt. Die ständige Wiederherstellung der Rechtgläubigkeit ist daher seine eigentliche Aufgabe. Das liberale Zeitalter hatte deren Wichtigkeit verkannt, und man galt in ihm für gebildet und frei, wenn man nicht »orthodox« war. Eines Tages aber dürfte man sich um Rechtgläubigkeit wie um das kostbarste Gut bemühen, verächtlich herabsehend auf jene Wohltäter der Menschheit, die ihr vortäuschten, es ließe sich auch ohne sie leben.
Es gehört zu den rührendsten und großartigsten Szenen der Rechtgläubigkeit, was uns MERESCHKOWKSY in seinem »Lionardo da Vinci« von Papst Alexander VI. Borgia überliefert hat. Sie lautet: »ÇSollte man vielleicht, außer gegen die bedruckten Bücherë, schlug Arborea vor, Çauch gegen handschriftlich vervielfältigte Werke, wie den anonymen Brief an Paolo Savelli, Maßregeln ergreifen?ë. ÇIch kenne den Brief;ë unterbrach ihn der Papst, ÇIllerda zeigte ihn mirë. - ÇWenn Ew. Heiligkeit ihn schon kennen ...ë - Der Papst sah ihm gerade in die Augen. Der Kardinal stutzte. ÇDu wolltest wohl fragen, warum ich keine Untersuchung gegen den Schuldigen eingeleitet habe? Mein Sohn, warum sollte ich meinen Ankläger verfolgen, da er doch nichts als die reine Wahrheit gesprochen hat?ë ÇHeiliger Vater!ë rief Arborea entsetzt aus. - ÇJawohlë, fuhr Alexander VI. mit feierlicher und eindringlicher Stimme fort, Çmein Ankläger hat recht! Ich bin der Letzte der Sünder, ein Dieb, ein Wucherer, ein Ehebrecher, ein Mörder! Ich zittre und weiß nicht, wohin ich mein Gesicht vor dem Gerichte der Menschen verbergen soll; was werde ich erst vor dem schrecklichen Gericht Christi, da auch der Gerechte kaum der Strafe entrinnen wird, anfangen...? Doch der Herr lebt, und meine Seele lebt! Auch für mich Verdammten ist mein Heiland mit Dornen gekrönt, verspottet und gekreuzigt worden, auch für mich ist er am Kreuze gestorben! Ein Tropfen von seinem Blut genügt, um auch einen solchen Sünder, wie ich es bin, reiner als Schnee zu waschen. Wer von euch, meine Brüder und Ankläger, hat die Tiefe der göttlichen Barmherzigkeit erforscht, um mir sagen zu können: Du bist verdammt? Die Gerechten mögen sich vor dem Gerichte rechtfertigen; uns Sündern steht nur der Weg der Umkehr und Reue offen, denn wir wissen, daß es ohne Sünde keine Reue, ohne Reue keine Rettung gibt. Ich werde sündigen und Buße tun, und wieder sündigen und wieder über meine Sünden weinen, wie der Zöllner und wie die Buhlerin. O Herr, ich bekenne Deinen Namen, wie der Schächer am Kreuze! Und wenn mich nicht nur die Menschen, die vielleicht ebenso sündig sind wie ich, sondern auch die Engel und alle himmlischen Kräfte und Mächte verurteilen und sich von mir abwenden, so werde ich doch nicht schweigen, sondern immer meine Fürsprecherin, die heilige Jungfrau, anrufen; denn ich weiß, daß sie mich begnadigen wird!...ë - Sein dicker Leib wurde von dumpfem Schluchzen erschüttert, und er streckte seine Hände zu dem von Pinturicchio über die Türe gemalten Muttergottesbilde aus. Viele glaubten, daß der Künstler, dem Wunsche des Papstes entsprechend, dieser Madonna die Züge der schönen Römerin Julia Farnese, der Geliebten Seiner Heiligkeit, der Mutter Cesares und Lucretias, verliehen hätte. - Giovanni sah und hörte und konnte unmöglich begreifen: war es Theater oder Glauben? Oder vielleicht beides zugleich? - ÇEines will ich euch, meine Freunde, noch sagenë, fuhr der Papst fort, Çdoch nicht zu meiner Rechtfertigung, sondern zum Ruhme des Herrn. Der Verfasser des Briefes an Paolo Savelli nennt mich auch einen Ketzer. Der lebendige Gott sein mein Zeuge, daß ich darin unschuldig bin! (Sperrung von mir): Ihr selbst...doch ihr werdet mir ja nie die reine Wahrheit sagen, - aber du, Illerda, ich weiß, daß du mich liebst und mein Herz siehst, auch bist du kein Schmeichler, - also sage du mir, Francesco, ganz aufrichtig, bin ich der Ketzerei schuldig?ë - ÇHeiliger Vaterë, erwiderte der Kardinal mit tiefer Rührung, Çkann ich denn dein Richter sein? Selbst deine ärgsten Feinde, wenn sie nur das Werk Alexander VI. »Der Schild der heiligen römischen Kirche« gelesen haben, werden zugeben müssen, daß du der Ketzerei nicht schuldig bist.ë - ÇHört ihr?ë, rief der Papst aus, auf Illerda weisend und wie ein Kind triumphierend. ÇWenn er mich freispricht, so wird auch Gott mich freisprechen: Von andern Sünden spreche ich nicht, aber der Freigeisterei, der aufrührerischen Weisheit dieser Zeit und der Ketzerei bin ich nicht schuldig. Ich habe meine Seele mit keinem gottlosen Gedanken oder Zweifel verunreinigt. Unser Glaube ist rein und unerschütterlichë«. -
Eine solche Szene wäre gar nicht möglich, wenn das Dogma dem Glauben so innewohnte wie die Kategorie - ehemalige Denkgesetze - der Erfahrung; wenn also das Verhältnis ein transzendentales wäre. Das glaubte ja die Kirche, als sie der Philosophie den Auftrag erteilte, dies zu beweisen, und als die Philosophie ihn annahm. Erst Kant hat den Auftrag gekündigt und den Weg für den Glauben frei gemacht. Denn es ist doch nun einmal so: die Kategorien bleiben als freie Denkgesetze giltig, wenn die Vernunft den Akt der Abstraktion begeht und die anschauliche Welt verläßt. Tut aber das Dogma dasselbe, so ist alles nichts als leeres Stroh. Die Ablösung von der anschaulichen Welt gelingt in der Religion nicht. Die Welt der Religion aber ist gehörte Welt; sie steht unter dem Primat des inneren Ohres, so wie die empirische unter dem des Auges. Der Charakter des Dogmas dagegen ist asymptotisch. Wenn ich eine Hyperbel konstruiere, so ist damit jene seltsame Linie mitgesetzt, die in der anschaulichen Welt keineswegs zwar eine Parallele ist - denn sonst müßte sie auch Hyperbel sein -, deren Gleichung uns aber sagt, daß sie sich niemals mit der Hyperbel schneiden kann. Bekanntlich ist dieser Sonderfall der Asymptote, der Aufsehen erregte, der Anlaß, wenn nicht gar der Grund für die gedankliche Erschütterung des Parallelenaxiomes und damit für die nichteuklidische Geometrie. Dieses mathematische Gleichnis - das vielleicht mehr ist - sagt viel Verheißungsvolles über Glauben und Dogma aus; und das Dogma kommt dabei oberhalb der Wissenschaft zu stehen.
Wenn nun schon der Glaube dasjenige ist, was in der Religion den Ausschlag gibt: wie soll man da etwas anderes wünschen können, als rechtgläubig zu sein...? Wenn jemand Maler werden will: wird es da nicht sein innerstes Bestreben sein, richtig zu malen, das heißt, die Gesetze der Farben, der Perspektive und die der ƒsthetik kennenzulernen, und nicht etwa liberal zu malen nach eignem Gutdünken? Auch der Genius muß so denken. Es bleibe hierbei noch dahingestellt, ob jene Szene mit Alexander VI. im historischen Sinne war ist oder nicht: innerlich ist sie es auf jeden Fall.
Ein wahrhaft beschämendes Gegenstück hierzu, das die tiefe Gesunkenheit des Christentums im gebildeten Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts kennzeichnet, ist das sonderbare Bekenntnis eines Mannes wie Karl Hillebrand, den man wohl mit Fug und Recht als den gebildetsten Deutschen seiner Zeit verstehen kann. Hillebrand gehört zu den ersten, die auf den jungen Nietzsche aufmerksam machten, seine bedeutenden Essays hatten europäische Geltung, er selbst war Deutscher ohne jede muffige Enge, kannte Frankreich wie sein eignes Land und lebte geistig in jeder Art auf großem Fuße. Seine Essays, in welcher Litteraturgattung er Meister war, sind in zwölf Bänden nach seinem frühen Tode erschienen; hat man sie alle gelesen, so kann man von sich sagen, daß man ein gebildeter Mensch sei. Im zweiten Buche seiner Werke nun schreibt HILLEBRAND in der Besprechung von Nietzsches »Unzeitgemäßer Betrachtung« gegen David Friedrich Strauß zum Thema »Sind wir noch Christen?« das Folgende:
«Nein, der gebildete Deutsche glaubt nicht mehr an die Menschwerdung Gottes in Christo zur Erlösung von den Folgen des Sündenfalles - und das ist das ganze Christentum. Dies soll jedoch keineswegs sagen, daß wir der Religion unserer Väter, unserer schlichteren Landsleute, ebenso gegenüberstehen, wie etwa dem Mohammedismus oder Buddhismus...50 Geschlechter unseres Fleisches und Beines, denen wir unsere Zivilisation verdanken, haben ihr ganzes höheres Leben nur in jenem Ideal gelebt; Millionen von Thränen, Hoffnungen, die Tröstungen des besten Teiles der Menschheit, hängen am Kreuz, das den Gott getragen: wie sollten wir nicht mit Ehrfurcht aufblicken zu diesem Glauben unserer Eltern? ja, mehr als das, wie sollten wir nicht wünschen, daß unsere Söhne durch das Symbol der Taufe in die Gemeinschaft und Nachfolge unserer Nation aufgenommen, daß sie durch die Lektüre und den Unterricht geweiht werden in die geschichtliche Grundlage des Christentums, ohne welche die Geschichte der Menschheit ein unverständliches Buch für sie bleiben würde...? Deshalb aber werden wir immer noch keine Christen sein«.
