Zwölftes und letztes Kapitel

DIE ERSCHEINUNG CHRISTI

 

1. DIE FREIGABE DER BIBEL UND IHRE FOLGEN
Man wirft der katholischen Kirche vor, daß sie dem Volke den Zugang zur Bibel verwehre und es an deren Auslegung durch die Priester verweist; dahinter vermutete der polemische Protestantismus eine besondere Art von Tücke. Wie kann man die wahre Quelle aller Glaubensweisheit dem Volke verschließen, wobei zum Volk in diesem Falle jeder auch noch so gebildete Laie zählt! In der Tat gehört es zu den Errungenschaften der Reformation, daß der Mensch lesen darf, was er will, und das Gefühl ist sehr ausgeprägt, daß diese geistige Freiheit, einmal errungen, nicht mehr aufgegeben werden darf. Ob aber freilich das Glück und der Glaube des Volkes durch die Freigabe der Bibel vermehrt worden sind, das steht auf einem andern Blatt. Wenn es darum geht, dann ist der rein kultischen Behandlung durch einen gelehrten Priesterstand entschieden der Vorzug zu geben gegenüber dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen, dem Luther in seiner eignen Kirche jedenfalls keine Konzessionen machte.
Die kultische Behandlung der Bibel hat, wie man weiß, folgenden Verlauf: es werden Sonntag für Sonntag bestimmte Abschnitte aus den verschiedenen Teilen der Bibel, die aufeinander abgestimmt sind, zusammengestellt und in dieser Form dem Volke übermittelt. Die Bibel wird also in Perikopen eingeteilt. Diese uralte Einrichtung hat auf jeden Fall zur Folge, daß die in der Bibel worthaft enthaltenen Heilskräfte in gesteigerter Weise zur Geltung kommen; das Volk geht beglückt und getröstet heim, sogar dann, wenn eine Predigt gefolgt ist. Dazu aber ist die Bibel da. Gerade wenn man das Wesen der Religion im Heilungsvorgang sieht - er heißt hier Vergebung der Sünde -, ist die perikopische Behandlung ihres Textes die einzig richtige. Das Studium des Originals dagegen in fortlaufender Folge tröstet keineswegs und erfordert, um zum rechten Ziele der Erkenntnis (also nicht des Glaubens) zu kommen, den höchsten Grad gepflegter Gelehrsamkeit. Die aber bringt nur ein festgeordneter Priesterstand auf. Heimlich dachte Luther so.
Mit jenem »Trost in der Bibel suchen« hat es eine sehr eigne Bewandtnis. Am häufigsten scheint er dann einzutreten, wenn der Suchende »gerade zufällig« auf eine Stelle stößt, die auf sein Leben gemünzt zu sein scheint. Diese Zufälle finden sich in der Tat auffallend häufig. Dann aber auch, wenn eine der großen Szenen aufgeschlagen wird, an denen die Bibel reich ist. Sowie aber der bloße Erkenntnistrieb überhand nimmt, sowie man wissen will, was überhaupt hier gespielt wird, stößt man, besonders in den Evangelien, auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Das liegt an deren mangelhaftem litterarischen Charakter; es ist dann vorbei mit dem Trost. Ja nicht nur dies, sondern das Gemüt des Glaubenwollenden wird auf das Schwerste geprüft und zermartert durch die offenbare Unglaubwürdigkeit, das Widerspruchsvolle und Abgehackte der Texte, so daß der Arme am Ende genau so ratlos dasteht wie die Jünger am Kreuz, die auch nicht wußten, was hier eigentlich geschehen war und deren Glauben doch überhaupt eine höchst zweifelhafte Größe gewesen ist. Statt Trost und Glauben gibt es dann höchstes Bibelkritik, schlimmeren Falles aber Abfall und Verzweiflung. Ich habe noch kein glückliches Gesicht gesehen unter denen, die ständig in der Bibel lesen, und ich finde es einen sicheren und redlichen Instinkt, wenn der Franzose JEAN GIONO im Vorwort zu seiner »Geburt der Odyssee« schreibt: »Schwerverwundet kehrte ich 1920 aus dem Kriege heim; ich besaß nur eine Bibel und die Odyssee. In dieser Odyssee...las ich , wenn ich über die Hügel ging, um Frieden zu finden...«
Von dem Augenblicke an, da die autoritäre Auslegung der Bibel aufgegeben wird, ist der Weg zur Sektenbildung frei. Denn sowie ich versuche, anstelle der perikopenmäßigen Aufteilung des Textes ein kontinuierliches Band zu flechten, stellt sich heraus, daß das nicht geht und daß zunächst einmal viele Deutungen möglich sind. Da kann sich denn Meister Schuster und Schneider und wer sich sonst für gottbegnadet hält, auf eine Regentonne stellen und dem zulaufenden Volke sein neues Evangelium verkünden, »denn es steht geschrieben...«, und immer bricht demnächst das Tausendjährige Reich an, immer ist er der Auserwählte des Herrn und immer heißt es »liebet euch untereinander...!«, aber ja nicht jemanden, der nicht dazugehört; denn das sind natürlich die Sendlinge des Satans und die soll man hassen, wie ihren Herrn selber. Wir kennen die Melodie. Sie ist es auch offenbar gewesen, die den Römern der Kaiserzeit den instinktartig sicheren Blick verlieh, um den ersten Christen den Vorwurf des »odium generis humani« zu machen. In der Tat hat es wohl in der Welt auch nichts Giftigeres gegeben als christlichen Sektiererhaß.
 

2. DIE DEUTSCHE LEBEN-JESU-FORSCHUNG
Die Freigabe der Bibel war geschehen, der Würfel gefallen; Luther ließ es darauf ankommen. Eine der Wirkungen aber, die sie hatte, gehört nicht auf die Debet-Seite, und das ist die Leben-Jesu-Forschung, die sich besonders stark bei den Deutschen bemerkbar machte. Man wollte auf einmal wissen, wie das alles zugegangen war, nicht in kultischen Abschnitten, sondern in durchlaufender Folge unter Leitung eines entscheidenden Lebensmotives. Dieses Interesse hatte es früher nicht gegeben, am wenigsten aber in der Zeit, in der die Evangelien niedergeschrieben wurden. Denn damals dachte man nur an die versprochene Wiederkehr und den Anbruch des Himmelreiches, vielmehr: man hatte eben die Hoffnung aufgegeben. Gegenüber diesem Versprechen aber war eine Biographie des Heilandes etwas Nebensächliches. So blieb es bis ins Aufklärungszeitalter hinein. Als man nun dem biographischen Ablauf nähertreten wollte, da stellte es sich heraus, daß dieses bedeutendste aller Leben, die je geführt wurden, einen litterarischen Niederschlag gefunden hatte, dessen Rang um ein beträchtliches Stück unter dem liegt, der im klassischen Altertum auch für weniger bedeutende eingehalten wurde. Wenn etwa Xenophon über das Leben des Kyros schreibt, so steht das an litterarischer Güte unverkennbar weit etwa über dem Markusevangelium. Dabei ist durch die lutherische Übersetzung sogar noch eine Verbesserung des Sprachniveaus eingetreten. Für den gebildeten Griechen aber mußten die Evangelien (mit Ausnahme des vierten) als außerhalb der Litteratur stehend empfunden werden. Die ersten Christen redeten überhaupt ein fürchterliches Kauderwelsch, was den gebildeten Lactantius dazu bewog, den Namen des Kyprianos boshafterweise in »Koprianos« zu verwandeln (zu Deutsch etwa: »Kotschwätzer«). Eine Ausnahme bilden nur die bedeutenden großen Szenen, die durch ihren Inhalt welterschütternd wirken.
Die Evangelien also erfüllen die Erwartung nicht, die man in Bezug auf das Leben Jesu in sie setzt; und zwar kann weder der einfache Mann, noch der hochgebildete aus ihnen klug werden, und es ist doch eben, wie sich bald herausstellen wird, eine Redensart irreführendster Sorte, wenn es immer heißt: nur die »Einfältigen« hätten Zugang zum Worte Gottes, und für die sei alles sofort verständlich. Das ist einfach nicht wahr. Sondern es hat hundert Jahre Denkarbeit der besten theologischen Köpfe Deutschlands dazu gebraucht, um hier Klarheit zu schaffen. Diese aber besitzen wir heute. Wir wissen besser als die Gebildeten des spätapostolischen Zeitalters, was es mit diesem Jesu von Nazareth für eine Bewandtnis gehabt hat. »Wenn einst unsere Kultur als etwas Abgeschlossenes vor der Zukunft liegt, steht die deutsche Theologie als ein größtes und einzigartiges Ereignis in dem Geistesleben unserer Zeit da. Das lebendige Nebeneinander und Ineinander von philosophischen Denkern, kritischem Empfinden, historischer Anschauung und religiösem Fühlen, ohne welches keine tiefe Theologie möglich ist, findet sich so nur in dem deutschen Gemüt. Und die größte Tat der deutschen Theologie ist die Erforschung des Lebens Jesu. Was sie hier geschaffen, ist für das religiöse Denken der Zukunft grundlegend und verbindlich.« So beginnt ALBERT SCHWEITZERs »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung.«
Der Evangelist Markus erzählt uns, Kap. 6, die bekannte Szene, in der Jesus nach Nazareth kommt und dort seine Familie besucht; das führt zu jenem Achselzucken: die Leute dort wissen nichts mit ihm anzufangen. »Ist er nicht der Zimmermann, Marias Sohn und der Bruder des Jakobus...sind nicht auch seine Schwestern allhier bei uns? Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterlande« .Was meistens überlesen wird, sind aber die Worte »Und er konnte allda nicht eine einzige Tat tun«. Kurzum: man soll sich nicht mit dem Familienklüngel einlassen. Völlig abrupt, abgehackt und ohne Zusammenhang, nur durch ein »Und« verbunden, das hier völlig seine Funktion, Gleichartiges zu verbinden, verleugnet, heißt es nun auf einmal: »Und er berief die Zwölfe, und hub an, und sandte sie, je zween und zween und gab ihnen Macht über die unsauberen Geister. ...Und sprach zu ihnen: Wo ihr in ein Haus gehen werdet, da bleibet innen, bis ihr von dannen ziehet. Und welche euch nicht aufnehmen, noch hören, da gehet von dannen heraus und schüttelt den Staub ab von euren Füßen zu einem Zeugnis über sie. Ich sage euch wahrlich: es wird Sodom und Gomorrha am jüngsten Gerichte erträglicher gehen, denn solcher Stadt. - Und sie gingen aus und predigten, man solle Buße tun. Und trieben viele Teufel aus, und salbten viel Sieche mit Öl, und machten sie gesund.« - Schluß. Nun kommt Vers 14ó29, wieder gänzlich abrupt, die Geschichte vom Tode Johannes des Täufers. Vers 30 aber erscheinen die Apostel wieder und verkünden ihm das alles, und was sie getan und gelehret hatten. Und er sprach zu ihnen : »Lasset uns besonders an eine wüste Stätte gehen und ruhet ein wenig, denn ihrer waren viele, die ab und zu gingen; und hatten nicht Zeit genug, zu essen.« - Man fragt sich unwillkürlich: Was soll denn diese »Aussendung«? Wozu sind sie ausgesandt worden? Was war ihr Auftrag? Und warum freut er sich nicht über ihre Wiederkehr, verfällt vielmehr in eine seiner schweren Melancholien, die ihn zwingt »besonders an einen wüsten Ort zu gehen«? Hier steckt - sagt man sich - doch etwas dahinter, was der Evangelist nicht verstanden hat. Man wir unwillkürlich an die Parallelstelle bei Matthäus erinnert, wo auch die Jünger plötzlich »ausgesandt« werden. Aber wir erfahren hier den Inhalt, und dieser ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als das, was schon der Täufer gepredigt hatte: »Tuet Buße! Denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.« Neu aber ist hier die bestimmte Zeitangabe, und diese lautet: »Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen, bis des Menschen Sohn kommt« (Matth. 10, 23). Kaum sind diese für sein Leben entscheidenden Worte gefallen, als auch schon Vers 24 wieder gänzlich abrupt lautet: »Der Jünger ist nicht über seinem Meister, noch der Knecht über dem Herrn...«, als plötzlich eine ganz allgemeine Sentenz, nachdem es eben noch so besonderlich zuging. Der Auftrag an die Jünger war also lediglich eine Mitteilung, die Prognose eines Ereignisses, das unmittelbar bevorstand. Ihre Rückkehr hatte Jesus gar nicht erwartet; denn schon auf dem Hinwege mußte ja, nach seiner Voraussage, die Parusie des Menschensohnes eingetreten sein; sie war daher für ihn eine Enttäuschung, bewirkte Schwermut und tiefes Nachdenken, daher das Verlangen, allein, getrennt vom Volke, in der Einsamkeit zu leben. Die Rückkehr der Jünger zwang ihn aber zunächst nur zu einer Verlängerung der Zeitangabe. Die Formel für das Eintreten des Himmelreiches in die Geschichte lautete nunmehr: »Wahrlich ich sage euch, es stehen etliche hier, die den Tod nicht schmecken werden, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in sein Reich« (Matth. 15, 28). Das war also eine Konzession, erzwungen durch die unerwartete Rückkehr der Jünger.
Es mußte ja aber einen inneren Grund haben, aus dem Jesus sich so irren konnte, und hierüber ernsthaft nachzudenken, drang sich ihm als Forderung au. An diesem Nachdenken »an einem wüsten Ort« ist er zunächst gehindert worden durch das herandrängende Volk, das eine Predigt hören wollte und sich dabei in den Hunger verfing. So kam es zur Speisung der Fünftausend. Bei Lukas nun unternimmt er eine zweite »Aussendung der Siebzig« zur Kontrolle. Ihr aber fehlt die Zeitangabe, und es scheint in ihr auch mehr gelegen zu haben als ein bloßer Botendienst. Denn inzwischen hatte sich auch bei ihm der Begriff des Reiches Gottes um einiges geändert; er hatte schließlich doch nachgedacht; das wichtige Petrusbekenntnis vor Caesarea Philippi war gefallen. Damit hatte sich sein Selbstbewußtsein verschoben, er war auf das Leidensgeheimnis gestoßen und anderes mehr. Als dann die Siebzig wiederkehrten »mit Freuden«, da freute er sich mit, und obwohl darin die bittere Erkenntnis enthalten war, daß er, als der Gesalbte des Herrn, unerkannt werde leiden und sterben müssen, so war diese Freude als eine der Erkenntnis doch echt und tief begründet. »Ich preise dich Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches verborgen hast den Weisen und Klugen und hast es offenbart den Unmündigen...« Und zu den Jüngern: »Selig sind die Augen, die da sehen, was ihr sehet« (Luk. 10, 1ó24). Es ist die Freude der Erkenntnis, die auch dann überschwenglich ist, wenn sie tragischen Inhalt hat.
Das hier über die Aussendungen Vorgetragene stammt im wesentlichen aus den Ergebnissen jener hundertjährigen Tätigkeit deutscher protestantischer Theologen, die das Problem des Lebens Jesu auf die Hörner genommen haben; sie lösten es in der Form der »eschatologischen Theorie«. Diese gelehrte Leistung wiederum ist das wissenschaftliche Gegenspiel zu den Versuchen, dieses Leben dem Volke nahe zu bringen, die sich in einer zahllosen Menge romanhafter Leben-Jesu von Reimarus, dem älteren Zeitgenossen Lessings, bis zu Gustav Frenssen, unserm älteren Zeitgenossen, niederschlugen. Diese spielen sich alle in Deutschland ab; denn auch Renan ist Schüler von David Friedrich Strauß. Es ist ein plötzlich aufgekommenes Bedürfnis, das auch wieder verschwinden muß, nachdem die eschatologische Theorie ihr letztes, oder doch das vorletzte Wort gesprochen hat. »Die Erforschung des Lebens Jesu war für die Theologie die Schule der Wahrhaftigkeit« (SCHWEITZER). LUTHER hatte für ein kontinuierlich verfolgbares Leben Jesu kein Bedürfnis. »Die Evangelien halten in den Mirakeln und Taten Jesu keine Ordnung, liegt auch nicht viel daran. Wenn ein Streit über die heilige Schrift entsteht, und man kanns nicht vergleichen, so lasse manís fahren« (zitiert nach Schweitzer, S. 13). Man sieht: er bleibt auf dem Perikopen-Standpunkt. Nun darf man nicht vergessen, daß jene bedeutenden Theologen, von denen die Leben-Jesu-Forschung getragen ist, zumeist Ungläubige waren, die aus dem Haß schrieben. »Weil sie haßten, sahen sie am klarsten in der Geschichte. Sie haben die Forschung mehr vorwärts gebracht, als alle anderen zusammen. Ohne das ƒrgernis, das sie gaben, wäre die Wissenschaft heute nicht, wo sie ist« (SCHWEITZER, S. 4). Es war Protest gegen die Kirche, der die Jesus-Leben zutage förderte: es mußte eben alles anders gewesen sein als die Kirche es lehrte, und dann war es richtig.

Allen Leben-Jesu nun, die je geschrieben wurden, ist der eine Grundzug gemeinsam, daß in ihnen etwas ausgelassen wurde, nämlich alles, was dem Zeitgeiste widersprach, in dem sie entstanden. Dieser Geist nun war der des neunzehnten Jahrhunderts, gegen den alle großen Geister desselben Zeitabschnittes einen unerbittlichen Kampf geführt haben. Daher kam es, daß alle diese Darstellungen auf die Ausklammerung des wirklichen Leitmotives Jesu als »Ballast seines abergläubischen Zeitalters« oder als »Produkte der Gemeindetheologie« hinausliefen. Es lohnte sich daher eines Tages, dieses Ausgeklammerte zu untersuchen, und es gelang, durch Wiedereinklammerung das Rätsel dieses Lebens - jedenfalls seines biographischen Verlaufes zu lösen. Aber man legte dabei das vorher Ausgeklammerte - mit Recht - auf seine Schultern und nicht auf die der Gemeindetheologie.
So entspricht, um ein Beispiel zu nennen, der fraglos in einer gewissen Schicht des Gemütes vorhandenen Seelengütigkeit des deutschen Volkes, seiner Anhänglichkeit an Flur und Heimat, verbunden mit grüblerischem Sinnen über das Wesen der Welt eine ganze Reihe von Jesus-Romanen, die den Heiland als den gütigen Kleine-Leute-Freund und Kinderliebhaber darstellt und dies zum Wesen seines Charakters macht. »Seit den sechziger Jahren steht die deutsche Leben-Jesu-Forschung unbewußt unter dem Einfluß einer vornehmen modern-religiösen Heimatkunst im weiteren Sinne« (SCHWEITZER, S. 342). Hier fällt einem Gustav Frenssen ein in »Hilligenlei«. Man kann von Glück sagen, daß in der grauenvollen Zeit, in der dasselbe deutsche Gemüt aus einer anderen Schicht seines Wesens ein tiefgehendes Interesse an Hexenverbrennungen zeigte und diese durch ein System von Denunziationen förderte, kein Bedürfnis zu einem Leben-Jesu vorlag. Ohne Zweifel lehrt ein Blick in die Evangelien, daß jene Charakterzüge dem Herrn eigentümlich waren; aber, wenn man sich etwa vorstellen will, er läse solch einen Roman über sich, so schüttelte er verwundert das heilige Haupt und sagte: »Das bin ich nicht!« Die Gleichung geht nicht auf. Der theologische Träger dieser Jesus-Auffassung ist Adolf Harnack, für den Jesus ein Mensch ohne innere Kontraste war.
Heute aber wissen wir, daß gerade das Ausgeklammerte das kontinuierliche Motiv seines Lebens gewesen ist und daß es nur aus ihm verständlich wird. Denn eines ist doch klar: wenn sich in einer Biographie zwei große Motive begegnen, die sich widersprechen, so daß man das eine als Interpolation ausklammern muß, so ist doch die Lösung die überlegene, die es vermag, trotzdem beide aufrechtzuerhalten. Wenn ich also die These aufstelle: dieser Jesus von Nazareth gehört zu den wenigen, aber doch eben genügend zahlreichen Propheten, Philosophen, Weisen, die die Menschenliebe, die Gerechtigkeit, die Versöhnlichkeit, die Liebe zu den Armen und Schwachen gepredigt haben und die dafür von den Machthabern, die das Gegenteil wollten, verfolgt und getötet wurden; wenn ich diese liberale Theologie vertrete, durch die Jesus in eine Reihe mit dem Buddha, mit Pythagoras, Laotse und Gandhi zu stehen kommt, dann muß ich freilich die ganze Eschatologie mit ihrem grausamen Auserwählten-Geheimnis als fremden Ballast einer abergläubischen Zeit beseitigen; denn man kann nicht Humanität und diese welthintergründigen Vorgänge auf einen Nenner bringen. Wenn ich aber umgekehrt in der Eschatologie den Beherrscher seines Lebens sehe: dann kann ich sehr wohl Menschenliebe, Erbarmen und Liebe zu den Schwachen als Merkmale seines empirischen Charakters stehen lassen. Damit aber bliebe dann der ganze Text erhalten und die eschatologische Deutung seines Lebens hätte den Sieg davongetragen. Es bleibt dann nur noch die Frage übrig, ob diese Eschatologie selber Wahrheitsgehalt hat oder nicht; auch die, ob seine singuläre Person der Träger, sein Tun und Leiden der objektive Vollzug eines reinen Ereignisses der Natur war. Diese Frage, so glaube ich bisher auch bei Schweitzer gelesen zu haben, beantwortet die eschatologische Schule nicht; denn ihre Theologen sind ja bekanntlich überwiegend ungläubig. Nach ihrer Meinung ist Jesus einer Lebenslüge zum Opfer gefallen; damit aber sinkt seine religiöse Bedeutung auf ein bescheidenes Maß herab. »Wir haben das unmittelbare Empfinden, daß seine Persönlichkeit...etwas Großes zu sagen hat und darum eine weitgehende Bereicherung (sic!) auch unserer Religion (sic!) bedeutet.« (Schweitzer in der Schlußbetrachtung Seite 634. Sperrung von mir): Das ist ebenso, als wollte man sagen: Isaak Newton bedeutet eine »weitgehende Bereicherung« unseres Wissens von der Schwerkraft. Oder gar Seite 596: »Jesus vermag ebenso wenig das Fundament unserer Ethik zu werden wie er das unserer Religion ist«. So zu denken, ist natürlich Unglaube bei aller Verehrung.
Die Frage ist also die: worum dreht sich das Leben Jesu? Um die gepredigte Menschenliebe und Friedfertigkeit oder um die Verkündigung der Endereignisse? Der Sieg der eschatologischen Schule in der Theologie liegt darin, daß sie den Grundcharakter für das Leben Jesu konsequent in seine Lehre vom anbrechenden Himmelreich verlegte und es von dorther zum ersten Male verstand. Die Menschenliebe aber gehört in den empirischen Charakter Jesu von Nazareth, der nicht dadurch, daß ihn »des Volkes jammerte«, zum Sozialisten wird. - Über die ungläubige protestantische Theologie hinaus aber, mit ihrem erstaunlichen Erfolge, führt die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Eschatologie selber. War das Aberglauben, so wüßte ich allerdings nicht, wie die Position des Christentumes in der Welt zu halten wäre. Nun aber drängt sich die Frage auf: wie liegt der Grund seines eignen Lebens zum Kerngehalt der Natur? Nur wenn man hier auf eine bestimmte Antwort geben kann, nur dann hat die weltbewegende Wissenschaft der Theologie Boden unter den Füßen. Wenn nicht, so muß sie sehen, wo sie unterkommt. Es ist nicht mehr viel Zeit zu verlieren.
 

3. DIE VIER TITEL JESU VON NAZARETH
Wenn es so wäre, daß den vier Evangelisten der Bericht über das Leben und die Worte des Nazareners durch einen Engel von Gott in die Feder diktiert worden ist - wenn es also Verbalinspiration gäbe -, so stünden wir mit gefesselter Vernunft daneben und unsere Kritik wäre Sünde. Da das aber nicht so ist, so ist unser Denken voll aufgerufen, selbst auf die Gefahr hin, daß wir uns irren, aber mit der verlockenden Aussicht, daß wir schließlich etwas besser wissen als die Evangelisten. Die Bibel ist ein redigiertes Buch, im Laufe eines Jahrtausends entstanden, und auch die Kanonisierung jener vier Evangelien ist Menschenwerk. Man hat in den Resten der apokryphen Evangelien erstaunliche Worte Jesu gefunden und auch, was in Papyrus-Fetzen aus ägyptischen Gräbern zu uns aufstieg, gibt Kunde von dem verhältnismäßig engen Bezirk, den die vier kanonischen Evangelien füllen. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Auswahl eine schlechte war. Sie ist sicherlich sogar die beste, denn die Kirche muß wissen, was zu lesen für das Seelenheil der Gläubigen gut ist. Nur die Wahrheit fragt nicht danach; sie wagt sogar zunächst ihr eignes Seelenheil im Vertrauen darauf, daß Wahrheit nie schaden kann.
Es wäre wohl an der Zeit - und sie kommt vielleicht bald -, da anstelle der säkular gebundenen Jesus-Romane das aus der ewigen Giltigkeit heraus gesprochene Epos seines Lebens von einem großen rechtgläubigen Homer zutage gefördert wird. (Klopstock war das nicht.) Dann würden in ihm die vier Titel des Herrn in kunstvoller Weise die Szenen beherrschen, und es würde nicht gefrömmelt werden. Die Theologie ist mit ihnen noch nicht zu Rande gekommen, ja sie hat wohl gar das Thema noch nicht gesehen. Diese Titel aber sind folgende.
1. Sohn Davids
2. Sohn Gottes
3. Messias = Christus
4. Menschensohn
Von diesen sind zwei Geheimtitel, die gemäß dem Ablaufe der eschatologischen Mission nicht verraten werden durften, es sein denn, daß die Stunde geschlagen habe: »Sohn Gottes« und »Messias = Christus« (wobei man ja weiß, daß »Christus« die griechische Übersetzung von »Messias« ist und der »Gesalbte« bedeutet). Innerlich zusammengehörig und einander bedingend sind die Titel »Sohn Gottes« und »Menschensohn«: denn er ist nur das eine, wenn er das andere ist. »Menschensohn« ist daher sozusagen der anthropologische und freie Ausdruck für den dogmatischen und geheimen Titel »Sohn Gottes«. Er konnte sich immer »Menschensohn« nennen, da niemand außer ihm selber wußte, was das bedeutet. Der Titel »Sohn Davids« dagegen ist völlig freigegeben, enthält keinerlei Problematik und ist nur die Ehrenbezeichnung für einen Angehörigen des Königsstammes, die auch andere trugen. Er konnte überall passieren und schaltet aus der theologischen Betrachtung aus.
Der Grund für die Geheimhaltung der Titel »Sohn Gottes« und »Christus« aber ist in der eschatologischen Lage, in der sich Jesus befand, selber gegeben. Denn nach der Weissagung, auf die er stieß, mußte der Messias, als den er sich begriff, vom Volke unerkannt leiden, sterben und wieder auferstehen, so daß ein Verrat dieses Titels die ganze Situation verdorben hätte. Für »Sohn Gottes« kommt noch hinzu, daß die Entwicklung der jüdischen Theologie, die unter pharisäischer Leitung stand, in diesem Titel eine Gefährdung des Monotheismus sah. Der Begriff »Messias« aber hatte sich bereits vom Persönlichen befreit und sah in ihm mehr einen Zustand der kommenden Welt. Infolgedessen finden wir, daß Jesus allemal, wenn man ihn »erkannte« den Täter »bedräuete« und ihn zum Schweigen zwang, sogar im engen Jüngerkreise vor Cäsarea Philippi, als das Petrusbekenntnis fiel. Bleibt übrig als dominierender Titel, der voller Rätselhaftigkeit von außen und voller Klarheit von innen dasteht: »Menschensohn« ((uios tou anthropou)). Es ist seine eigentliche Selbstbezeichnung, die ihn selber klar orientierte und die, er brauchte das Wort nur auszusprechen, ihm völlig sicher zeigte, wo er stand und wer er war. Aber die Zuhörer hatten stets das Nachsehen. Wenn man ihn unvermittelt fragte : »Wer ist dieser Menschensohn...?«, so tat er, als hätte er nichts gehört, und sprach von etwas anderem. Stellen aber ließ er sich nicht.*
Auch die kritischen Theologen der hundert Jahre haben sich redlich den Kopf über das rätselhafte Wort zerbrochen, sind beinahe an seine Lösung gestoßen, haben sie aber doch nicht zustande gebracht; als Fachgelehrte konnten sie nur innerhalb der Bahnen ihrer Wissenschaft denken. Denn so förderlich Haß und Unglaube auch für einen Teilausschnitt sein mögen: wenn es ums Ganze geht, so gehört doch mehr dazu. Die Wichtigkeit aber wurde meist richtig eingeschätzt; so hören wir etwa CHR. HERMANN WEISSE sagen: »daß die Entscheidung über das Wesen des Messianitätsbewußtseins Jesu in der Erklärung der Selbstbezeichnung ÇMenschensohnë liegt«. »Wir sind gewiß in unserm guten Rechte«, sagt er fast prophetisch in der »Evangelienfrage« von 1856, »wenn wir die Frage, welchen Sinn der Göttliche in dieses Prädikat hat hineinlegen oder was er mit dem Namen Menschensohn von sich hat aussagen wollen, als eine Lebensfrage für das richtige Verständnis seiner Lehre (Sperrung von mir) und nicht seiner Lehre nur, sondern auch des innersten Kernes oder Wesens seiner Persönlichkeit betrachten« (zitiert nach SCHWEITZER S. 138). Und so ist es auch: Man nehme dieses Wort und seinen noch fraglichen Inhalt fort, und die ganze Christologie bricht zusammen. Sie hat dann keinen subjektiven Pol und das »Sohn Gottes« schwebt sinnlos in der Luft als Phantasma.
Wenn man aber wissen will, was er selber unter Menschensohn verstand, ein Name, unter dessen Druck man ihn ständig erzitternd sich vorstellen muß, so braucht man ihn nur einfach wörtlich zu nehmen. Der Herkunft nach stammt das Wort bekanntlich von Daniel und Henoch; seinen Sinn aber bei Jesus lautet: Sohn des Menschengeschlechtes als Art. Nur so löst sich alles auf. Die Natur ist weitergegangen und hat jenen seltsamen Akt der Schöpfung des Edlen, der schon einige Tierarten traf, auch beim Menschen vorgenommen, hier, wo es, scheintís, am nötigsten war, und hat ihn noch einmal durch freie Schöpfung überboten; was hier entstand, heißt »Menschensohn«. Die anthropologische Aufgliederung heißt also: sekundäre Rasse ó primäre Rasse ó Menschensohn. Und wir können sogar feststellen - so weit geht die Sicherheit -, daß dieser Akt sich wiederholt hat, ja zur Zeit des Jesu selbst, so als experimentiere die Natur gerade damals besonders lebhaft. Apollonios von Tyana, dessen Bild noch Kaiser Alexander Severus in seinem Betgemach neben dem Jesu aufgestellt haben soll, war eine solche, persönlich vollkommen lautere Menschengestalt; er erregte als Wundertäter und Weissager das größte Aufsehen in der hellenistischen Welt, in seinem Gebaren etwa pythagoräische Züge tragend. In seiner Biographie erinnert vieles an Szenen aus den Evangelien. Aber trotzdem ist er nicht der Menschensohn; denn zu dessen Wesen und Geheimnis gehört es, daß er nur einmal vorkommt, so als ob sich die Schöpfungskraft einer ganzen Art in einem Individuum ausgelassen hätte. Anders ausgedrückt: so als ob eine platonische Idee bei ihrer Verwirklichung im Fleisch das principium individuationis vergessen hätte. Stimmt damit nicht jenes untrügliche Gefühl überein, daß wie uns Jesus stets nur als einen Unfruchtbaren vorstellen können und daß ja auch niemals der Gedanke aufgekommen ist, er könne des Geschlechts teilhaftig sein? Kommt nicht sofort ein sicheres Gefühl zu seinen Gunsten auf, wenn man neben ihn an Muhammed denkt? Dabei hat das alles nicht das geringste mit Askese zu tun. Jener Apollonios aber ist wahrscheinlich das Urbild zu dem, was Jesus »falsche Propheten« nennt; aber die Falschheit liegt nicht im Moralischen; er ist kein Betrüger wie Simon Magos; sie liegt nur in der Unberufenheit.
Wenn die Natur bei einigen Tierarten gelegentlich das Phänomen des Edlen in den Schöpfungsakt einmischte, so kommt uns das wie ein spielendes Anbahnen vor; denn die Tiere liegen weit ab von ihrer Achse. Die Sache wird aber brennend beim Menschen, wo sogar eine Not Gottes im Spiele ist, und es leuchtet hell auf an der Entzündungsstelle Jesus-Menschensohn; denn hier ist die Achse erreicht. Und man sieht hier, daß auch »natura naturans« nicht dasselbe ist wie Gott; man sollte sich dringend hüten vor dem Begriff »Gott-Natur«, aus goethescher Luft, der besonders die Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts um den Ertrag ihrer religiösen Urteilskraft gebracht hat. Über Gott berichtet authentisch nur die Bibel.
Der Titel Menschensohn kreist den Geheimtitel Messias ein und verdeckt ihn in einer Art List. »Menschensohn« stellt die Beziehung Jesu zur ganzen Natur dar; so wie ich mit allen übrigen Menschen zusammen »Mensch« bin und damit meine Beziehung zur Natur darstelle, so ist Jesus allein »Menschensohn« und stellt sie damit her. »Messias« (= Christus) aber bezeichnet nur die zum Volke Israel; es ist also, als ob ein kleiner Kreis in einen großen eingezeichnet wäre. Jesus hat lange Zeit seiner Erlöserrolle national-jüdisch aufgefaßt, wenn auch nicht politisch gegen die Römer, sondern sakral für das Volk Israel, das er vorübergehend für das allein auserwählte hielt. Da aber der Titel Messias für ihn verboten war, so trat »Menschensohn« dafür als Ersatz ein; denn dieser konnte wegen seiner dogmatischen Unbelastung frei passieren; niemand verstand ihn, und doch mußte er wegen seiner Namenswirkung ständig ausgesprochen werden. Da er aber der tiefere war und auch dem wirklichen Heilsplane entspricht, so trat Jesus unter seinem Druck allmählich zu ihm über. Durch diesen Namen wurde er zum Heilande der Welt und nicht zum Messias Israels. Zugleich aber gingen die heiligen Schriften Israels in die Befugnis des Christentums über; sie heißen nicht mehr Gesetz und Propheten, sondern Altes Testament.
Jesus bezeichnet sich zwar meistens unmittelbar selbst als den Menschensohn, so als ob das eine bereits entschiedene Sache sei, dann aber auch versteht er darunter eine noch nicht inkarnierte eschatologische Gestalt, die erst nach ihrem Erscheinen sich auf ihn und niemand anderen niederläßt; so in allen Verkündigungen vom Kommen des Menschensohnes, das mit dem des Reiches Gottes zusammenfällt. Es bedarf also hier noch einer Art Metamorphose, und die Szene, in der sich dies andeutungsweise abspielt, wie das erste Bewegen der noch im Kokon eingesponnenen Schmetterlingsflügel, ist jene »Verklärung«, in der sein Leib zu leuchten beginnt und die ja auch in der Tat bei Matthäus (17, 1ó13) und Markus (9, 1ó13) als »metamorphosis« bezeichnet wir. Eines aber ist sicher: ist er dieser Menschensohn (und nicht etwa einer jener falschen Propheten vom Schlage des Apollonios), dann führt von diesem erlaubten Titel der gerade Weg zu dem andern, streng verbotenen: ist er der Menschensohn, den es nur im Singular gibt, so ist er damit auch zugleich der Sohn Gottes, der sogar im Text als »monogençs« bezeichnet wird. Das aber entscheidet sich allein durch den Gehorsam. Er muß es also darauf ankommen lassen, daß alles, was er in seiner menschlichen Natur denkt, falsch ist; so die Lehre vom nahen Kommen des Reiches. Das begreift er zum ersten Male, als die Jünger unerwarteter Weise zurückkehren; und von hier an beginnt seine Passion. Die letzte Hergabe eigenen Willens und volle Ergebung in den Willen Gottes - den er immer noch nicht versteht - erfolgt in Gethsemane. Danach ist die Bahn frei. Alles, was er nun tut, ist, seinen Opfertod heraufzubeschwören, und das Stichwort, das hierzu nötig ist, ist das erste offne Bekenntnis vor Kaiphas, daß er Gottes Sohn sei. Damit ist sein Schicksal besiegelt.
Man darf nicht vergessen - was die Evangelisten taten -, daß sich im Selbstbewußtsein Jesu ein schwerer Kampf um die Frage »Wer bin ich eigentlich?« abgespielt haben muß. Denn eines Tages mußte er ja entdeckt haben, daß seine Person jene »doppelte Unendlichkeit« aufwies, die ihn zerspaltete. Der einfachen Unendlichkeit der Person nach der Tiefe zu, so wie sie jeder hat, gesellte sich bei ihm eine andere, die noch einmal unendlich war, obgleich sich das mit dem Intellekte nicht fassen läßt. Diese doppelte Gefügtheit seiner Person - die später in der Zwei-Naturen-Lehre des Dogmas ihren Niederschlag fand - enthielt sein eignes Ringen um seine Gottessohnschaft, von dem sein melancholisches Gemüt erfüllt war. Niemand hat den Heiland je lachen gesehen. Denn erlebnishaft bemerkte er, daß seine mit doppelter Unendlichkeit ausgestattete Person identisch war mit jener, die gesagt hatte: »Du sollst nicht töten« und früher einmal »Es werde Licht!« Hierher gehört das sonst rätselhafte Wort: »Ehe denn Abraham war, bin ich« (Joh. 8, 58). Dies und dies allein heißt »Gottes Sohn«. Niemals und bei keinem Menschen sonst hat dieses Ringen stattgefunden. Die Evangelisten wissen nichts davon; es muß aber geschehen sein; und nur bei Johannes, der es begriff, finden wir die notwendige Verknüpfung dieser eingebornen Gottessohnschaft mit dem singulären Menschensohn. -
Dies zu glauben, ist gewiß eine andere und eine bessere Sache, als es zu wissen; die Philosophie kann nicht zum Glauben verhelfen: diesen Sprung muß der einzelne selber tun. Und der erste, der ihn völlig naiv tat, war jener unbekannte Soldat am Kreuz. Den Jüngern dagegen ist in dieser Sache durchaus nicht zu trauen; ihnen fehlt das Naive. Dieses wahrhaft göttlich zu nennende Ringen um die Gottessohnschaft hat sein diabolisches Widerspiel in der gewöhnlichen Menschenwelt. Wenn sich jemand zwei empirische Charaktere zuschreibt, sich also erstens für Herrn X.Y., zweitens aber für den Kaiser von China hält und damit nicht fertig wird, so nennt man diesen einen »Schizophrenen«. Aber man sieht sofort den Unterschied: schizophren können beliebig viele werden; zwei empirische Charaktere können sich wer weiß wie oft verwechseln. Und die zwei Personen haben nur je eine einfache Unendlichkeit, nie aber eine davon die doppelte. Den Kampf Jesu aber konnte nur Einer bestehen; denn nur hier ist die andere Person keine empirische. Selbst wenn der Schizophrene sich eines Tages für den lieben Gott hält, so ist das auch nur eine empirische Person. Indessen, man beachte wohl: der einzige, der ihn während seines Lebens naiv erkennt und als »Sohn Gottes des Höchsten« anredet, ist jener Dämonische am See der Gergeneser, der von Jesus geheilt wird und dessen Teufel in die Säue fahren.*
Wenn man diese Beziehung der Titel Jesu zueinander nicht kennt, so begreift man auch sein Leben nicht. Und auch die um die Enträtselung so verdiente eschatologische Schule kann es nicht begreifen; denn sie hält die Eschatologie ja für unglaubwürdig. Damit aber ist die Basis der christlichen Religion zerstört. Ohne diese voll ernstgenommene Relation »Menschensohn«ó»Sohn Gottes« ist das Christentum unwahr, und Jesus hat nur »unsere Religion bereichert«. Damit aber wird die Religion - was sie bei den meisten Gebildeten ist - ein Fall von Kultur, ein Stück Geistesgeschichte, eine Überzeugung, die man haben muß, um ein gebildeter Mensch zu sein. Kurzum: sie kommt noch in die aufsteigende Linie der Natur zu stehen, statt zu sein, was sie ist: ihr Heilungsprozeß. Während aber die übrigen Heilungen sich automatisch abspielen und jedes Lebewesen seine heilenden Säfte zugleich mit der Schöpfung mitbekam - der Baum das Harz, das Tier Blut und Lymphe -, steht der Mensch zunächst verlassen da. Denn bei seiner Schöpfung war es nicht mit rechten Dingen zugegangen.
 