Man glaubt, seinen Augen nicht zu trauen, wenn man das liest. Also: ohne das Christentum ist die Geschichte der Menschheit ein unverständliches Buch. Die Geschichte der deutschen Nation ist seit zwölfhundert Jahren ein Ringen um das Christentum, »50 Geschlechter unseres Fleisches und Beines haben ihr ganzes höheres Leben nur in jenem Ideale gelebt« - aber das alles beruht auf einer bloßen Halluzination, der keine Realität entspricht! Und zu einem solchen Ammenmärchen soll man »mit Ehrfurcht aufblicken«! Nein! Ich weigere diese Ehrfurcht, und lasse meine Kinder nicht taufen, wenn es so ist, wie Hillebrand sagt. Ehrfurcht ist gar nicht möglich vor bloßen Hirngespinsten; nur die Realität kann sie gebieten. Entweder: der Kreuzestod Christi ist objektives Ereignis, nicht bloß historisches, dann gilt auch der Satz, daß die Geschichte ohne das Christentum ein unverständliches Buch sei; oder: er ist eine Marotte, dann gibt es weder Geschichte, noch ist das Übrigbleibende »verständlich«. Aber ein drittes gibt es nicht. Wäre an jener ideologischen Auffassung auch nur eine Faser wahr, so könnte man jenes zwölfhundertjährige Ringen des deutschen Volkes und auch Europas, das wir mit Recht seine Geschichte nennen, nur als ein Riesen-Jahrmarktstreiben ansehn, das gar keine Möglichkeit einer ehrfurchtsvollen Betrachtung bietet. Die Frage von Subjekt und Objekt und der Achse der Natur, die quer hindurchläuft, ist hier, wie so oft, wieder einmal heimlich gestellt. Es wäre aber wahrlich besser gewesen, wenn Karl Hillebrand, ehe er solche Sätze schrieb, bei Papst Alexander VI. in die Schule gegangen wäre, der alles ruhig sein wollte, Dieb, Mörder, Ehebrecher, Meineidiger, ein Ketzer aber um keinen Preis.
Der Fall Hillebrand ist ja aber der Fall des deutschen Gebildeten überhaupt, und wir haben ihn nur an einem seiner Gipfel erfaßt. Ein Gebildeter des hohen Mittelalters hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als solche Meinungen über das Christentum zu verbreiten. Denn wenn er es auch nicht wußte, so handelte er doch so, daß der Primat der Religion über die Kultur stets gewahrt blieb. Dieser Primat aber besteht tatsächlich und ist nicht etwa Zeitgeschmack; er hängt auch nicht vom Willen der Menschen ab, sondern ist durch die Ordnung der Natur bestimmt. Religion ist die Rückläufigkeit der Natur im Heilungsprozeß bis hinab zu den Gesteinen. Natur und Religion sind also zwei gleich große Kreise; Kultur aber ist das Produkt der genialen Zone, ein kleinerer Kreis von anderer Abkunft und anderem Sinn. Natur und Religion sind durch das Band der Notwendigkeit miteinander verknüpft genau in dem Verstande, daß die Not der Kreatur in der Religion gewendet wird. Religion und Kultur dagegen haben keine notwendige Verbindung; sie kann sein, aber auch nicht sein. Trat sie ein, so war die Brücke das christliche Dogma, dessen Tiefsinnigkeit niemand leugnete und das mit dem freien Denken zu segensreichen Spannungen kam. So gehörte es noch im achtzehnten, ja bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein zu den Selbstverständlichkeiten, daß die gebildeten Stände der Kirche angehörten, und zwar nicht mit der Gesinnung, wie sie Hillebrand vertritt. Da aber geschah etwas, was nie hätte geschehen dürfen: die evangelische Kirche, saturiert und hochmütig, unterließ es, vom Dogma her ein Gleichgewicht gegenüber den aufstrebenden Kulturmächten, besonders der Wissenschaft und Philosophie herzustellen, durch das der Primat der Religion gesichert worden wäre. Sie paßte nicht auf. Und erst, als es zu spät war, ging sie gerade den falschen Weg, indem sie das Dogma dem Zeitgeschmack anpaßte und liberale Tendenzen duldete. Nun war alles verraten und verkauft. Die gebildeten Stände, die sich von ihr verlassen fühlten, zogen sich aus ihr zurück und überließen das Terrain den alten Weibern als letzten Kirchgängern. Man traf immer mehr »Mühselige und Beladene« in ihr an, die Kirche mußte sich bescheiden, Trostspenderin für alles Geknickte zu sein, als ob das Christentum für sie allein da sei - und als ob nicht gerade bei den höheren Menschen das Mühselig- und Beladensein überhaupt erst beginne! Die Kirchen füllten sich mit Kümmergut.
Auf der andern Seite - von der Kultur her - fand eine Gleichsetzung von Kultur und Religion statt, ja, die Religion wurde zu einem Fall von Kultur. Der Vorrang der heilenden Kräfte gegenüber den bildenden war in Frage gestellt; und heute liegt ein Trümmerhaufen da! Das alles betraf die evangelische Kirche, die schon vor hundert Jahren in den Briefen Jacob Burckhardts als eine verlorene Sache gemeldet wird. Aber auch die katholische, die bisher noch nie hat Spuren der Verachtung über sich ergehen lassen müssen - wohl aber des Hasses - muß etwas versäumt haben. So schreibt der benediktinische Christ Prinz KARL ANTON ROHAN in seinem Buch »Schicksalsstunde Europas«: »Es kann wohl nicht anders sein, als daß das Christentum zur Aufnahme des an Rationalismus und Materialismus gescheiterten Menschen ungenügend gerüstet ist« (Sperrung von mir). Wo aber in einem Volke der Primat der Religion gegenüber der Kultur nicht durch die sicher leitende Hand der Kirche verbürgt wird, da werden die Widerstandskräfte in großen Schicksalszeiten gelähmt. Das aber ist Schuld der Kirche.*

Das Dogma entwickelt glaubensgefährdende Kräfte, wenn es den Boden der anschaulichen Welt verläßt und syllogistisch oder gar polemisch wird. Es stammt ja schließlich von einem Schrei und, im Widerhall, von einem Ausruf. »Wahrlich, das ist Gottes Sohn gewesen!«; und was das sei, »Gottes Sohn«, das ist sein eigentliches Thema. Das apostolische Glaubensbekenntnis von Nicaea ist noch anschauliche Welt, geboren aus dem Glaubensvorgang des christlichen consensus; darauf muß sich jede Dogmatik schnell wieder zurückführen lassen und dabei das Gefühl erzeugen: wenn du das nicht glaubst, so bist du kein Christ. Wenn ich aber sage: Die Jungfrau Maria ist die Mutter Jesu von Nazareth (was nicht angetastet werden soll); dieser aber ist Gottes Sohn; als Sohn aber ist er mit Gott wesensgleich: also ist die Jungfrau Maria die Mutter Gottes - wenn ich das sage, so hat das Dogma, das sich hierauf gründen will, als Basis nicht die anschauliche Welt, sondern einen Syllogismus, und der Naturzusammenhang ist unterbrochen.** Es ist daher kein Wunder, daß dieses Dogma und alle andern gleicher Herkunft nicht die Widerstandskraft gegen den Zweifel haben wie das Apostolikum. Auf noch fragwürdigerem Boden stehen die polemischen Dogmen, die aus einer bestimmten Kampflage der ecclesia militans entstanden sind, wie etwa das der Unfehlbarkeit des Papstes. Der eigentliche Dogmatismus aber beginnt erst dort, wo dem Intellekt freie Hand gelassen wird, wie etwa bei den vorgeblichen Beweisen für das Dasein Gottes. Jahrhunderte haben an deren Möglichkeit geglaubt: das heißt, man wollte sich in Sicherheit wiegen, den Glauben billig erwerben zu können und vor der Wirklichkeit zurückschrecken, daß er sogar nur geschenkt wird. Aber, könnte man sagen: Gott als Gegenstand des Wissens, das ist Atheismus. »Soll doch einmal die Welt beweisen, daß sie da ist...!« - ich sehe noch immer die flammenden Rabbiner-Augen vor mir, als MARTIN BUBER mir das einmal sagte und damit den Nagel auf den Kopf traf. -
Religiöser Massenwahn ist noch nicht Kirche, obwohl er auch aus Heilungskräften stammt, sondern er führt bestenfalls zur Sekte, wenn er nicht - was meistens wünschbar ist - an Ort und Stele verpufft. Kirche entsteht in dem Augenblick, da jemand aufsteht und die Verantwortung übernimmt. Das aber ist schon in den ersten Zeiten der christlichen Bewegung geschehen, wie wir das in der Apostelgeschichte lesen. Der Spruch dieser Verantwortung im Geiste aber ist das Dogma. Es besteht aus Sprüchen, die dem Zauberwort verwandter sind als dem Lehrsatz, aber doch keines von beiden ist.