4. DIE PROTOLOGISCHEN EREIGNISSE DES BUCHES GENESIS
Wer unbefangen und vorurteilsfrei die protologischen Kapitel des Buches Genesis liest, der erhält sofort den Eindruck: hier stammeln zwei verzückte Propheten durcheinander und reden verworren vom Anfang der Dinge und von der Schöpfung des Menschen. Es ist kein klarer Fluß eines großen Prophetenberichtes, an den man sich sicher halten kann, sondern es erinnert an die Perikopen-Stöße des Markusevangeliums, die auch nicht zusammenstimmen wollen; nur, daß Markus selber schon aus Berichten schöpft, jene dagegen aus der Natur und ihrem Hintergrunde. Sie stehen aber nicht im Widerspruch zueinander, sondern es ist, wie wenn in einem Duett von Bachs Weihnachtsoratorium ein Baß und ein Sopran in zwei verschiedenen Textläufen, die durcheinander zu schwirren scheinen, doch eben dasselbe Lied singen. Es ist im Buche Genesis nur ein anderes, als man das meistens glaubt.
Gott hat sich, so klingt es vernehmlich heraus, bei der Erschaffung des Menschen stören lassen. Während ihm die Tier und Pflanzenwelt sicher aus den Händen geht, muß er zweimal ansetzen, nachdem er gesagt hat: »Lasset uns Menschen schaffen, ein Bild, das uns gleich sei.« Er schafft einmal »nach seinem Angesichte«, das andremal »aus einem Erdenkloß« - also aus zwei gänzlich verschiedenen Schöpfungsgründen. Und was daraus entsteht, »Adam«, trägt diese beiden in sich, das heißt: tiefste Bereitschaft für die kommende Absonderung von Gott. Der Mensch ist also schon in seinem Schöpfungsgrund mißraten, und jener Apfel der Eva ist wohl die Ursache, nicht aber der Grund für den Abfall. Wegen dieser innersten Gefährdung wird Adam auch nicht dem Walten der freien Natur ausgesetzt - er ist zu anfällig -, sondern in einem Kunst-Park (paradeisos) unter Schutz gestellt, damit er nicht so unmittelbar dem ausgesetzt ist, der all dies Unheil im Schöpfungsakte verschuldet hat: der satanischen Gegenmacht. Diese muß sich daher als Schlange in den Garten Eden einschleichen, und ihr gelingt die Verführung. Damit ist die bisher latente Krankheit der Sünde in den Zustand der offnen Krise eingetreten, so wie der Apfel erst beim Fallen die schon vorher gehemmt wirkende Schwerkraft sichtbar macht. In dieser Krise befindet sich nunmehr die gesamte Menschheit; sie ist in ständigem Fall.
Adam hat aber nicht sozusagen aus heiler Haut, aus Freiheit, gesündigt - so etwas gibt es nicht -, sondern weil seine Substanz durch den Störungsakt auf die Sünde hin präformiert war. Hierfür aber trug Gott die Verantwortung, denn er hat sich stören lassen. Kein Mensch kann etwas tun, dessen Keim nicht in seinem angeborenen Charakter schlummert. Niemand kann dichten, ohne Dichter zu sein, der Seiltänzer muß die Beherrschung des Gleichgewichtes in sich tragen, und niemand kann sündigen, ohne vorher Sünder zu sein. Was aber ist die Sünde Adams? Er hat wissen wollen, »was Gut und Böse ist«. Durch den Biß in den Apfel erfährt er also nicht, daß es Gut und Böse gibt, sondern was es ist. Das heißt also: die Überführung von Gut und Böse in den Intellekt. So steht es in der Bibel. Wäre er nun, wie immer behauptet wird, »nach dem Angesichte Gottes geschaffen« und beginge die Sünde »aus Freiheit«: so wäre das unsinnig, denn er verfügte dann ja über das göttliche Wissen von Gut und Böse und bedurfte der Sünde nicht. Wäre er umgekehrt nur »aus dem Erdenkloß« geschaffen, so wäre im diese Frage gleichgiltig. Nun aber ist er aus beidem geschaffen, hat eine korrupte Natur, und auf diese wirkt der Apfel als zureichendes Motiv. Das Wissen von Gut und Böse, das nun eintritt, ist ein Vernunftwissen, und das ist die beste Basis dafür, um etwas für gut zu halten, was in Wahrheit böse ist. Und wird Gott nicht ironisch, da er zu Adam spricht: »Siehe, Adam ist geworden als unser einer und weiß, was gut und böse ist: Nun aber, daß er nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baume des Lebens und esse und lebe ewiglich« - so, als wollte er fortfahren: und da du »weißt«, was gut und böse ist, so kannst du ja auch gute Taten tun -, die du für gut hältst mit deinem Wissen, die aber böse sind; gut zu sein aber vermagst du nicht, denn das kannst du nicht ohne mich! - Hier wird der Fall Robespierre präformiert. Der Satan aber hat das Spiel gewonnen; denn jetzt geht es los: Der Mensch, der sich das »Gute« selber macht über den Turmbau zu Babel bis in unsre Zeit.
Nach der Vertreibung aus dem Paradiese setzt die Zerstörungsarbeit Satans unvermittelt ein, steigert sich und treibt die Menschheit bis an den Rand jener Sintflut, die Gott mit den Worten begleitet: »Denn es reuete ihn, daß er den Menschen geschaffen hatte« (1. Mose, Kap. 6, Vers 6). Man wundert sich auch darüber, daß auf einmal, ohne daß man vorher etwas davon erfuhr, zwei Menschenarten sich mischend und das ganze Geschlecht noch mehr verderbend, auftreten, nämlich die »Kinder Gottes« und die »Töchter der Menschen« (1. Mose 6, 2) - die doch von nichts anderem herkommen können als von jenen beiden divergenten Schöpfungsakten und in denen wir unschwer die beiden allogenen Rassen wiedererkennen. Aber es nützt auch den Kindern Gottes nichts, daß in ihnen der erste Schöpfungsakt vorherrscht: sie haben den satanischen Schock der Störung mit durchgemacht und unterliegen der Sünde Adams genau so wie die Töchter der Menschen. Das ganze Menschengeschlecht befindet sich daher in einem ständigen Höllensturz, nur hie und da lichthaft unterbrochen durch die großen Kulturen, die ihn aber nicht abwenden können; denn ständig ist die viel stärkere Gegenmacht Satans am Werkt, der das schwächliche Gemüt des Menschen waffenlos ausgeliefert ist.
Gegenüber diesem Schöpfungsbefunde der Menschennatur gibt es nur zwei Möglichkeiten: ihre Vernichtung oder ihre Erlösung. Die Vernichtung wird durch die Sintflut eingeleitet; aber hier tritt als unüberschreitbare Grenze doch eben die Familie des Noah auf, über die Gott nicht hinwegkam. Es ist so, als ob er bei der Erschaffung des Menschen die Freiheit verloren habe und nicht wieder zurückkönne. Die Beziehung Gottes zum Menschen ist eine schicksalhafte auch für Gott. Soll man so weit gehen zu sagen, was der Dichter OSKAR SCHIRMER in seinen »Sätzen« ausgesprochen hat: »Jedes Fragment macht seinen Schöpfer zum Fragmente?« Dann könnte Gott vom Menschen nicht ablassen - es sei denn, er bliebe selber Fragment. Der Gang der Bibel und ihrer latenten Heilsgeschichte zeigt, daß Gott nicht vom Menschen abläßt. Nach dem Verlaufen der Sintflut verspricht er feierlich, diesen Weg der Vernichtung nicht mehr zu beschreiten. Bleibt nur der andere, um der satanischen Gegenmacht Halt zu gebieten: der durch Erlösung.
In den christozentrischen Partien der Theologie, die im Laufe der Jahrhunderte immer wieder aufgetreten und die den Ton auf den zweiten Artikel des Apostolikums verlegen, kommt in die Gottesvorstellung unvermeidlich ein Motiv der Minderung hinein. Das ist am extremsten bei Markion von Sinope der Fall, der in der alten Kirche ein Jahrhundert lang Einfluß ausgeübt hat. Bei ihm wir Gott geradezu ein stümperhafter Demiurgos, der alles schlecht gemacht hat und der daher auf das Dringendste der Erlösung durch den »unbekannten Gott« Jesus Christus bedarf. Markion verwies, gleich Schopenhauer, mit Hohn auf die Worte, die stereotyp während des Sechstagewerkes wiederkehren »und er sahe, daß es gut war«. Markion, der Asket war und die Materie haßte, neigt seiner ganzen Geistesverfassung nach zur Überspitzung. Aber es soll von ihm, so sagte mir ein katholischer Geistlicher, ein Wort geben, das lautet:

    Deus Creator in diminutione,
    Deus Salvator in augmentatione.

»Gott, als Schöpfer, befindet sich im Zustande der Minderung; Gott, der Erlöser in dem der Erhöhung«. Und das klingt schon anders. Ich habe dieses tiefsinnige Wort in Harnacks Markion-Ausgabe nicht gefunden; auch bei Tertullian, seinem Gegner, suchte ich es vergeblich.* Es muß aber gefallen sein, denn sonst wäre es nicht da; vielleicht lief es über die mündliche Tradition. Es verdient, aufbewahrt zu bleiben, weil es, entgegen dem eigentlichen Extremismus des Markion, gerade eben so viel enthält als ertragen werden kann. Die Kirche freilich ertrug es nicht, sondern sie erklärte Markion zum Häretiker und stellte das volle Glaubensbekenntnis wieder her: »Ich glaube an Gott den Allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden.«
Aber man ist doch gezwungen, die protologischen Kapitel der Bibel so zu lesen, wie jener gemilderte Markion-Spruch es anweist. Denn das Dogma ist nur Glaubensnorm, nicht der Glaube selber; zudem ist es nur im Raume der Kirche wahr und nur als Bekenntnis, nicht aber als Indikativ und assertorisches Urteil außer ihm; sein asymptotischer Charakter bricht immer wieder durch, sowie man es anfaßt. Stelle ich die Frage, ob und wieso Gott allmächtig ist, so gerate ich in einen unheilvollen Widerspruch, der bis zu Gottes Ohnmacht führt. Das Stammeln gottverzückter Propheten wiegt nun einmal schwerer, als der in ruhigen Sesseln und abgemilderter Frömmigkeit durchdachte Gottescharakter. Der klare Urtext der Bibel spricht eindeutig gegen Allmacht und Allwissenheit Gottes - so ohnehin -; denn ein solcher läßt sich nicht mitten im wichtigsten Schöpfungsakte stören und bereut nicht, was er getan hat. Aber der Anruf Gottes als des Allmächtigen und Allwissenden vom Gebete her bleibt trotzdem vollgiltig erhalten. Sowie ich dagegen den bloßen Indikativ ausspreche »Gott ist allmächtig« und ihn außerhalb des Glaubens und außerhalb des Gebetes zu meiner religiösen Überzeugung machen will, geht alles verloren, und unversehens gerät man gar in Lästerung. So ist der Glaube nun einmal beschaffen. Die geringste Mitbeteiligung syllogistischer Verfahren zerstört alles. Denn wenn ich aus dem Satze: »Gott ist allmächtig« die logische Folgerung ziehe: also kann er auch machen, daß eines Tages die Winkelsumme im planimetrischen Dreieck größer ist als zwei Rechte - so sieht man, wohin man damit kommt. Und ich brauche nur Gott zu definieren als das »vollkommenste Wesen«, Çalsoë...und ich stehe mitten in dem famosen ontologischen Gottesbeweis von Anselmus von Canterbury, der heimlich das Sein zu einem der Merkmale der Vollkommenheit macht. Gott ist allmächtig, also kann er machen, daß morgens die Sonne am Himmel stehen bleibt. Die Sonne aber ist auch im Tale von Gibeon weitergelaufen trotz des Josua Gebet. Denn die Natur bricht niemals ihr Gesetz. Wird aber im Glauben gesprochen »Gott der Allmächtige«, so bleibt das trotzdem wahr, und jeder weiß auch, was es zu bedeuten hat.
Zu sagen, die Naturgesetze könnten aufgehoben werden, ist genau dasselbe, als wollte man sagen: der von Gott geschaffene Esel könne morgen ein Kaninchen sein. So aber sieht die syllogistisch erschlichene Allmacht aus, und es gibt Menschen, die sie für eine besonders hohe Art von Frömmigkeit halten. Das Buch Genesis berichtet stets nur von der Erschaffung einzelner Dinge, der Gestirne, des Lichtes, der Pflanzen und Tiere, aber es verschweigt das Gesetz, das sie unverletzlich verbindet. Das aber ist mitgeschaffen. Denkt man darüber nach, so steht Gott in voller Ohnmacht da. Denn als er der natura naturans Vollmacht gab, entäußerte er sich des eignen Eingriffes und nur, weil er das tat, konnte der Psalmist zu seinem Ruhme singen:

   »Herr Gott, wie sind Deine Werke so groß und viel.
   Du hast sie alle weislich geordnet,
   Und die Erde ist voll Deiner Güter!«

Die Sonne also ist weitergelaufen im Tale Gibeon und hat nicht eine Sekunde später den Horizont erreicht, als es der weislichen Ordnung entspricht. Diese aber ist den Dingen immanent und unbrechbar; nur der Schöpfungsakt selber ist transzendent und geschieht aus Freiheit.*
Dennoch ist ein Spielraum für das Wunder frei, ja, die Unbrechbarkeit der Naturgesetze kann sich in gewissen Lagen nur durch ein Wunder manifestieren. Wenn Jesus zum Gichtbrüchigen sagt: »Deine Sünden sind dir vergeben«, und dieser in Wirkung dieses Wortes aufsteht und wandelt: so ist das ein Wunder, das im Leben Jesu gar nicht ausbleiben konnte und das genau wörtlich und nicht anders so geschehen ist, wie es von den Synoptikern berichtet wir. Denn nachdem das Wort gefallen war, daß die Sünden »aufgehoben« sind ((apheontai)), wäre es ein Wunder gewesen, wenn der Kranke nicht aufgestanden wäre. Jesus hat mit diesem Wort genau die Stelle berührt, an der die metaphysische Krankheit der Erbsünde und die empirische ineinandergewoben sind. Diese Verwachsung hat er mit seinem Wort gelöst und damit die Krankheit aus den Angeln gehoben. Alle Wunder Jesu hätten auch ausbleiben können - dieses nicht; denn es trifft genau den Kern der Religion. So kann, man sieht es, der Streit, »ob es Wunder gibt«, zu einem bloßen Streit um Worte werden. Wäre Orestes Jesus begegnet: er hätte zu ihm genau dasselbe gesagt, und die Erinnyen wären für immer verschwunden. Denn die Natur bricht niemals ihr Gesetz. »Vergebung der Sünde« aber und Abheilung der Krankheit sind innerlich verwandte Prozesse; kein Wunder also, daß es Heilungswunder gibt. Freilich muß das Wort »Deine Sünden sind dir vergeben« auch die Wahrheit aushalten; sie müssen wirklich aufgehoben sein. Das aber kann nicht jeder und nicht jedes Wort; das Wort Gottes aber immer. Und Jesus läßt sogar die Gelegenheit nicht vorübergehen, die umstehenden Pharisäer auf das Fragwürdige der Sache hinzuweisen; denn er sagt: »Was ist leichter zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben! oder: Stehe auf und wandle?« Daß aber Krankheit Wirkung der Sünde ist, steht außer Zweifel. Den archimedischen Punkt freilich zu finden, aus dem heraus beides gemeinsam aufgehoben werden kann, das ist die Kunst der großen Wundertäter. Andere Wunder Jesu, die berichtet werden, sind unglaubwürdig, so das auf der Hochzeit zu Kana. Er tat so etwas auch ungern. Dagegen halten die Totenerweckungen stand. Und ich glaube auch an die eigne Auferstehung Jesu - so oder so -, nur will ich nicht verraten, weshalb ich das tue. Ob er auf dem Meere gewandelt ist, weiß ich nicht, tut auch nicht not zu wissen. All das kann ebensogut auch nicht geschehen sein; die großen Heilungswunder aber nach dem Muster des Gichtbrüchigen tragen den Stempel der Notwendigkeit, - nämlich der Religion selber.

Nach alledem - und hier kommt das erste Wetterleuchten des Heilsplanes auf - rührte Gott ein Verhängnis an, und zwar sein eignes, als er zu Adam und Eva sprach: »Seid fruchtbar und mehret euch!« Mit diesem Wort war die Liebe in der Welt. Genau so aber, wie mit den Gestirnen die Schwere mit gesetzt ist samt ihrem unfehlbaren Gesetz, genau so auch ist durch die Liebe, da sie nun einmal da ist, deren Gesetz mit gesetzt und transzendental gesichert. Das aber reicht in die Tiefe der Natur an den Rand ihrer reinen Ereignisse. In dieses Gesetz ist Gott mit einbezogen, er konnte nicht mehr vom Menschen los, gerade weil die Schöpfung mißlungen war. Aber nur diese Kraft und keine andre war imstande, der herrschenden Satansmacht etwas Profundes entgegenzusetzen, eine Schwelle, über die ihr Gebieter nicht hinwegkann.
Der Schöpfungsbericht des Buches Genesis pflegt mit den Augen des naiven Realismus gelesen zu werden, in dessen Geiste er in der Tat auch verfaßt ist. Es klingt so, als ob die Dinge, die hier einzeln nebeneinander geschaffen werden, Dinge an sich selber sind. Indem aber Gott die Gestirne schuf, sage er heimlich zu ihnen »Beweget euch!« Denn sie bewegen sich ja. Indem er das aber sagte, meinte er »Fallet!« und damit »Seid schwer!«. Denn alles Bewegen der Gestirne ist gehemmtes Fallen durch die Schwere. Das Gravitationsgesetz aber, das damit in Kraft tritt, enthält Elemente, die mit Notwendigkeit von einem erkennenden Subjekt gedacht werden müssen: die Materie und ihre Prädikabilien, Raum und Zeit sowie die geometrischen Formeln, nach denen sich die Stärke der Schwere im Vergleich zur Entfernung regelt. Damit aber ist der subjektive Pol der Naturachse gesetzt. Denn Mond und Sterne können sein oder nicht sein (das ist »prawda«); schwer sein aber und nach den Gesetzen der Schwere sich bewegen, das müssen sie notwendig (»istina«). Und als Gott sprach: »Es werde Licht!«, schuf er das Auge. Als Gott aber zu Adam und Eva sprach: »Seid fruchtbar und mehret euch!«, da holte er seine eigne Natur mit herauf, und als diese im Eros da war - der auch nach klassischer Überlieferung der älteste Gott ist -, da war auch dessen transzendentaler Charakter da, der mit Notwendigkeit immer auf die Person geht. Denn die Liebe sitzt nicht in der Spitze des Fleisches als ein Lustreiz auf, sondern sie lagert im subjektiven Pol der Achse der Natur. So schuf Gott in Wirklichkeit eine Welt, die Erscheinung ist und transparent, obwohl die Sprache der Bibel so klingt, als wäre von Dingen an sich die Rede. Wenn man diesem naiven Realismus traut, so entsteht Widerspruch auf Widerspruch, und daher datieren auch alle Angriffe der Aufklärung. Und obwohl Gottes Allmacht durch das von ihm selbst geschaffene Gesetz zugleich Ohnmacht wird, so ist er doch um des Wortes selber willen der allmächtige Schöpfer Himmels und der Erden.
Auf die Liebe aber, nachdem sie einmal in die Schöpfung eingesetzt ist, hat die satanische Gegenmacht es besonders abgesehen. Denn nichts sichert sie davor, in Haß umzuschlagen und die Welt in Flammen und Untergang zu versetzen. Da die Menschen ihr ausgesetzt sind, so muß dieser allein zu Erlösung bereiten Macht etwas geschehen, das dem Verfall an den Satan eine unübersteigbare Schranke setzt.

*
Der Schöpfungsbericht des Buches Genesis gilt allgemein als die vollkommenste Darstellung von den Urszenen der Welt. Allein es gibt doch eine Ergänzung gleichen Alters, in der zwei Themen deutlicher herauskommen als dort, nämlich das der Liebe und das von der Achse der Natur. Es ist der Schöpfungsbericht des Rig-Veda (in der Übersetzung von PAUL DEUSSEN). Ich führe ihn hier an.

   Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein.
   Kein Luftstrom war, kein Himmel drüber her. ó
   Wer hielt in Hut die Welt; wer schloß sie ein?
   Wo war der tiefe Abgrund, wo das Meer?

   Nicht Tod war damals noch Unsterblichkeit,
   Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. ó
   Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
   Das Eine, außer dem kein andres war.

   Von Dunkel war die ganze Welt bedeckt,
   Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren; ó
   Da ward, was in der Schale war versteckt,
   Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.

   Aus diesem ging hervor zuerst entstanden,
   Als der Erkenntnis Samenkeim: die Liebe; ó
   Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden
   Die Weisen forschend in des Herzens Triebe.

   Als quer hindurch sie ihre Meßschnur legten,
   Was war da unterhalb? Und was war oben? ó
   Keimträger waren, Kräfte, die sich regten,
   Selbstsetzung drunten, Angespanntheit droben.

   Doch, wem ist auszuforschen je gelungen,
   Wer hat, woher die Schöpfung stammt, vernommen?
   Die Götter sind diesseits von ihr entsprungen!
   Wer sagt es also, wo sie hergekommen? ó

   Er, der die Schöpfung hat hervorgebracht,
   Der auf sie schaut im höchsten Himmelslicht,
   Der sie gemacht hat oder nicht gemacht,
   Der weiß es! - oder weiß auch er es nicht...?

»Als quer hindurch sie ihre Meßschnur legten« - das scheint mir wie die Achse der Natur zu klingen. Tausend Jahre vor Christi Geburt und etwa gleichzeitig mit den stammelnden Propheten des Buches Genesis!
 