 

11. DAS PROBLEM DER GESCHICHTE. KONSTANTIN DER GROSSE
Es gibt Philosophien und ganze Religionssysteme, die das Dasein der Geschichte leugnen. Das heißt für sie ist alles öffentliche Handeln nur durch die gewöhnlichen und allbekannten Motive bestimmt, von denen die Raublust an oberster Stelle steht. Geschichtliche Ereignisse seien nur menschliche Daseinsmotive en gros. So denken die beiden indischen Systeme des Vedanta und des Buddhismus, und so denkt Schopenhauer. Die Griechen begannen unter Thucydides das Problem von ferne zu sehen, kamen aber nicht dazu, es voll aufzugreifen. Gegenüber dieser Geschichtsfeindlichkeit gibt es ein sehr deutliches und sich immer wieder aufdrängendes Gefühl dafür, daß dem, was wir Geschichte nennen, etwas Objektives entspricht, das die Grenze zum bloßen Passiertsein markiert; es ist hier eine Art historischer Urteilskraft am Werke, die sich, wie alle andern Urteilskräfte auch, nicht weiter begründen läßt, sondern die man haben muß. Wir unterscheiden gefühlsmäßig deutlich den bloßen Raubeinbruch in ein fremdes Land von der Eroberung Galliens durch Julius Cäsar. Auch wenn dieser nichts anderes gewollt hat, als seine Schulden an Crassus zu decken, im übrigen seinen Ruhm und Reichtum suchte, so war doch diese Eroberung außerdem noch etwas, das über diese Interessen hinausging: eben ein geschichtlicher Vorgang. Davon braucht er nichts gewußt zu haben, ja man kann vermuten, daß die Naivität fast eine conditio sine qua non für geschichtliche Größe ist. Wer sich hinstellt und zu Volksversammlungen von seiner historischen Sendung spricht, der hat schon im Ansatz verloren. Wir sind auch nicht geneigt, noch so große geschäftliche Transaktionen unserer lieben Wohltäter der Menschheit, selbst wenn sie Erdball-Dimensionen und Erdball-Wirkungen haben, als geschichtlich zu betrachten. Sondern hierzu gehört noch ein spezifisches Aroma, das man auf der Zunge haben muß, um es schmecken zu können.
Der Glanz, der sich um die Gestalten historischer Personen legt, ist ein ganz besonderer, der niemals, weder von urtümlichen noch von zivilisierten Räubern erreicht wird: er stammt »aus mythischem Grunde«, hat man gesagt, und das trifft schon weitgehend zu. Es wird aber doch nie voll gelingen, eine erschöpfende Definition für das Geschichtliche zu erlangen, so wenig wie für die Kunst, aber die Sache wird wenigstens angeschnitten und eine deutliche Absonderung von anderem erreicht. Man kommt der Frage näher, wenn man sie so stellt: alle Gebilde der Natur vom Mineralreich über die Pflanzenwelt hinweg bis zu den tierischen Lebewesen bedürfen zur Erklärung ihres Daseins sowohl wie zu der ihrer Erkennbarkeit des archetypischen Untergrundes, der platonischen Idee. Dieses Wort darf nur dort angewendet werden, wo es sich um das Verhältnis von Stempel und Abdruck handelt; jede andere Verwendung ist mißbräuchlich, auch wenn sie - was geschah - von Platon selber begangen wurde. Bei dieser Betrachtung erscheint das empirische Einzelgebilde als die getrübte Darstellung eines reinen Urbildes. Gibt es nun - und hier spitzt sich die Frage zu - nicht nur von jenen Einzelgebilden, sondern auch von Vorgängen Ideen...? Wer das Geschichtliche bejaht, der muß zu der Überzeugung kommen, daß es das eben gibt und daß es dies ist, was heimlich mitgespielt hat, wenn ein bankrotter Patriziersohn nach Gallien ging, um - Gaius Julius Cäsar zu werden.. Wieweit sich die geschichtliche Idee im Intellekt verfängt, also in der Vernunft, das ist freilich eine andere Frage, und man kann hier nur sagen: je weniger, umso wirksamer. Ich erinnere mich lebhaft einer Bemerkung, die Oswald Spengler, etwa in den frühen zwanziger Jahren, einmal machte. Wir saßen im kleinen Kreise zusammen und unterhielten uns, wie das damals üblich war, über die landläufigen politischen Fragen. Dabei schwirrte es in den Köpfen nur so von allerhand »Ideen«, von der »Idee« des Nationalismus, des Sozialismus, der Humanität, und wie sie alle hießen. SPENGLER saß lange Zeit schweigend im Hintergrunde. Da auf einmal griff er ein, machte mit seinen dicken, fleischigen Fingern eine negierende Zitterbewegung und sagte: »Halt, meine Herrn...! Das, was Sie da sagen und wovon Sie da reden, das sind alles keine Ideen. Ideen kann man nicht aussprechen!« Er hatte damit genau ins Herz des Gespräches getroffen, das demnach auch nicht weiterging. Aber das Wort blieb übrig und befindet sich nun hier aufgezeichnet.*
Wenn es also überhaupt Geschichte gibt, so kann es sie nur geben vermöge der Verankerung ihrer empirischen Vorgänge in der Wirkungsebene der reinen Geschichte, deren getrübte Darstellung sie sind. Sie muß demnach auch einen Sinn haben, dessen Enträtselung freilich nicht minder schwierig ist als die der Naturdinge. Ich bedarf des Begriffes der reinen Geschichte nicht, wenn ich den Raubüberfall eines Volksstammes auf einen andern, oder wenn ich die geschäftliche Transaktion einer Großbank erklären will: denn beides folgt aus dem natürlichen Raubinstinkt des Menschen ohnehin; den aber kenne ich zu Genüge. Um aber den besonderen Sinn der Eroberung Galliens - im übrigen auch »nur« ein Raubüberfall - zu begreifen und damit die Gestalt Cäsars, dazu muß ich die Existenz der reinen Geschichte voraussetzen, sonst ist all mein Überlegen umsonst. Aus der Tatsache allein aber, daß über Cäsar Litteraturwerke geschrieben worden sind, folgt, daß ihre Autoren aus dem Gehalte der reinen Geschichte heraus dachten, auch wenn sie selbst diesen Begriff nicht kannten. Transaktionen und Raubüberfälle kann jeder beliebige machen. Wir haben hier also dasselbe vor uns, wie bei der Einordnung der Tierarten in ein zoologisches System: nicht nur die Existenz der Tiere, sondern auch ihre Erkennbarkeit ist gebunden an die Existenz ihrer Archetypen, auch wenn der Autor sie leugnet.
Die indischen Lehrgebäude und Schopenhauer leugnen das Dasein der Geschichte als einer durch besondere Prägung hervorgerufenen Art öffentlichen Handelns. Das konnten sie deshalb, ja sie mußten es, weil sie die Auflösung des gesamten Weltdaseins erstrebten. Daher konnten sie jener Zwischenlandung unmöglich einen Sinn abgewinnen. Wenn alles Dasein eo ipso eigentlich nicht sein soll, so bedarf die vorgebliche Geschichte keiner besonderen Berücksichtigung. Anders das Christentum, das nicht Auflösung, sondern Erlösung will, zwei Dinge, die nicht auf demselben Baugrunde stehen. Es erkennt das Bestehen der Geschichte an, schon deshalb, weil die Person Christi historisch ist und nicht repetierbar wie die zahllosen Buddhas. Freilich ist das Aufhören der Geschichte gegenüber den Endereignissen eine besonders wichtige Feststellung, und dem Christentum der ersten Generation war das historische Bewußtsein geschwunden, weil es das Eintreffen des jüngsten Tages erwartete. Das Christentum holte dann, bei länger andauernder Parusieverzögerung, das Versäumte nach und begann, das Historische richtig einzuschätzen. Es hat eben seinen Sinn, so denkt es, daß es einigen Völkern gelingt, in den Machtkreis der Geschichte einzurücken, den meisten aber nicht. Man wird es nicht leugnen können, daß es etwas anderes ist, wenn man von römischer Geschichte spricht oder von lydischer, thrakischer und sonst eines beliebigen Volksstammes: dieser hat eben keine Geschichte. Denn Geschichte ist kein allgemeines Merkmal menschlicher Gruppen und Volksstämme, sondern ein besonderes einzelner; sie gehorcht dem Auswahlprinzip. Wo die reine Geschichte einschlägt, dort ist die empirische da, sonst nirgends; so wenig wie ein Tier da sein kann, das keinen Archetypus hat.
Jedes Volk bringt, wie Dichter und Maler aus seinem Schoße wachsen, so auch stets einige Geschichtsschreiber hervor, die, wenn das Volk erst unterhalb jenes limes liegt, der den Beginn der Geschichtsfähigkeit anzeigt, nur Chronisten bleiben; reicht es aber dort hinein, so findet man, daß die Auffassungen über das wahrhaft Geschichtliche an einem Volke sehr verschieden sein können. Es ist ebenso schwer aufzuzeigen, wie die reine Geschichte ihr Thema beim Volke anschlägt, wie es schwer ist zu zeigen, in welcher Lage und woher gesehen ein Gegenstand der Natur seine höchste Sättigung an Schönheit entfaltet. So kann man etwa die neuere deutsche Geschichte ebensogut habsburgisch wie hohenzollerisch deuten; aber jeder der beiden Standpunkte muß bei sich selbst voraussetzen, daß er mit seiner Deutung den wahren Sinn, das heißt die Befugnis aus der reinen Geschichte, trifft; sonst hat es keinen Zweck, die Feder in die Hand zu nehmen. Von Preußen aus gesehen war die Erwerbung der Königskrone durch Kurfürst Friedrich - was gewiß vorwiegend aus Eitelkeit geschah - ein großartiger politischer Schachzug von historischer Bedeutung; aber man erinnert sich an das Urteil des Prinzen Eugen, daß die Räte, die dem Kaiser die Zustimmung zu diesem Handel empfohlen hatten, verdienten, gehenkt zu werden: denn aus der Zulassung eines protestantischen freien Königreiches im Norden könne nur Bruderkrieg und schließlich Untergang der Gesamtnation folgen.