5. DER HEBRƒERBRIEF ÜBER DIE ERSCHEINUNG CHRISTI
Frage ich nach dem Sinn der Welt als Ganzem, außerhalb der Religion, so kann mir niemand diese Frage beantworten. Die einen sagen, er sei die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes - aber da wird eine neue Unbekannte eingeführt: was heißt »Vervollkommnung«? Die andern sagen: das Leben ist um seiner selbst willen und durch Zufall da, wie es der Darwinismus tut: aber das ist die Negation von »Sinn«; wieder andere: die Welt sollte nicht dasein, denn sie ist ihrem Wesen nach Leid. Dieser Standpunkt des Pessimismus aber übersieht, daß Schmerz, Leid, Unlust, auch wenn sie noch so tief gehen, keine Tiefendimension haben; diese kommt nur der Freude zu; es wird also mit zweierlei Maß gemessen. Kurzum: es gibt, wenn man die Religion ausläßt, keine Möglichkeit, von einem Sinn oder Wert der Welt giltig zu sprechen.
Die Lage verändert sich aber von Grund aus, wenn ich die Religion in die Welt als deren wesentlichen Bestandteil einbeziehe. Dann gehört sie zu ihr, wie das Wachstum zur Pflanze. Dann darf sie aber auch keine modenhaft wechselnde Affäre des »menschlichen Geistes« sein - den es nicht gibt; auch nicht des menschlichen Herzens, das mit zu den Schildbürgereien gehört, sondern der ständig wirksame Heilungsprozeß der Natur selber. Wer will die Religion retten vor jenen zielsicher geführten Angriffen, die schließlich in der so überzeugenden Parole münden »Opium« fürs Volk? Niemand kann das. Unangreifbar aber wird ihr Grundbestand, wenn man sich zu jenem vorerst lästerlich klingenden Satze entschließt: daß die Heilung der tierischen Wunde und das Heil der menschlichen Seele derselbe Vorgang sind; er führt aber in Wirklichkeit zur Apotheose der Religion. Sie wird reines Ereignis der Natur: und damit hört allerdings der menschliche Geist und das menschliche Herz auf, eine bloße Krähwinkelei zu sein.
Ich kann den gewöhnlichen Heilungsvorgang an der tierischen und pflanzlichen Wunde weder verstehen noch begreifen, wenn ich den Einzel-Organismus, den ich vor mir habe, nicht als zweckmäßig ablaufend betrachte. Jeder Biologe und jeder Arzt, er mag so ungläubig und so aufgeklärt sein, wie sein Widerspruchsgeist ihm befiehlt: jeder wendet, ohne es zu wissen, die von Kant entdeckte teleologische Urteilskraft an, sonst kommt er nie zu einem Ergebnis, und alles, was er redet, geht fehl. Denn die teleologische Urteilskraft ist a priori und transzendental, trägt also den Stempel der Notwendigkeit. Ist man frei von Ressentiment gegen die Kirche, wie es GOETHE war, so bricht man in Bewunderung aus und spricht von »Gott-Natur«. Dieses Wort aber, das so viel Begeisterung unter der deutschen Halbbildung hervorgerufen hat, bezieht sich auf die heilen Organismen. Goethe mochte das Kranke nicht; denn er war selber ein schwerer Hypochonder und Melancholiker. Aber es steckt in ihm jener Enthusiasmus, der jeden ergreift, wenn er - als Nichtdarwinist - auf den archetypischen Grund der erscheinenden Gestalten gestoßen ist. Keineswegs aber ist mit jenem Worte gesagt, daß es zur Erklärung der Naturgebilde eines Gottes im Sinne der Bibel bedarf. Den feinen Unterschied, der doch später so aufrührend wurde, hat schon ARISTOTELES gewittert, als er sagte: »Dämonisch ist die Natur, nicht göttlich.« Die platonischen Ideen aber sind ((daimones)) und das meinte GOETHE mit »Gott-Natur«.
Nun sind aber die Organismen nicht heil, sondern jeder wird im Verlaufe seines Lebens der Verwundung ausgesetzt, sei es, daß das Eichenblatt von der Gallwespe gestochen wird - und sich wehrt - oder der Hirsch, vom Wolf gebissen, sich das Blut leckt; oder daß Orestes glaubt, seine Mutter töten zu dürfen und hinterher alle Götterkulte frequentiert: vielmehr »alle Kreatur ängstigt sich noch immerdar« - das hatten von altersher alle Mysterienkulte gesagt.
Da aber Heilung vorkommt und die ganze Natur mit dem Menschen durchzieht, so können die Archetypen der Naturgebilde nicht unverbunden nebeneinanderliegen, sondern müssen eine gemeinsame Basis haben. Diese nannte die neuplatonische Philosophie - wenn auch mit schwankender Sicherheit - den Logos. Mit diesem schwerwiegenden Wort aber, »durch das alle Dinge gemacht sind«, ist gesagt, daß auch die Welt als Ganzes der Zweckmäßigkeit unterliegt, daß sie einen heilsgeschichtlichen Sinn hat. Es ist nun die Tat des johannëischen Geistes, gesagt zu haben, daß dieser Logos einmal und zu bestimmter Stunde »Fleisch geworden« sei.
Das ist eine ungeheuerliche Behauptung, die nicht so ohne weiteres hingenommen werden kann, sondern an der die Erkenntnis herausgefordert wird, ihre höchste Probe zu bestehen. - Gott war es nicht gelungen, Adam nach seinem Ebenbilde zu schaffen; das geht so weit, daß er nach dem Fall sogar dieses Schöpfungsmerkmal an ihm - das ja immerhin auch da war - verleugnet und ihn darauf verweist, daß er ja aus Erde gemacht sei. »Denn du bist Erde und sollst zu Erde werden«, so endet der Fluch Gottes auf sein Geschöpf (1. Mose 3, 19). Kurz darauf aber hören wir den anderen Propheten, wie in einem Krampfe reden: »Da Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Gleichnis Gottes« (1. Mose 5, 1). Wer will das alles sinnvoll vereinigen? Der Sinn, Logos, kann nur in der geheimen Teleologie der ganzen Natur gefunden werden, wenn man ihren Heilungsprozeß in sie einbezieht. Es gibt eine objektive Heilsordnung der Natur aus Liebe, das ist die Verkündigung des Johannes. Denn die Bindung Gottes an den Menschen war schicksalhaft geworden - so wie es nur in der Liebe vorkommt -, aber auch des Menschen an Gott, falls er nicht auf Erlösung verzichten will. So aber, wie die bloße Schöpfung verlaufen war und weiter läuft unter ständiger Bedrohung durch die meist siegreiche satanische Gegenmacht, so konnte es nicht weitergehen. Wie aber, wenn oberhalb des Menschen sich Schöpfungsakte vollzögen, deren einer noch außerdem ein Sendungsakt ist? Und wenn in dieser Sendung das Fleischwerden des unverfälschten Ebenbildes doch gelungen wäre? Das aber ist es, was Jesus von Nazareth eines Tages in sich entdeckte und was er mit dem offenen Geheimnamen des Menschensohnes ohne Unterlaß nannte. Niemand aber verstand ihn. Der Verfasser des Hebräerbriefes kommentiert die Substanz Christi mit den alles sagenden Worten: er sei »der Abglanz, ((apaugisma)), von Gottes Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens, ((charakthr ths upostaseos autou))« (Hebr. 1, 3). Also keine Mischgestalt aus Ebenbild und Erdenkloß, sondern reines Ebenbild und Fleisch geworden. Das ist der geglückte Zusammenfluß von Schöpfungsakt und Sendungsakt in der Person Jesu, der zugleich Menschensohn und Sohn Gottes ist. Daß so etwas einmal kommen würde, drückt sich in der allgemeinen Erlösungserwartung aus, die, damals gehäuft, sich aller Völker bemächtigte. Sie spitzt sich, astrologisch deutlich betont, in Richtung auf Galiläa zu und ließ auch, was die Zeit angeht, keinen Spielraum offen. Daher das pünktliche Eintreffen der Magier aus dem Morgenlande.

*
Die Kirche hat alle Einschränkungen der Allmacht und er Weisheit Gottes im Dogma abgelehnt. Das ist ihr gutes Recht; denn sie ist dazu da, die Religion dem Volke zu sichern, und darum bindet sie sie, so wie die Natur das Wasser im Granit. Es wird daher niemals gelingen, selbst auf den klaren Text der Bibel hin, sie davon abzubringen. Denn noch niemals hat die Philosophie Einfluß auf das Dogma gehabt und kann es auch nicht, da ihre Wurzeln verschieden sind. Die Philosophie redet auch nicht gern von Gott und den protologischen Dingen; es ist ihr dabei zumute wie den Söhnen Noahs, da sie des schlafenden Vaters Scham bloßliegen sahen.
 

6. JOHANNES
Das Evangelium des Lukas zeichnet sich gegenüber den beiden Urevangelien durch eine reiche Übermalung aus, die ihm seinen besonderen Reiz verleiht; aber die synoptische Verwirrung wird in ihm nur noch größer. Wären diese drei ersten Evangelien Biographien, so müßte man als erstes fragen: wie kann ein Mensch, der ihr Träger ist, ein solches Leben überhaupt aushalten? Denn es muß ja doch eine unerträgliche Qual gewesen sein, daß die Parusie nicht eintreffen wollte, obwohl sein ganzes messianisches Selbstbewußtsein auf ihr ruhte. Konnte dieses Leben überhaupt mit rechten Dingen zugehen? Aber die synoptischen Evangelien sind keine Biographien, sondern Perikopen-Bündel und Gerüchte; der rote Faden muß irgendwo im Hintergrunde verlaufen.
Bei Lukas kommt nun noch ein ganz neues Motiv hinzu, das die andern nicht kennen und das die Lage weiter versteift. Jesus wird (Lk. 17, 20) von den Pharisäern scharf in die Enge getrieben mit der präzisen Frage, die kein Ausweichen duldet: »Wann kommt das Reich Gottes?« Und er antwortet überraschend und neuartig und völlig widersprechend seinem sonstigen Tun: »Das Reich Gottes komm nicht mit äußerlichen Gebärden...sondern es ist inwendig in euch«. Dazu freilich braucht man nicht die zwölf Jünger auszusenden mit den eiligen Worten: »Ihr werdet mit den Städten Israels nicht zu Ende kommen...« Und es ist auch nur wie ein kurzer Blitz in seinem Gemüte, dieses Wort vom »Himmelreich inwendig in euch«; denn wenige Verse später bricht es in eschatologischem Hochstil los, dringender denn je: »Und wie es geschah zu den Zeiten Noahs, so wirds auch geschehen in den Tagen des Menschensohns. Sie aßen, sie tranken, sie freieten, bis auf den Tag, da Noah in die Arche ging, und kam die Sintflut und brachte sie alle um« usw. usw. (LK. 17, 26ff.). Wie ist das durchzuhalten? Jesu Leben ist, daran kann gar nicht gezweifelt werden, durchweg auf Endzeit-Ereignisse gestimmt. Aber das Wort vom »Himmelreich in uns« ist gefallen, und es würde die ganze Eschatologie mit einem Schlage zunichte machen, wenn es so gemeint gewesen wäre, wie die liberale Theologie, die Apologetik des bürgerlichen Christentums, es haben will. Es ist wirklich gefallen, und es ist wirklich ernst gemeint; Lukas hat es nur nicht verstanden. Und bei Matthäus geht es ja ähnlich her: da haben wir zunächst die großen Kapitel der Bergpredigt, die man als eine Verkündigung des innerlich gedachten Reiches Gottes verstehen muß; dann folgen eine Reihe Wunderheilungen, und schließlich kommt es doch zu jener Aussendung der Zwölf (Matth. 10, 22), die nur eschatologisch verstanden werden kann.
Das Himmelreich ist ja aber kein bloßes Gewitter, das einfach niedergeht, es ereignet sich nicht neben den empirischen Unglücksfällen: es hat vielmehr seine Wurzel im Welthintergrunde und, um Erfahrung zu werden, bedarf es des subjektiven Poles. Denn nichts ist Erfahrung, was nicht beides hat. »Himmelreich in uns« heißt also das, was über die bloße Buße hinaus noch nötig ist, um für die frei vom Objekte her herandrängenden uranischen Kräfte Empfangsorgan zu sein und Erfahrung zu werden. Denn auch diese Erfahrung ist echt und vollgiltig, das heißt aber, sie ist Erscheinung. Wie die Lichtätherwellen solange im dunklen Weltraum sich vergeudeten, als die Lebewesen an ihrem Kopfe nur nervös empfindliche Warzen trugen, aber Licht wurden, als diese sich zu Augen bildeten: genau so vergeuden sich die Himmelreichskräfte nutzlos, ja gar zerstörend, ehe nicht das »Himmelreich in uns« da ist, der subjektive Pol, durch den das Reich selbst Erfahrung wird. So aber, im transzendentalen Sinne, besteht das Lukaswort zu Recht, und es ist der wichtigste Satz im ganzen Evangelium; nicht aber so, daß das Himmelreich überhaupt bloß »in uns« sei, wie das Bürgertum glaubt, das sich die Sache gemütlich machen will. Denn damit wäre die übrige Natur von der Erlösung ausgeschlossen; das aber hat nie ein Christ geglaubt. Jesus aber hat richtig gehört.
Ganz im Vordergrunde liegt die Lehre des Herrn von der »Drangsal«, die dem Anbruch des Reiches vorausgeht. Sie trägt den griechischen Namen »peirasmós« und kann, von innen gesehen, auch mit »Versuchung« übersetzt werden. Sie zu erleiden, bedarf es keiner Neubildung im subjektiven Pol; hier regnet es Pech und Schwefel vom Himmel, die Erde tut Klüfte auf, das Meer rauscht über, und die Sonne verfinstert sich, die Menschen verüben Krieg und Mord aneinander und verraten sich; der Vater ist nicht vor dem Sohne, der Bruder nicht vor der Schwester, der Bräutigam vor der Braut nicht sicher: jeder kann der Denunziant des andern sein, und die Herrschaft der satanischen Gegenmacht läßt keinen Zweifel zu. Das ist Peirasmós; und man kann daher sowohl beten »und führe uns nicht in Versuchung«, wie auch - eschatologisch - »und führe uns nicht in die Drangsal«. Zeiten der Drangsal gibt es viele, und auch Euripides hat sie gehört, als er den Orestes in der taurischen Iphigenie sagen läßt:

   »Ein großes Wirrnis ist im Götterreich
   Und bei den Menschen...« (572).

Sie kehren periodenhaft wieder; aber damit ist nicht gesagt, daß hinter ihnen das Reich Gottes kommt. Sie können sich ebensogut wieder verlaufen; aber es kann auch sein, daß sie jenseits eines bestimmten limes in das Reich des Satans münden. Das hängt davon ab, was der Mensch anbetet. - Jesus aber stand daneben mit unruhigem Fuße, sagte, dieser Peirasmós sei der letzte, und jetzt käme das Reich Gottes, gleich jetzt, diesen Herbst, spätestens, ehe der erste Heilige stirbt; - aber es kam nicht. Bleibt hier bloß noch ein Träumender übrig, der die Welt nicht kannte, oder doch noch etwas anderes; vielleicht gar Alles?
Man kennt die ausgesprochene Geringschätzung, mit der die protestantische Bibelkritik das Johannes-Evangelium gegenüber den Synoptikern behandelt. Diese allein seien historisch beachtenswert, in ihnen sei das wahre Leben Jesu enthalten, während »Johannes« eine Art Dichtung sei oder Apologetik, wenn nicht Schlimmeres; natürlich sei es auch »unecht« und stamme von Presbyter Johannes oder sonst jemandem, keinesfalls aber vom Jünger. Es liegt hier aber mehr eine unbewußte Verschwörerstimmung gegen Johannes, den Autor, vor, ähnlich wie die gegen Homer seinerzeit; denn die philologischen Einwände reichen nicht aus. Um aber eine solche Frage zu entscheiden, muß man auch hören können; und die Stimme des Jüngers tönt deutlich genug. Es ist nur ein Nebenbeweis, wenn man auf die merkwürdige Detail-Kenntnis an ganz unwesentlicher Stelle hinweist bei jemandem, dem es gerade nur um das Wesentliche zu tun ist. Wichtig ist dagegen, daß ihm etwas bekannt war, was jedem andern entgehen mußte, der nicht, wie er, eine privilegierte Stellung einnahm. Johannes wußte von einer geheimen reservatio mentis Jesu, die nicht etwa List war, sondern die sich unwillkürlich einstellte, nachdem er mit so überzeugender Sicherheit das Eintreffen des Gottesreiches für ein bestimmte, und zwar kurze Zeit behauptet hatte. Die reservatio mentis aber lautet: Das Reich Gottes tritt im Unendlichen ein. Das ist die Entdeckung des Johannes an seinem Meister, und aus ihr ist sein Evangelium geschrieben.
Sage ich: das Reich Gottes kommt, von heute an gerechnet, in drei Monaten, dann aber, es kommt, ehe der erste Heilige stirbt, zuletzt: ehe dieses Geschlecht vergeht - so habe ich endliche Termine angegeben, an denen, wie das Jesus tat, die Wirklichkeit gemessen werden kann. Sage ich aber, durch den Verlauf dieser Wirklichkeit an den Rand der Verzweiflung gedrängt: »das Reich Gottes kommt im Unendlichen« - so sage ich damit, daß es überhaupt nicht kommt. Und diesen Standpunkt, das hat ihm Johannes ablauschen können, hat Jesus für einen Augenblick eingenommen. Der nächste aber schon brachte bei ihm ganz etwas anderes, als jenes verzweifelte Abzählen ins Unendliche, durch das nichts gewonnen war. Er brachte nämlich den plötzlichen Übergang aus dieser gedachten und gezählten Welt in die anschauliche, wobei der Begriff des Unendlichen mitgenommen und nicht etwa draußen gelassen wurde. Dieser aber drohte den Zusammenhalt der empirischen Außenwelt zu sprengen, und es geschah ein neuer Sprung: vor dieser Welt des Vordergrundes verschloß Jesus die Augen (muein) und drang durch einen Akt der Versenkung, der ein besonderes Charisma des homo religiosus ist, in deren Raumtiefe ein. Durch diesen Akt aber wurde der aus der gezählte Welt mitgenommene Begriff der Unendlichkeit in den der Ewigkeit verwandelt. Das aber ist der Standpunkt der Mystik. Diese ist demnach das genaue Widerspiel zur Wissenschaft, durch die allemal die anschauliche Welt in eine gezählte aufgelöst wird. Die Mystik, eine große Wohltäterin des Menschengeschlechtes, führt alles Gedachte und Gezählte in Anschauung über, geht dann aber noch weiter über die Formen hinweg in die Tiefe. Von dorther strömen ihr heilsame Kräfte zu, falls ihr Weg von Gebeten begleitet war. Alle mystische Erkenntnis aber ist Wissen durch Nichtwissen. Die Wissenschaft, die gar nicht beten kann, fällt mit derselben Sicherheit in die Hände der satanischen Gegenmacht. Mystik aber ist, rein gebraucht, frei von Schwärmertum und Willkür.
Ewigkeit ist das Erlebnis des Unendlichen in der anschaulichen Welt. Aus ihr heraus und von ihr spricht der johannëische Jesus. So aber hat er wirklich gesprochen, die Synoptiker haben das nur nicht verstanden. Man kann die Mystik in ihrer strengen Form im Leben Jesu nicht auslassen, ohne dieses Leben zu unterbrechen. Spricht er also vom »ewigen Leben«, so meint er nicht ein Leben, das unendlich lange dauert, im übrigen aber, leicht verbessert, bleibt, was es ist, sondern dann ist von einem qualitativ anderen die Rede, das in das gewöhnliche »von dieser Welt« heimlich eingehüllt ist, und das keine Beziehung zur Zeit hat. Es ist aber unvermeidlich, daß die Zeit sich immer wieder meldet und Unruhe stiftet, da das Erlebnis der Ewigkeit ja selber in ihr geschieht. Das ist die Klippe, um die alle Mystik herum muß. In einen sub specie aeternitatis gesprochenen Satz, wie den »Ehe denn Abraham war, bin ich« (Joh. 8, 58), mischt sich immer das empirisch Zeitliche ein, und die Pharisäer, die ihn hörten, entsetzten sich über ihn; denn sie verstanden es natürlich nicht und waren schnell mit dem, was sie unter Gotteslästerung verstanden, bei der Hand. Daß aber auch die Schöpfung selber in die Ewigkeit gehört und in der Zeit nie stattgefunden hat, daß Adam ständig aus dem Paradies vertrieben wird und immer der Biß in den Apfel erfolgt, das ist die furchtbarste Konsequenz der reinen Mystik. Denn es ist doch so: zähle ich in der Zeit meine Vorfahren bis in das graueste Altertum zurück, so stoße ich doch niemals auf Adam, sondern immer nur auf meine Vorfahren, von denen jeder seinen Vater hat. In diese Reihe gehört Adam nicht. Er ist keine geschichtliche, sondern eine protologische Gestalt, mit der allemal ich selber gemeint bin. Und ich habe natürlich die Erbsünde nicht etwa im biologischen Sinne von ihm erworben, sondern ich besitze sie, Adam, der ich bin, in transzendentaler Weise. Der johannëische Jesus aber redet vom Standpunkt der Mystik, und so gehört auch das Himmelreich, das er bei den Synoptikern zeitlich verkündet, in die Ewigkeit. Seine Parusie erscheint daher in einem ganz besonderen Lichte. Aber es läßt sich unter dem Druck der Buchstabenschrift und der Grammatik nun einmal nicht anders darstellen als in zeitlicher Reihenfolge. Wäre das Johannesevangelium, dazu das Buch Genesis gleich dem Taoteking in chinesischer Bilderschrift verfaßt - es wäre gar nicht auszudenken, welche Herrlichkeit da entstanden wäre. Aber Zauberworte und Bilderschrift, und dann noch dieses Thema, das wäre zuviel für das gebrechliche Menschengeschlecht gewesen.
Bei alledem bricht für Johannes die eigentliche Endzeit-Lehre Jesu bis auf einen kleinen Rest zusammen; denn in der Ewigkeit gibt es keine letzten Tage. Ein solcher Rest findet sich etwa in dem Gespräch mit der Samariterin am Jakobsbrunnen, da der Herr sagt: »Hebet eure Augen auf und sehet in das Feld; denn es ist schon weiß zur Ernte!« (Joh. 4, 35). Aber er treibt darum keine eschatologische Politik mit allen Finessen, wie bei den Synoptikern; es wird niemand »bedräuet«, wenn er an das Messianitätsgeheimnis rührt, sondern ganz offen spricht er selbst davon: »Ich binís von dem du redest!« Er selber nennt sich im Tempel Gottes Sohn; man will ihn steinigen, aber niemand legt Hand an ihn, »denn seine Stunde war noch nicht gekommen«. Und die Pharisäer sind ratlos über solch einen Menschen. »Ihr sehet, daß ihr nichts ausrichtet; siehe, alle Welt läuft ihm nach.« Diese voll ausgebrochne Unbekümmertheit um jede eschatologische Situation ist das Merkmal des johannëischen Jesus.

Aber noch etwas anderes kommt bei Johannes zur Entscheidung: es ist die Sache mit den Titeln. Während der synoptische Jesus im Rahmen seiner eschatologischen Politik mit ihnen Mimikry treibt, kommt es bei Johannes zum effektiven Zusammenschluß der zwei entscheidenden »Menschensohn« und »Sohn Gottes«. Hier wird das Rätsel, das die protestantischen Theologen der hundert Jahre stehen lassen mußten, gelöst. Der Titel Messias = Christus ist ja, wenn man ihn sprachlich und geschichtlich untersucht, dekorativ, und könnte ebensogut durch einen anderen ersetzt werden. Statt des »Gesalbten« hätte der Erwartete auch z. B. der Gebenedeite oder der Erhabene oder der Erleuchtete heißen können; das hätte nichts am Bedeutungsbefunde selber geändert. Zudem ist der Titel »der Gesalbte« von intern-jüdischer Struktur, also partikulär und fast schon abgenutzt. »Menschensohn« dagegen kann man nicht durch etwas anderes ersetzen; denn dieses Wort bedeutet eine bestimmte Naturstelle substanzieller Art, für die kein anderes brauchbar ist. Dieser Titel wurde von Jesus selbst als die tiefste Anrede seiner Person entdeckt, und nur von ihm aus kann man »Gottes Sohn« verstehen, zu dem es kraft kosmologischer Fügung gehört; eines nicht ohne das andere. Menschensohn heißt, als Art zum Menschengeschlechte so stehen wie der Sohn zum Vater als Individuum; aber auch als höhere Art, die zum Menschen steht, wie dessen primäre Rasse zur sekundären; die Kluft ist aber exakt und scharf, zudem größer; denn der Menschensohn kommt nur in einem Exemplar vor, das die ganze Art erschöpft. Das aber sichert ihm - scheintís - auch die Möglichkeit der Auferstehung. So allein und nicht anders kann dieses Wort verstanden werden, oder die ganze Christologie bricht zusammen. Das Wunder ist stehengeblieben, aber das Rätsel gelöst, und nur mit diesem Schlüssel in der Hand kann man überhaupt die Evangelien lesen; es verschwindet jenes unerträgliche Gefühl des Mißbehagens, das einen sonst bei der Lektüre ankommt und das so gar nicht dazu geeignet ist, »Trost« zu gewähren.
Die ganze Frage nach der Gottessohnschaft Jesu aber hängt allein von der andern ab, ob zwischen »Menschensohn« und »Sohn Gottes« eine kosmologische Brücke besteht. Gerade das aber wird von Johannes gleich am Anfang verkündet (3, 12). »Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Und niemand fähret gen Himmel, denn der von Himmel herniederkommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist...Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab«...usw. Aber noch deutlicher: »Denn, wie der Vater das Leben hat in sich selber, also hat er dem Sohn gegeben, das Leben zu haben in sich selbst; und er hat ihm Macht gegeben, auch das Gericht zu halten, weil er des Menschen Sohn ist« (Joh. 5, 26f.). Die notorische Menschensohnschaft Jesu also, in diesem ganz präzisen naturhaften Sinne, ist der allein zureichende Grund für die Gottessohnschaft und das an ihr hängende Richteramt. Dieses Lebensgeheimnis Jesu hat Johannes gewußt und er allein. Es gibt eine Naturstelle oberhalb des Menschen, die einmal, dreiunddreißig Jahre lang in der Zeit gerechnet, durch Fleisch und Blut eingenommen wurde, von deren Verhalten in der Passion das Schicksal der Welt abhing. So Johannes.
Dabei schreckt der sonst als zart verrufene Jünger auch vor dem ƒußersten nicht zurück. »Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben« (Joh. 6, 53). Hier klafft für einen Augenblick eine grauenhafte Vorstellung auf, die gar nicht auszudenken ist. Schon PORPHYRIUS, der vegetarische Feind des Christentums, macht ihm den Vorwurf des Kannibalismus: »Ist denn dies nicht tierisch und widersinnig, ja vielmehr widersinniger als jeder Widersinn und tierischer als tierische Rohheit, daß ein Mensch Menschenfleisch essen und seine Stammesgenossen und Verwandten Blut trinken und dafür das ewige Leben bekommen sollen?« (zitiert nach Harnack, »Mission und Ausbreitung des Christentums«, S. 169). Hatte Porphyrius recht? Wenn man den Kannibalismus als bloße Triebgier ansehen will, dann ja: indessen, er ist in seinem Ursprung sakraler Art: der Wilde, der den Körper des getöteten Feindes ißt, wählt sich dessen tapfersten Exemplare, um damit deren überlegene Seele für sich zu gewinnen. Und so ist das auch hier gemeint, nämlich wörtlich, kannibalisch: bis hierhin war Jesus in der Tat vorgedrungen, aber indem er das sagte, keimten in ihm schon die Einsetzungsworte des Abendmahles und wandten das Schrecknis ab. Schon darum heißt es: »Dies ist mein Leib!«. - Ich frage aber, wer steht der Religion näher: jener Kannibale oder ein durchschnittlicher Konsistorialrat liberaler Fasson?
Frage mich jemand, wie wohl das Seelengefüge des Menschensohnes beschaffen war, so würde ich ohne Bedenken antworten: so wie das Zarathustras. Auf der Basis einer schweren Melancholie - niemand sah je den Menschensohn lächeln -, die das empirische Leben »von dieser Welt« ständig an den Rand des Selbstmordes drängt, erhebt sich urplötzlich durch einen Akt bejahender Freiheit aus Notwendigkeit eine rauschhafte Freude äonischer Art, die ihresgleichen in der bloß psychologischen Ebene nicht kennt. Nietzsche nannte sie das Dionysische, und Jesus nannte sie »meine Freude«; es ist der Schatten der Güte. Diese setzt Jesus (Joh. 15, 11) deutlich und unverkennbar den bloß empirischen Freuden der Jünger entgegen. »Solches rede ich zu euch, auf daß meine Freude in euch bleibe und eure Freude vollkommen werde«. Seine Freude ist die äonisch-dionysische und ihre Freude ist die empirisch-irdische. Es ist genau dieselbe Sache, wie in Nietzsches Zarathustra, und kein Unterschied. Hierin ist ja auch der Grund zu suchen für das ungeheure Aufsehen, das Nietzsches Verkündigung erregt hat: sie enthielt eben genau das Stück Christentum, um das die Menschheit bisher betrogen wurde. Der inspirationsartige Durchbruch der Zarathustra-Vision, die Nietzsche selbst in »Ecce Homo« beschreibt, trägt so durchaus Offenbarungszüge, daß an ihrer Herkunft vom Objekt her gar kein Zweifel bestehen kann. Die Natur, die nicht davon ablassen kann, versucht es immer wieder, in der Nähe der Menschensohn-Sphäre Gestalten zu erzeugen, obwohl der Platz besetzt ist. Von da aus gesehen, muß man sogar das Genie als Kümmerform des Menschensohnes betrachten: so groß ist der Abstand.
Daß Nietzsche selbst substantiell Christ war, daran besteht heute kein Zweifel mehr. Er verweigerte nur stolz die Annahme jeder Hilfe. Immerhin gehört sein »Antichrist« zu dem Lesenswertesten, das es für einen Christen geben sollte. Und seine Eschatologie vom »Europäischen Nihilismus« (Peirasmós) ist eingetroffen - gesehen zu einer Zeit, als alles noch in belsazarhafter Stimmung schwelgte. Man hat seine Warnungen nicht gehört. Sein Zusammenbruch in Turin war das, was für Paulus Damaskus war, nur eben, daß sich bei ihm der düstere Vorhang für immer senkte. Weil aber Nietzsche mit seinem Leibe und Leben gebürgt hat, deshalb ist er der erste Heilige der Philosophie, auch wenn man von seiner eignen keinen Stein auf dem andern läßt. Es gibt auch keinen Philosophen außer ihm, der ein mythisches Gepräge anzunehmen vermag. Irgendwie spürt man: hier hat die Natur wieder einmal ein Experiment von »Menschensohn« gemacht, einen Nachzügler, der zerschellen mußte. Denn es ist ja eben freilich so: sein »Übermensch-Zarathustra«, trotz aller Herrlichkeit im Klange des Seelischen, zerstiebt ins Wesenlose; man weiß nicht recht, wo das hinführen soll. Jesus aber, der seine einsamsten Stunden dazu verwandte, jene kosmologische Brücke zum Sohne Gottes zu schlagen, nimmt damit eine feste Naturstelle ein, die ein reines Ereignis umhüllt.
 