Nun hat der Standpunkt des Prinzen Eugen gesiegt; aber es kann ja trotzdem nicht geleugnet werden, daß Preußen eine historische Macht war, keineswegs ein bloß soziologisches Phänomen. Das Shakespearewort vom »tiefen Geheimnis, das in des Staates Seele wohnt« ist zweifellos gerade auf Preußen eminent anwendbar. Geschichte ist ja immer an den Staat gebunden, der allein - im Gegensatz zur bloßen Gesellschaft - die Macht hat, freie Ethik zu binden. Wollte also jemand es unternehmen, die erste Geschichte Preußens zu schreiben - denn der Untergang gehört ja mit zur Geschichte -, so könnte er sich nicht damit begnügen, auf das zu sehen, was de facto passiert ist, denn dann käme nichts als Rechthaberei heraus, sondern er müßte sich in die prägende und richtende Kraft der reinen Geschichte versenken, bei der er dann entdecken würde, daß sie eng mit ethischen und metaphysischen Dingen verbunden ist, und er würde auch - was wir noch später ergründen -, auf eine mythische Ebene stoßen, die sich quer hindurch lagert. In jedem andern Falle wäre seine »Geschichte« entweder ein alberner Panegyrikus oder, dem Geschmack der heutigen Zeit entsprechend, eine Thersiteia. Angeschlossen aber an die großen Motive der reinen Geschichte bekommen Begriffe wie Schuld und Sühne, aber auch Opfertod, ihren gefügten Sinn. Und es würde das sichere Zeichen für die Gelungenheit eines solchen Werkes - sub specie peccati - sein, wenn der Nachweis gelänge, daß die preußischen Könige, meist ohne es zu wissen, nach solchen Motiven gehandelt oder dagegen verstoßen haben. Man denke hier etwa an die meisterhafte Monographie über König Friedrich Wilhelm I. von Jochen Klepper, sowie an Werner Bergengruens Roman »Im Himmel und auf Erden«, der die Gestalt Joachims I. von Hohenzollern zum Gegenstande hat.
Da Geschichte immer Geschichte von Staaten ist, diese aber begrenzte Machträume sind, sie sich am Nachbarstaate erweisen, so folgt daraus, daß alle Geschichte relativ ist. Sie muß sich immer auf Feind und Freund beziehen. Hieraus ergibt sich, daß der Begriff der »Weltgeschichte« in diesem Sinne unhaltbar ist; es sei denn, daß ein Autor die Historien aller bekannten Völker und Institutionen in einer Reihe von Bänden aufführt, wobei aber das einzige wirkliche Band von Buchbinder hergestellt wird. Denn da es nur eine Welt gibt, so hat diese nichts, worauf sie sich - historisch - beziehen könnte; also kann es keine Weltgeschichte geben in dem Sinne, wie wir bisher von Geschichte sprachen.
ó ó Oder doch..? Das Wort ist da, nur der Begriff ist unklar. Gibt es dafür ein zuständiges Objekt, und wo liegt es? Gibt es also ein Koordinatensystem, durch das jeder geschichtliche Vorgang seine objektive Lage verrät? Die Welt müßte freilich selbst darunter fallen, und es müßte aus den Kräften bestehen, die auf dem Wege der Rückläufigkeit der Natur zutage treten. Das Christentum meint, daß es diese Kräfte in den Händen halte, daß die Religion einen bestimmten Weg gehe und nicht dem Belieben menschlicher Einsichten ausgeliefert sei. Es gibt freilich zu, im Verlaufe der Jahrhunderte, in denen es als Kirche wirksam war, vielfach die Gelegenheit versäumt zu haben, hierfür den bündigen Beweis anzutreten; statt dessen hat es flüchtige Notbauten aufgerichtet, die sich als syllogistische Dogmen Ewigkeitswert zuschrieben. Aber es hat ihm immer, wenn es sie brauchte, die Philosophie gefehlt, die in Freiheit neben ihm stand. Ja, wenn Dionysios Areopagita heute noch lebte, oder wenn Menschen wie König Agrippa und Königin Berenike nicht doch noch davongelaufen wären! Indessen das läßt sich nachholen; denn das Christentum ist jung. Wäre das Buch des Lebens in solider Buchstabenschrift verfaßt, so könnte jedermann schnell auf seinen Grund kommen; aber es steht in Hieroglyphen da. - Man konnte es jenem windigen Bankrotteur, als er nach Gallien ging, nicht ansehen, daß er Julius Cäsar war; denn der Glanz des Geschichtlichen, der auf ihm ruhte, verbarg sich unter dem empirischen Gewande. Das Mitspielen der reinen Geschichte und der Dämonen, die sie beim Einbruch in die empirische zu begleiten pflegen, vollzog sich incognito. Und so konnte man es dem Gekreuzigten auf Golgatha, gegen den alles sprach, vor allem er selber, nicht ansehen, daß sich an ihm, und nirgend sonst in der Welt, die Religion als reines Ereignis der Natur vollzog. Aber die Kirche, so sagt sie mit Recht, hat es ihm angesehen, und das ist ihr Verdienst. Das besagt in die Sprache der Philosophie übersetzt: so wie jener Cäsar die Verkörperung der geschichtlichen Idee des römischen Reiches war, schon als er, noch unerkannt, als Hasardeur nach Gallien ging, so ist jener Jesus von Nazareth die Verkörperung des reinen Ereignisses der Natur, in dem die Religion ihre Mitte gefunden hat. Er vertritt also gegenüber der Historie, die auf der reinen Geschichte ruht, den höheren Rang; denn tiefer, als die Geschichte, liegt die Natur selbst. Und beides kreuzt sich in dieser einen Person so, daß die Geschichte dadurch ihr Koordinatensystem erhält. Erst von hier an ist es daher möglich, von Weltgeschichte zu reden. Das Gesetz aber, unter dem die Welt steht, verläuft im Dreiklang von Schöpfung, Sünde, Erlösung. Dieser gilt für alle Kreatur vom Menschen bis herab zum Gestein. So etwa dachte der Kirchenvater Augustin, der das zum ersten Mal aufgebracht hat.
So wenig es also Weltgeschichte geben kann, wenn man sie auf dem bloß empirischen Wege suchen will - weil dann das wesentliche Merkmal der Bezüglichkeit plötzlich versagt -, umso mehr muß es sie geben, wenn man den andern beschreitet: dann steht sie auf einmal vor uns. Ja es wird dann klar, daß es überhaupt keinen Sinn hätte, Geschichte zu schreiben, wenn diese nicht im letzten Grunde auf das Ganze der Welt hin verwiese. Natur und Geschichte müssen aufeinander gemünzt sein. Was hätte es etwa sonst für einen Sinn, ein Verhältnis zu bewundern wie das zwischen dem Kardinal Richelieu und Ludwig XIII.? Warum gründet man solche Königreiche? Was liegt an Frankreich, wenn sich in seiner geschichtlichen Idee nicht die reale Anknüpfung seines Königtums an die ebenso reale des Weltcharakters selber bemerkbar machte? Kein Mensch könnte sich doch, wenn das alles auf fixen Ideen beruhte, dafür mehr interessieren als für die Chronik eines Dorfes. Woher stammt die Bewunderung, die man für jenes gleichlaufende Verhältnis empfindet, das zwischen Bismarck und König Wilhelm bestand? Den Rang des Historischen bekommt eine preußische Privatsache erst durch das heimlich Weltgeschichtliche, das in ihr liegt und ohne das die handelnden Personen gar nicht zum Handeln gekommen wären. Das brauchten sie freilich nicht zu wissen, und sie nannten das ja einfach »Religion«. Hätten sie gewußt, aus welchem Grunde heraus sie handelten, hätten sie der Welt auf Volksversammlungen erklärt, daß sie geschichtliche Personen seien und aus diesen und jenen Gründen die Welt umzugestalten gedächten: so wäre es ihnen ergangen wie jenem Narren von 1933, der dies eben tat. Ideen kann man nicht aussprechen.

Die christliche Kirche geht mit dem Regierungsantritt Konstantins des Großen die Verbindung mit dem Staat ein und wird damit objektiv-geschichtlich. Dieser Wendepunkt fiel keine zwanzig Jahre nach der blutigsten aller Verfolgungen (303) unter Diokletian. Der Aufstieg ist ganz steil und plötzlich; das Konzil zu Nicäa, das den einzigen widerstandsfähigen Dogmenbau der Kirchengeschichte hervorbrachte, tagte im Jahre 325 unter persönlichem Vorsitz des Kaisers. Die staunenerregende Zielsicherheit, mit der das alles geschah, und die Haltbarkeit, die wir erst heute feststellen können, bewog von jeher die Betrachter der Kirchengeschichte nach einer Erklärung zu suchen.