7. DER MYTHOS ALS GRUND DER GESCHICHTE
Nach den Einsichten der eschatologischen Schule fällt der Umschwung im Leben Jesu mit dem Momente der unerwarteten Rückkehr der Jünger zusammen. Von da an nimmt ein völlig neues Motiv von seinem Leben Besitz, das die Jünger gar nicht, er selber nur zögernd versteht: das des Opfers. Man kann sich denken, daß er plötzlich anfällig wurde für die Weissagung Jesaia 53, 4: »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und nahm auf sich unsere Schmerzen...« Neben dem Nachdenken über die Gottessohnschaft war dies das zweite große Thema seines Lebens. Nur war es von solcher Ungeheuerlichkeit, daß er allein damit nicht durchkam und es schließlich in Gottes Hände legen mußte. Und es ist dasselbe Thema, von dem Karl Hillebrand sagt: daß »wir« nicht mehr an die erlösende Kraft des Opfertodes Christi glauben und deshalb keine Christen mehr sind,...daß aber zugleich eben dieser Glaube zum wesentlichen Bestandteile der Geschichte gehöre, ohne welche diese ein unverständliches Buch sei...Hier muß irgend etwas nicht stimmen.
Es handelt sich jetzt darum: verfügt die Philosophie über das Mittel, das, was das Christentum seinen Glauben an die Erlösertat Christi nennt, in Wissen überzuführen? Hierbei möge dahingestellt bleiben, ob es jene sokratische Form des Wissens durch Nichtwissen annimmt. Wäre der Glaube nur ein abgeblaßtes Wissen, so würde er durch einen solchen Vorstoß der Philosophie zerstört werden; es bliebe nur Wissen übrig, und das wäre weniger als der Glaube. Da aber der Glaube als eine selbständige Macht im Objekte gründet, so wird er durch jenen Vorstoß nicht berührt. Das Problem kreist also um den Begriff des Opfers und: ob ihm wirkliche Bindungen ans Objektive zugrunde liegen.
Merkwürdigerweise ist nun das Opfer an einer sehr verschwiegenen und bisher nicht aufgefundenen Stelle in das Wesen der Geschichte eingebettet; dort findet man es, so wie man den Achat im Urgestein findet, und man muß erst das Problem jener zuende denken, ehe man mit dem Opfer zu Rande kommt. Ich habe diesen Tatbestand auf dem Wege langen Nachdenkens, nach langem Mühen schließlich herausgefunden und muß den Leser bitten, wider Erwarten noch einmal das schon behandelte Gebiet der Geschichte zu betreten; wir kommen heute von einer anderen Seite her.
Wenn ich von der »römischen Geschichte« oder von der »Geschichte des peleponnesischen Krieges« spreche und hinterher von der »Geschichte des Hauses I. P. Morgan« oder von der »Geschichte des Zeitungswesens«, so verspüre ich sofort, daß das zwei gänzlich verschiedene Dinge sind. Gäbe es diesen grundlegenden Unterschied nicht, so gäbe es auch keine Historiker, die Geschichte schreiben. Denn diese sind sich des durchaus Spezifischen ihres Metiers bewußt, sie haben ein sicheres Fingerspitzengefühl dafür, was ein geschichtlicher Stoff ist und was nicht. Freilich vermochten sie bisher nicht zu sagen, worin diese differentia specifica besteht, aber sie bemühen sich darum. So wie der Kunstgelehrte mit voller Sicherheit kraft der großen Übung sagen kann: dies ist Kunst und dies nicht! - so auch der Historiker. Ein ausgelernter Akademieschüler, der für eine Modenzeitschrift ein Pferd zeichnet und sich dabei das einzelne empirische Exemplar zum Modell nimmt, liefert niemals Kunst. Führt ihm aber die archetypische Idee des Pferdes die Hand, dann ist es immer Kunst, und man kann nur über ihren Höhenstand streiten. Ebenso ist ein Komplex von öffentlichen Handlungen, und mag er die Dimensionen eines Weltkonzernes haben, niemals Geschichte, weil das, was dort geschieht, ohne Rest aus den gewöhnlichen Bestrebungen der menschlichen Natur erklärbar ist: wohingegen es das ständig bewahrte Charakteristikum des Geschichtlichen ist, einen reinen Ereignisgrund zu haben, den man freilich nicht aussprechen kann, eben, weil er Idee ist und darum dem Objekte angehört. Die reine Geschichte ist das geheime Band, das alles Historische a priori verbindet und daher auch, im Reflex, alle Historiker. Setze ich sie nicht voraus, so fällt jedes Unterscheidungsmerkmal zwischen Geschichte und Geschäft fort, und es ist aus mit der Würde des Historischen. So wenig die Eiche ohne die Idee der Eiche sein und erkannt werden kann, so wenig jeder geschichtliche Vorgang ohne den reinen historischen Ereignisgrund. Davon sprachen wir schon. Aber nun geht es um den Inhalt.
Jedes Naturwesen hat sein Schema: es gibt von der Eiche jenes berühmte »Monogramm der Natur« (KANT: »der Einbildungskraft«), das, in uns eingeprägt, durch den geringsten Aufwand an Formelementen und gerade eben noch, aber sicher, das Bild der Eiche aufnötigt: ihren Habitus. Dieses Monogramm kommt zwischen der Idee und ihrer Erscheinung als Mischgebilde von Bild und Begriff zu liegen und flimmert gewissermaßen dort auf, um den Akt der logischen Subsumierung möglich zu machen. Bei den Menschen-Monogrammen ist das bekanntlich die große Verführung zur Karikatur. - Was nun für den empirischen Einzelgegenstand das Schema, das ist für die historischen Vorgänge der Mythos. Dieser aber ist so wenig wie jenes eine Sache der Einbildungskraft, er ist nicht etwa eine Art pseudologia phantastica der Völker über sich selbst, sondern, genau wie das Schema, ruht er unruhig im Objekt und meldet sich als »Monogramm« im Subjekt. Es gibt also eine objektive mythenbildende Kraft der Natur, die sofort den Menschenschlag, den sie ergreift, umgestaltet; ihr entsprechend aber eine mythengestaltende dichtende Kraft der menschlichen Seele. Beides ist durchaus zu trennen; sie strömen in jeweils umgekehrter Richtung. Die objektive Herkunft des Mythos ist unergründlich, wie die Natur selber, muß ja aber schließlich irgendeine Verbindung zu deren Tiefenereignissen haben.
Also nicht: die Griechen haben sich ihre Mythen ersonnen, sondern: der Mythos schuf die Griechen und nachher sangen ihre Aöden davon.
Die mythischen Kräfte verdichten sich im Heros. Das geschieht aber nur bei einem Teil von ihnen, der sich in der Ethik der Heroen bindet; ein anderer durchtränkt, unnachweisbar, das Unbewußte des Volksganzen, wobei viel in die Mysterien abfließt. - Wer also unseren Satz leugnet, daß der Kern alles Historischen in mythisch-heroischem Grunde lagert, gehalten vom System der reinen Geschichte, - wer das will, sage ich ,der setze sich hin und schreibe an der Hand unzähliger Akten eine Abhandlung über die Kriegskosten Friedrichs des Großen im Unglücksjahre 1759; dann aber, nachdem er diese Detail-Arbeit geleistet hat, behandle er in gleicher Weise die laufenden Jahresbilanzen eines bekannten Weltbankiers; und er wird finden, daß er im ersten Falle Historiker war, im zweiten aber Buchhalter. Die Grenze ist unübersteiglich, und der Herr wird Wert darauf legen, aus Gründen der guten Reputation beim ersten zu bleiben, auch, wenn er nicht weiß, warum. Jene Schranke aber, die das Mythisch-Heroische setzt, gleicht der Unzerstörbarkeit der Materie, die sich ständig erhält, auch, wenn jemand die Stoffe in ihre kleinsten Teile zerlegt. Die Kriegsbilanz Friedrichs des Großen ist nun einmal suo genere etwas anderes als der hundertmal größere Jahresabschluß eines Bankhauses. Dies spüren moderne Historiker recht gut, und es ist rührend zu sehen, wie der kluge Holländer Johann Huizinga versucht, Amerika eine historische Note zu geben dadurch, daß er nach mythisch-heroischen Motiven sucht. Er weiß ganz gut, daß hier der Angelpunkt liegt. Indessen: Geschichte muß alt sein, und zweihundert Jahre reichen nicht aus.
Ich habe, als Einzelmensch, mein Schema, das jedermann in wenig Strichen zeichnen kann. Das ist eine milde Sache, die nicht viel auf sich hat; zudem ist es stabil, denn mein empirischer Charakter ist es auch. Außerdem aber bin ich Schicksalsträger mit meinem Volk, d. h. ich habe eine historische Note und die ist nicht stabil, denn die Geschichte, der ich angehöre, legt in heftiger Bewegung: das ist der Mythos, dem ich verfallen bin. Für einen Deutschen ist es vorwiegend der Nibelungenmythos, unter dem er steht. Diesem Schicksal - auf der Etzelburg - zu entrinnen und es durch ein gnädigeres zu ersetzen, ist der immer wieder vergebliche Versuch der deutschen Geschichte gewesen. Früher gelang es einem der germanischen Stämme, ihm in Würde zu erliegen, so unter Teja am Vesuv; heute gelingt es nicht mehr. Ein sicheres Zeichen für den Untergang ohne Würde ist das Auftreten der Thersitesse, die ja eben gerade das tun, was dem Geschichtlichen ein Ende bereitet, und eine Fellachenzeit heraufbeschwören, die allemal der traurige Nachhall ist; sie leugnen das Mythisch-Heroische, entwurzeln damit die Geschichte, und kein Odysseus ist da, der ihnen das Handwerk legt.
Die Geschichte greift immer den Staat auf, nie die bloße Gesellschaft. Zoon politikón heißt »staatenbildendes Tier«, nicht bloß geselliges, denn das sind Rehe und Raben auch. Daher ist es charakteristisch für alle geschichtsverleugnenden Systeme, daß sie allemal auch staatsverleugnend sind; sie billigen dem Staate keine naturhafte Wurzel zu, sondern leiten ihn aus vertragsähnlichen Willkürakten des Menschen ab. Was also SHAKESPEARE den Odysseus in »Troilus und Kressida« (eigentlich ganz unenglisch) sagen läßt:

   »Ein tief Geheimnis, welches kein Bericht
   Noch je enthüllt, wohnt in des Staates Seele,
   Des Wirksamkeit so göttlicher Natur,
   Daß Sprache nicht, noch Feder sie benennt« -,

das wird von ihnen ausdrücklich und meist leidenschaftlich bekämpft. So mag Schopenhauer den Sinn des Staates und damit der Geschichte ableugnen: aber er unterliegt seinen Gesetzen, die er z. B. als Rechtsschutz benutzt. Er mag sich dem deutschen Befreiungskriege entziehen und seinem Freund August Goethe die Rolle eines Lützower Jägers überlassen, das ist das Vorrecht des Genius; aber ändern kann er es nicht, daß die staatlichen Dinge ihren Weg auch ohne ihn gehen. Staat aber ist, wie sein Gegenteil, die Revolution, stets verbunden mit Massenerregung, die nur im Falle des Staates gebändigt ist. An der nächsten Straßenecke kann es dem Philosophen begegnen, daß ein Hoch auf den König ausgebracht wird; an der übernächsten kann ein sozialistischer Agitator seine Versprechungen kundtun; er wird beiden, besonders dem zweiten, betont ausweichen, aber nur, weil er Schopenhauer ist. Jeder andere ist diesen Wellen der Massenerregung mehr oder minder preisgegeben.
Es findet nun, so könnte man es ausdrücken, im Laufe der menschlichen Geschichte ein stets blutiges Ringen um jene »Seele des Staates« statt, und zwar streiten sich zwei von Grund auf verschiedene Auffassungen um sie; es sind das die Demokratie und die Monarchie. Jede behauptet von sich, das Wesen des Staates am tiefsten begriffen zu haben und ihn selbst daher am besten vertreten zu können. Die Demokratie hat die Herrschaft des freien Bürgers zum Ziel, die Monarchie die des Königs von Gottes Gnaden. Beide haben ihre Zerrformen; die Demokratie kann in Pöbelherrschaft entarten, die Monarchie in Tyrannis. In den politischen Kämpfen aber wird das klare Urteil meist dadurch verhindert, daß willkürlich Urbild oder Zerrform füreinander gesetzt werden. Von diesem Unterschleif lebt die politische Propaganda. In Wirklichkeit haben beide in ihren Höhepunkten ein sehr nahes und bewunderungswürdiges Verhältnis zur »Seele des Staates«. Dabei muß man die Monarchie als das geschichtlich ältere ansehen, die Demokratie als eine Antwort auf Entartung zur Tyrannis, also als ein Zweites, mehr der vernünftigen Leidenschaft Entsproßnes. Keineswegs aber darf man die Demokratie als einen objektiven Fortschritt über die Monarchie verstehen; vielmehr sind beides abwechselnd auftretende Gewänder des Staates. Die geschichtsbefugten Demokratien sind durchweg in blutigem Kampfe und meist in heldenmütiger Aufopferung der reinen Geschichte abgerungen worden. So im Altertum die beiden großen Gebilde der hellenischen Polis und der römischen Republik. Auch die modernen westlichen Demokratien sind aus siegreichem Kampf unter dem Segen der Geschichte entstanden: so die Schweiz im Kampfe der Eidgenossen gegen Habsburg, Amerika im Kampf gegen den englischen König; Frankreich und England selbst aber haben sich ihre Demokratie blutig gegen das Königtum erstritten. Sie sind demnach geschichtsbefugt. Unbefugt dagegen ist die deutsche; denn sie wurde stets nur nach verlorenen Kriegen vom Feinde aufgenötigt; und während die westlichen im Kampf um die Freiheit waren, ist die deutsche nur der Ausdruck des Unterwerfungswillens. Ihr fehlen also schlechthin alle Merkmale geschichtlicher Befugnis. Die reine Geschichte Deutschlands und sein Mythos ist seit einem Jahrtausend auf die monarchische Staatsauffassung gestimmt; das aber läßt sich nicht durch Pädagogik ändern. Geschichte ist stärker als Gewohnheit eines knappen Menschenlebens.
Bei den Insektenstaaten läßt die Natur jene Massenerregungen geschlossen in der Art bleiben; wenn in einen Ameisenhaufen ein fremder Käfer eindringt, so entsteht spontan eine heftige Bewegung des ganzen Staates, der alle seine Kräfte einsetzt, um den Eindringling zu vertreiben. Das geht so in die Millionen Jahre ohne ƒnderung, und die Art der Ameise wir dadurch nicht berührt. Anders beim Menschen: hier greift die Natur tiefer in ihr archetypisches Potential. Die Massenerregungen gefährden ihn, können ihn umbilden und gar zerstören. Man darf sich durch die Tatsache, daß es in unserem barbarischen Zeitalter im wesentlichen nur solche gibt, die um den Hunger kreisen, nicht darüber hinwegtäuschen, daß es auch andere gab, durch die das Altertum seine Prägung erfuhr. Denn eine dieser Erregungen, bei der die Natur sehr tief in sich selbst hineingreift, ist die mythische.
JACOB BURCKHARDT hat im Beginn seiner »Griechischen Kulturgeschichte« das wahrhaft konstitutive Verhältnis der Griechen zu ihrem Mythos meisterhaft dargestellt: »Der Mythos als eine gewaltige Macht beherrschte das griechische Leben und schwebte über demselben wie eine nahe herrliche Erscheinung. Er leuchtete in die ganze griechische Gegenwart hinein, überall und bis in späte Zeiten, als wäre er eine noch gar nicht ferne Vergangenheit, während er im Grunde das Schauen und Tun der Nation selbst in höherem Abbilde darstellte«. Dieser Schlußsatz zeigt freilich noch jene subjektivistische Betrachtungsweise, mit der man nicht zu Rande kommt. »In diesen früheren Zeiten sind die Griechen a priori mythisch gesinnt«, das heißt: es gehört eo ipso zum Griechen, mythisch zu sein. Im übrigen war er historisch, mochte er wollen oder nicht. Das Historische aber wurde ihnen erst durch ihre großen Geschichtsschreiber beigebracht; sie haben es lernen müssen, weil es schließlich Hand und Fuß hatte, aber sie haben es ausgesprochen ungern getan. »Die Erinnerungen an Großtaten der historischen Zeit sind, einige wenige Schlachtfelder ausgenommen, wo die Totenopfer an den Kriegsgräbern das Andenken wach hielten, so viel als Null; es gab niemandem zu denken, wo einst ein Solon, ein Perikles, ein Demosthenes in entscheidenden Augenblicken möchte aufgetreten sein, während man über die klassischen Stellen der Fabelzeit auf das genaueste Bescheid wissen wollte.«
Diese seltsame Geistesverfassung, die aber zu den glücklichsten gehört, die ein Volk haben kann, erklärt sich daraus, daß das Mythische ein polarer Vorgang ist und nicht, wie das Wort mythos anzudeuten scheint, im bloß sprechenden Subjekte ankert. Es spaltet sich also auf in »objektive mythische Kräfte« und »subjektive mythenbildende Tätigkeit« dichterischer Art. Die Vorherrschaft und Überstärke der objektiven Kräfte aber wird dadurch erwiesen, daß es über den Mythos einen consensus gibt, man also nicht Mythen willkürlich machen kann; ferner durch das riesenhafte Interesse, das an ihnen genommen wird. Denn Nur-Subjektives ist auf die Dauer uninteressant. Nur die tiefe Überzeugung, daß der mythenbildenden Phantasie etwas entspricht, das nicht von ihr erfunden ist, gibt dem Mythos jene Kraft, die sogar das handgreiflich Geschichtliche in den Schatten stellt und ein ganzes Volk jahrhundertelang in Spannung halten kann.
 

8. DER OBJEKTIVE MYTHOS UND SEINE HERKUNFT
Es gibt in der Natur Rudimente, welche anzeigen, daß dort früher einmal ein volles Organ stand; je nach dem Grade seiner Rückbildung kann man mit mehr oder minder großer Deutlichkeit die Funktion und den Bau des ehemals lebendigen Organes erkenne. Ich will ein Beispiel für die Wirksamkeit des objektiven Mythos in rudimentärer Form an einem Krankheitsfalle geben:
Zu mir kam einst ein Patient, der litt in furchtbarer Weise an einer nicht zu bezähmenden Angst vor »bellenden Hunden« und »flügelschlagenden Vögeln«. Er war ein starker, sonst mutiger Mensch, der natürlich genau wußte, daß diese Tiere ihm nichts taten; auch hatte seine Angst nichts mit deren Größe zu tun. »Finden Sie nicht«, sagte er, »daß es etwas ganz Fürchterliches ist, wenn ein Kanarienvogel im Bauer jemandem, der ihm Zucker geben will, flügelschlagend und fauchend in den Finger beißt...?« - Woher kam diese unerklärliche Angst? Ich versuchte es zunächst schulgerecht mit der Freudschen Methode. Allein die lange und geduldig ausgeübte Behandlung schlug fehl, und nichts regte sich. Die Kausalkette wollte vor allem auf nichts Sexuelles führen. Da entschloß ich mich zur anderen, von C. G. Jung ersonnenen Behandlungsart und gab dem Patienten auf, einen Bleistift in die Hand zu nehmen und den Inhalt seiner Angstvorstellungen zu zeichnen. Er wandte ein, er habe noch nie in seinem Leben gemalt oder gezeichnet; ich meinte aber, es würde schon gehen und er solle sich nur einfach von seinen Vorstellungen wie willenlos die Hand führen lassen; es käme nicht darauf an, daß er ein getreues Abbild liefere, sondern nur, daß eben diese Vorstellung ganz unmittelbar ohne jeden Anspruch auf künstlerische Qualität sich durch seine Hand manifestierten. Ich hatte auch inzwischen bemerkt, daß, wenn ich Reizworte, wie »Vogel Rock«, »Harpyien«, »Vogel Greif« oder ähnliche aussprach, oder wenn ich ihm Tafeln von vorweltlichen Tieren zeigte (Schrecksauriern), er in eine merkwürdig unruhige Bewegung geriet. Von dieser aber wollte ich ein Abbild haben. Zur nächsten Sunde kam er mit deutlichen Anzeichen der Erleichterung, die sich schon im Gang bemerkbar machten. Er legte mir drei Bleistiftzeichnungen vor. Die erste stellte ein Fabelwesen nach Art des Höllenhundes Kerberos vor; die zweite ein unheimliche Vogelgestalt, sitzend mit hängenden Flügeln und zweihufigen Füßen; die dritte, die einen künstlerischen Einschlag verriet, einen großen Vogel mit mächtigem Geierkopf, hart nach unten gebogenem Schnabel, und dabei, was das Merkwürdige war, mit zwei Füßen, an denen je eine Riesenkralle war. Das waren also alles sagenhafte Gebilde mit Anlehnung an die Wirklichkeit, aber offenbar nicht ihr entnommen. Denn der Patient äußerte sich, er habe so etwas noch nie gesehen und er sein beim Zeichnen nur seiner Eingebung gefolgt. (Das kann man vielleicht beim »Kerberos« noch einigermaßen bezweifeln). Er fühle sich nun aber sonderbar erleichtert und möchte gern wissen, woher das komme und was das sei.
»Was das ist« - sagte ich - »kann ich Ihnen nur vermutungsweise sagen; aber was das nicht ist, mit Sicherheit; auch, wo es liegt, werde ich Ihnen verraten können. Ich muß hier aber leicht mythologisierend sprechen; denn anders will der Gedanke in diesem Falle nicht in die Sprache hinein. Das aber liegt daran, daß dieses gedankenlose Zeitalter der Meinung ist, zur Ergründung der Wahrheit sei nur das da, was es »die Wissenschaft« nennt. Es gibt aber weite Strecken im Erkenntnisprozeß und nicht die schlechtesten, die nur vom Dichter ausgefüllt werden können, und auf solche werden wir bald stoßen. ÇWissenschaftë ist stets nur ein Mittel für die Wahrheit und manchmal sogar, um mich mit NIETZSCHE auszudrücken Çein fein gesponnenes gegen sieë. Als Sie zu mir kamen, waren Sie, wie alle Patienten der Meinung, daß Ihre Krankheit eine Art psychischer Tumor sei, der vom Arzt etwa in der Hypnose fortoperiert werden könne. Es stellte sich aber bald heraus, daß dieser Vergleich nicht stimmte; denn Sie waren ja ganz und gar besessen von Ihrer Krankheit und an eine Lokalisierung war gar nicht zu denken; es war eine Krankheit Ihrer selbst. Und diese war eine zusammengesetzte Größe; fragt sich nur woraus? Durch den Akt des Zeichnens nun haben sie, wie in der Chemie, eine Scheidung vorgenommen, und zwar zwischen sich selbst und dem Inhalte Ihrer Angstvorstellungen, deren Abbilder plötzlich auf dem Papier standen. Und was Sie mit dem größten Staunen erfüllt: Sie sind auf einmal frei davon. Diese Phobien konnten nun zweierlei Ursprung haben: erstens individual-psychisch, in dem sich Ihre Sexualität durch Verdrängung in Angst verwandelte - was sie tut - und sich nun die Angstinhalte (Hunde, Vögel, usw.) aus dem empirischen Leben nach dem Gesetz der Assoziation herausgeholt hätte. Das ist die Methode Freuds, nach der wir zuerst die Behandlung versuchten. Da sie aber zu keinem Ergebnis führte, so mußten die Angstinhalte eine andere Herkunft haben. Diese Methode Freuds ist nicht etwa falsch, sondern sie erklärt nur diejenigen Fälle von Neurose und Traum, die wir selbst in unserm Unbewußten inszeniert haben. Nun gibt es aber außer dem individuellen Unbewußten noch ein sogenanntes Çkollektivesë, das Gemeingut des Menschengeschlechtes ist und von C. G. Jung entdeckt wurde. Dessen Inhalte sind autonom und werden nicht vom Individuum erzeugt. Es ist ein Unterschied, ob ich von meinem Vater träume oder ob mir mein Vater im Traum erscheint; dieser zweite Fall setzt den Eingriff eines Psychisch-Objektiven, von außen Kommenden voraus. Die Griechen haben das gewußt und unterschieden daher die ((enupnia)), die ich selber mache, von den ((oneirata)), die von den Göttern stammen; und nur diesen galt ihre Aufmerksamkeit. So auch stammen jene angsterregenden mythischen Fabelwesen nicht aus der Einzelseele, sondern sie sind psychisch-objektiv, das heißt autonom, und dringen von außen her auf den einzelnen ein. Ob sie überhaupt objektiv sind, diese Frage hat die Psychologie nicht angefaßt, und sie hat auch nicht die Mittel dazu. Daß aber die mythischen Gestalten nicht willkürlich gebildet werden können, also ein consensus des Mythischen besteht, das erklärt sich aus dem kollektiven Unbewußten. Die Erkrankung nun, das heißt in Ihrem Falle die Angstneurose, entsteht dadurch, daß Sie irgendwann in einem unbedachten Augenblick, der einem Infektionsmoment ähnelt, diese Gebilde in sich hineingelassen haben, so daß sie überrumpelt wurden. Auf einmal waren Sie ein Gefangener dieser Mächte, und alles Anrennen dagegen half Ihnen nichts; denn wie immer, so auch hier, ist das Objektive das Stärkere. Eine besondere Infamie der Neurose ist es nun, in Ihnen die Überzeugung zu wecken, daß sie in Ihnen stecke, wie ein Tumor im Gehirn. Von hier an beginnt die Verzweiflung. Durch den Akt des Zeichnens nun haben Sie die Lage geklärt; Sie haben die Angstvorstellungen objektiviert und sich selbst gegenübergestellt; von Stund an waren sie ein freier Mann. Denn ins Objekt gehören sie hin. Außerdem haben Sie damit einen kulturhistorisch bedeutsamen Prozeß in verkleinerter Form wiederholt; denn die ganze Menschheit hat von jeher dasselbe getan: sie hat die andrängenden psychischen Mächte, die sie zu erdrücken drohten, durch bildliche und worthafte Mittel gebannt. Diese Zaubermittel sind von Natur häßlich, dennoch sind sie die Basis für die bildende Kunst und die Dichtung, indem die Schönheit sich ihrer bemächtigt. Dieser große Griff ist erst den Griechen gelungen, und er bedeutet ihre Unsterblichkeit.«
Man beachte also die Stadien des Heilungsprozesses, der hier vor sich ging: erst nimmt der Patient seine Phobien als »psychischen Tumor«, der in ihm liegt. Durch den Akt des Zeichnens wird dieser zerlegt, und zwar in einen objektiven und einen subjektiven Teil. Das Blatt Papier aber, das er mit den Zeichnungen in der Hand hält, gehört zu den »Werken der Kultur«, also hier der bildenden Kunst. Das, was ihm die Hand führte, sind die amorphen mythischen Mächte. Im Augenblicke des Vollzuges aber ist der Patient frei, »steht auf und wandelt«. Zwar gehört hierzu noch etwas Drittes, das hier nicht behandelt werden kann, sondern seinen Platz in dem Kapitel über den »pathologischen Ort« im »Traktat über die Heilkunde gefunden hat. Ferner verweise ich auf die Gestalt der »Priesterin der Astaroth«, bei welcher derselbe Prozeß vorlag. Freilich: Orestes wird die Erinnyen auf diese Weise nicht los: »siehst du die Höllen-Drachenbrut...?« Hierzu gehört noch etwas mehr; denn diese Phobie sitzt im Ethischen fest, einer bedrückenden Realität mehr, und hier versagen alle psychologischen Methoden.
 

Neuentstehende Einzelwissenschaften werden, wenn ihre Resultate Aufsehen erregen, leicht von einer eigentümlichen Expansionssucht befallen, die in einer Richtung zu verlaufen pflegt, in der ihre Bedeutung gerade nicht liegt. Der Sinn der Entdeckung C. G. Jungs liegt darin, bewiesen zu haben, daß es Objektiv-Psychisches überhaupt gibt. Bisher stellte man sich unter dem »Psychischen« stets das Subjektive par excellence vor; seit Jungs Kollektivum wird es wie von einer Art Zellteilung befallen: und auf einmal stehen sich in ihm selbst Subjektives und Objektives gegenüber. Und das ist ein bedeutender Schritt in die übrige Natur hinaus. Der aber wird von der Psychologie nicht getan, und sie hat auch nicht die Mittel dazu; statt seiner kommt gewöhnlich ein unhaltbarer Panpsychologismus zustande. Aber das psychologische Subjekt ist nun einmal, man mag sich drehen und wenden, wie man will, nicht dasselbe wie das transzendentale; doch es ist leichter zu verstehen und daher populärer. Gewonnen aber ist das Eine: wir können heute und immer im Sprechzimmer des Arztes feststellen, daß es objektiv-mythische Kräfte gibt, die sich hier in rudimentärer Form melden.
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Wäre es so, wie die Menschen vor Lamarck und Darwin dachten, daß die Tierwelt seit endlosen Zeiten von der Schöpfung an fest an ihre Arten gebunden sei, die sich als ewige Ideen im Welthintergrunde befinden und sich niemals bewegten, so wäre in der Welt nichts los; es passierte nichts, was sich eines Liedes lohnte. Wäre es aber so, wie es sich Lamarck und Darwin dachten, daß diese Arten selber in der empirischen Welt durch Anpassung, Vererbung, Kampf ums Dasein entstanden wären und gar keine Wurzel im Welthintergrunde hätten (LAMARCK: »es gibt keine Arten, sondern nur Individuen«), so wäre gleichfalls nichts los. Es ist aber etwas los, das des Liedes wert ist, nämlich Geschichte. Durch die Entdeckung des kollektiven Unbewußten ist ein Stück Bahn zur Klärung ihrer Fragwürdigkeit frei geworden, das es vorher nicht gab und das sein Entdecker C. G. Jung wahrscheinlich nicht einmal anerkennen würde. Indessen, es ist oft vorgekommen, daß Entdecker keine Macht über ihre Entdeckung haben. Seltsamerweise hat nun der bedeutende Mann für gewisse »Kategorien der Einbildungskraft«, »Formen a priori der Phantasie« den Ausdruck »Archetypen« gewählt, der neben drei oder vier termini seiner Psychologie ständig und dominierend auftritt. Er will ihn von Augustin entlehnt haben. Es ist mir nicht gelungen, die Notwendigkeit für die Verwendung dieses Wortes bei ihm einzusehen; diese psychologischen »Archetypen« hätten auch anders benannt werden können, und dadurch wäre die Verwechslung mit dem Wort, wie es das Altertum brauchte, vermieden worden. Dieses Wort nämlich wird fast mit Notwendigkeit der Sprache abgewonnen, und es erläutert die platonischen Ideen und schützt sie vor Mißbrauch, und da es bisher, wenn überhaupt, nur in diesem Sinne verwendet wurde, so liegt hier ein tiefbegründetes Prioritätsrecht vor. Wenn wir also von Archetypen sprechen, so meinen wir niemals psychologische wie Jung, sondern metaphysische, wie Platon.
Es wäre also nichts los in der Welt, das des Liedes wert wäre, wenn eine der beiden Thesen über den Ursprung der Tierarten richtig wäre. Sie sind es aber nicht, sondern es hatte sich herausgestellt, daß jenes staunenerregende Phänomen der Entwicklung, auf das man stieß, als man die ersten Funde vorweltlicher Knochenreste freigrub, seine Wurzel in den Archetypen der Art hat. Hier bewegt sich etwas, und was nun als Entwicklung in der empirischen Welt erscheint, ist ein Produkt der Anpassung, die gelingt oder fehlschlägt. Auf jeden Fall spielt sich ein paläontologisches Drama von größter Tragweite ab, das in den erdgeschichtlichen Zeitaltern seine Szenenbilder findet.
SCHOPENHAUER hat es hier wieder einmal, wie so oft, verstanden, der Natur hinter die Kulissen zu schauen. Seine Lehre von der Einheit des Willens gibt Aufschlüsse, die sonst keine Philosophie zu bieten vermag, möge sie im übrigen besser fundiert sein. »Jede Thiergestalt, ist eine von den Umständen hervorgerufenen Sehnsucht des Willens zum Leben: z. B. ihn ergriff die Sehsucht, auf Bäumen zu leben, an ihren Zweigen zu hängen, von ihren Blättern zu zehren, ohne Kampf mit andern Thieren und ohne je den Boden zu betreten: dieses Sehnen stellt sich, endlose Zeit hindurch, dar in der Gestalt (platonische Idee) des Faulthiers. Gehen kann es fast gar nicht, weil es nur auf Klettern berechnet ist: hilflos auf dem Boden, ist es behend auf den Bäumen, und sieht selbst aus wie ein bemooster Ast, damit keine Verfolger seiner gewahr werde.« (»Wille in der Natur«, zweite Auflage; S. 35. Sperrungen von mir.) Dieses »Faulthier-sein-wollen« ist es, das wir meinen und auf das wir jetzt unser Augenmerk richten. Oder »So z. B. hat der Ameisenbär nicht nur an den Vorderfüßen lange Klauen, um den Termitenbau aufzureißen, sondern auch zum Eindringen in denselben eine lange cylinderförmige Schnauze mit kleinem Maul und eine lange, fadenförmige, mit klebrigem Schleim bedeckte Zunge, die er tief in die Termitennester hineinsteckt und sie darauf mit jenen Insekten beklebt zurückzieht; hingegen hat er keine Zähne, weil er sie nicht braucht. Wer sieht nicht, daß die Gestalt des Ameisenbären sich zu den Termiten verhält wie ein Willensakt zu seinem Motiv? (Sperrung von mir.) Dabei ist zwischen den mächtigen Armen, nebst starken, langen, krummen Klauen des Ameisenbären und dem gänzlichen Mangel an Gebiß ein so beispielloser Widerspruch, daß, wenn die Erde noch eine Umgestaltung erlebt, dem dann entstandenen Geschlecht vernünftiger Wesen der fossile Ameisenbär ein unauflösliches Rätsel seyn wird, wenn es keine Termiten kennt.« (ebenda S. 39)
Der Ameisenbär wäre also die gelungene Fleischwerdung des Verlangens, sich von Termiten zu nähren, das den Charakter des sonderbaren Lebewesens bestimmt. Aber man unterscheide: das Fressen von Termiten ist ein empirischer Willensakt und mit jedem andern, auch uns bekannten, vergleichbar. Das Verlangen aber, solch ein Lebewesen zu werden und in der Welt vorzukommen, dieses Verlangen, von dem man nicht wissen kann, ob es sich durchsetzt, dieser Wille zum Leben überhaupt ist nicht vordergründig-empirisch, sondern dämonisch; aber doch eben »Wille«. Wer sah hier so tief wie Schopenhauer! Fast gelang es ihm an dieser Stelle, uns vorzumachen, daß wir uns selber geschaffen hätten! Er gibt sich reichliche Mühe darum.
Solche extremen Tierformen, wie das Faultier und der Ameisenbär hat es unzählige in der uns bekannten Fauna gegeben. Sie wirken wie Herausforderungen, und sie sind es auch. Denn ihr Wollen ist partikulär; Faulsein wollen und Termitenfressenwollen und das als Lebensinhalt, das ist fast frivol. Aber die Natur hat sie zugelassen. Nirgends besser als an diesen Tierformen aber kann man SCHOPENHAUERs Satz bestätigt finden, daß die äußere Form der »sichtbar gewordene Wille« ist. Schnauze, Magen und Darm sind der »Hunger von außen gesehen«, die Genitalien die Wollust von außen. Und niemand sieht anders aus als so, wie er im Grunde seines Wesens sein »will«. Wer ein Antlitz trägt wie das Spinozas, der kann nicht Kompaniechef bei Wallenstein sein wollen - selbst wenn er es »wollte«. Dieses Wollen schon ist unmöglich, und das ist es, was LUTHER das »servum arbitrium« nannte.
So hat es besonders im Tertiär Tierformen gegeben, bei denen es uns heute schwer fällt zu sagen, was sie eigentlich »wollten«, so die Schrecksaurier und jene Zwischengebilde von Vogel und Flugechsen, die wir dann - aus jetzt bald klar werdenden Gründen - in den Mythen wiederfinden. Denn jene Gebilde sind von vornherein, darüber herrscht Einmütigkeit, stark bedroht. Würden eines Tages die Termiten beginnen, auszusterben, so stünde ein so extrem spezialisiertes Lebewesen wie der Ameisenbär am Rande des Verhängnisses. Es fiele eine Entscheidung. Bildete sich die Körperform durch Anpassung etwa auf den Genuß von Ameisen und Bienen um, so wäre das ein Zeichen für die Lebensfähigkeit des Typus »Ameisenbär« und sozusagen seine Zugehörigkeit zur offiziellen Fauna. Oder aber, die Umbildung unterbleibt: dann steht er auf dem Aussterbeetat. Und es ist hier Gelegenheit, ein logisches Exerzitium zu wiederholen: das Aussterben der Termiten wäre die Ursache für das des Ameisenbären; der Grund aber läge in der archetypischen Schwäche und dem verhängten Schicksal. Seine Stunde hätte geschlagen. Ebenso ist es bei Tierarten, die plötzlich einen mächtigen Feind erhalten, der sie mit Ausrottung bedroht. An einer bestimmten Dezimierungsgrenze setzt dann als Gegenwirkung vom Archetypus her ungeheure Fruchtbarkeit ein; bleibt sie aus, so ist ihr Schicksal besiegelt.
Jene Stelle, die Schopenhauer sah, als er vom Faultier und vom Ameisenbären sprach, ist eine Welt-Stelle. Aber sie wurde von ihm ungenügend ergründet, da er die Achse der Natur nicht kannte. Denn in dem »Ameisenbär-sein-Wollen« ist zweierlei enthalten: erstens der »Wille zum Dasein«, der im Gegensatz zu zum bloß empirischen dämonisch ist. Darunter verstehen wir nicht einen verstärkten, rasenden empirischen Willen, im Volkston geredet, sondern eine Variante von ihm, die ihre Kraft unmittelbar aus dem archetypischen Potential der Natur bezieht. Dämonischer Wille ist daher qualitativ anders und kann, je nach dem Lebewesen, das ins Dasein treten will, von ganz verschiedener Art sein .Der Zeisig hat einen anderen als der Brontosaurus. Was der Zeisig »will«, können wir leicht ablesen; jene ungeheure Heiterkeit und Grazilität, die jedesmal in uns einbricht, wenn das Tierchen an uns vorüberfliegt: diese ist auch »dämonisch«, sowie wir sie als Daseinsimpuls verstehen. Hinzu kommt hier das logoshafte Element, das heißt, die bestimmte Form. Logoshaft heißt es nach dem archetypischen Potential zu gewendet; denn es ist ja die Urform, die hier besiegelt wird. Nach dem Subjekt zu gesehen aber stoßen wir auf den empirischen Begriff, der mit allen andern, sowie mit den reinen Verstandesbegriffen durch die Logik verbunden ist. Das alles aber ist in jedem Zeisig, der am Zweige der Birke hängt, lebendig, und ohne dies wäre sein Dasein so wenig möglich wie ohne Materie.
Die Wissenschaft der Paläontologie, die seit einem Jahrhundert sich so erfolgreich aufgetan hat, zeigt uns nun, wie seit Jahrmillionen Tiergestalten ins Dasein drängen, die oft bald wieder zurückgenommen werden, bald aber, wie etwa das Pferd, mit gewaltiger Persistenz die Erdzeitalter überdauern, um sich schließlich, einem sonderbaren Drange gemäß, in den Schutz des Menschen zu begeben. Beim Walfisch wiederum hat man das Gefühl: hier hat ein Lebewesen nicht recht gewußt, was es eigentlich sein wollte. Andere Mischgestalten machen den Eindruck des Frevels; so die fürchterlichen Zwischengebilde von Vogel und Echse, wie wir sie in der Trias finden. Und es sind überhaupt Mischformen, die später so grausige Verwüstungen im kollektiven Unbewußten des Menschen anrichten sollten; so etwa die zwischen Schlange, Echse und Vogel, die als Drachen auftreten. Man sieht hier, daß von den allgemeineren archetypischen Machtgebilden, die sich in der Logik als Gattungen widerspiegeln, besonders heftige Vorstöße in jenes Gebiet der doppelt- und dreifach durchwobenen Tiergestalten unternommen werden. Freilich sind es immer verwandte Gattungen, in denen die Natur experimentiert, und keine Kentauren, Chimären und Sphingen, in denen der subjektive Mythos antwortet. Andrerseits könnte vom archetypischen Potential der Gattung der Caniden her sehr wohl einmal ein bösartiges Lebewesen in die Welt getreten sein, das, heute ausgestorben, die Griechen zur mythischen Vorstellung vom dreiköpfigen Kerberos gebracht hat.
Man kann sich mit dichterischer, aber doch wahrheitsforschender Phantasie jene kosmologischen Szenen vorstellen, in denen aus der Tiefe des platonischen Welthintergrundes hervorkommend tierische Wesen in die empirische Welt einzudringen versuchen, die dort bisher noch nicht erschienen waren. Das gäbe für einen Dichter homerischen Maßes ein Bild ähnlich dem der Unterweltszene der Odyssee, da die kraftlosen Häupter der Verstorbenen zum Opferblute drängen, das Odysseus bereit hält. Aber nicht alle werden herangelassen, viele müssen in den dunklen Erebos zurück. So drängen sich jene archetypischen Urgestalten - die noch gar nicht Gestalt sind -, die etwas Bestimmtes oder noch Unbestimmtes sein wollen, an die Keimbahnen der schon lebenden Arten heran, unterschleichen sie in der Hoffnung, sie umzubilden und ihnen ihren Stempel aufzudrücken. Vielen gelingt das, und es folgt nun, nachdem sie unter das principium individuationis getreten sind, die Probe aufs Exempel: ob sie den Kampf ums Dasein bestehen und so eine neue Art sich im Leben festklammert, oder ob sie frühzeitig zum Rückzuge gezwungen werden. Das große in Kalkstein geschriebene Buch der Erdzeitalter jedenfalls meldet uns, daß dieses Schauspiel stattgefunden hat. Die fossilen Knochenreste untergegangener Arten sind da, die von jenem Ringen der Tierformen ums Dasein Zeugnis ablegen. Aber der »Wille zum Dasein« und sein Formcharakter - wo ist der?
Zu jeweils gleicher Zeit aber lebte der Mensch. Es gibt keine Möglichkeit, sein Leben auf dieser Erde zu limitieren und zu sagen: »damals gab es noch keine Menschen«; denn der Anpassungskoeffizient ist eine unbekannte Größe. Die Wissenschaft der Paläontologie jedenfalls rechnet heute mit einem hohen Alter des selbständigen, vom Tiere unableitbaren Menschenstammes. Der Mensch aber kann jenen dämonischen Willensakt, wie ihn der Ameisenbär oder das Faultier vollzieht, nicht begehen. Er kann nicht sagen »Ich will Mensch sein« im selben Sinne wie jene. Ameisenbär und Faultier tun es aus der Kraft der übergeordneten Gattung heraus, der sie angehören, im Anschluß an sie und dem archetypischen Willen zur neuen Art, die sie sein wollen; und immer gibt es nur die Spannung zwischen der Art und den Individuen, auf die sie lossteuern. Der Mensch aber hat keine Art im gesicherten Sinne der Tierheit. Mensch kann niemand sein wollen. - Oder wie ist jenes eisige Schweigen im Schöpfungsbericht des Buches Genesis zu verstehen, das immer überlesen wird...? Es wird ausdrücklich und vernehmlich verschwiegen, daß der Mensch eine »Art« habe, während alle anderen Lebewesen ebenso ausdrücklich »nach ihr« geschaffen werden ((kata to genos auton))* Der Mensch ist Person; auf sie würde er stoßen, wenn er jenen Willensakt begehen könnte, und davor zurückschrecken. Hier liegt die Grenze, die Schopenhauer übersah, als er meinte, man habe sich selber geschaffen. Würde so etwas möglich sein, wie, daß ein Wesen sagt »Ich will Mensch sein« - es fiele beim Vollzuge in jene Kluft, die zwischen den zwei Schöpfungsakten Gottes sich auftut, tief hinein und hörte unten dann noch die Stimme: »Adam, so bist du...?« Das aber kann niemand auf sich nehmen wollen. - Der Mensch steht aller Tierheit als Ausnahme gegenüber.
Der Augenblick, da der letzte Brontosaurus verendete, machte den Dämon der Art frei; von nun an gab es nichts mehr, das da sagte »ich will Brontosaurus sein«. Da aber nichts verloren gehen kann, die Natur zudem ein transzendentales Kontinuum ist und die Art dem Objekte angehört, wenngleich sie sich im Intellekt als Artbegriff spiegelt, so entsteht die Frage: Was wird aus dem Dämon dieser Art, wenn ihre empirischen Individuen sterben? Das Grab des Fleisches und der Knochen ist dort, wo wir sie finden: im Kalkschlamm der Trias. Das Grab des Dämon aber ist gleichfalls dort, wo wir ihn finden: im kollektiven Unbewußten des Menschen. Und zwar befindet er sich dort im Erkenntnisstadium des Schemas. - Es besteht auch nicht der leiseste Unterschied zwischen der Auffindung von Knochenresten im Kalk der Trias und der von mythischen Gestalten im kollektiven Unbewußten krankgewordener Menschen, wie meines Patienten. Nur daß die mythischen Gebilde einer ständigen sekundären Bearbeitung durch die subjektive mythenbildende Kraft unterliegen: also lebendig geblieben sind und erhalten werden. Von nun an wird alles ganz licht und klar, bald wird sich das Rätsel von Geschichte und Opfer lösen, und die Einheit der Natur leuchtet in ihrer vollen Kraft. Es geht nichts verloren.
Die sich unter unseren Händen zu Ende formende Theorie des objektiven Mythos hat in den letzten Jahrzehnten Fortschritte gemacht, wenn auch in die falsche Richtung. Immerhin war es ein Gewinn, daß man die Herkunft von Sage, Mythos, Märchen nur in der freien Phantasie des spielerischen Subjekts zu suchen aufgab, weil sich sonst der Konsensus mit seinem eigentümlichen objektiven Gefühlston nicht erklären ließ. Es mußte etwas geben, das die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Mythenbildung erhellte; das aber konnte nur etwas Objektives sein. Da verfiel man nun auf die simpelste, aber auch gedankenloseste Erklärung: der Mensch, dessen mesozoisches Alter man inzwischen gefunden, hat die letzten Saurier eben einfach gesehen, und das weiter erzählt! Und an diese Erzählungen knüpfte sich dann die breite Ausschmückung durch die Phantasie. Das aber ist leicht zu widerlegen: Die Augenzeugen des Unterganges der »Titanic« im Jahre 1912 haben etwas weit Furchtbareres gesehen als es schließlich der immerhin gewohnte Anblick eines Riesensauriers war. Jene welterregende und symbolhafte Katastrophe ergriff damals alle Gemüter und schuf für lange Zeit eine Art Massenfurcht vor dem Meere. Das sind nun fünfunddreißig Jahre her, und heute weiß man kaum noch etwas davon. Und da soll der Anblick der Saurier und Flugechsen Erdzeitalter überdauern, auch wenn man ein hierzu extra erfundenes Erbgedächtnis zu Hilfe ruft! Zudem - und das ist ja die Hauptsache - erklärt diese Erinnerungstheorie die Tatsache nicht, daß die Dämonen der ausgestorbenen Tierarten ja im Gemüte des Menschen noch heute lebendig sind, und zwar ungeschwächt. Was mein Patient durchmachte und was sein Leben zu zerstören drohte, war ja nicht bloß erinnerungsmäßige Vorstellung von Kerberos und Sagenvögeln, sondern deren Dämonen trieben ihn um und hetzten ihn in die Verzweiflung - solange er die falsche Haltung zu ihnen einnahm. Kurzum: die Angst ist nicht zu erklären. Und man braucht nur die Krankengeschichten der modernen »Dämonischen« durchzulesen, um unwiderleglich zu finden, daß diese Dämonen, eingebettet im kollektiven Unbewußten des Menschengeschlechtes, noch heute lebendig sind. Die Forschungen C. G. Jungs haben gezeigt, daß sie die religiösen Kultvorstellungen in der gesamten Geschichte der Menschheit beherrschen, und wir werden bald finden, welchen Anteil sie am eigentlich Geschichtlichen im Sinne von Historie haben.
Aber vor welch einer Wundertat der Natur stehen wir hier! Und bald wird sich dazu noch eine der griechischen Sprache gesellen. Der letzte Schrecksaurier verendet, weil er den Kampf ums Dasein aufgeben muß; das was sein Leben früher möglich machte, dieses intime »ich will Schrecksaurier sein«, gelingt nicht mehr; er kann es nicht mehr wollen. Fleisch und Knochen versinken im Triasschlamm. Aber der Archetypus wird frei; dies natürlich nicht im Sinne des naiven Realismus, als »Ding an sich« herumlaufend, sondern gebunden an den subjektiven Pol der Achse der Natur, die in diesem Augenblicke leicht erbebt. Der Archetypus nun schwebt nicht unabhängig von den unzähligen andern umher, sondern er hat mit ihnen eine gemeinsame Basis von logoshafter Natur, die wiederum sich in der Logik fängt. So hat es uns Johannes tiefsinnig gelehrt. Denn der Archetypus ist natürlich weder Materie noch Wille. Logos aber heißt »Wort«. Diese logoshafte archetypische Macht nun kann keinen Augenblick frei in der Luft schweben, sondern im Momente des Verendens schlägt sie - selbst ihrer unbewußt - um und sucht im kollektiven Unbewußten des im Innersten anders gebauten Menschenstammes Unterkunft. Dort eingebrochen wird sie als Dämon spürbar, was sie von jeher war, nur jetzt rein und gewissermaßen filtriert; und so greift sie in das Schicksal des Menschengeschlechtes ein. Wir wissen, was für eine Dämonenfurcht besonders wilde Völkerschaften zu haben pflegen. - Es gibt aber eine Möglichkeit, dem andrängenden Dämon entgegenzuwirken, und zwar vom eben entstandenen objektiven Mythos aus. »Mythos« aber heißt gleichfalls »Wort«. Während aber Logos sowohl das schöpferische wie das logische Wort bedeutet, ist Mythos immer nur das sprechende. Kaum also, daß jene Umschichtung aus der empirischen Natur der Tierarten in das kollektive Unbewußte vollzogen ist, hat sich auch schon die Wurzel des Mythischen in Zauberwort und Dichtung befestigt. Beide stehen im Dienste der Abwehr vor den andrängenden dämonischen Mächten. Das erste übernimmt der Schamane oder Opferpriester, das zweite der »heilige Sänger«. Beide haben in der lateinischen Sprache sogar dasselbe Wort: vates. Denn die menschliche Phantasie hat inzwischen begonnen, sich des Mythos zu bemächtigen, und wir nennen das deren subjektive mythenbildende Tätigkeit.
Wenn C. G. Jung davon spricht, daß der menschliche Körper über alle Rassenunterschiede hinweg eine gemeinsame Anatomie aufweise, nach der man sich zuverlässig richten kann, und dementsprechend auch die Psyche jenseits aller Kulturen ein gemeinsames Substrat, das kollektive Unbewußte, so fragen wir: im menschlichen Knochen kommt Kalk in organischer Form vor; draußen in der Natur aber gibt es denselben Kalk mineralisch; wie kommt nun dieser in den menschlichen Knochen? Die Antwort lautet: durch den Stoffwechsel bei der Ernährung. Durch ihn stellt das menschliche Individuum den Kontakt mit der Natur her. Ebenso aber muß man fragen: »Wie kommen die Archetypen in das kollektive Unbewußte?« Diese Frage aber stellt Jung nicht, er stößt die Tür nach außen nicht auf, und es bleibt daher bei bloßer Psychologie. Das aber ist zu wenig. Wir dagegen sagen: es sind die echten naturhaften - nicht die psychologischen - Archetypen der Tierarten, die im Momente des Aussterbens durch eine Art Osmose - oder wie man es sich verbildlichen will - ins menschliche Kollektivum eindringen und von da an objektiv-mythisch werden. Durch diesen Einbruch aber entsteht Angst, deren Beseitigung zum Urthema für Kultur und Geschichte wird. Damit aber ist der Naturanschluß hergestellt.
Man muß hier Angst und Furcht deutlich unterscheiden. Furcht hatte der Mensch, als er dem einzelnen Schrecksaurier gegenüberstand; sie ist durch Tapferkeit besiegbar. Daher die Drachentöter aller Kulturen. Für die Aufnahme des Dämons aber ist die menschliche Seele zu eng und so entsteht Angst; diese kann man nicht durch Tapferkeit besiegen, weil sie sich im Subjekt festgewurzelt hat. Die Siegeslaufbahn beginnt hier in dem Augenblick, da der Mensch zum Griffel greift und zeichnet, sei es auf Höhlenwände der Urzeit, sei es im ärztlichen Sprechzimmer. Durch diesen Akt setzt er sich - ohne es zu wissen - mit dem Dämon auseinander: ich hier - er dort! Und, wenn an diesem therapeutischen Vorgange gar die Schönheit teilgenommen, so steht der Mensch durch einen Segen am Anfange der bildenden Kunst. - Daß hier nicht gefrevelt werden darf, versteht sich von selbst. Mir erzählte eines Tages eine Patientin von einem Plastiker, dem es einfiel, bei einer Figur, die in Ton voll zuende geführt dastand, eine Umknetung vorzunehmen und alle erhabenen Partien in Vertiefungen zu verwandeln und umgekehrt. Vor dem schrecklichen Anblick aber, der hier entstand, sei der Frevler wahnsinnig geworden. Immerhin bezeugt es, daß er ein echter Künstler war.
Der Übertritt des Logos in den Mythos gehört zu den tiefsinnigsten Meistergriffen der griechischen Sprache und zeugt von einem echten Geschehen in den Dingen selber. Hier kann man es mit Händen greifen, daß die Sprache »von Natur« ist, denn wenn etwas an einer Stelle so ganz genau stimmt wie hier, so tut es das der Möglichkeit nach immer. Hier war einmal die Sprachdecke genau so groß wie das Sachgut und dieses wie das Gedankengut. Dabei entsinnen wir und, daß wir immer noch den alten Sokrates im Gespräch mit Kratylos haben stehen lassen, obwohl nun schon etliche Winter darüber gegangen sind...
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«Der Archetypus aussterbender Tierarten tritt im Todesmoment des letzten Individuums durch einen osmoseähnlichen Akt in das kollektive Unbewußte des menschlichen Geschlechtes über und wirkt dort als objektiv- mythische Kraft«: dieser unser Satz hat einen unverkennbar dogmatischen Geschmack an sich und kann, auf eine wahrheitsdürstende Menge Halbgebildeter losgelassen, Verheerungen in deren Gemütsleben anrichten, wie wir es etwa bei den anthroposophischen Dogmen erleben. In der Tat hat er etwa die Erkenntnisqualität der Reïnkarnationslehre, - wobei aber gleich zu bemerken ist, daß ohne sie nicht auszukommen ist. Die meisten Denker haben sie nur heimlich bei sich versteckt, wie wir das sogar bei Kant finden. Man muß den Mut haben, den Satz zu gebrauchen, dann aber hält er auch Wort. Denn wie will man den Tierkult und, daran anschließend, die Tierkultur erklären? Warum stehen jene rätselhaften Standbilder am Nil: Sphingen und Menschenleiber mit Vögelköpfen, die göttliche Verehrung genossen? Hier entstand doch der ƒgypter aus bloßer Urbevölkerung! Diese aber wurde in der Form der Massenerregung bedrängt von angsterregenden Motiven dämonisierender Art und tat unter der Führung des Schamanentums dasselbe wie mein Patient, als er zu zeichnen begann. Weil dies aber ein ganzes Volk tat, mit dem Staat im Hintergrunde, deshalb trat hier eine Apotheose ein; es bekam seine Götter, und die Götter bekamen ihr Volk. Diese Götter aber sind wirklich, und zwar nicht bloß im Rahmen des psychologischen Unbewußten, sondern in dem der Natur, denn sie stammen ja vom dämonischen Willen ausgestorbener Tierarten zum Dasein und haben Stromrichtung vom Objekt auf das Subjekt. Götter und Dämonen aber sind, auch bei den Griechen, dasselbe gewesen und nur dem Range nach verschieden. Wäre nun jener Vorgang bloß psychologisch, so gäbe es keine Apotheose; da er aber von der Natur stammt und das Objekt stärker ist, so sind auch die Götter auf einmal da, die, um dem Volke gnädig zu sein, Opfer und Gebete fordern. Und sie sind deshalb wahre Götter geworden und nicht bloß Tierdämonen geblieben, weil sie inzwischen durch das mythenbildende Gemüt des Menschen hindurchgegangen waren wie durch ein Filter; nun stehen ihre rätselvollen Standbilder da als Produkte jener andrängenden angsterregenden Macht, die wir das Objektiv-Mythische nannten, und der fabulierenden Kraft des mythenbildenden Subjektes. Daß hier nun ägyptischer Stil entstand, das hat denselben Grund wie der Einzelne seiner Zeichnung die Prägung seines Charakters nach graphologischen Gesetzen aufdrängt.
«Das untergehende Tier hinterläßt die Spuren seines Archetypus im kollektiven Unbewußten des Menschen« - so ist der Satz auch auszudrücken, durch den das von Jung entdeckte Kollektivum erst seinen Naturanschluß erhält. Der Mensch aber steht hier dem Tier in charakteristischer Weise völlig selbständig und unableitbar gegenüber; sein Schöpfungsbefund enthält eine durchaus andere Dramatik. Die Entwicklungsgeschichte der Tierarten verläuft laut paläontologischer Aussage in langen oder kurzen Linien je nach der Persistenz: die einen halten länger durch, die andern verschwinden wieder früh. Der Mensch aber hat mit sich selbst etwas ganz anderes zu tun. Seine Entwicklung ist zirkulär in sich selbst, kyklodisch ((genesis en kuklos)). Da ist zunächst das gewaltige anthropologische Massiv seiner sekundären Rasse, das schier undurchdringlich ist; nach unten zu befinden sich schon im Stadium der Abstoßung alle ethnologischen Unterrassen nach Art der Maoris, Pygmäen, Feuerländer, Neandertaler, Eiszeitmenschen, und ganz in der Ferne sieht man, schon abgestoßen und längst nicht mehr zurückfindend, den Affen mit seinem erinnerungsschweren Auge sein sonderbares Dasein verträumen. Nach oben zu stößt man auf die langsam sich abhebende dünne Schicht der primären Rasse, die von der genialen Zone durchkreuzt wird; an ihr allein kann man erkennen, was mit dem Menschen überhaupt gemeint sein möge. Dann kommt die Heroen-Rasse, die die Basis für das Epos bildet. Noch weiter hinaus liegt die Menschensohn-Sphäre. Zwischen all dem aber waltet noch das principium personalitatis als Reiz und Verhängnis des Menschengeschlechtes. Man sieht: das ist ganz etwas anderes. Und in das psychologische Kollektivum dieses Menschenwesens brechen seit Jahrmillionen die Archetypen der ständig absterbenden Tierarten ein und werden im Momente der Berührung objektive mythische Kräfte. Mit ihnen hat der niedrigste der Maori in seiner Art ebenso zu tun, wie der Menschensohn - der freilich die Mittel hat, sie in Schach zu halten.
 