Hier nun stehen sich die theologische und die skeptische Befangenheit gegenüber. Die erste, beginnend mit Eusebius von Cäsarea, nicht aufhörend auch in heutiger Zeit, erklärt die Ereignisse einfach aus dem Willen Gottes, so, als ob man darüber auch nur das geringste wüßte. Daß Konstantin auf die blutgewohnten Gemüter der damaligen Christen, noch dazu bei seiner persönlichen Schönheit, wie ein Engel Gottes wirkte, ist verständlich; aber Gott selbst wie einen deus ex machina zur Erklärung geschichtlicher Vorgänge zu benutzen, das gehört eher zu den Blasphemien, ganz abgesehen davon, daß dadurch nichts wahrhaft verständlich gemacht wird.
Ganz anders fördernd ist da schon die skeptische Beurteilung, deren bedeutendster Ausdruck Jacob Burckhardts Werk »Die Zeit Konstantins des Großen« ist. Bei ihm ist die Erhebung der christlichen Kirche aus dem Martyrium über die Toleranz zur Staatsreligion ein rein politischer Akt, an dem der Kaiser selber innerlich unbeteiligt war, und der nur, wie jeder andere Schachzug auch, im Dienste der Festigung des römischen Reiches stand. Diese Auffassung Burckhardts hat weithin Schule gemacht; auch Harnack dachte so, und es ist immer gut, die Skepsis so weit zu treiben, wie nur irgend möglich. Allein es bleibt hierbei doch ein Gefühl des Unzulänglichen übrig, so als ob die Substanz der Ereignisse nicht richtig getroffen sei. Sowohl die aufdringliche Gläubigkeit der theologischen Erklärung wie der Unglaube der skeptischen läuft auf dem Geleise der Einmotivigkeit. Das Schicksalsjahr der europäischen Menschheit, das 325 in Nicäa schlug, enthält aber zwei Motive, und nur dadurch kam es zu seinem Rang. Das eine stammt aus der reinen Geschichte, das andere aus einem reinen Ereignis der Natur: aus deren Zusammentreffen aber erst ergibt sich die Festigkeit und die Sicherheit, mit der alles geschah, von der Folgenschwere ganz zu schweigen. Aus der reinen Geschichte wurde jener Konstantin heraufgereicht, der, eben weil auf ihm - wie auf Cäsar - deren Stempeldruck ruhte, so war, daß er diesen und keinen andern Griff tat. Was er aber ergriff, das stammte nicht aus der Geschichte. Die Kirche war noch urgeschichtlich, hatte nur Chronik, war dafür aber Ausdruck jenes reinen Naturverlaufes, der durch die Kreuzigung Christi sein Stigma erhalten hatte. Da also die Natur selber mit ihrem Schicksal dahinterstand, so war auch das, was hier gegründet wurde, von jenem Stempel getroffen, der noch um eine Dimension tiefer liegt als die reine Geschichte.
Die Kirche aber trat mit diesem Augenblick in die empirische Geschichte ein; denn sie traf ja auf den Staat und nicht bloß auf die Gesellschaft. Man kann diese Begebenheit wohl als eine einmalige im Schicksal der Menschheit ansehen; und Konstantin den Großen zu nennen, liegt noch mehr Grund vor, als Burckhardt - der sich diesen Titel förmlich abringt - zugestehen will. »Es ist gar nicht abzusehen, was aus der damaligen Welt geworden wäre, wenn es keine christliche Kirche gegeben hätte«, sagt ADOLF HARNACK einmal. (»Mission des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten«): es wäre auch für diese Zeit, in der zu leben wir das Unglück haben, gar nicht abzusehen, trotz allem nicht. Konstantin hatte das erkannt. Es kommt nicht darauf an, daß die Kirche herrscht - das soll sie nicht -, aber es kommt darauf an, daß sie da ist.
Nichts ist demnach verfehlter, als in Zeiten der Desperation die geschichtliche Kirche auf das Stadium der Urkirche zurückzuführen zu wollen. Der Schritt in die Geschichte ist getan worden, und da er solche Hintergründe hat, so kann er nicht zurückgegangen werden. Als G. Julius Cäsar in Gehorsamsverweigerung gegenüber dem Senat den Rubikon überschritt und das Heer gegen Rom führte, war die Republik zu Ende und die große Periode des römischen Kaisertums begann. Das war für die eingefleischten Republikaner, wie Cicero und Cato, die bloß »res publica libera« denken konnten, nicht aber »imperium«, ein unvollziehbarer Gedanke; sie nannten das den Untergang der Freiheit. Aber es vollzog sich doch, weil die reine Geschichte prägend dahinter stand und vom Genius in die empirische gezwungen wurde. Da gab es kein Zurück hinter den Rubikon. So auch gibt es für die christliche Kirche kein Zurück aus der Geschichte und dem Staat in das seelsorgerische Idyll der »Urkirche«.
Durch die Bezweiflungen, die Konstantin der Große von Seiten der skeptischen Schule erfuhr, wurde er reif für die Ehrenrettung. Man hielt die Ansicht, daß er doch persönlich ein gläubiger Christ, mindestens aber ein ernster Verehrer der christlichen Religion gewesen sei, für seiner würdiger. Es ist schade, daß ein so begabter Autor wie Frank Thieß - der in seinem »Tschusima« den Beweis für prunklose Geschichtsschreibung angetreten hat - sich in dem Buch, das den Titel »Das Reich der Dämonen« trägt, journalistischer Mittel bediente, um jenes Zeitalter darzustellen, in dem die Entscheidung fiel. Journalismus ist es, wenn ein Autor einen ständig fühlen läßt, was für ein geistvoller Mensch er doch sei; schließlich hört man nur noch diese Stimme und vergißt das Thema. Thieß quält sich ab, bei jeder Gelegenheit sein stupendes Wissen und seinen Geistreichtum, auch Witz, spielen zu lassen. Jacob Burckhardt aber schreibt ruhig und unbekümmert »Die Zeit Konstantins des Großen«. Darum sinkt der Wert von Thießens Buch, auch wenn man ihm statt Burckhardt recht geben muß. Die eigentümliche Glitschigkeit des journalistischen Stils verhindert es, klar herauszustellen, wo nun eigentlich diejenigen Kräfte gelagert waren, die imstande gewesen sind, der maßlosen Brutalität des diokletianischen Staates Einhalt zu gebieten und diesen selbst auf die Knie zu zwingen. Bei der Darstellung des ersten Auftretens der christlichen Kirche versucht Thieß herauszuarbeiten, was das eigentlich Charakteristische an ihr gewesen sei, und was also den Ausschlag gegeben haben muß. Und da kommt er, scheintís, ganz richtig, auf die Liebe zu sprechen. Man gerät bei der Lektüre seines Buches gerade an diesen Stellen auf den Gedanken, als lese man die »Arestie des Jesus von Nazareth«. Denn er scheint deren Sprache hier reden zu wollen. Aber er redet doch die des Bedarfsschriftstellers, der nie den Bruch mit dem Publikum wagt, und darum kommt es nie klar heraus, was er eigentlich meint und sagen will. Es klingt nämlich so, als ob die bloße Predigt von der Liebe es vermocht hätte, die damalige Welt umzugestalten. Das aber ist eine unvollziehbare Vorstellung. Denn die Welt des römischen Imperiums diokletianischer Färbung kannte Gefühle des Erbarmens und die ihr verwandten nicht, stand vielmehr in voller Gewalt ihres Gegenteils; aus dem sicheren Fehlen jener Eigenschafen bezog sie ihre Kraft. Und nun soll dadurch, daß einige wirre Haufen eifernder Sektierer die »christliche Menschenliebe« gepredigt haben, dies Weltreich umgewandelt worden sein! Ein unvollziehbarer Gedanke. Nicht, weil die Liebe gepredigt wurde, sondern weil der Liebe etwas zugestoßen war, das kosmisches Ausmaß hatte, nur deshalb war die Predigt überhaupt möglich und nur deshalb hatte sie verwandelnde Gewalt. Das römische Reich stand also einer kosmischen Macht gegenüber und keinem guten Zureden wehleidiger Prediger. Einer solchen aber ist schwer standzuhalten, besonders wenn man in den letzten Jahrzehnten Verbrechen auf Verbrechen begangen hatte und, was schlimmer ist als Verbrechen: Fehler.