9. DER PRAKTIZIERENDE PLATONISMUS UND DIE ABENDMAHLLEHRE
Die Frage, »wie die Vernunft in die Philosophie kam«, ist bekanntlich zuerst von NIETZSCHE gestellt worden (in der »Götzendämmerung«) und hat höchstes Erstaunen erregt, da ja, seit den Tagen des Aristoteles, die Philosophie selber nie aus etwas anderem bestanden hat, denn aus Vernunft. Der Zugang zu den platonischen Ideen wurde ja ein vernünftiger! - Wie aber, wenn es noch einen anderen gäbe? Einen, der nicht Weisheit zutage förderte, sondern Macht; also auf den Willen geht. Gelingt es, an jene Weltstelle hinzukommen, die SCHOPENHAUER im »Willen in der Natur« berührt hat: wo da ein »Wesen« - das noch nicht ist - Ameisenbär »sein will«, ehe es so etwas wie Ameisenbär gibt! Jene Verwachsungsstelle also von platonischer Idee und dämonischem Willen zum Dasein...oder, was war früher? Schopenhauer nennt die Idee die adäquate Objektivation des Willens im Gegensatz zu den empirischen, die dem principium individuationis unterliegen. Damit beabsichtigt er, dem Willen den Vorgang zu geben und die Idee durch ihn, allerdings adäquat, objektiviert sein zu lassen. Das ist aber natürlich dogmatisch. In Wirklichkeit ist die Frage, was früher da war, die Idee oder der Wille, so wenig lösbar, wie die nach der Priorität von Huhn oder Ei.
Aber es gab von jeher einen praktischen Weg, dort hineinzustoßen, und diesen beschreitet jener Schamane, der den »Büffelgeist« aus den empirischen Büffeln durch Tanz und Zauberwort hervorzulocken und auf Menschen zu übertragen vermag. Der Leser entsinnt sich jener eindrucksvollen Szene, in der der Medizinmann eines Indianerstammes in Gegenwart eines französischen Comte aus der Zeit Louis XV. den Büffeltanz aufführt und es dazu bringt, daß der gepuderte Graf F. vom Büffelgeiste ergriffen mittanzt. Wir können diese kulturgeschichtlich späte Szene als einen verkümmerten Abkömmling des antiken Stierkultes auffassen; sie ist ein Rudiment. Außerdem ist sie praktizierender Platonismus. Dieser ist die eigentliche Quelle der Zauberei, die meistens zu bösen, oft aber auch zu guten, heilwirkenden Zwecken verwendet wird. Schamane muß man sein; jeder kann das nicht. Das Hauptwissen des Zauberers beruht auf der durch Tradition vererbten Erfahrung darüber, welche Mittel, die man in ihrer Gesamtheit »Begehungen« ((teletai)) nennt, angewandt werden müssen, um den Erfolg, nämlich das Aufrühren archetypischer Kräfte und ihr Einströmen in den Willen, zu bewirken. Da diese Mittel nur etwas mit dem Willen und nichts mit der Erkenntnis zu tun haben, so erscheinen sie meist unsinnig und sind ganz unerklärbar, werden nur durch Schamanen-Erfahrung heraufgeholt und wirken, wie etwa das Zauberwort, nur durch das Gesprochenwerden in der richtigen, niemals in einer anderen Reihenfolge. »Richtig« heißt aber hier nur »wirksam«. Es ist das also eine Stelle, an der die Kontinuität der Natur unter Überspringung der Einzeldinge unmittelbar durch das menschliche Wort erwiesen wird.
Bei den höher entwickelten, den eigentlichen Kulturvölkern rückt der Schamane in den Rang des Priesters auf, der aber nun tief eingreift und eine unvermeidliche Komponente der Geschichte ausmacht. In jenen rund zweitausend Jahren, während welcher der ƒquinoktialpunkt im Tierkreiszeichen Stier stand, bestimmte die Vergöttlichung des Stieres unter Führung des zugehörigen Schamanentums fast die ganze mittelmeerische Kultur. Es muß im Archetypus dieses Tieres damals etwas los gewesen sein, das die Priester aufzufangen und als Stierkraft auf die Menschheit zu übertragen vermochten. Anders läßt sich die tiefe Wirksamkeit dieses Kultus, der weit ins folgende Widderzeitalter hinein noch bei den Griechen bemerkbar ist, nicht erklären. Denn es wimmelt im Mythos und bei den Tragikern von Stier-Motiven. Dabei weiß man nie recht, ob der heilige Stier eigentlich Gott oder Opfer ist. Jedenfalls gehört das fließende Stierblut zu den bedeutendsten Begehungsakten bis über das Ende des Widderzeitalters, also über Christi Geburt hinaus, da schon längst das Lamm Opfertier war.
Alle priesterlich-schamanischen Begehungsworte nun - das muß man wissen - sind so beschaffen, daß sie zum wesentlichen Teile objektiv-mythisch, aber nicht logisch sind. Sie lassen sich also niemals in die Begreifbarkeit überführen, sondern verharren auf ihrem Anspruch, nur durch das Gesprochenwerden (mythos) zu wirken. Wer diesem sakralen Anspruch nicht Folge leisten will und nachgrübelt, »was sie bedeuten«, der stellt sich bereits außerhalb ihrer Wirksamkeit. »Mythos« und »Logos«, beide »Wort« bedeutend, stehen sich also in diesen Formeln unentschieden gegenüber. - Hätte man das von jeher gewußt, so würde der ganze bibliothekenfüllende Streit um die Einsetzungsworte Christi nicht nötig gewesen sein. Denn diese Worte »Dies ist mein Leib, er für euch gegeben wird zur Vergebung der Sünde« sind die bisher höchste Stelle, an die das priesterlich-schamanische Zauberwort gelangt ist. Sie sind unauflösbar und unbegreiflich, aber sie sind richtig, nur weil sie so vom Herrn gesprochen worden sind. Daher ist das Abendmahl das Grundsakrament des Christentums. Alle andern kann man aufgeben; auch die Taufe. Denn man ist getauft, wenn man wünscht, getauft zu sein, und der priesterliche Taufakt kann sehr wohl als bloße Feierlichkeit verstanden werden. Das Abendmahl dagegen nicht.
So wie durch die Zauberworte und den Tanz des Büffelschamanen der Büffelgeist in die Feiernden übergeht, ohne, daß sie denken; so genießt der gläubige Christ im Abendmahle wirklich den anwesenden Leib des Herrn und wird dadurch auf unmittelbare, von jedem Gedanken freie Art der Gnadenwirkung teilhaftig. Er genießt nicht das »Fleisch« des Herrn, also das empirische, sondern den »Leib«, also das Wesen und die innerste Art des Menschensohnes. Dieser aber ist real; denn zum Charakter des Wirklichen gehört eben nur die Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt, nicht aber die Materialität, die nur ein Fall dieser Stromrichtung ist. Voraussetzung für das Gelingen des Abendmahles ist nur, daß es von jemandem gereicht wird, der das kann, - und hier erhebt sich die bange Frage nach LUTHERs »allgemeinem Priestertum«. Jener indianische Schamane steht eben dem Vorgange näher als ein evangelischer Geistlicher üblicher Art. Trotz aller rechtgläubig-lutherischen Lehre - gegen Zwingli und Oekolampadius - ist es praktisch ja doch so, daß in der evangelischen Kirche das Abendmahl eben doch nur als Erinnerungsmahl, zwinglianisch, genossen wird. Die Nabelschnur zur Natur ist längst durchgeschnitten, und man muß hier schlimme Befürchtungen hegen. Protestantismus muß zwar sein, er ist zu eigenartig geschichtlich pointiert, aber man weiß nie recht, wozu. Zum mindesten ist das protestantische Ingenium lutheranischer Färbung immer dazu da, vom freigebliebenen Teil des Christentumes her dem gebundenen zu Hilfe zu kommen.
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Luther hat in Sachen des Abendmahles in einer Weise Wachtposten gestanden, die einer Rettung der Religion gleichkommt. Das geschah im Marburger Religionsgespräch vom Jahre 1529, das in der Hauptsache zwischen ihm und Zwingli stattfand, beide mit noch anderen als Gäste des trefflichen Landgrafen Philipp von Hessen. Den Hintergrund -besser freilich den Vordergrund - des Gespräches bildete ein politisches Thema. Zwingli und Landgraf Philipp wollten eine Union aller evangelischen Länder, um dadurch einen Druck auf die katholische Gegenpartei ausüben zu können. Besonders Zwingli wünschte seine fünf katholisch gebliebenen Kantone, die ihm Schwierigkeiten machten und gegen die der tapfere Mann einst im Kampfe fallen sollte, in Schach zu halten. Aber auch Philipp war politisch an einer Einigung interessiert. Abgesehen aber von diesen Sonderinteressen war natürlich eo ipso eine solche Union ein erstrebenswertes Ziel, dem man noch heute beipflichten muß.
Nun hatte man sich über alle anderen Punkte bereits geeinigt und hatte die Abendmahlslehre als letzten auf die Tagesordnung gesetzt, wohl in der stillen Hoffnung, daß, wenn die anderen durchgehen, diese wenigstens durchschlüpfen würde. Aber da stieß man auf Luthers unbrechbares Nein. Zwingli und, ihm verwandt, Oekolampad vertraten die Meinung, daß Jesus mit seinen Einsetzungsworten habe sagen wollen: »Dieses Brot, das ich hier breche, bedeutet soviel als mein Leib, und das sollt ihr nach meinem Tode zu meinem Gedächtnis feiern«. Damit wäre also das Abendmahl eine bloße Erinnerungsfeier, wie es ja noch heute in den reformierten Gemeinden aufgefaßt wird. Zwingli gehört zu den liebenswertesten Gestalten der damaligen Zeit, aber für ihn war die Religion ein göttlich geführtes System der Moralität. Er verstand also nicht viel davon. Luther dagegen, eine der unliebsamen Erscheinungen, hatte einen tödlich sicheren Blick, wenn es um das Wesentliche ging. Die Natur muß in ihrer Rückläufigkeit durch ein Mysterium hindurch, sonst ist die Religion nicht echt und bleibt Menschenwerk. - Da schlägt LUTHER die Tischdecke zurück, holt ein Stück Kreide aus der Tasche und schreibt die Worte: »Hoc est corpus meum!« als eine unübersteigliche Wehr gegen die Feinde des Mysteriums auf den Tisch. Und diese ist nicht überstiegen worden; das Gespräch flog auf, und es kam zu keiner Einigung. »Wir haben einen andern Geist als ihr!« das heißt, LUTHER hatte den Geist des Christentums, und die andern nicht.
Diese Szene war ein symbolischer Akt - kein allegorischer, mit dem man etwas erklären will. Symbol ist Zusammenballung im Realen. Luther stand mit dieser Tat voll im Wirkungsbereich der reinen Geschichte und die andern nicht. Es ging hier sogar um mehr als nur um die Kirche. Wer kurz denkt, verwirft diese »eigensinnige Hartnäckigkeit« Luthers und seine »Rechthaberei«; er hätte doch beigeben können »um der gemeinsamen guten Sache willen«. Nein, er hätte das nicht können, genau so wenig wie in Worms. Und was ist heute schließlich jene politische Bagatelle, die sich »Schmalkaldischer Bund« nannte, gegenüber dem Abendmahl! Nichts gegen alles! Dieses Nein Luthers gehört zu den großen Rettungstaten der Weltgeschichte.
Sie wiegt mehr und ist wichtiger als seine Schrift »Daß die Worte Christi ÇDies ist mein Leibë usw. noch feststehen«; denn sie geschah in der mythischen Ebene der reinen Geschichte, jene aber ist ein Erzeugnis der polemischen Vernunft. Es ist nun schwer, gegen die Vernunft zu predigen und dies mit Worten zu tun, denn die Vernunft notwendig anhaftet. Allein es geht nicht anders. Wenn Luther nun mit dem sehr fragwürdigen Argument arbeitet, »es steht geschrieben«, so muß man sagen, daß er hier wirklich Glück gehabt hat, denn diese Worte stehen wahrhaft geschrieben und sind gar nicht umzustoßen: aber eben nicht aus dem Grunde, weil sie »geschrieben stehen«. Es heißt, sich auf das Glatteis der Verbalinspiration begeben, wenn man mit diesem Sektierer-Argument arbeitet. Denn es steht noch eben sehr viel in der Bibel geschrieben, was ganz weit weg ist von Gottes Wort. Diese Einsetzungsworte aber haben mit die stärkste Prägung vom ungesprochenen Worte Gottes her, die es in der Bibel überhaupt gibt. Sie gehören in die Ordnung der Zauberworte und haben deren Funktion - erschöpfen sich aber auch in ihr. Das Zauberwort (...Eiris sazun Idisi...usw.) soll Wunden heilen durch das bloße Gesprochenwerden (mythos); die Einsetzungsworte sollen von der Wunde aller Wunden heilen, der Erbsünde ((aphesis ths amartias)), und sie tun es durch ihr bloßes Erklingen ohne ƒnderung des Textes. Sie sind Jesus in dem kritischen Augenblicke eingefallen, da sein Leben und Sterben besiegelt waren; die erste Station des Passionsweges war überschritten: Judas hatte eben das Abendmahl verlassen, um dem Synedrium das Messianitätsgeheimnis seines Meisters zu verraten. Es konnte kein Zweifel mehr sein: es war das letzte Mal, daß er vom Gewächse des Weinstockes getrunken hatte, und in wenigen Tagen mußte sich alles erfüllen. Da staute sich in ihm die Frage auf: in welcher Art er nach seinem Tode würde anwesend sein; hierbei war die sonst unter den Menschen übliche der bloßen Erinnerung natürlich unzureichend. Nun konnte Judas wohl das Messianitätsgeheimnis an Kaiphas verraten; das andere aber, das eigentliche seines Lebens, das zu verraten hatte niemand die Macht, denn niemand verstand es: das Menschensohn-Geheimnis. Das war nur ihm selbst bekannt. Jener kluge Theologe der Leben-Jesu-Forschung hatte nur allzu recht, wenn er sagte, daß dies der Schlüssel zum Rätsel seiner Persönlichkeit sei. Da »Menschensohn« der tiefste aller Titel ist, die er trug - nur eben mit »Sohn Gottes« auf einer Ebene, - so lag auch sein Geheimnis am tiefsten verborgen. Und er hatte erfahren, daß seine Unsterblichkeit eine andere sei als die der andern Menschen, von denen er durch eine Art getrennt war. Genau so, wie seine Personalität das Merkmal der doppelten Unendlichkeit trug - was ihn zu Gottes Sohn machte -, genau so hatte seine Unsterblichkeit eine Dimension mehr. Wenn er starb, so starb eine Art. Denn die Art Menschensohn war nur durch ihn vertreten. Bei seinem Tode also zerriß nicht nur der Vorhang des Tempels, sondern darüber hinaus wurde das allgemeine unbewußte Seelentum des ganzen menschlichen Geschlechtes um ihn, um sein »sôma« bereichert; denn er drang dort ein. Das geschah nach dem Gesetz, wonach die Archetypen einer Art beim Tode des letzten Individuums ins kollektive Unbewußte des Menschen gelangen. Er aber war der erste und der letzte jener Art, die den Namen Menschensohn trägt. Da er das wußte, so wußte er auch - es fiel ihm plötzlich ein - die Formel und den Begehungsritus, durch den die Anwesenheit seiner Wesenheit bei den Gläubigen verbürgt wird. Diese Formel und dieser Ritus aber lauten: »Und er nahm das Brot, dankte, brachís und gab es den Jüngern und sprach: ÇNehmet, esset, das ist mein Leib.ë Und er nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den und sprach ÇTrinket alle daraus. Das ist mein Blut des neuen Testamentes, welches vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden. Solches tuet zu meinem Gedächtnisë«. - So und nicht anders. Die Worte haben ungeheures Aufsehen erregt, und der mysterienkundige Paulus vermerkt sie ausdrücklich im ersten Korintherbrief.
Das Wort »sôma« nun, das hier gebraucht wird und das Luther mit »Leib« übersetzt, ist nicht dasselbe wie Fleisch; denn dann hätte dort ((sarx)) stehen müssen, was im Neuen Testament sich immer dann findet, wenn es wirklich um Fleisch geht. »Das Wort ward Fleisch« - da heißt es folgerichtig ((sarx)). Hier aber geht es um mehr als bloß Fleisch. Die Griechen verwandten das Wort »sôma« vielfach im ähnlichen Sinne wie »demas«, das etwa in die Nähe von Person kommt, aber mit dem Klang des Gebautseins behaftet (demo).* Der Leib Christi ist im Abendmahl anwesend: das heißt also eher etwa soviel als Christus selbst ist anwesend, aber es ist doch ein gewisser Unterschied in Richtung auf das Materielle zu, denn sonst würde die Sprache ihn nicht betonen. Es liegt ähnlich wie beim Worte »pneuma« - dem Gegenspiel -, das etwas vom Winde an sich hat.
Wenn man leugnen will, daß der »Leib Christi« nach seinem Tode ins unbewußte Seelentum des menschlichen Geschlechtes übergegangen ist, so frage man einen beliebigen Missionar, und der wird berichten, daß sie besonders bei wilden Völkerschaften darauf stoße und daß es nur der Entflammung durch die Predigt bedarf, um das Unbewußte frei zu machen: was dann Bekehrung heißt. Die richtige Art zu missionieren ist freilich nur die, zunächst die Sprache des wilden Volksstammes genau kennen zu lernen und dann in ihren Mythos einzudringen; ist der richtige Griff getan, so bricht plötzlich mit Leidenschaft die Gestalt Christi durch, die präformiert darin war. So ist die Predigt wohl die Ursache für die Bekehrung aber nicht der Grund, und so ist auch die Bekehrung im mittelmeerischen Raume durch die Urapostel vor sich gegangen. Es war immer schon etwas vorher da, das bereit lag und das auch den consensus schuf.**
Das Apostolikum von Nicäa hat in den Worten »niedergefahren zur Hölle« (descendens ad infernos) diesen Eintritt des Leibes Christi, will sagen seiner selbst, ins kollektive Unbewußte des Menschen andeuten wollen, denn wenn man dieses näher untersucht, so findet man ein Vorherrschen höllischer Gestalten, und da die Hölle ja kein Raum ist, so bleibt nichts anderes übrig, als dies. - Ganz verkehrt ist natürlich die Vorstellung des Grafen Keyserling, daß das Christentum durch »sinnvolle Reklame« sein Aufkommen bewirkt hat.
In dem Verhalten Luthers in Marburg kann man mit großer Deutlichkeit den Unterschied zwischen dem Genie und dem Theologen erkennen. Es kommt gar nicht darauf an, daß Zwingli später zu der Meinung Luthers übergetreten ist: im Grunde kann er das gar nicht. Luther traf mit voller Sicherheit die Stelle, auf die es ankommt, und es ist keine Spur von persönlicher Unnachgiebigkeit und Rechthaberei zu finden; vielmehr ist alles in der Sache begründet, und nur er hatte recht. Manche Probleme der Theologie sind aber noch nicht spruchreif und werden es erst, wenn die Philosophie Beistand geleistet hat. So war das zwischen Luther und Erasmus behandelte von der »Willensfreiheit« damals noch nicht anfaßbar, weil es noch nicht von der Philosophie auf die ihm gebührende Höhe gehoben war: David Hume, Kant und Schopenhauer waren noch nicht da; erst nach ihnen kann man die Frage der Freiheit des Willens behandeln. So standen Luther auch in der Abendmahlsfrage noch nicht die philosophischen Einsichten zu Gebote, die wir heute haben. Trotzdem hat er richtig gegriffen.
Den Fehlgriff in dieser Sache hatte vielmehr die katholische Kirche begangen, die von Thomas von Aquin und Aristoteles schlecht beraten war. Sie behauptet nämlich, daß in der Messe die Hostie durch den Spruch des Priesters in den Leib Christi verwandelt würde. Davon aber kann gar keine Rede sein; es handelt sich vielmehr um die Anwesenheit des Leibes Christi im Brote des Abendmahles. Da nun trotz aller priesterlichen Bemühung das Brot bleibt, was es ist, und der Wein auch, so verfiel man auf die aristotelische Unterscheidung von Substanz und Akzidenz und sagte: in der geweihten Hostie sind zwar die Akzidenzien unverändert geblieben, also Farbe, Geschmack, Geruch, Form, die Substanz aber habe sich in den Leib Christi verwandelt. Die Hostie tut also bloß so. Unvermeidlich tritt hier die Vorstellung ein, daß es sich doch um das Fleisch Christi handelt, durch welchen unerlaubten Reiz ein starkes Movens zwar nicht für den Glauben, wohl aber für die Suggestion entsteht. Die Reformatoren haben diese Transsubstantiationslehre abgelehnt. Und in der Tat: es geschieht ihr recht, daß das Wort »Hokuspokus« die Verballhornung der Einsetzungsworte »Hoc est Corpus« ist.*** Die Reformatoren selber aber spalten sich in den westlichen Teil, der das Mysterium ausklammert, und in den deutschen, der es durch Luthers Wachsamkeit in Marburg erhalten hat. Hieran aber hängt der ganze deutsche Kulturraum.
Der große Scharfsinn Luthers in dieser Lebensfrage des Christentums zeigt sich in einigen Sätzen seiner Streitschrift vom Jahre 1527: »Da steht nun der Spruch und lautet klar und hell, daß Christus, indem er das Brot reichte, seinen Leib zu essen gibt. Darauf stehen, das glauben und lehren wir auch, daß man im Abendmahl wahrhaftig und leiblich Christi Leib ißt und zu sich nimmt. Wie das aber zugeht oder wie er im Brot ist, das wissen wir nicht, sollen es auch nicht wissen. Gottes Wort sollen wir glauben und ihm nicht Weise noch Maß setzen. Brot sehen wir mit den Augen, aber wir hören mit den Ohren, daß der Leib da sei« (Sperrung von mir). Luther stellt also hier den offnen Widerspruch zwischen der Welt des Auges und der des Ohres fest. Die katholische Auffassung versucht ihn durch die Transsubstantiationslehre zu überbrücken. Luther tut das nicht, sondern stellt sich auf die Seite des Ohres und läßt die Welt des Auges dahingestellt sein. Das Wort Gottes gehört zum Ohr und nicht zum Auge. Und wenn irgend etwas wahrhaftig Wort Gottes ist, so sind es die Einsetzungsworte. Diese aber sind kein Urteil, das wahr oder falsch sein kann, sondern Zauberwort, das seine Kraft im Wirken erschöpft. Darum aber muß aus dem ganzen sakramentalen Vorgang die Vernunft ausgeschaltet werden: sacrificium intellectus. Voll erhalten aber bleibt der Verstand in allen seinen Rechten. Dominierend freilich muß der Glaube sein, der keine verminderte Vernunft ist, sondern Kraft vom Objekte her, die im Subjekt nur die Bereitschaft vorfinden muß.
Es ist also der höchste aller möglichen Begehungsakte, der sich im Abendmahl vollzieht, und seine Frucht ist, daß »nicht nur unser Leib leiblich gespeist, sondern auch unseres Leibes Natur und Wesen zum ewigen Leben genährt, gemehrt und erhalten und dadurch ein Glied des Leibes Christi wird« - so begreift es Luther im Anschluß an Irenäus. Das alles aber spielt sich in der mythischen Ebene ab. Dieser Satz erscheint zunächst als eine Minderung, ist aber in Wirklichkeit das Gegenteil davon. Denn solange man, wie das bisher geschah, den Mythos in das Subjekt verlegte, verstand man unter christlichem Mythos notgedrungen das, was der Mensch hinzugedichtet hat. Versteht man ihn aber wie wir, dann liegt ihm das Objektiv-Mythische als ein Primum zugrunde, und das wird durch die Vorgänge beim Tode Christi gesichert. Daß das überhaupt da ist, das schafft die Grundlage für den höheren Realitätscharakter des Sakramentes. Denn real ist alles, was Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt hat. Bin ich in die mythische Realität eingefangen, so habe ich einen Zuschuß und einen Vorzug vor anderen, die nur die materielle haben. Würde man etwa -ich denke hier ein sacrilegium - von jenem Grablinnen Christi, das in Turin aufbewahrt wird und an dessen Echtheit m. E. kein Zweifel möglich ist, die tatsächlich vorhandenen Blutstropfen Christi abkratzen und in Wein vermischt trinken, ohne dabei den gebotenen Begehungsakt so zu vollziehen, wie er vorgeschrieben: so wäre das eine bloße Verdauung, wie jede andere auch, aber kein mythischer Vorgang; meines Leibes Natur und Wesen würde dadurch nicht »zum ewigen Leben genährt«. Das kann nur das Sakrament. - ADOLF HARNACK hat eine sehr kluge Formulierung gebracht, indem er sagte: »...nicht im ƒußeren spiegeln sich die Vorgänge ab; aber die Symbole bringen der Seele das, was sie bedeuten wirklich. Ein jedes Symbol steht mit der Sache, die es bedeutet, in einem mysteriösen, aber realen Zusammenhang. (Mission des Christentums, S. 169).
 

10. DIE GRIECHISCHE THEOGONIE UND DER GÖTTERVERFALL
Es ist eine große theogonische Tat der Griechen gewesen, vom Tierkult abgelenkt und an seine Stelle den Menschen gesetzt zu haben. Der Mythos spricht von der Tötung des Minotauros und der Befreiung der Ariadne durch Theseus. Den Griechen war genau so wie den Israeliten der Tierkult ein Greuel, wenn auch aus anderen Gründen; er ließ das Menschentum nicht aufkommen. Daß aber die griechischen Götter früher Menschen gewesen seien, war ein offnes Geheimnis; man zeigte im späten Altertum noch die Wiege und das Grab des Zeus auf Kreta. Aber die Natur hat in diesen Menschen freilich besondere Vorstöße gemacht, die nicht alle Tage vorkommen und die aufgefallen sind. So ist die Zeus-Kraft zwar in jedem Menschen schwach vorhanden; man findet sie im Geburtshoroskop, jene richtende und ordnende Löwen-Gewalt, die vom Schafott bis zum dröhnenden Männersaale reicht. Aber in dem, der später der Gott wurde, war sie bis ins Dämonische hinein gesteigert. Nun bedeutet hier dämonisch nicht dasselbe wie bei den Tierarten, sondern es ist die äußerst gesteigerte Person. Die Griechen verwandten das Wort daimon bei jedem Charakter, sowie er nur ganz rein er selbst war und sehr betont hervortrat. So nennt Hektor im sechsten Gesange der Ilias bei seinem berühmten Abschied von Andromache diese wahrhaft Weinende »((daimonih))«, in durchaus zarter Bedeutung; aber auch Andromache hatte den in die Schlacht stürmenden Hektor so genannt. - Wie nun jemand, der danach war, im Mittelalter in den »Geruch der Heiligkeit« kommen konnte, mit all seinen Folgen, so konnte ein Heros der Antike leicht in den Verdacht geraten, ein Gott oder Dämon zu sein. Das aber griff die Gefolgschaft auf, und die schamanisch-priesterlichen Charaktere betrieben dann schon bei Lebzeiten die Vergöttlichung. Mit dem Tode aber trat die Apotheose ein, was nur durch Begehungen möglich war, und ein besonderes Priestertum verkündigte die Weisheit und die Macht seines Gottes. Gelang das, so rückte der Dämon des verstorbenen Heros, ähnlich wie die Archetypen der Tiere, ins kollektive Unbewußte ein, der objektive Mythos bemächtigte sich seiner, und so entstand die griechische Götterwelt. Aber wohlgemerkt: der Eintritt in das Kollektivum ist hier erzwungen, und zwar durch die Begehungen des Priestertums, während die Archetypen aussterbender Tierarten von allein dorthin gelangen. Der subjektive Mythos aber kam nun hinzu, und es entstand die Göttersage. Bei AISCHYLOS finden wir in den ersten Versen der Eumeniden jenen Zug des Apollon von Delos nach Delphi, der in einem eigentümlichen Lichte gehalten ist, so daß man nicht recht weiß, ob er noch Mensch oder schon Gott ist. Die Pythias spricht:

  »Er schwang sich von Delosí See und Klippe sich
  An Pallas segelreichem Strande landend
  Und kam von dort nach des Parnasses Hang
  Von des Hephaistos Kindern fromm geleitet,
  Die ihm die Pfade bahnten und zuerst
  Ihm hier der Landschaft rauhen Boden zähmten.
  Und wie er ankommt, huldigt ihm das Volk
  Samt Delphos, jener Zeit des Landes König.
  Und Zeus, mit Kraft und Weisheit ihn begeisternd,
  Setzt ihn als vierten ein auf diesen Stuhl.
  Des höchsten Vaters Mund ist nun Apollon.«
     (Übersetzung VOLLMÜLLER)

Es kann also keine Rede davon sein, daß die griechischen Götter etwa der dichtenden Volksphantasie entstammen und sonst nichts sind. Wir lesen bei Euripides in den »Bacchen«, wie Dionysos um die Anerkennung als Gott kämpft und dabei jenen berühmten dionysischen Weiberschwarm vorausschickt. Dabei fallen die drohenden Worte, die der Apostel Paulus kannte: »Es wird euch nicht gelingen, wider den Stachel zu löcken«. Eine halb steckengebliebene Apotheose ist die des Herakles; er gelangte nicht in den Olymp, und bei Homer finden wir ihn (Od. XI) im Hades; aber man hat ihm doch Heiligtümer errichtet. Was aber zu dieser so entstehenden Götterwelt innerlich gehörte, jener Volksstamm am Mittelmeer, das war Grieche, eben durch die Götter, die früher Menschen waren. Hier hat der objektive Mythos eingegriffen. Wenn man »Griechen« denkt, so denkt man immer die Götter mit. TERTULLIAN hat freilich gut reden, rund zweitausend Jahre nach jenem Apotheosen-Sturm, in einer Zeit, in der vom Senat eingesetzte Kommissionen römische Kaiser zu Götter erklärten, wenn er sagt: »Wenn übrigens Liber (Dionysos) deshalb Gott ist, weil er auf den Weinstock aufmerksam gemacht hat, so hat man an Lucullus, der zuerst die Kirschen aus Pontus nach Italien gebracht hat, nicht schön gehandelt, weil man ihn nicht apotheosiert hat...« (Apologeticus 11). Das ist Journalistenstil des großen Kirchenvaters: er treibt Götterhetze. Dionysos war eben Jemand, Lucull war Feldherr und Gourmand. Die Ereignisse wogen damals, als die Götter erschienen, schwerer.
Die Wirklichkeit der Götterwelt aber ist eine reale und keineswegs etwa projiziert; in Jacob Burckhardts Satz: die Griechen seien mythisch gesonnen, lassen wir das »gesonnen« weg und sagen: sie waren mythisch. Das heißt, sie gerieten in einen mythischen Prozeß hinein, durch den sie erst Griechen wurden. Dieser aber kreist um den objektiven und den subjektiven Pol des Mythischen. Der Höhepunkt nun der Götterwirklichkeit, ihre olympische Phase, fällt in die Zeit Homers, in der das mythische Subjekt die größte Kraft besaß, den andrängenden Gewalten des objektiven Mythos Widerstand zu leisten und ihnen im Epos die höchste Gewalt der Schönheit anzutun. Daher gibt es keine Griechen ohne Homer. Wir würden Solon, Lykurg, Leisthenes, Themistokles, Perikles gar nicht kennen, wenn diese nicht durch den Mythos vorher zu Griechen geschaffen wären und damit den ersten Schritt in die Geschichte getan hätten. Für gleichzeitige Barbarenhelden interessiert sich kein Mensch; denn sie können den Sprung in die Geschichte nicht tun, und ihr Mythos bleibt auf bloße Stammessagen reduziert. Der Bau der Götterwirklichkeit ist also kein anderer als der der empirischen Realität, die man nur kantisch als Erscheinung begreifen kann; das Baumaterial freilich ist ein anderes.
Der Verfall der Götterwelt und ihr endlicher Untergang aber vollzog sich dadurch, daß an die Stelle der mythenbildenden subjektiven Tätigkeit, die also dichterisch war, die Vernunft trat. Das wiederum geschah - es wird im periklëischen Zeitalter sichtbar - durch eine Polverlagerung der Naturachse. So wie durch Verlagerung des Erdpoles, verursacht durch die Nutation ihrer Achse, tropische Landschaften vereisen, so erzwingt eine leichte Bewegung der Achse der Natur die allmähliche Entkräftung der mythenbildenden Tätigkeit, und es entstehen statt der geglaubten und erlebten Götter die gedachten; dadurch aber wird ihnen der Boden des Gedeihens entzogen. Diesen Vorgang müssen die Griechen vorher gespürt haben, denn wir sehen sie in ihrer Angst, die Götterwelt könne versiegen, strenge Asebie-Gesetze erlassen, die den Zweifel an den Göttern verbieten. Die Griechen waren mit instinktiver Sicherheit an den Glauben gebunden, daß es sie ohne die Götter nicht mehr geben könne; daher zogen sie es vor, statt der Sache auf den Grund zu gehen, die Götter einfach zu schützen und damit sich selbst. Wehe dem freien Staatsbürger, der es wagte, hieran zu rütteln! Sokrates ist dem Asebie-Gesetz zum Opfer gefallen; er und Euripides waren die Hauptträger jener Polverlagerung. Die Wut der Athener gegen den Denker war erklärlich, ihre Toleranz gegen den Dichter auch; der freilich zog es vor, sich im Alter in das halbbarbarische Makedonien zurückzuziehen.
Es war keine christliche Schmähsucht gegenüber den olympischen Göttern - die im übrigen reichlich vorhanden war -, wenn man sagte, sie hätten sich in böse Dämonen verwandelt. Jeder Christ des Altertums sah vielmehr diesen Prozeß sich vor seinen Augen abspielen und war sich nicht einmal sicher, ob er nicht mit hineingezogen würde. Man muß nun festhalten, was freilich nach einem Jahrhundert des Subjektivismus schwer fällt, daß das Merkmal des Wirklichen nicht die Materialität ist, sondern die Stromrichtung vom Objekt zum Subjekt. Treffen die objektiv mythischen Kräfte eines Tages nicht mehr auf das angemessene Organ der subjektiven mythenbildenden Tätigkeit, sondern auf die Vernunft, singt da nichts mehr entgegen im Rhapsodentakt, sondern denkt es, so stoßen sie in Richtung auf das Subjekt ins Leere und zertrümmern die Randgebiete: auf einmal ist es nicht mehr so, daß diese Kräfte sich, von der Schönheit getragen, in der ewigen Huld der Pallas sammeln, sondern es entsteht ein Zerrgebilde, es keift und beißt, und eine neue Art von bösen Dämonen bricht in der Tat durch. Wir lesen die Berichte von einer unerhörten Zunahme der »Besessenen« aus den christlichen Schriftstellern; es wimmelt davon. Und wie das hohe Altertum der Griechen von der olympischen Göttergnade getragen war, so wird das zerfallende von untergehenden Göttern zerrissen. Es geht den Griechen so wie jenem Patienten, ehe er den Griffel in die Hand nahm, nur daß ihre Hand, unsicher geworden, ständig nach einem falschen Griffel sucht. Lesen wir uns ins angehende dritte Jahrhundert hinein, so stoßen wir auf den hellen Hohn des Tertullian, der diesen Prozeß hat kommen sehen. Er weidet sich förmlich an der niedergehenden Göttermacht. Die Götter versinken wie, nach hellenischem Mythos, die Giganten und Titanen im Sumpf auf dem pergamenischen Altar. Aber kein Christ hat je gezweifelt, daß diese Götter - jetzt nur noch »Dämonen« genannt - volle Wirklichkeiten seien und nicht etwa Hirngespinste. Damals war, so berichtet Tertullian, der geringste der Gemeindechristen imstande, durch bloße Anrufung des Namens Christi jeden Dämon zu stellen und ihn zum Rückzuge aus der Seele des Besessenen zu zwingen. »Auf eines beliebigen Christen Befehl zu reden, wird jener Geist - und zwar mit gutem Grund - so sicher ein Dämon zu sein bekennen, wie er sich anderswo fälschlicherweise für einen Gott ausgibt«; »wenn sie nicht sofort bekennen, daß sie Dämonen sind, indem sie einen Christen nicht zu belügen wagen, so vergießt auf der Stelle das Blut dieses unverschämtesten aller Christen!« (Apol. Kap. 23) - Was für eine Sprache konnte die Kirche damals noch führen der vollen Natur gegenüber! Heute muß sie sich mit einer mickrigen »Menschenseele« begnügen. Der Name Jesu Christi, Logos und Mythos zugleich, im Munde eines einfachen Gläubigen tut solche Wunder! »Der Name Jesus übt solche Gewalt über die bösen Geister aus, daß er manchmal diese Wirkung hervorbringt, auch wenn er von lasterhaften Menschen ausgesprochen wird« (Origines: contra Celsum I, 6).
 

11. EURIPIDES AN DER VERWACHSUNGSSTELLE VON GESCHICHTE
UND MYTHOS. - IPHIGENIE IN AULIS
An betonter Stelle der theogonischen Polverlagerung im hellenischen Altertum stehen Sokrates und Euripides. Sie sind die Seismographen des Götterverfalles; daß der Demos von Athen sie für die Ursachen hielt, trug Sokrates Prozeß und Tod ein, dem Euripides nur die Angriffe des Aristophanes. Man hat es ihm von jeher zum Vorwurf gemacht, daß er in seinen Dramen, von denen nur eines eine echte Tragödie ist, die Heroen herabsetze und auch die Götterwelt niederbeuge. Das wäre eine schlimme Sache und reiner Verfall gegenüber den beiden älteren Tragikern, wenn sich dahinter nichts anderes verbergen würde. Jene Tendenz nach unten, die bei Euripides zunächst bemerkbar ist, steht aber bei ihm im Dienste einer anderen nach oben, die weder Sophokles noch Aischylos mit ihren frommen Mitteln erreichen konnten. Euripides ist der Denker unter den Dichtern und ihm sollte es gelingen, schwerste Probleme des Daseins arte poetica zu meistern. Er und keiner sonst trifft auf das Problem der Geschichte und des Opfers. Dahinter bebt der Welthintergrund, und es fallen die Worte:

   ((polus taragmos en te tois theois eni
   kan tois broteiois)) (Iph. Taur. 572)

   «Ein großes Wirrsal braust im Götterreich
   Und unter den Menschen...«

«Taragmos«, das hat Anklang zum neutestamentlichen »Peirasmos.«
Die Iphigenie in Aulis, eines seiner Meisterwerke, ist der Schauplatz jener tiefsten Denkleistung in Mitteln der Poesie. Hier haben seine Zeitgenossen erstaunlich aufgehorcht. Dieses Drama traf sie dort, wo der Mythos gerade eben seine Macht an die Geschichte abgibt. Der Agamemnon des Aischylos war noch ganz und gar eine archaische Figur, die wie ein Bronzestandbild aus dunklem Hintergrunde hervortritt. Es wäre ungereimt, dieser Gestalt, die nur König von Argos ist, zärtliche Gefühle für die Familie oder gar Seelenkonflikte zuzutrauen; dieser Charakter ist, wie alle des Aischylos und des Sophokles, gerade eben dem Epos entstiegen, also fertig und geschlossen, entwicklungslos; das einzig Menschliche, das wir an ihm vernehmen, ist sein Todesschrei. Die Atmosphäre, in der er auftritt, ist die Gewalt des Schicksals. Die Hellenen aber, die das mit anhörten, erstarrten in eigner mythischer Macht. Unberührbar ist dieser Agamemnon von allen Intrigen politischer oder menschlicher Art. - Völlig anders aber geht es mit dem des Euripides in der aulischen Iphigenie zu. Hier ist, wie überall, Bewegung im Charakter; Euripides tut dasselbe, was der Meißel des Phidias in der Plastik tat: er löst die Starre des Apoll von Tenea, der noch ägyptische Züge trägt in freie Bewegung auf.