Um die Sache ins Gleichgewicht zu bringen, so daß sich wirklich reale historische Mächte gegenüberstehen, bleibt nichts anderes übrig, als sich der öffentlichen Meinung des christlichen Altertums anzuschließen, daß es sich bei der Kirche um ein wirkliches »drittes Geschlecht« ((triton genos)) handelt, das in sich als »tief Geheimnis« den Staat trägt. Anschließen an eine Stelle des ersten Petrusbriefes (12, 9), in der es heißt: »Ihr seid das auserwählte Geschlecht...«, teilte man die damalige Menschheit in Juden, Griechen und Christen, und das war schließlich, da es ja nicht gemacht, sondern aus Gnaden der Natur geschehen war, eine durchaus physische Sache. Die Christen sahen anders aus als die übrigen Völker und tun es auch heute noch. Sie haben eine besondere Physiognomie. Daraus, daß man diesen Satz nur stutzend lesen wird, kann man erkennen, von was für einer Seltenheit hier die Rede ist. Aber eine Parallele aus früherer Zeit wird es klären. Unter den Völkerschaften Italiens, den Etruskern, Volskern, Albanern, Samniten hoben sich eines Tages die Römer unverkennbar ab. In den patrizischen Geschlechtern wenigstens dieses Volksstammes hatte sich ein Motiv der reinen Geschichte verfangen, das den anderen versagt blieb: Staat und Recht; und damit der Anspruch auf die Weltherrschaft. Jeder Römer dachte ganz naiv, daß die Welt ihm gehöre, und seine Sprache nannte daher eine Eroberung nicht mit dem rechten Namen, sondern sagte »in die Botmäßigkeit der Römer zurückbringen«*, so als läge hier ein geschichtliches Apriori vor; und diese Meinung war richtig. Seitdem gibt es eine römische Physiognomie, die unverkennbar ist. Das Charisma von Staat und Recht war ihnen von der reinen Geschichte anvertraut; dadurch allein wurden sie historisches Volk. Ebenso entstand das Volk der Christen; diese aber hatten das Charisma von Schöpfung, Sünde und Erlösung in der Hand. Das Koordinatensystem für die Weltgeschichte lag bei ihnen. Hierbei ist freilich zu bemerken, daß die Stelle im ersten Petrusbrief sich nicht auf die historische Kirche bezieht, von der weder der Nazarener noch die Apostel auch nur das geringste vermuteten, sondern auf die Ausgewählten, die in das - ausgebliebene - Reich Gottes aufgenommen werden sollten, jene immer geringer werdende Zahl, die vorgeblich »die Verwesung nicht schmecken« sollte. Aber das ließ sich ja übertragen. Was aber nun das Merkwürdige bei diesem neu entstandenen »dritten Geschlechte« war: auch in ihm meldete sich, von der reinen Geschichte geprägt, Staat und Recht, mit ihnen der Anspruch auf Weltherrschaft. Nur, daß es bei den Römern tellurische Kräfte waren, die sie vorwärtstrieben, bei der Kirche aber uranische. Darauf stieß das diokletianische Reich, ohne es zu bemerken. Auch die alten Italiker hatten ja nicht bemerkt, mit wem sie es in den verachteten Römern zu tun hatten. Die Kirche samt ihrem geheimen Staat war aber immerhin auch schon fast dreihundert Jahre alt. Wenn nun die Kräfte des Erdgeistes, schon reichlich mißhandelt, versagten, die uranischen aber, die sich noch in statu nascendi befanden, zunahmen, so wird der unvermeidliche Umschwung an einem bestimmten Tage verständlich. Die gepredigte Menschenliebe aber ist geschichtlich unwirksam gewesen, wie sie das heute genau so ist.
Was indes Konstantin anbelangt, so kann er nicht gut die Erhebung zur Staatsreligion als bloßes politisches Mittel, wie jedes andere, gebraucht haben; dazu kostete es zu viel. Er muß schon übergetreten sein, wenn auch zögernd, wie jeder große Mann, der nicht dem Massenwahn unterliegt. Denn die Kirche forderte eine grundlegende, umfassende ƒnderung: die Sklaven sollten zwar weiterhin im antiken Sinne Eigentum ihrer Herrn bleiben und für sie arbeiten: aber ihre Seele gehörte unumschränkt der Kirche genau so wie die des Kaisers. Diesen unerhörten Eingriff - ein Sieg des principium personalitatis - aber kann man nicht billigen, ohne aufzuhören, heidnischer Kaiser zu sein. Der Übertritt Konstantins muß echt gewesen sein.
 

12. DIE ERKENNTNISLAGE DER THEOLOGIE
Die Erkenntnis Gottes währt nur solange als der Psalm ertönt.
Die Wahrheit dieses Satzes wurde von jeher dadurch verdunkelt, daß man eine begriffliche Erkenntnis für echtes Eigentum hielt, statt bestenfalls für Besitz; aber ich besitze eine Sache ja auch dann, wenn ich sie gestohlen habe. Man glaubt daher, an Gott zu glauben, wenn man die Überzeugung gewonnen hat, daß es ihn gibt. Allein, hier liegen Selbsttäuschungen vor, die darauf beruhen, daß die Denkmöglichkeiten unendlich groß sind, die Zahl der Worte aber, die dem Menschen zur Verfügung stehen, nur endlich, so daß der Rock immer zu kurz ist. Der Sprachgeiz ist ungeheuer. Wäre die Sprache, wie das Fritz Mauthner meint, nichts weiter als Verständigungsmittel von Mensch zu Mensch, so wäre der Reiz sowohl der Dichtung als gar der Verkündigung unerklärlich. Da aber die Sprache zwei Stämme hat, den sakralen und den demotischen, beide ineinander aufs innigste verwoben, so liegt es anders: sie ist beteiligt, und zwar positiv beteiligt an den Vorgängen der Dichtung und der Verkündigung; sie stammt - als Zauberwort - »von den Dingen«.
Höre ich die Worte der Psalmen oder der Propheten Israels, so trete ich, unter Erregung des Glaubenszustandes, für die Dauer des Erklingens Gott als Erkennender gegenüber. Sind sie aber verklungen, so folgt noch eine kurze Gnadenfrist, gleich einem Nachbilde: dann aber ist es aus; die Erkenntnis Gottes hat aufgehört. Trete ich nun, um zu retten, was zu retten ist, ins begriffliche Denken über und sage mir: es müsse doch aus diesen und jenen schwerwiegenden Gründen einen Gott geben, so verfange ich mich sofort in den »dialektischen Widerstreit der Vernunft« und dresche leeres Stroh. Mit andern Worten: Gott gehört als Gegenstand der Erkenntnis nur der anschaulichen Welt an, nicht dagegen der begrifflichen. Träger aber dieser anschaulichen Welt, in der das Wort Gottes die erste Stimme hat, ist das Ohr. Da das im Bewußtsein geschieht, und ich weiß, daß ich erkenne, so folgt daraus, daß Gott sehr wohl Gegenstand des Verstandes ist, nicht aber der Vernunft. Denn ich verstehe ja, was der Prophet zu mir redet, und der erregte Glaube zeigt mir die Kostbarkeit des Vernommenen an. Nichts aber wird dabei an seiner Unbegreiflichkeit geändert.

In der bisher üblichen Ausdrucksweise nennt man die Tat der Propheten Offenbarung. Aber es ist notwendig, hier einzugreifen und ergänzend sie als Entdeckung zu bezeichnen. Das ist keine Willkür, sondern wird von der Sache gefordert. Offenbarung bezeichnet die Richtung vom Objekt her auf das Subjekt zu; Entdeckung die vom Subjekt nach dem Objekt. Und nur, wo beides da ist, vollzieht sich der geniale Prozeß. Darum muß man auch auf dem Gebiete der Wissenschaft, wo man üblicherweise von Entdeckung spricht, stets Offenbarung hinzudenken: Newton hätte das Gravitationsgesetz nicht entdeckt, wenn sich nicht im kritischen Augenblicke die Schwere selber ihm offenbart hätte. Und nur dadurch, daß wir das stillschweigend anerkennen, kommen wir zu dem sicheren Gefühl der Giltigkeit, ohne die Wissenschaft ein leeres Spiel von Menschengedanken wäre. Das aber soll sie ja eben gerade nicht sein. Die Propheten nun hörten mit dem inneren Ohr; was sie aber hörten, war nicht ein einzelnes Naturgesetz, sondern die Selbstoffenbarung Dessen, durch Den die Natur Schöpfung ist. Dieses innere Ohr spielt bei ihnen die gleiche Rolle wie bei den Künstlern das innere Auge. Auch sie sehen zunächst die empirische Außenwelt der Dinge mit dem gewöhnlichen äußeren Auge; dahinter aber, nach innen zu im transzendentalen Subjekt eingebettet, liegt das innere Auge, das die tiefer im Objekt liegende Schönheit sieht; dieses aber ist wirklich.
Im Werke der Dichter und bildenden Künstler aber vollzieht sich die symbolische Darstellung der Vision durch den actus demonstrandi, und es steht noch dahin, ob die Wahrheit von den Dingen der Natur besser vom Dichter dargestellt wird als vom Forscher; jedenfalls gehört sie immer der anschaulichen Welt an, und das macht ihren Vorzug aus. Nähme ich auch nur einen Augenblick an, daß der künstlerische Prozeß nur durch Offenbarung oder nur durch Entdeckung geschieht, so gäbe es keine Möglichkeit, an seine Objektivität zu glauben, und die Schönheit wäre dann ein vages Spiel der Phantasie, das besser unterbliebe. Nur, wo beides da ist, da ist auch Wirklichkeit. Und nur, wenn die Propheten zugleich Empfänger von Offenbarung und Entdecker sind, zeugen sie von ihr. - Oder soll auf einmal hier, gerade hier, es anders zugehen? Wer schützt sie vor dem Verdacht, daß sie nur Eignes daherreden und daß ihre vorgeblichen Verkündigungen nur die Fragmente zerstörter Seelenleben sind? Das haben doch nicht nur moderne Psychiater von ihnen gesagt, sondern auch Zeitgenossen. Nur die volle Einordnung in das Schema des genialen Prozesses sichert ihre Verkündigung. Daß sie daneben auch zertrümmert werden konnten von der Gewalt des Offenbarungseindruckes - wenn nämlich die subjektive Entdeckungsgebärde nicht stark genug war - zum Teufel ja, wer mag sich darüber beschweren bei dem, was sie da entdeckten! Es ist ein wahres Wunder, daß sie noch halbwegs heil geblieben sind.
Man steht aber hier vor einem unausweichlichen Entweder-Oder. Entweder: Wissenschaft und Kunst reden vom Wirklichen; dann ist das, wovon die Propheten reden, erst recht wirklich; denn der Prozeß, durch den es in die Erscheinung tritt, ist genau der gleiche. Oder: Wissenschaft und Kunst sind Brillen, die sich die Menschheit hie und da zu ihrem Zeitvertreib aufsetzt, und ihnen entspricht nichts Wirkliches: dann muß auch die Verkündigung der Propheten ein Wahngebilde sein. Aber das erste für wahr und das zweite für eingebildet zu halten, das geht nicht an. Die Begründung der Prophetie geschieht also auf der Basis der beiden Sätze:
1. Wirklich ist, was Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt hat und von diesem akzeptiert wird. Die Wirklichkeit der Materie ist nur ein Fall davon.
2. Wissenschaft und Kunst, sowie auch die Religion in actu demonstrandi beruhen auf der Wirksamkeit des genialen Prozesses, der in allen dreien genau der gleiche ist.
So wie das, was sich, vom Objekt her, dem Künstler offenbart, Schönheit heißt, das, was dem Forscher, Gesetz, so heißt das, was sich den Propheten zeigte, das Wort Gottes. Wie der Künstler unzufrieden durch die Reihen seiner Gebilde geht, weil er weiß, da sie ihm mißlungen sind, so sind auch die Propheten unzufrieden mit dem, was ihr Mund schließlich aussprach. Glück gibt es hier nirgends. Denn am Ende, man mag sich drehen und wenden wie man will, kommt das, was sich dem inneren Ohre kundtat, nicht ebenso rein durch den prophetischen Mund heraus, der immerhin ein Menschenmund ist. Der actus demonstrandi unterliegt gegenüber dem status nascendi dem Gesetz der Erbsünde. Das wissen wir aus den eigenen Bekenntnissen der Betroffenen, wenn wir es nicht ohnehin wüßten. Es gibt keine Verbalinspiration, und die Schriften der Propheten sind keine Diktate. Das wären sie, wenn der prophetische Akt nur einseitig Offenbarung wäre, die fix und fertig in die auserwählten Organe gedrungen ist, so wie wenn Goethe seine Gedichte diktiert. Wäre es so, dann fehlte den Propheten das Merkmal eigner Größe; die aber billigen wir ihnen zu. Wäre es so, dann gäbe es nur Bibel-Philologie, die nur die richtigen Texte herzustellen hätte; ein Wort der Bibel hätte dann gleiches Gewicht wie jedes andre. Das alles aber ist nicht der Fall: es gibt Schriftauslegung, Hermeneutik, schließlich Theologie, und vieles steht in Frage. Ja, man muß sagen, daß die Mißlungenheit des Niederschlages in litteris weit größer ist als bei den profanen Werken der Weltlitteratur. Das aber liegt an der bedrückenden Größe des Gegenstandes. Im Homer ist jeder Vers ein Kunstwerk, weil hier das Thema und der Sänger sich die Waage halten. In der Bibel aber zerbrechen fast vor unseren Augen die Autoren unter der Wucht des Wortes; die es traf, kämpfen mit dem letzten Einsatz. Es ist ein wahres Wunder, daß besonders im Alten Testament, es Partien gibt, die das Größte in der Weltlitteratur erreichen.
Was die Schriftauslegung angeht, so gibt es darüber zwei Standpunkte. Der katholische sagt: Das ist Sache derer, die etwas davon verstehen, der Väter, der Konzilien und der bestallten Theologen. Diese vermitteln die Wahrheit, deren Anname verbindlich für den Glauben ist. Im Zweifelsfalle tritt der Grundsatz der Probabilität auf den Plan oder ein ex cathedra unfehlbarer Spruch des Papstes. Hier liegt also eine juristische Methode vor, bei der ja auch das Recht gemäß den Entscheidungen der obersten Landesgerichte gefunden wird. Der protestantische dagegen sagt: Schriftauslegung ist jedermanns Recht; hieran schließt sich die Lehre vom allgemeinen Priestertum. - Es ist nicht Sache der Philosophie, sich Sympathien zu erwerben; die Gegensätzlichkeit der beiden Anschauungen ist zu allgemein im Menschenleben begründet, als daß sie besonderes Aufsehen erregen könnte. Der Streit zwischen Fachgelehrsamkeit und Laienforschung wird nie zu Gunsten je einer Partei entschieden werden können. - Aber, was meinte eigentlich LUTHER damit, wenn er sagte : »Papst und Konzilien können sich irren; nur die Bibel selbst ist Quelle der Heilserkenntnis«! Geistesverwandt ist diese plötzlich einsetzende Haltung mit jener Parole, die sein älterer Zeitgenosse Lionardo da Vinci in bezug auf die Naturforschung herausgab: keine scholastische Voreingenommenheit, sondern Befragung der Natur selber durch das Experiment. Denn die Natur kann nicht lügen. Aber schließlich ist die Bibel ja nicht Natur, sondern ein Buch - Luther aber behandelte sie wie die Natur, die nicht lügen kann. Das ist keine litterarische Entscheidung. Es ist auch keine dogmatische, knapp ein theologische zu nennen: sondern es ist der sichere Griff des Genies, das selber Prophet ist. Luther weiß eben, was hier und bei keinem anderen Buche vorgegangen ist. Es ist zwar selber nicht Natur, aber es enthält in Fülle Ausgänge aus ihr, durch die Propheten und das Evangelium geschaffen, die den Weg zu ihrer Erlösung öffnen. Oder umgekehrt: es enthält Durchbrüche von außen in die Natur hinein, die von der Offenbarung erzwungen worden sind; kurzum, es enthält das Wort Gottes orginaliter. Insofern gehört die Bibel nun doch zur Natur auf ihrem Rückwege. Und nun macht Luther es ebenso wie Lionardo da Vinci und alle folgende Forschung. Freilich liegt die Einschränkung vor, daß die Natur im gewöhnlichen Verstande lückenlos ist und auch an der winzigsten Stelle ihr Gesetz nicht bricht. Die Bibel aber ist ständig unterbrochen, weil an ihr tausend Jahre lang unzählig viele Autoren gearbeitet haben, die sich nicht kannten: kontinuierlich an ihr ist nur ein roter Faden, und der ist die eigentliche Religion. Von dem aber, was dazwischen liegt, kann man weiß Gott nicht sagen: »Siehe, es steht geschrieben...« Sind doch, wie vor kurzem an einer Paulusstelle durch Philologen bewiesen wurde, Randglossen eines fremden Lesenden mit in den »heiligen« Text hineingeraten. Solches Glück, wie Luther bei den Einsetzungsworten des Abendmahles hatte, konnte er nicht an jeder Stelle erwarten. Hier aber mußte es ja stimmen! - Mit der unbeirrbaren Sicherheit des Gleichgeordneten wußte er sehr deutlich: was hier geschrieben steht, ist original, hier fließen die wirklichen Quellen; von den Kirchenvätern aufwärts aber ist alles aus zweiter Hand und dem möglichen Irrtum unterworfen. Es sind nicht die Durchbrüche selber, sondern die Gedanken darüber. Sein eigner Standpunkt ist der des Genius und des Propheten, und so konnte man sich auf seine Gabe verlassen, bei der Predigt stets so zu greifen, daß er den roten Faden traf und ihn mit dem übrigen Menschenleben verband.
Wie aber, wenn man nicht Genie ist...? Wie steht es dann mit der Lehre vom allgemeinen Priestertum? Dann steht es schlimm, und es steht ja auch schlimm; hier liegt das große Risiko, das Luther eingegangen ist: es darauf ankommen zu lassen. Böse Zungen haben behauptet, mit Luther höre die Reformation auf, denn sie ist auf das Genie angewiesen. Ganz sicher freilich ist, daß durch ihn die geniale Phase der deutschen Geistesgeschichte, die von Lessing über die Weimarer Klassiker, Kant, Schopenhauer, Nietzsche führt, eingeleitet wurde. Denn ohne ihn ist das alles unmöglich. Er hat die Basis für den Deutschen Kulturkreis geschaffen, der einzigartig in der Welt dasteht und seinen Kraftstrom nach Skandinavien und England schickt. Die katholische Kirche, die sich bisher als die treueste Hirtin des Christenglückes der möglichst Vielen erwiesen hat, ist von einem tiefgehenden Verdacht gegen das Genie durchdrungen. Wo sie auch nur bei ihren Pfarrern die leiseste Spur von genialer Frömmigkeit wittert, da verbannt sie sie in die entlegensten Pfarren, um sie vor der Hybris zu schützen. Kommt hinzu: das Genie versteht sich nicht auf den Gehorsam.