Wir stoßen gleich in der ersten Szene der aulischen Iphigenie auf ein zerrissenes Vaterherz. Die Flotte der geeinten Griechen liegt in Aulis abfahrbereit nach Troja; aber der Wind setzt nicht ein, Dürre und Seuche wüten, und das Jahr vergeht. Die Mannen sind mürrisch geworden, und auch in die Könige sind Zweifel und Zwiespalt gefahren: wozu eigentlich jene Fahrt? Da hat der Seher Kalchas verkündet: Es läge ein Zorn der Artemis gegen König Agamemnon vor, der eine heilige Hindin in ihrem Tempelbezirk erlegt hat, und nur durch das Opfer der Königstochter Iphigenie könne der Zorn der Göttin besänftigt werden. Agamemnon, den der fürchterliche Seherspruch traf, hatte eingewilligt, sein Kind zu opfern; ein Bote war nach Mykene gesandt zur Königin Klytaimnestra, sie solle kommen mit Iphigenie, denn Achill, Fürst von Phthia, begehre sie zum Weibe. Das Heer wartet ungeduldig auf die Ankunft des königlichen Wagens. - Da sendet Agamemnon, schwankend geworden, heimlich einen Boten mit einem Brief nach Mykene: die Königin und Iphigenie sollen nicht kommen! Denn warum, so denkt er, solle er sein Kind dem Heere opfern und diesem Kriegszug nach Ilion, der letzten Endes doch nur dazu da sei, seinem Bruder Menelaos die entführte Ehegattin Helena zurückzuholen! Wie käme er dazu...? sagt das blutende Vaterherz. Aber der Bote wird abgefangen, und der Brief kommt in des Menelaos Hände. Ein schwerer Konflikt zwischen den Brüdern setzt ein; Menelaos wirf Agamemnon vor, er habe sich seinerzeit in unwürdiger - nämlich demokratischer - Weise um den Königsposten (so könnte er etwa gesagt haben) bemüht und jetzt, nachdem er ihn erhalten, wolle er nicht einstehen und übe Verrat an ihm und dem Heer. Agamemnon steht diesen Vorwürfen waffenlos gegenüber, aber es dreht sich bei dem Streit immer um die Frage: wer ist eigentlich mehr wert, Helena, die Buhlerin, oder Iphigenie, das unschuldige Königskind? Und letzten Endes verläuft er im Rahmen eines Familienkonfliktes.
Da wird plötzlich die Königin Klytaimnestra, mit ihr Iphigenie, gemeldet, und die Verzweiflung des unglücklichen Vaters kennt keine Grenzen. Furchtbar ist das Begrüßungsgespräch zwischen ihm und seiner Tochter, die ihr Schicksal noch nicht kennt und sich für die Braut des Achilleus hält. Aber die Sache wird durch einen alten Sklaven verraten, und plötzlich steht sich alles in seiner kalten Unerbittlichkeit gegenüber: das zu Tode geängstigte Königskind, die wutschnaubende Mutter Klytaimnestra und er, der König Agamemnon mit dem gebrochenen Vaterherzen, das aber soeben in einer andern Richtung zu heilen beginnt. In Menelaos sind inzwischen Brudergefühle aufgekommen, und er reicht dem Schwergetroffenen versöhnend die Hand, Ja, noch weiter; er rät ihm: löse das Heer auf! Zieh nicht nach Ilion! Unbillig wäre es, wenn du dein unschuldig Kind dafür gäbest, daß ich Helena, die Schuldbeladene, wiederbekomme! Aber auf einmal sagt Agamemnon: Nein! Er hat erkannt, daß er in eine Zwangslage geraten ist; denn das Heer fordert von ihm die Opferung des Kindes, es besteht auf seinem Schein; das Heer will nach Ilion. »Flöhe ich zurück nach Mykene, sie würden mir in ihrer Raserei die kyklopischen Mauern schleifen, sie würden meine Kinder erwürgen, auch euch und mich: ich kann nicht mehr zurück, denn Kalchas hat gesprochen!« Wenn im Altertum einer jener fürchterlichen Schamanen gesprochen hatte, die Kalchas und Teiresias: da gab es kein Entrinnen mehr. Das alles aber - und hier spitzt es sich scharf zu - sind nur die Motive seines Handelns, unter deren Zwang er steht: der Grund ist ein anderer. »Nicht Bruder Menelaos hat meinen Willen geknechtet, Kind, nicht um seinetwillen zog ich mit dem Heer nach Aulis, sondern Hellas ist es, das mich zwingt, dich zu opfern. Denn frei soll es werden in dir und mir, mein Kind, und nie wieder soll das Bett einer hellenischen Königin von Barbaren geschändet werden!« - Agamemnon ist wieder König geworden und steht auf einmal an geschichtlicher Stelle. Diese hat er sich nicht ausgesucht, wie das ein Ideologe tut, sondern er ist von der reinen Geschichte berufen worden, und dieser Zwang, unter den er sich nun begibt, ist Zwang aus Freiheit. Er kommt nur in auserlesenen Fällen vor. »Der Mensch hat einen freien Willen, das heißt, er kann einwilligen ins Notwendige« (HEBBEL). Iphigenie aber, die noch kurz vorher ihr Trauerlied sang, stimmt in den Ruf des königlichen Vaters ein, verwirft den Rettungsplan des Achill und bietet sich zum Opfer an.
Euripides hat mit diesen Wendungen arte poetica genau in den Kern des Geschichtlichen getroffen. Denn Geschichte spielt sich nur dort ab, wo Personen in mythischer Atmosphäre von der reinen Geschichte getroffen und zum öffentlichen Handeln bestimmt werden. Diese aber - das ist ihr inneres Lebensgesetz - setzt sich niemals auf bloße Plünderer oder Geschäftsleute nieder - wobei das zweite nur die moderne Form des ersteren ist -, sondern dort, wo das Mythisch-Heroische lebt. Das ist es, was uns an der Geschichte »enthusiasmiert«, wie GOETHE es ausdrückt. Es ist die Quelle zugleich für den epischen Gesang, wie für das historische Ereignis selber. Troja, das wissen wir heute seit den Ausgrabungen Schliemanns und Dörpfelds ganz genau, ist siebenmal im Laufe der Jahrtausende verbrannt und ausgeplündert worden, aber nur das eine Mal, das homerische, war vom Anruf der reinen Geschichte getroffen. So singt HORAZ die unsterblichen Verse:

   Vixere fortes ante Agamemnona
   Multi; sed omnes inlacrimabiles
   Urguentur ignotique longa
   Nocte, carent quia vate sacro. (Carm. IV, 9)

   Viel Tapfre lebten vor Agamemnon schon,
   Doch alle werden sie tränenlos, unbekannt
   Dahingerafft von langer Nacht, weil
   Ihnen kein heiliger Sänger beschert war«. [H. B.]

Der heilige Sänger aber setzt nur dort mit seinem Liede an, wo etwas ist, was sich des Liedes verlohnt. Das aber wiederum geschieht nur da, wo derselbe Stoff, hier also das Objektiv-Mythische am Werke ist: hier greift das Epos als Ausdruck des Subjektiv-Mythischen ein. Daß aber die objektiven Kräfte des Mythos in einem Falle sich ansetzen und im andern nicht, das geschieht nach einem uns völlig undurchdringbaren Gesetz. So waren eben die Eroberer Trojas, die damals sich um Agamemnon versammelten, von jener über das bloße Plündern hinausgehenden Kraft umstrahlt, durch die ihr Feldzug sowohl Träger eines geschichtlichen Vorganges wurde, als auch das Thema zum Liede Homers und der kyklischen Dichter. Es ist dieselbe objektiv-mythische Kraft, deren Herkunft wir oben abgeleitet haben.
Man kann an keinem Beispiel das Problem der Geschichte so gut demonstrieren wie an dem von Ilion. Es scheint uns mit seiner ungeheuren Anziehungskraft vom Weltschicksal hereingegeben. Wer zu Beginn dieses Jahrhunderts das Gymnasium besuchte, der lernte dort den troischen Krieg als einen sagenhaften kennen. Der Sache nach hieß es, sollten die griechischen Stämme das letztemal vor den Perserkriegen in jenem zehnjährigen Kampf um Ilion im Zustande der nationalen Einigung gelebt haben; aber, so meinte man, das sei eben alles Sage, Dichtung, Produkt Homers und der kyklischen Sänger. In Wirklichkeit beginne die griechische Geschichte mit der dorischen Wanderung, und von da an ging man gleich zu Solon und Kleisthenes über; Lykurg sei auch eine sagenhafte Gestalt, also ungeschichtlich. Dabei merkte man nicht, von wem man eigentlich redete; man übersah, daß man weder die dorische Wanderung, noch Solon, noch Kleisthenes und Themistokles auch nur eines Blickes würdigen würde, wenn diese alle nicht die homerisch-mythische Substanz als geschichtliches a priori in sich getragen hätten. Ein Solon, der die Ilias nicht auswendig kann, ist eben kein Solon, sondern heißt nur so. An diesen schwierigen Gedankengang muß man sich erst gewöhnen, wenn man das historische Problem verstehen will. - Von jeher freilich gab man zu, daß möglicherweise in diesen Sagen ein »wahrer Kern« enthalten sei, den man dann, nur deshalb, weil hier etwas passiert war, einen geschichtlichen nannte; als ob das Passieren schon an sich etwas Geschichtliches sei!
Nun ist der Wind in den letzten Jahrzehnten deutlich umgeschlagen. Die Grabungen Schliemanns und Dörpfelds haben es erzwungen, daß man heute dem troischen Kriege geschichtliche Realität zuerkennt. Man spricht von den Heerführern der Griechen mit einer Selbstverständlichkeit als von historischen Gestalten, wie von den Generälen Friedrichs des Großen. Und in der Tat: es liegt auch nicht der allergeringste Grund dazu vor, abzuleugnen, daß Agamemnon König von Mykene, Menelaos König von Sparta war, daß in Pylos der alte Neleide Nestor als Herrscher saß und Odysseus auf Ithaka, dem heutigen Leukas. Der Unterschied zu der sonstigen Historie liegt nur in der mangelnden Kontinuität: es klafft ein zeitlicher Spalt von mehreren Jahrhunderten zwischen der Zerstörung Trojas und den ersten Ereignissen, die man üblicherweise als »historisch beglaubigt« anerkennt. Wie im Weinkeller eines alten Schlosses in einer vergeßnen Ecke ein Jahrgang lagert, bei dem die Mäuse die Etiketten abgefressen haben: der Wein ist sehr alt, aber darum hört er doch nicht auf, Wein zu sein und denselben Gesetzen der Gärung und Reife zu unterliegen. Dieser zeitliche Spalt gab der subjektiven mythenbildenden Kraft Gelegenheit, sich auf das Lebendigste auszuwirken, lebendiger, weil historisch betonter als etwa der Kampf der »Sieben gegen Theben«, dem natürlich auch mehr historische Wirklichkeit zugrunde liegt als die Wissenschaft zugeben will. Nur: dieser Krieg war von der reinen Geschichte her gesehen nur schwach getroffen; auf dem troischen aber ruhte ein gewaltiger mittelmeerischer Akzent.
Jene Umwandlung in der Beurteilung des troischen Krieges beruht einzig und allein auf dem Gedanken Schliemanns, daß Homer in seinen Ortsangaben die Qualitäten eines Reiseführers besitze. Seitdem ist nicht nur das Problem des troischen Krieges gelöst, sondern das der Geschichte selber an seiner entscheidenden Stelle getroffen. Das freilich hat der sonst einfache Schliemann nicht begriffen. Denn nicht obwohl der troische Krieg mythisch ist, ist er doch geschichtlich, sondern weil er es ist. Dieser Satz aber ist nur dann richtig, wenn man vorher sorgsam zwischen dem objektiven Mythos und der subjektiven mythenbildenden Tätigkeit des Dichters geschieden hat. Weil die achäischen Heerführer mythisch-heroisch sind, deshalb wurde dieser (sechste) Plünderungsfeldzug ein historisches Ereignis, deshalb fand er in Homer den heiligen Sänger und deshalb wurde der homergeleitete Mythos das geschichtliche a priori des hellenischen Volkes. Bloßes Heldentum macht das nicht. Wenn wir von den Helden der beiden Weltkriege sprechen, so ist das etwas anderes; Helden sind noch keine Heroen, sondern können ohne Rest ethisch bestimmt werden als Exemplare der Tapferkeit. Doch an ihnen geht der heilige Sänger vorbei...«vixere fortes ante Agamemnona...« Heroentum aber ist Heldentum, durchtränkt vom Mythos, der unergründlich aus der Tiefe der Natur stammt. Die Ur-Heroen, aber befinden sich stets im Kampf mit Ungeheuern und Tiergottheiten einer alten Welt, so Theseus und Herakles. Was aber von diesem mythischen Geiste nicht angeweht ist, das wird von der Geschichte ausgelassen, die sich niemals um Tugendbolde kümmert.
Auch an diesem Orte der Problemstellung hält die Beziehung Mythos-Logos, deren sprachlichen Tiefsinn wir schon einmal bewunderten, ihr Wort. Es darf nämlich nicht der wildumwuchernde Mythos sein - was die Griechen am liebsten hatten -, sondern in diesem Mythos muß vom Logos her ein teleologisches Thema einbrechen, das von der reinen Geschichte heraufgebracht wird und seine bändigende Kraft ausübt. EURIPIDES läßt es die Iphigenie in Aulis sagen:

   »....Ich gebe Griechenland mein Blut.
   Man schlachte mich, man schleife Trojas Feste!
   Das soll mein Denkmal sein auf ewige Tage,
   Das sei mir Hochzeit, Kind, Unsterblichkeit!
   So willís die Ordnung und so seiís. Es herrsche
   Der Grieche und es diene der Barbar!
   Denn der ist Knecht, und jener frei geboren!« (SCHILLER)

Hier wird also ein objektives Thema angeschnitten, das sein Wurzel nicht im Mythos hat. Man hört die Perserkriege schon von ferne heraufdröhnen, und die Selbstbejahung des freien Hellenentums in einem Groß-Hellas: das ist ein politischer Gedanke. Nie wieder soll es einem Barbarenfürsten erlaubt sein, das Bett einer hellenischen Königin zu schänden!
Aber noch etwas anderes soll für alle Zeiten unmöglich gemacht werden, etwas, was vom Dichter wegen seiner Poesielosigkeit nicht behandelt wird. Die griechischen Stadtstaaten waren, da der Boden zu wenig Getreide trug, auf Zufuhr aus dem Pontosgebiete angewiesen. Ihre Schiffe also mußten den Hellespont und die Dardanellen passieren: dort aber saßen die troischen Fürsten samt ihrem Anhang ((epikouroi)) und erhoben Zoll. Sie hatten es in der Hand, ob Hellas bei einer Mißernte verhungern sollte, zum mindestens aber, wie teuer ihm sein Brot zu stehen kam. Das aber war ein politisch unerträglicher Zustand, vorausgesetzt, daß das Subjekt dieser Politik, nämlich Hellas, als eine Einheit existierte. Diese Existenz aber war nur verbürgt, wenn diesem Hellas im archetypischen Sinne (nicht im ideologischen) eine Idee zugrunde lag, deren Wurzel in der reinen Geschichte liegt und deren Sprache der hellenische Mythos ist. Das jahrhundertelange vergebliche Ringen um diese Einheit Hellasí ist, wie bekannt, dessen politische Tragödie. Ein Volk freilich, das als eine Leidenschaft das Scherbengericht zur Beseitigung überlegner Männer und das stattlich konzessionierte Sykophantentum zur Ausplünderung des Besitzes bestätigte, ein solches Volk konnte nicht hoffen, dieses Ziel zu erreichen. Aber als Thema war es da.
Was also die Freiheit der Dardanellendurchfahrt angeht, so zeigt dieses noch heute nicht erloschene Motiv an, daß Geschichte niemals sein kann ohne Materie; die Materie der Geschichte aber ist die Ökonomie. Was keine ökonomische Grundlage hat, das ist nicht geschichtlich: darum zum Beispiel ist der Nibelungenzug zur Etzelburg nicht geschichtlich, sondern nur mythisch. Wir würden uns dem Verdacht aussetzen, Schulknaben belehren zu wollen, wenn wir hier etwa damit begönnen, den sogenannten »geschichtlichen Materialismus« zu widerlegen, was bekanntlich ebenso leicht ist wie den erkenntnistheoretischen, und darum von uns verschmäht wird. Kein Denkvorgang findet jemals statt, ohne daß Eiweiß im Gehirn zersetzt wird; deswegen aber ist das Denken selber keine Eiweißzersetzung, und die Gesetze der Logik sind aus ihr nicht verstehbar. Ebenso wenig findet je ein geschichtlicher Vorgang statt ohne Ökonomie: deshalb aber ist die Geschichte nicht ökonomisch, und ihre Gesetze sind aus ihr nicht verstehbar. Der große Thukydides hat hier das rechte Maß gefunden, wieweit in der Darstellung geschichtlicher Vorgänge ökonomische Dinge berücksichtigt werden müssen. So meint er - Kapitel 11 seines Werkes -, daß der troische Krieg nicht hätte zehn Jahre zu dauern brauchen, wenn nicht ein großer Teil des griechischen Heeres ständig hätte zu ökonomischen Zwecken verwendet werden müssen; hierzu gehörte die Landbestellung des Chersones und die Plünderung kleiner Ortschaften der Troas. Dies beides um den Geldmangel ((achrhmatia)) zu beseitigen. So weit darf der Geschichtsschreiber im Ökonomischen gehen, weiter nicht.
 

12. DIE METHODE DES THUKYDIDES
Der wahre Grund dafür, daß Thukydides der bisher von niemandem erreichte Höhepunkt der Geschichtsschreibung ist, liegt darin, daß er die Elemente, aus denen die Geschichte selber besteht, in genialer Umkehrung zu deren Darstellung verwendet. Daher kommt es auch, daß er nicht überboten werden kann. Wer hier ein Element zu wenig oder eines zu viel nimmt, der irrt im Letzten, und sein Werk muß mißlingen. Die modernen Historiker aber nehmen allemal ein Element zu wenig, nämlich das mythische, weil sie, im Banne ihres Zeitalters stehend, denken, die Natur habe nur eben gerade soviel Kräfte zur Verfügung, als zur Bildung des aufgeklärten Menschentypus notwendig ist. Eine derartig dürftig gesehene Natur als Hintergrund reicht aber nicht aus, um das Phänomen Geschichte zu erklären.
Der Gegenstand nun des Thukydideischen Geschichtswerkes, der Peloponnesische Krieg, entbehrt heute des Interesses; die Art aber, wie er dargestellt ist, bleibt die ständig giltige. Thukydides hat in den Anfangskapiteln 1ó23 seines Werkes das Grundsätzliche seiner Geschichtsschreibung auseinandergesetzt. So kurz und klar hat noch niemand darüber geschrieben. Ihm kommt es gar nicht in den Sinn, daß der Krieg um Troja etwa nicht passiert sein könnte, und zwar in den wesentlichen Zügen so, wie die homerische und kyklische Dichtung ihn darstellen; ihm kommt es nicht in den Sinn, daß es Agamemnon nicht gegeben haben könnte. Minos von Kreta ist ihm kein sagenhafter König, sondern ein König, an dem die Sage haftet. Hellen aber, der Sohn des Deukalion - das reicht bereits an jene Grenze, an der Japhet, der Sohn des Noah steht, und doch ist er ihm eines mit Sicherheit nicht: nämlich nicht »Produkt der dichtenden Volksphantasie«. Es ist schwer zu sagen, was ihm Herakles ist, dem volle Realität zukommt: erdichtet aber ist er keinesfalls. Die mythischen Kräfte, die hier am Werke waren, sind eben selber volksgründend gewesen, und damit sind sie Elemente der Geschichte. So wurzelt bei ihm jeder Grieche, von dem er spricht, im Mythos, und auch Perikles ist, mag er es selber leugnen, Herakles und Prometheus verhaftet; die Brücke bilden Minos, Pelops, Agamemnon. Dabei ist schon die erste Zeile, die er schreibt, von kritischem Geiste getragen: er verspricht - und hält es - sein Werk so zu verfassen, »ohne, daß man glaube, was die Dichter davon gesungen und durch die Kunst vergrößert haben, oder auch was unsere Sagenschreiber ((logographoi)) mehr, um den Leser zu vergnügen, als sich an die genaueste Wahrheit zu binden, davon aufgezeichnet haben, weil sie niemand der Unrichtigkeit überführen konnte« (Kap. 21). Und so entstand, das sagt er mit bleibendem Stolz, sein Werk, das kein »Schaustück für den Augenblick« ((agonisma es to parachrhma)), sondern »Besitztum für alle Zeit« ((kthma es aei)) sei. Und hierhin hat er recht behalten. Folgt noch am Schluß eine Unterscheidung von Grund ((alhthestath prophasis)) und Ursache ((es to phaneron aitia)), die aristotelische Klarheit hat.
Thukydides hält also mit der rechten Hand die vom objektiven Mythos geschaffenen historischen Gestalten fest, indem er auch von ihnen gehalten wird, um zugleich mit der linken die Anmaßungen des subjektiven in Schach zu halten: was niemandem vor oder nach ihm gelang. Alle nach ihm aber sind befangen vom kritischen Geist, den sie ihre »Wissenschaft« nennen, und der sich doch hier wieder einmal als ein »feines Mittel gegen die Wahrheit« erweist. Denn wie soll man eigentlich einem heutigen Privatdozenten der Geschichte helfen, der die Bilanz des friderizianischen Unglücksjahres 1759 ausrechnet und der nun, je weiter er mit seinem kritischen Geiste kommt, schließlich gar nicht mehr unterscheiden kann, was denn nun eigentlich an seiner Tätigkeit noch historisch ist und was kaufmännisch. Ihm tritt ja der Angstschweiß auf die Stirn in dem Augenblick, da im die historische Substanz verlorengeht und er selber nichts weiter ist als ihr Buchhalter. Denn schließlich stößt er ja auf die »Geschichte« irgend einer Fabrik, die die Uniformknöpfe für das Heer verfertigte, und er selber wird in den Strudel der ökonomischen Geschichtsauffassung unweigerlich hineingezogen! Und man frage doch heute irgend jemanden von diesem Metier, was nun eigentlich Geschichte sei: man wird keine Antwort erhalten. Denn das darf er ja gerade nicht: die Werke des objektiven Mythos als Urphänomene einfach stehen zu lassen, wie es Thukydides tat, da gerade sie ja dem »kritischen Geiste« unterliegen! Damit aber unterliegt die ganze Geschichtsforschung. Im Falle Friedrichs des Großen ist diese objektiv-mythische Macht sein Königtum. Es ist eine grundlegend andere Handlung, ob der König eine Bestellung bei einer Knopffabrik macht oder ein anderer Fabrikant; es ist nämlich eine historisch tingierte. Wer immer von königlichem Geblüte ist, in dem steckt stets noch ein ferner Nachhall von jenen Kräften, die, oft in furchtbarer Steigerung, bildhaft in jeden Standbildern von Menschenleibern mit Vogelköpfen sich ausdrücken, die im archaischen Zeitalter der Griechen sich abmilderten zu dem, was Homer »heilige Macht des Alkinoos« nannte, und die noch bis in unsere Zeit eine deutlich gesonderte Substanz bilden. Goethe würde das Königtum in Analogie zur Farbenlehre, »historische Repräsentanz« nennen. Ein König aber, der sich seine Herrschaftsbefugnis durch eine Volkswahl bestätigen läßt und sich damit dem Volke verantwortlich bekennt - statt für das Volk verantwortlich vor Gott -, ein solcher hat, indem er das tut, das Königtum aufgehoben. Keine Infamie, die ein König begeht - und sie begingen sie reichlich -, hebt die objektiv mythische Sanktion des Königtums selber auf: eine demokratische Wahl aber tut es sofort. Das Mythische selber aber tritt erst hervor, wenn ein bestimmtes Zeitmaß erreicht ist. Geschichte muß alt sein. Über den mythischen Gehalt neu auftretender Mächte kann man erst nach Jahrhunderten entscheiden. Es gibt daher heute noch keine eigentliche Geschichte Amerikas oder des modernen Rußlands; damit ist nicht gesagt, daß sie sie nicht haben können. Man spürt sogar in beiden bereits heute eine sichtliche Suche nach mythischen Motiven.
Je mehr man im geistigen Range der landläufigen Historiker heruntergeht, umso mehr sieht man die Angst um die »Wissenschaftlichkeit« zunehmen. Denn heimlich sind sie ja alle - sie wollen es sich nur nicht zugeben - auf jene Verwachsungsstelle zwischen objektivem Mythos und subjektiver dichterischer Phantasie gestoßen. Die Zwangstheorie der Aufklärung aber verlangt die Auflösung des objektiven in den subjektiven, schließlich aber dessen Beseitigung durch den »kritischen Geist«. Und wenn man das tut, so bleibt auf einmal nichts übrig, was man deutlich als Geschichte bezeichnen kann. Bei Thukydides aber blieb es übrig! Wie kommt das? Eben weil er diesen verhängnisvollen Schritt nicht tat. Die großen Historiker geben aber immer freimütig zu, daß ihre Wissenschaft eine »Kunst« sei, oder wie sie es sonst ausdrücken mögen. In der Tat: Homer und Thukydides stehen zunächst auf genau dem gleichen Boden des Mythos. Homer aber verwandelt ihn durch die Dichtung in Ilias und Odyssee, samt den kyklischen Gesängen: hier ist keine Zeile Wissenschaft: Thukydides verwandelt dasselbe durch Wissenschaft in die »Geschichte des Peloponnesischen Krieges«, ohne eine Spur von Dichtung. Wie die beiden Großen das machten, das ist ihr Geheimnis; aber sie machten es. Also ist die Frage: Wie kann Geschichtsschreibung als Wissenschaft auftreten? Eine Frage für die Unbegabten, deren Auflösung sich nicht lohnt.
In der latenten Anwesenheit der reinen Geschichte unterscheidet sich das Werk des Thukydides von dem des Herodot. Dort entsteht Geschichte, hier Geschichten. Er weiß es nicht in abstracto, spricht es nicht aus, aber, wie es die deutsche Sprache treffend wiedergibt: er ist dieser Meinung.
Es gibt Völker ohne Geschichte. Obgleich in ihrem oft auf Jahrtausende verfolgbaren Dasein schließlich dieselben Dinge passieren, wie bei den spezifisch geschichtlichen: Kriege, Palastrevolutionen, Morde, Friedensschlüsse, so bleibt doch das Motiv der historischen Bedeutsamkeit aus. So etwa bei den Indern. Das liegt an ihrer Religion, den beiden Systemen des Vedanta und des Buddhismus. Beide treiben einen Keil zwischen die reine Geschichte und den objektiven Mythos, so daß es hier zu keiner Vereinigung kommt. Der Mythos wird, wie sich JACOB BURCKHARDT ausdrückt, »auf das Märchen reduziert« und kommt damit unterhalb der schöpferischen Linie zu liegen. In diesem Zustande befinden sich aber die weitaus meisten Völkerschaften, die demnach im Bewußtsein des menschlichen Geschlechtes nie Gegenstand der Historie werden, sondern nur der Ethnologie. Stammessagen und Märchen haben bei ihnen überwuchert, und es kommt zu keinem realen Kontakt zwischen ihnen und der reinen Geschichte. Zahllos, wie das Menschengeschlecht selber, strömen sie dahin, kommen und vergehen, und meistens bleiben nur die Namen übrig. - Merkwürdig, aber auch denkwürdig ist das Verhältnis der beiden großen ostasiatischen Reiche zur Geschichte: China und Japan. Zweifellos haben sie mehr davon als Indien; es pocht hier etwas anderes als dort, weil das Gesamtverhältnis zum Leben ein anderes ist. Aber die Natur ist physiognomisch bei ihnen in einen Weise sparsam gewesen, daß wir hier doch an ein Minus gegenüber dem Europäer gemahnt werden. Dieser stereotype Gesichtsausdruck kann doch kein Zufall sein. Hier ist eben etwas Bestimmtes nicht durchgebrochen, ohne das wir Europäer nicht leben können.
Die Historiker behaupten, daß es ein »geschichtliches Fingerspitzengefühl« gäbe, das mit instinktiver Sicherheit entscheide, wo ein historischer Vorgang sich abspielt und wo nicht, und welches man eben von Natur haben müsse, um ein rechter Historiker zu sein. Es gibt also historische Urteilskraft in demselben Sinne, wie es ästhetische, moralische, teleologische und transzendentale gibt. Das aber besagt, daß ihr im Objekt etwas entsprechen muß, denn sonst stieße sie ins Leere. Das Dasein der Geschichtsschreibung beweist das Dasein eines spezifisch geschichtlichen Agens. Es muß etwas beunruhigend Historisches im Welthintergrunde verborgen sein, denn sonst hätte die ganze europäische Erregung um die Geschichte keinen Sinn. So also, wie die Kunst Bürgschaft für die Schönheit leistet, so verbürgt die Geschichtswissenschaft durch ihr bloßes Dasein - ob gelungen oder nicht - einen Erregungszustand im menschlichen Geschlechte, der eine bestimmte, wenn auch noch nicht klar erkennbare Richtung haben muß. Wenn nicht, so gibt es nur Chronistik. Ich mache also das Experiment und setze die historische Urteilskraft des Lesers in Tätigkeit; er soll mir sagen, ob er in der folgenden Reihe aufgezählter Arten von »Geschichte« stets dasselbe empfindet oder ob sich bei ihm spezifische Unterschiede im Anschlagen seiner historischen Urteilskraft bemerkbar machen; ich meine so, wie ein Seismograph bei einem Erdbeben ausschlägt. »Geschichte der Malerei«, »Geschichte des Hauses Israel, »Geschichte des Peloponnesischen Krieges«, »Römische Geschichte«, »Geschichte der Erfindungen«, »Geschichte Amerikas«, »Geschichte des Hauses Rothschild«, »Geschichte der Päpste« - »Weltgeschichte«. Man kann die Reihe beliebig fortsetzen. Überall geschieht etwas, und doch ist nicht alles Geschichte, so wie unsere historische Urteilskraft es fordert. Dieses sondert vielmehr aus und eignet sich nach einem noch undurchsichtigen Gesetz bestimmte Bewegungsvorgänge als ihr zugehörig an; andere stößt sie ab als nur im übertragenen Sinne geschichtlich. Von einer Gleichsetzung jeder Art dieser Reihe mit jeder anderen kann jedenfalls keine Rede sein. Besonders die »Weltgeschichte« holt tief auf und macht Miene wie von höherer Art. Möglich, daß hier überhaupt die Wetterecke ist.
 

13. DIE METAPHYSISCHE WIRKSAMKEIT DES OPFERS
Diesem unsicheren Ausschlagen der historischen Urteilskraft könnte ein Ende bereitet werden, wenn es gelänge, Geschichte in statu nascendi festzuhalten. Ohne es zu wissen, hat das Euripides in der aulischen Iphigenie getan, als er das Thema des Opfers aufgriff. Der Dichter drang hier tiefer hinein, als es Denker je vermochten; das sichert der Poesie den ebenbürtigen Platz in Sachen der Wahrheit. -
Wir kennen das Opfer in der modernen Zeit nur in seiner säkularisierten Form: wenn wir etwa sagen »der Soldat stirbt den Opfertod fürs Vaterland«. Hierbei bleibt alles, was geschieht, bis zuletzt im Banne des Zweckmäßigen. Arnold Winckelried, der die Speere der Feinde auf seine Brust vereinigt und damit den Kameraden eine Gasse schafft, handelt sinnvoll und zweckmäßig. Aber diese Art von Opfer ist hier nicht gemeint; sie kommt schon zu spät in die bereits abrollende Geschichte hinein. Sondern von dem Opfer ist die Rede, dem alle Merkmale des Sinnvollen fehlen und das aller teleologischen Vernunft Hohn spricht: es ist das sakrale Opfer. Das ganze Altertum war von der Überzeugung durchdrungen, daß günstige Wendungen im ablaufenden Schicksal einträten, wenn das Blut des jeweils Edelsten, das im Umkreis liegt, zum Fließen kommt. Es ist genau derselbe schauerliche Gedanke, vor dem Jesus in Gethsemane zurückbebte. Darum waren sich auch im ganzen Stierzeitalter mit seiner Tiervergottung die besten Exemplare dieser Art ihres Lebens nicht sicher; aber auch unter den Menschen-Göttern der Widderzeit hielt das an und dauerte genau bis zu dem Moment, als Kaiser Julianus Apostata jenes historisch verspätete Stieropfer vollzog und - ausgelacht wurde. Der Kaiser-Priester stand mit seinem bluttriefenden Beile da und wußte nicht, wie ihm geschah.
Die Frage aber, die im Großen hier vorliegt, lautet: hatte das Altertum recht, das den Vollzug des Opfers mit seinem Geschehen objektiver Art in Verbindung brachte und also daran glaubte, daß die Götter dadurch gnädig gestimmt wurden? Oder hat das Zeitalter der Aufklärung recht, das diesen Zusammenhang leugnet, die Opferhandlungen als bloß subjektiv und demnach abergläubisch betrachtet? Zu denen dann natürlich auch - und das ist der Kern der Frage - die Opferhandlung auf Golgotha gehört.
Die Menschheit ist schon so oft von einem »Jahrtausende alten Vorurteil befreit worden« - öfter, als ihr gut tat -, so etwa von dem, daß die Erde als Scheibe auf dem Meere schwimmt: aber dabei handelte es sich um Empirisches. Hier dagegen, beim Opfer, steht mehr im Spiel, denn die Menschheit läßt ihrem Gefühlsleben nicht davon ab. Man kommt dabei auf den Gedanken, daß es sich hier um eine Art anthropologisches a priori handelt, dem, wie dem transzendentalen, doch etwas im Objekt entsprechen muß, wenn es Sinn und Giltigkeit haben will. »Es scheint nämlich in der Natur der Dinge nach gewissen verborgenen Gesetzen, die nicht für jedermann verständlich sind, begründet zu sein, daß der freiwillige Tod eines gerechten Mannes für das allgemeine Beste die Macht und die Gewalt der bösen Geister bricht, welche Seuchen, Mißwachs, Stürme und dergleichen Dinge über die Menschen bringen« - so schreibt ORIGINES (ca. Cels. I, 31), den GUSTAVE FLAUBERT »den ungeheuren« nennt. Diese Beobachtung, daß das Opfer »in der Natur der Dinge liegt«, bedeutet, daß es mit zum Polgebiet der Naturachse gehört, denn es muß ja eine bestimmte Lage haben. Das Opfer kann demnach aus dem Menschengeschlechte nie ausgelöscht werden und kann nie aufhören, helfende Kräfte heraufzuholen. Das aber hat Euripides offenbar begriffen, und es beschäftigt ihn tief; denn es kann doch kein Zufall sein, daß er, der »Aufklärer«, der »Moderne« unter den Tragikern, so oft und so glanzvoll das Opferthema darstellt, während die beiden Alten davon schweigen. Noch weniger ist es Zufall, daß von allen attischen Tragödien nur das Opferthema der Iphigenie in die moderne Dichtung einging und bis auf den heutigen Tag lebendig geblieben ist, während man immer die größte Mühe hat, Meisterwerke, wie »König Ödipus«, »Elektra«, »Agamemnon« auch in ihren modernen Varianten auf der Bühne zu halten. Das macht: jenes anthropologische a priori des Opferthemas kann nie seine Wirksamkeit verlieren. Es liegt »in der Natur der Dinge«.
Wie aber war die Lage in Aulis...? (Wir müssen das wiederholen.) Heer und Flotte der versammelten Griechen liegen abfahrbereit nach Troja im Hafen. Aber es kommt kein Wind auf, monatelang brütet eine unbarmherzige Sonne und dörrt das Land aus. Hunger und Seuchen dezimieren das Heer, Unwille und Empörung machen sich breit: die einen wollen nach Hause, die andern drängen nach Ilion. Es ist herumlungernde Soldateska, kein Heer. Auch die Fürsten sind uneins, Agamemnon schwankt, und sogar Menelaos, den es doch am meisten angeht, stimmt für die Rückkehr. Die Situation ist alles andere, nur trägt sie keinen historischen Akzent. Auf des Messers Schneide stand es, und alles hätte sich aufgelöst. Das ändert sich auch nicht, als Kalchas, der Opferpriester, das furchtbare Wort von der beleidigten Artemis ausspricht, die nur durch den Tod der Iphigenie besänftigt werden könne; die Spannung verstärkt sich nur. Aber das ganze Heer samt Fürsten gerät in einen Zustand höchster Empfänglichkeit für die aus einem sakralen Opfervorgang frei werdenden Kräfte. In diesen hinein fällt der Entschluß der Iphigenie für den Opfertod. Er ist ein freier, denn die Freiheit gehört zu den Bedingungen der Wirkung. Und das Opfer geschieht. Es gehört auf die Seite des subjektiven Mythos, ob ihr Blut wirklich geflossen ist oder ob jene Entführung nach Tauris stattfand. Man sieht hier, daß es nicht immer auf das Tatsächliche ankommt, sondern auf das Ethische, genau wie beim Isaak-Opfer. Die Szene selber reichte hin, um die Entscheidung auszulösen:

  »...zur Erde blickend stand das ganze Heer.
  Der Priester nahm das Opferschwert und betete
  Mit einem Blick zur Mädchenkehle für den Stoß.
  Mir aber schnitt kein kleiner Schmerz das Herz entzwei,
  Ich stand den Blick zur Erde. Da: ein Wunder plötzlich anzuschauín!
  Noch hatte jeder klar den Opferstoß gesehín,
  Doch niemand, wo die Jungfrau erdenwärts verschwand!
  Unfaßlich Wunder, das aus Götterhand geschah...« H. B.
     (Eur. Iph. Aul. 1577)

Aber was geschah denn nun eigentlich wirklich? Daß nach dem abgemilderten Opfer der Wind einsetzte, ist natürlich Zufall. Er tat es, weil ein Tiefdruckgebiet sich inzwischen in Richtung nach Ilion verlagert hatte; zwischen diesem rein meteorologischen Vorgang und dem Opfer besteht kein Zusammenhang. Hätte der Wind vierzehn Tage später eingesetzt, der Priester hätte triftige Gründe dafür gefunden, denn daraufhin ist diese Kaste von altersher geschult. Auf diesem empirischen Terrain, das freilich für das niedere Volk allein besteht, war überhaupt nichts geschehen. Wohl aber in jenem Raum, dem sie alle unterworfen waren, ohne es zu wissen: im objektiven Mythos, im kollektiven Unbewußten und in der reinen Geschichte. Dort mitten hinein aber fiel endlich das befreiende Wort der Iphigenie und ihre erlösende Tat. Mit einem Male war alles da, was zum geschichtlichen Entschluß gehört; aus der lungernden Soldateska wurde das Achäerheer gegen Ilion, dessen Stunde damit schlug. Das Opfer aber war die zündende Tat, die das alles zusammenfügte; denn es liegt »in der Natur der Dinge nach gewissen verborgenen Gesetzen«. Es hatte ein geheime Weihung des Heeres stattgefunden, und diese vollzog sich in der selben mythischen Ebene, in der sich auch das Abendmahl abspielt. Es ist durch und durch wirklich.
Wäre es nicht geschehen: der Wind hätte trotzdem eingesetzt; die Soldateska aber wäre geblieben, was sie war. Ein Teil wäre nach Hause zurückgekehrt, ein anderer nach Ilion gefahren, um zu plündern und die heilige Stadt das sechste Mal zu zerstören, sang- und klanglos, wie bisher. Denn dieser Raubzug hätte keinen heiligen Sänger gefunden, den Griechen wäre ihr Mythos zur bloßen Stammessage reduziert worden, kein Homer und kein kyklischer Sänger hätte ihn gebändigt und ihn so in jedes Griechengemüt eingemeißelt; kurzum, es hätte überhaupt keinen Griechen im historischen Sinne gegeben. Sie wären ein mittelmeerischer Volksstamm geblieben, wie andere auch, mit leidlich auffallender Begabung für allerhand Kunsthandwerk. Da aber das Opfer in Aulis wirklich fiel, so wurde die Einheit Hellasí auch in der Wirklichkeit geschaffen, die archetypisches Urbild für alles ist, was man mit Fug und Recht seine Geschichte nennt. - Wenn diese nun in statu nascendi so aussah: wie steht es dann in der gleichen Lage mit der Weltgeschichte?
 