Das Alte Testament ist wesentlich original, nichts ist abgeschrieben; ein falscher Antisemitismus hat das nämlich behauptet. So verwies man auf den Sonnengesang des Echnaton »Die Welt liegt im Dunkel, als wäre sie tot« und verglich damit den Wortlaut des 104. Psalms. Hieraus scheint ein Plagiat hervorzugehen. Leise und leisetreterisch fing das schon mit Friedrich Delitzschís »Bibel und Babel« an. Der sagte auch, es lägen hier Entlehnungen vor: so als sei das Alte Testament ohne die babylonische Kultur »nicht denkbar«. Delitzsch verlor damals den Kampf gegen die Orthodoxie, ähnlich, wie ihn Haeckel verlor. Ebenso steht es, so sagte man, mit dem Gesetzbuche des Hamurabi, in dem alle sittlichen Gebote des Alten Testamentes vorkommen, nur eines nicht, das erste des Dekaloges; auf das aber kommt es an. - Man sollte überhaupt erstaunt darüber sein, daß die Orthodoxie immer siegt: erst vor wenigen Jahren wieder im Kampfe gegen die »Deutschen Christen«, die den zweiten Artikel des Apostolikums angriffen, so wie Haeckel seinerzeit den ersten. Ihnen gefiel wohl der Name Arius, und sie verwechselten ihn mit den Ariern. Das alles aber kommt daher, daß jeder Vers des Alten Testamentes die originale Entdeckung (sage: Offenbarung) Gottes voraussetzt, die sonst nirgends, auch nur andeutungsweise vorkommt. Echnatons Sonnengesang ist nun einmal an die Sonne als Gott gerichtet; die Sonne aber ist kein Gott. Der Psalmist dagegen hat die richtige Entscheidung getroffen, und also ist der Psalm kein Plagiat, sondern original, auch wenn es bis zu wörtlichen Übereinstimmungen kommt. Und also ist der Sonnengesang Echnatons heute Litteratur und gehört in die Geschichte, der Psalm aber ist Religion und durchbraust noch heute die Herzen in voller Frische. - Die Theologie braucht sich darum nicht mehr zu kümmern.
Man hat sich oft darüber den Kopf zerbrochen, warum es seit der Kantischen Kritik überhaupt noch Theologie geben könne. Es gab doch auch keine Phlogiston-Theorie mehr, nachdem Lavoisier sie widerlegt hatte, sondern sie erstarb im selben Augenblicke. Kant hatte bewiesen, daß es keinen Gottesbeweis geben könne, und MOSES MENDELSSOHN nannte ihn bekanntlich dafür den »Alleszermalmer«. Das heißt nun freilich, mit Kanonen nach Spatzen schießen. Denn wenn man die Gedankenverschlingungen dieser hochmittelalterlichen Scholastiker durchliest, die sich um die Beweise für das Dasein Gottes bemühen, so glaubt man, in einem Tollhause zu sein. Sogar Thomas von Aquin, der doch sonst eine Ader dafür hatte, lehnt sich gegen den famosen »ontologischen Beweis« des Anselm von Canterbury auf. Jedes Kind mit klarem Verstande muß einfach lachen, wenn im so etwas vorgetragen wird. Es handelt sich hier schlechterdings um Irreligiöse, die nicht hören können, und dieses schwere Manko durch Vernunftspekulationen ausgleichen wollen. Es bleibt aber freilich dabei, daß sich die Theologie als Wissenschaft auf der Annahme eines Objektes aufbaut, dessen Dasein unbeweisbar ist. Ist das nicht eine windige Wissenschaft? Aber wir erleben nicht nur ein Weiterbestehen der Theologie, sondern - in der heutigen Zeit auffallend heftig - ein deutliches und höchst kräftiges Wachstum, wenigstens auf protestantischer Seite. Fast könnte man meinen, sie sei die lebendigste und stärkste aller heute betriebenen Wissenschaften. Dabei lassen wir noch ihren historisch-kritischen Zweig beiseite, der sich hundert Jahre lang um die Leben-Jesu-Forschung bemühte; denn diese wird von der kantischen Kritik nicht betroffen; wir reden nur vom Dogmatischen. Dabei muß man feststellen, daß die katholische Seite mit ihrer starken aquinatischen Bindung sich wenig hervorgetan hat und bis hart an die Grenze der Vogel-Strauß-Politik ging, während die protestantische die Sache auf sich nahm. Sie hat Kant in sich einbezogen und damit starken Auftrieb erfahren; so ist sie um gute Armeslänge voraus, während die katholische sich noch im Halbschlaf müde die Augen reibt.
Dieses Weiterlaufen der Theologie erklärt sich daraus, daß die Religion - wie wir durch Schopenhauer erfuhren - nicht ein Produkt des Intellektes ist, sondern des Willens. Die Natur selber ist es, die der Theologie zu Hilfe kommt. Diese Natur aber ist krank; und nicht nur das Menschenherz, der locus minoris resistentiae, sondern »alle Kreatur sehnet sich mit uns und ängstigt sich immerdar« (Röm. 8, 22). Schopenhauererisch zu Ende gedacht heißt das: bis in die Gesteine hinein; und auch die alten echten Alchymisten (also nicht die Goldmacher) samt dem großen Paracelsus dachten so. Wo aber Krankheit ist, da ist das Verlangen nach dem Heilmittel unwiderstehlich. Der christlichen Theologie also liegt - unbewußt - das Verlangen nach dem Heilmittel zum Grunde; das ist ihre Naturbasis, auf die sie sich ganz naiv verläßt. Andere Religionen behaupten auch, Offenbarungen zu haben: aber es sind keine Entdeckungen. Hätten wir ein volles Kompendium aller empirischen Naturgesetze, so daß die Natur als natura naturata lückenlos darin eingefangen wäre: wir wüßten damit nicht um einen Deut mehr von ihr selber als einem Ganzen. Die oben erwähnte Römerbriefstelle aber redet davon und ebenso die Entdeckung der Erbsünde, sowie die Lehre vom geschenkhaften Charakter des Guten. Das sind keine privata des christlichen Glaubens, sondern Entdeckungen, die objektiv-giltig sind und die jedermann anerkennen muß. Es sind Beiträge des Christentums zur allgemeinen humanistischen Bildung des Menschengeschlechtes. Durch die Kirche aber werden diese kultisch bewertet und gesteigert.
Die christliche Religion kann sich also darauf verlassen, daß die Natur sie nicht im Stich läßt, ganz gleichgiltig, was für schweres Geschütz die philosophische Kritik gegen sie auffahren möge. Freilich wird der Rang jedes theologischen Werkes u. a. dadurch bestimmt, wie weit sein Autor die Kritik in sich aufgenommen und verarbeitet hat. So einfach von Gott zu reden, als sei das die selbstverständlichste Sache von der Welt, das geht nicht an. Gott ist durchaus nicht selbstverständlich. Bei einer Wissenschaft aber kommt es nicht auf eine »Sache« an, die die Grundlage bildet, sondern auf ihr axiomatisches Gefüge. So ist zum Beispiel die Atom-Physik keineswegs auf der »Sache«, dem »Dinge« Atom begründet; denn damit steht es, wie wir erfahren haben, sehr problematisch. Die Theorie des Dinges Atom hat einen unheilbaren Bruch; und trotzdem stimmt die Wissenschaft und hat ihrer Erfolge, weil ihre Axiome stimmen. Ich habe mir von klugen Physikern sagen lassen, daß es die Sprache sei, deren Geiz verhindere, hier Klarheit zu schaffen. Denn alle Atomphysiker sind sich darüber einig, daß hier Antinomien entstanden sind, aber ebenso, daß darunter doch ein sicheres axiomatisches Fundament liegt. - So also braucht sich auch die Theologie nicht darum zu kümmern, daß der Gegenstand »Gott« unbeweisbar ist; wohl aber darum, daß ihre Axiome stimmen. Das Axiom der Theologie aber liegt darin, daß Gott erkennbar ist, solange der Psalm ertönt; die Psalmen aber sind real. Und er ertönt solange, als die betende Kirche ihn anstimmt. Das aber tut sie immer. Hier liegt ein lebenschaffender circulus virtuosus vor, zu dem man der Theologie gratulieren kann. Und mit dem, was durch die Psalmen angerührt wird, nämlich die theologischen Grundbegriffe von Schöpfung, Sünde und Erlösung, entsteht eine in sich geschlossene Wissenschaft, die keineswegs beliebig »aus dem Herzen heraus« fortgesponnen werden kann, sondern in der es auf Hieb und Stich exakt zugeht - es sei denn, man wolle leugnen, daß die Natur krank sei und sich nach der Erlösung sehnt; dann aber steht man außerhalb der Religion, so wie jemand, der taub ist, außerhalb der Musik steht.
Habe ich eine Wissenschaft so weit vorgetrieben, daß niemand sie leugnen kann, ohne an die Wirklichkeit falsche Maßstäbe zu legen, so befindet sie sich auf ihrer Höhe und kann mit Fug und Recht sich jeder anderen als axiomatisch gesichert zur Seite stellen. Wie aus dem Parallelenaxiom jeder Satz über das Dreieck folgt, wenn ich mir die Mühe gebe, nach seinen Gesetzen zu forschen, so folgt auch in der Theologie jeder Satze des Dogmas aus ihrem axiomatischen Grunde. Aber freilich: asymptotisch ist die Theologie auch; nur sagt das nichts gegen ihre Wissenschaftlichkeit. Der Unterschied zur Geometrie liegt nur in dem zwischen einer Wissenschaft a priori, die lauter synthetische Urteile enthält, und einer Erfahrungswissenschaft, deren Gegenstand sich immer wieder frisch von der Natur her darbietet. Daher gibt es auch verschiedene Theologien. Man wird auch bemerken können, daß der sehr sonderbar gebaute axiomatische Grund der Theologie - ich meine das »solange der Psalm ertönt« - die Autoren nötigt, ihren Sprachstil in einer eigentümlichen Weise sehr ernst ironisch (in des Wortes ältester Bedeutung) zu halten, was man etwa am Stile von Karl BarthSiehe Erlösung bewundern kann. Hier wird die Theologie stets bis an den Rand ihrer Fundierung gedrängt, damit nur ja nicht Gott für ein Ding gehalten wird, das man sicher nach Hause tragen kann, wenn man nur den richtigen Begriff davon hat. Die Theologie muß sich die eilfertigen Gläubigen vom Halse halten, um des Glaubens willen, den sie zwar nicht erzeugen, wohl aber erläutern kann.
 
 



 

 

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