14. DER DURCHBRUCH VON GOLGATHA UND DIE WELTGESCHICHTE
Wer das Wort Weltgeschichte ausspricht, meint damit einen Singular. Also nicht die zahllosen Historien vergangener Reiche, wie wir sie in solchen Kompendien finden, die sich mit erheblicher Anmaßung Weltgeschichte nennen, sondern die Geschichte dieser einen Welt, die es nur gibt und die also notwendig immanent sein muß. Wäre das Opfer der Iphigenie ausgeblieben, so wäre der Krieg um Troja kein historischer geworden, mit ihm aber wäre auch die Geschichte von Hellas ausgeblieben. Und wäre das Opfer auf Golgotha nicht geschehen, so gäbe es keine Weltgeschichte. Das ist kein Glaubensbekenntnis, sondern Wissenschaft. »Welt« aber bedeutet stets das konstituierte Prinzip im Gegensatz zu »Natur«, die das konstituierende ist; also ein ähnlicher Gegensatz wie der zwischen status nascendi und actus demonstrandi. Die Welt hat keine Achse, wohl aber die Natur. Sie steht unter der Wucht des kosmologischen Dreiklanges: Schöpfung, Sünde, Erlösung, der vom Historischen her durch die reine Geschichte und den Mythos gekreuzt wird.
Das Opfer der Iphigenie hat das Volk von Hellas in den Stand der Geschichte erhoben. Aber alle Königstöchter und Erstgeborenen der Welt reichen nicht aus, um die Welt selber dorthin zu erheben. Das geht über die Reichweite menschlicher Handlungen hinaus; denn so wenig der Mensch durch noch so große Häufung explosiver Stoffe die Erdbewegung beeinflussen kann, so wenig langt das Opfer noch so vieler und noch so edler Menschen hin, um Einfluß auf die kosmologische Weltbewegung zu haben. Diese Macht hat nur das Opfer des Menschensohnes.
Im eschatologischen Denken Jesu von Nazareth - seinem wichtigsten - tritt nach dem Zusammenbruch seines ersten Reich-Gottes-Planes anstelle der verkündeten Haltung die grüblerische; daß er selbst, der Menschensohn, dieses Opfer sei. Darüber sinnt er ständig nach, wenn er sich mit seinen Jüngern in die Einsamkeit zurückzieht. Aber er kommt nicht zum Ende und kann es nicht, weil das sakrale Opfer im Gegensatz zum säkularen dem Gedanken undurchdringlich bleibt und reines Mysterium der Natur ist. In der Tat weiß er noch bei den ersten Nagelungen nicht, was das alles für einen Sinn haben soll; aber er lehnt betäubende Getränke ab. Völlig ratlos sind natürlich die Jünger, einfach weil sie das immer waren. Aber mitten zwischen den verzweifelten Worten am Kreuz: »Mein Gott! Mein Gott! Warum hast du mich verlassen?« und dem letzten: »Es ist vollbracht!« muß der Durchbruch in voller Gedankenklarheit erfolgt sein. Dies ist der Augenblick, in dem die Natur in die Welt einbricht und sie in den Stand der Heilsgeschichte versetzt. Besäßen wir hinreichende Kenntnisse des Gestirnstandes bei der Geburt Jesu, so könnten wir diesen auf die Sekunde genau bestimmen.
Was aber geschah in diesem Moment, der die volle Autorität einer Naturkrisis enthält? Die Natur bricht niemals ihr Gesetz und arbeitet stets mit den gleichen Mitteln. In den Tagen des Paläozoikums, in denen noch kein Tier lebte, das Augen hatte, gab es noch kein Licht »und es war finster in der Tiefe«. Wohl aber gab es den Lichtäther, jene unleuchtend-lichthaften Kraftwellen, die von der Sonne ausgingen; diese war wohl da, aber sie schien nicht. Auf der andern, der subjektiven Seite, gab es bei einigen Würmern und den Vorläufern der Insekten und Krebse nervöse warzenartige Gebilde am Kopf, die die Tendenz hatten, sich jenen sie eigenartig reizenden Wellen entgegenzubilden, so, als ob sie füreinander da wären. Und sie waren auch für einander da. Eines Tages trat dann der Augenblick ein, da sich beides fand; die Warze wurde Organ für die Wellen, das heißt also Auge, und auf einmal wurde es hell, wenn auch in allerschwächster Dämmerung. Aber die Dunkelheit war durchbrochen, und fortan verlief das Naturgeschehen, in dem es bis zu Menschenauge hinauf immer heller wurde, nicht mehr ohne Augen. Da nun die Materie, die an diesem Prozeß beteiligt war, von innen gesehen Wille ist, so kann man sagen: der Lichtäther strebte sehnsüchtig nach dem Organ, das ihn, der sonst ruhelos umherirrte, aufnähme. Und auf der andern, der subjektiven Seite strebte der Organismus jener noch ganz niederen Tierheit dem lockenden Drängen entgegen und bildete das Auge, damit es Licht werde. Denn das Licht wird begehrt.
Nun gibt es aber noch eine andere Kraft der Natur, von der wir wissen, daß sie einmal, lange Zeit vergeblich, nach ihrem zugewiesenen Organ gestrebt hat ohne es zu finden. Diese Kraft ist die Güte, vom Apostel Paulus mit dem wohlklingenden Namen Agathosyne benannt. Die Güte aber hat ihren Raum nicht im Empirischen, wie der Lichtäther, sondern sie liegt noch hinter den Archetypen in der »Raumtiefe der Natur« (WILUTZKY) etwa da, wo der johannëische Logos heimisch ist. Die Güte kann demnach als zugewiesenes Organ kein solches von der Art der fünf Sinnesorgane haben; sie paßten nicht aufeinander und es käme hier nur zu inadäquaten Reizen. Vielmehr bedarf sie eines solchen, das von transzendentalem Charakter ist. Das aber ist allein der Eros.
Während nun bei der Entstehung des Lichtes es so zuging, wie wenn man in einem dunkle Zimmer einen Span zum Entflammen bringt, das Zimmer nebenan aber dunkel bleibt: geriet die ganze Welt in einen anderen Zustand, als die Güte ihr Organ fand. Denn das Transzendentale geht auf die Welt als Ganzes. Nun ist der Eros schon einmal Organ geworden, nämlich »damals«, als durch ihn die Person entstand und das principium individuationis, das für die Tierheit allein gilt, in das der Personalität verwandelt wurde. Dieses wahrhaft trächtige und schwer überlastete Organ wird nun durch die Güte, die es als das ihrige sucht, zum zweiten Male angerufen. Nachdem der Kontakt gelang, die Liebe als Organ für die Güte gefestigt war, erscheint mit einem Male in der Ethik dies neue Phänomen: das Altertum kannte in seinen Höhepunkten nur Handlungen aus Edelmut oder »gute Handlungen« aus dem Gesetz; das erste gilt für die Hellenen, das zweite für die Juden. Jetzt aber gibt es etwas Drittes, nämlich Handlungen aus Güte »getrennt vom Gesetz« ((choris)). Diese sind naturunmittelbar und unterscheiden sich auch von denen aus Edelmut. Handlungen aus Güte sind daher christliches Privileg.
Diese Unterscheidung ist heute noch so nötig zu treffen, wie vor zweitausend Jahren, denn noch heute vermag kein Kantianer und kein Calvinist, aber auch kein Israelit den völlig heterogenen Ursprung der Handlung aus Güte zu erkennen; sie leiten vielmehr die sogenannten guten Handlungen aus dem Gesetz ab. Nur LUTHER hält hier stand, und wäre er in seiner Übersetzung des Römerbriefes auf den griechischen Text zurückgegangen und hätte gelesen, was dort steht, so hätte er nicht geschrieben »ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben«, sondern »getrennt ((choris)) von den Werken des Gesetzes durch den Glauben«. So steht es da, so ist es auch richtig und so allein durfte man übersetzen. Ist es denn erlaubt, das Neue Testament zu interpretieren, ohne es in der Sprache zu lesen, in der es geschrieben ist? War LUTHER nicht eigentlich gewarnt worden, als er damals zu seiner tiefsten Erschütterung in der Erasmischen Ausgabe las, daß für »poenitentia« im Griechischen »Metanoia« steht - und doch übersetze er mit »Buße«...? Durch jenes verhängnisvolle »ohne« des Gesetzes Werke hat er sich die ganze Sippschaft um Karlstadt und Thomas Münzer auf den Hals geladen und sich damit die Reformation verdorben.
Was aber »Taten aus Güte« sind, ist freilich nur andeutungsweise zu sagen, denn sie machen eben das christliche Tatgeheimnis aus. Nur das weiß man mit Sicherheit: daß die in ihnen wirksame Güte nicht Eigentum der Täter ist. Diese durchdringende Eigentumslosigkeit des Menschen an der Güte ist der giltigste Beweis dafür, daß sie aus dem Objekt stammt. Und wäre er nicht im Besitze der Liebe, die sie heraufholt, wie das Auge das Licht, so entbehrte das menschliche Tun seiner obersten Blüte; es gäbe dann nur gute Handlungen, vollzogen mit gutem Willen - den der Mensch halbwegs hat -, gegründet auf dem Sittengesetz, so wie sich Kant und CalvinSiehe Barmherzigkeit die Ethik vorstellen und wie jeder fromme Jude sie denkt. Wäre das Opfer auf Golgatha ausgeblieben, so wäre das menschliche Tun - und damit sein Schicksal überhaupt - um diesen Betrag dunkler geblieben, und die Religion wäre nicht vollzogen worden. Das heißt aber: der ganzen Natur wäre der Weg zur Erlösung versperrt geblieben.
Die Güte ist nicht zu verwechseln mit der natürlichen Gutherzigkeit mancher Menschen und wohl auch mancher Tiere. Diese gehört zu deren empirischem Charakter und kann dasein oder nicht. Auch die im Liebesleben aufkommende Neigung, dem geliebten Partner allerhand Gutes anzutun, ist nicht gemeint. Denn diese unterliegt psychologischen Gesetzen, und wehe ihm, wenn die Liebe sich eines Tages in Haß verwandelt und die Rache der Medea nimmt! Aber Schatten der Güte ist sie immerhin. Erst aber, wenn sich die Liebe von ihrer transzendentalen Organfunktion, ohne sie aufzuheben, ablöst und sich, der geliebten Person mit ihren Besitzansprüchen die Treue brechend, vertrauensvoll dem reinen Objekt öffnet - welches geschieht durch Gnade -, erst dann ist der Standpunkt erreicht, in dem Metaphysik als Vorgang auftritt. Transzendental ist alles das, was mit Notwendigkeit die Welt der Erfahrung bildet, auch die der Person; Metaphysik dagegen ereignet sich, tritt auf - aber nicht »als Wissenschaft«. Die Güte also bricht metaphysisch ein und hilft der Welt. Niemand aber hat Zugang zur Religion, der nicht, ob glücklich oder nicht, die irdische Liebe kennt.
Aus alledem geht hervor, daß die Liebe, von der im Christentum die Rede ist, unmöglich die »Nächstenliebe« sein kann, sondern nur die wirkliche des Hohen Liedes Salomonis - das keinerlei allegorische Deutung zuläßt - und der heidnische Eros. Denn »Nächstenliebe« gibt es nicht; sie ist nirgends in der Natur gegründet. Sondern Nächstenliebe soll es geben. Was aber nicht ist, sondern nur sein soll, das kann nicht Organ sein. Hier gibt es gar kein Entweichen: entweder so ist es richtig, oder die Religion steht im Christentum auf Flugsand. - Wohl aber enthält der christliche Charakter, den es seit dem Kreuzestode gibt, die caritas als seinen wesentlichen Bestandteil. Erst der Christ kann seinen Nächsten lieben und das Gesetz erfüllen, gerade weil diese Erfüllung »getrennt vom Gesetz« stattfindet. Es gibt im christlichen Menschen eine letzte Hemmung der Humanität, die es ihm unter allen Umständen verbietet, das Leben des Mitmenschen bedenkenlos zu zerstören. Diese Hemmung kannte das Altertum nicht. Die caritas ist demnach ein Produkt des christlichen Weltprozesses.
Das Umherirren des Lichtäthers, ehe er sein Organ im Auge fand, tat nicht sonderlich weh aus Gründen der Stumpfheit des Willens auf dieser Stufe: wohl aber das der Güte - die noch nicht Güte war. Denn sie ist die einzige erlösende Kraft; ihr zugewiesenes Organ aber, die Liebe, befand sich in der Hand des Menschen schon auf einer sehr hohen Stufe tiefster Verworfenheit durch die Erbsünde. Zwischen der organsuchenden Güte aber und dem Organ selber lag als Naturverhängnis - das Opfer. Um dieses Drama geht es im Christentum. Gott kann, ohne sich selbst aufzuheben, das dunkle Opferverhängis der Natur nicht zu Fall bringen, sondern es muß vollzogen werden. So wie die Natur in ihrer aufsteigenden Linie in den Zeugungsakten durch ein Mysterium der Schöpfung symbolisiert, so ist auf dem Wege rückwärts zur Erlösung das Mysterium des Opfers als ein undurchdringliches Geheimnis gesetzt. Dem gilt das Nachdenken Jesu in seinen einsamen Stunden; es fragt sich für ihn, ob er dem Opfer ausweichen könne, und als er die verneinende Antwort erhielt, nahm er es gehorsam auf sich. Nur wenn es geschah, sprang der Funke über, nur wenn alles bis zum Letzten ohne Betäubung ausgehalten wurde, konnte die Liebe Organ für die Güte werden. Das ist der Sinn der Worte »für uns gestorben zur Vergebung der Sünde«. Also nicht, was Jesus gelehrt hat, bricht den Bann, nicht darum dreht sich die Achse der Natur, sondern nur um den Opfertod. Jenes ist nicht so sehr vieles mehr, als was schon andere vor ihm lehrten; und wenn tausend Propheten seinesgleichen unisono dasselbe gepredigt hätten: es wäre nichts anderes dabei herausgekommen als ein kurzer Massenwahn, und es hätte sich aufs neue erwiesen, wie beschränkt die Reichweite menschlicher Handlungen ist. Der Opfertod aber war eine Sanktion des Naturgesetzes aus Freiheit des Menschensohnes, und das war ein reines Ereignis der Natur. So ist sie nun einmal, und wir sind ihr, zu unserm Glück, unterworfen.
Die Liebe also ergreift die Güte nicht in der Art, wie die Hand eine hölzerne Kugel ergreift, sondern wie das Auge den unleuchtenden Lichtäther. In diesem Sinne allein ist sie Organ, nicht wie die Hand. Denn die hölzerne Kugel ist auch ohne die Hand hölzern und rund, die Güte aber ist nicht ohne die Liebe Güte. Sie müssen sich treffen, sonst bleibt beiden ihr tiefster Sinn verschlossen. Das macht: die Welt ist Erscheinung und nicht Ding an sich. Hätten sie sich nicht - auf Golgatha - getroffen, so wäre die Ethik des Altertums bestehen geblieben und die Weltgeschichte um einen Akt verkürzt. So aber bekam sie mit einem Schlage Naturtiefe. Ein ganzer Komplex von Handlungen aus Güte entstand, der im Altertum unmöglich war und auch nirgends bezeugt ist. Das, was das Neue Testament die »Liebe Gottes« nennt, und was eigentlich die »Güte Gottes« (Agathosyne) heißen muß, ist das an die Welt abgegebene Stück Schöpferlust, von der es heißt, daß sie »nimmer aufhört«. Von da an hat die Ethik die Möglichkeit, aus geschenkter Freiheit getrennt vom Gesetz zu handeln; es ist der höchste Ort, den sie erreichen kann, und eben das nannten die Apostel das Evangelium. Denn es ist ich ihm noch mehr enthalten als das gesetzesfreie Handeln: eine deutliche Durchbrechung der Erbsünde (so muß man ((aphesis ths amartias)) übersetzen, und nicht bloß »Vergebung der Sünde«) und der ebenso deutliche Geschmack für ein »ewiges Leben«. Wie die Erde im Tertiär von einer dichten Wolkenschicht eingehüllt war, so daß kein Mensch den blauen Himmel und die Sonne sehen konnte, von der doch alles Leben stammt; so ist des Menschen Tun von der Erbsünde umhüllt. Erst ein Riß in der Wolkenschicht legt den blauen Himmel frei. - Hierbei wird die Frage des »Lebens nach dem Tode« übergangen, weil jeder, der davon befallen ist, weiß, daß er »den Tod nicht schmecken« wird, ganz gleich, ob er eintritt oder nicht. Dem Tode ist die Gewalt über die menschliche Seele genommen, die sonst so vollständig über sie zu triumphieren vermag. - Das alles aber wäre nicht geschehen, wäre es bloß gepredigt und verkündet worden, sondern nur das Opfer konnte es wirklich machen. Seitdem aber gibt es auch kein Opfer mehr, sondern nur noch symbolische Kulthandlungen dieser Art. Jeder Versuch, ein sakrales Opfer ernsthaft zu vollziehen, ist nach Golgatha mit dem Fluche der Lächerlichkeit beladen; wovon Kaiser Julianus Apostata ein Lied zu singen wußte.

Man fragt nun: wenn es so ist, daß der Kern des Christentums in der natürlichen Liebe liegt, die Organ für die Güte wird - warum hat Jesus von Nazareth mit keinem Worte davon geredet, und warum wissen auch die Evangelisten und Apostel nichts Rechtes davon? Es ist doch immer nur von »Liebe untereinander« die Rede, der geforderten Nächsten- und Menschenliebe also, ja von »Feindesliebe«, deren abwegige Natur auf der Hand liegt. Ist das hier Gesagte demnach nicht eine willkürliche Interpretation, vielleicht gar »aus dem Eignen heraus«, weil dieses Eigne nicht von der irdischen Liebe lassen will...? Die Antwort lautet in der Form der Gegenfrage: Wie wäre es möglich gewesen, daß Jesus von Nazareth dies hätte verkünden können, ehe er es selber wußte? Und vor allem, ehe es geschehen war? Denn die Entscheidung hierüber fiel ja erst am Kreuz zwischen dem »Warum hast du mich verlassen...?« und »Es ist vollbracht!« Der Prozeß, dem Jesus unterliegt, ist ja der geniale in des Wortes reinster Bedeutung. Er hat nichts hinzugefügt, ergänzt oder vervollkommnet, sondern neu geschaffen ohne jede Vorgängerschaft aus der Tiefe der Natur heraus, wie es eben allein der Genius tut. Der aber weiß nichts vorher, ehe denn der Funke überspringt. Fragt man mich aber, warum er denn nach der Auferstehung nichts davon gesagt hat und sogar bei dem dürftigen »Liebet euch untereinander« geblieben ist, so antworte ich darauf: das weiß ich nicht.
Der geniale Prozeß in der Menschheit aber hat sich bisher so abgespielt, daß er auf dem Gebiete der Kunst in reicher Fülle strömte und bis zur Anonymität sich aufgab; in der Erkenntnis ist schon die Seltenheit bemerkbar; in der Ethik aber gibt es nur zwei: Mose und Jesus. Denn nur diese beiden haben ethische Substanz aus der Tiefe heraufgefördert. Die großen Gesetzgeber der Völker blieben auf dem Territorium der Legalität, Philosophen treffen nur das Problem und verfehlen es zugleich, weil der Platz in der Vernunft nicht ausreicht. Nur hier aber, bei Mose und Jesus, wird Metaphysik Ereignis. Dem Mose wird das Gesetz offenbart und er bleibt dabei selber bis in sein hohes Alter erhalten. Jesus ist nicht Prophet, sondern Menschen-Sohn und reißt die letzte Tiefe der Ethik durch das Opfer auf. Darüber hinaus gibt es nichts. Die Abdrängung des Christentums aber auf das soziale Gebiet, die im Zunehmen begriffen ist, bedeutet eine Verdunkelung der Tat Christi. Ihr gegenüber sind auch die Dokumente des Neuen Testamentes kein adäquater Ausdruck, und auch Johannes und Paulus, die am tiefsten sahen, reichen hier nicht aus. - Wo wäre aber heute der christliche Priester, der von der Kanzel laut und vernehmlich zu verkünden wagte: »Wir sind nicht dazu da, um euch etwas zu essen zu geben, sondern um der Vergebung der Sünden willen« - und der es darauf ankommen ließe, ob sie aufstehn und wandeln?
Wer im Frühjahr mit der Axt eine Birke anschlägt, der wird bemerken, daß der Baum von der Natur überschnell einen Strom heilenden Saftes an die wunde Stelle geschickt bekommt. Aber der Saft heilt nicht nur die Birke, sondern der Mensch, der von ihm trinkt, wird durch ihn überraschend schnell von allen jenen ermüdenden Stoffen befreit, die der trübe Winter in ihm aufgesammelt hat und die sich an seinem Schlaf vergreifen. Mit einem Male steht er in voller Frühlingsfreude da, so wie jemand, der ein Glas edlen Weines trinkt, im Augenblicke selig wird. Wenn das nun wahr ist, was hier vom Menschensohn gesagt wurde, der zugleich Sohn Gottes ist, dann war das Kreuzesopfer auf Golgatha der Axthieb, der Welt und Natur zugleich getroffen hat. Das aber ist kein Gleichnis, sondern dieselbe Sache, wie bei der verwundeten Birke. Jesus von Nazareth aber, der als Prophet Schiffbruch gelitten hat, wie keiner vor ihm, hat hier nicht fehlgegriffen. Gethsemane aus Freiheit war der richtige Griff, denn Freisein heißt: einwilligen in das Notwendige. Jedenfalls strömt von diesem Opfertage an aus der letzten Tiefe der Natur, dort, wo die Güte lagert, jener unnachahmliche Heilungssaft der christlichen Substanz - ((soma Christou)) -, der nicht nur den Nazarener selber heilte bis zur Auferstehung, sondern auch ständig für das Menschengeschlechte quillt, das willig ist, ihn zu trinken.
 

15. DIE VERWIRRUNG PLATONS MIT DER »IDEE DES GUTEN«.
Ein abgelaufenes Zeitalter hat der Meinung gehuldigt, daß das Christentum aus einem Entwicklungsprozeß hervorgegangen sei, dessen eine Spur auf die hellenische Antike, besonders die Philosophie Platons führe, »schon Platon hat gesagt...« usw. Deren Macht soll nicht bestritten werden, und es soll auch der Klang zu seinem Rechte kommen, der sich von hier erhob. Aber PLATONS »Idee des Guten« hat nichts mit der paulinischen Agathosyne zu tun und ist auch nicht die Güte. Sie stellt sich vielmehr bei näherem Zusehen als ein mißglücktes Gebilde dar, dessen Entstehung man betrachten muß, um seine Unhaltbarkeit zu durchschauen.
Sie kam auf folgende Weise gemäß der sokratisch-platonischen Denkmethode zustande: es gibt allerhand gute Dinge in der Welt; so einen guten Schuhmacher, einen guten Soldaten, einen guten Steuermann, einen guten Staatslenker usw. Durch den logischen Prozeß der Abstraktion nun kann ich »das Gute« an all diesen Einzeldingen eliminieren und erhalte dadurch den Begriff des Guten ((eidos)), das heißt das »Gute an und für sich«; und durch eine neue Denkoperation kann ich es definieren ((orizein)) und komme zu dem Ergebnis: das Gute ist das zweckmäßig Richtige. Weiter nichts; also die positive Beziehung eines Gegenstandes zu dem, wozu er da ist. Hier würde also eine volle Ernüchterung eintreten, käme nicht außer dem guten Schuhmacher und dem guten Soldaten noch der gut handelnde Mensch in der Erfahrung vor. Sokrates hatte auf dieses, das ethische Phänomen verwiesen, als er unter dem Gelächter des Alkibiades die Frage aufwarf, was besser sei, Unrecht tun oder Unrecht leiden. Ganz Athen hatte sich darüber aufgeregt. Hier aber stellte es sich heraus, daß wieder einmal der Sprachgeiz seine verhängnisvollen Hände im Spiel hat. Denn während das Gute am guten Schuhmacher seine empirisch greifbare Basis im Schuhwerk hat, das er herstellt, das des guten Soldaten im Kriege, des Steuermannes im Schiff, fehlt diese Basis beim gut handelnden Menschen: sie wäre demnach - wenn überhaupt - nur im Metaphysischen zu suchen, und hier wird »gut« in völlig anderer, ja entgegengesetzter Bedeutung gebraucht. Denn die guten Handlungen sind weder zweckmäßig, noch nützlich. Merkwürdig ist, daß die deutsche Sprache hier plötzlich freigebig wird, wenn es sich um das Gegenteil handelt; denn das Gegenteil von gut im empirischen Sinne heißt schlecht, im metaphysischen aber böse. Das klassische Griechisch hat keinen wirklich treffenden Ausdruck für böse: ((aischros)) und ((kakos)) - beide bleiben empirisch. Die deutsche Sprache aber hat auf das Phänomen freigebig geantwortet. So, mit dem Sprachgeiz zugleich und mit einem Denkfehler belastet, rückt die vorgebliche »Idee des Guten« in die metaphysische Betrachtung ein. Platon unterliegt hier wieder einmal seinem eignen Denken; er findet sich nicht zurecht, weil seine Philosophie keine Orientierung hat. Er verwechselt von neuem »Begriff« und »Idee«, die sich durch ihre Lage unterscheiden, das heißt, er läßt sich vom metaphysischen Bestandteil des »Guten« dazu verleiten, den gedachten Begriff der bloßen Beziehung »gut« ins Objekt zu verlegen, so als sei er auch eine Idee im archetypischen Sinne des Wortes. Das alles tut er in dem berühmten »Höhlengleichnis«.
Dort finden wir die Menschheit in einer unterirdischen höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang hat. In dieser sind die Menschen von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber nicht herumdrehen können. Licht aber haben sie von einem Feuer, das hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den Gefangenen, also hinter deren Rücken werden Gefäße und Bildsäulen, sowie andere Bilder allerlei Arbeit herumgetragen. »Meinst du nun« - heißt es -, »daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander etwas anderes zu sehen bekommen als die Schatten, die das Feuer an die Wand wirft...Und von den vorübergetragenen Gegenständen nicht eben dieses?« Bis hierhin, also genau zur Hälfte, ist das Höhlengleichnis richtig; es schildert in der Sprache des Bildes die Ideenlehre, wobei streng gewahrt wird, daß es Ideen nur von wirklichen Dingen geben kann, also von solchen, deren Urbild einen Schatten zu werfen vermag. Nun kommt die großartige Szene, daß einer von ihnen sich losreißt und gezwungen wird, kraft Fügung der Natur, aufzustehen, den Hals herumzudrehen, und nun, statt der bloßen Schatten das Schattenwerfende, also die Urbilder selber zu sehen bekommt. Er dringt damit, platonisch gesprochen, in die Region der Erkenntnis (epistéme) vor, während er bisher, als er noch, gefesselt, die Schatten für das Wahre hielt, in der bloßen Meinung (doxa) befangen war. In unserer Sprache geredet: er gerät in die geniale Zone, nimmt den Posten des Genius ein, der, im Kontakt mit den Archetypen der Dinge, deren Gesetz erkennt. »Und wenn sie dort unter sich Ehre, Lob und Belohnungen für den bestimmt hatten, der das Vorüberziehende am schärfsten sah und sich am besten behielt, was zuerst zu kommen pflegte und was zuletzt und was zugleich, und daher also am besten vorhersagen konnte, was nun erscheinen werde: glaubst du, es werde ihn danach noch groß verlangen und er werde die bei jenen Geehrten und Machthabenden beneiden...?« (Rep. VII, 516). - Bis hierhin ist alles im Lot und das Gleichnis stimmt. Nun aber findet außer diesem ersten Blick auf die schattenwerfenden Urbilder noch ein zweiter statt, der tiefer hineinreicht und in das Licht selber geht. Dabei verwirrt sich das Bild noch, indem statt des Feuer, von dem ursprünglich die Rede war, auf einmal die Sonne auftritt; das Gleichnis hat zweifellos einen korrupten Text, es wird nicht durchgehalten und ähnelt einem Traumbilde, in dem sich plötzlich eine andere Kulisse einschiebt. Jedenfalls heißt es auf einmal: »Gott mag wissen, ob mein Glaube richtig ist; was ich wenigstens sehe, das sehe ich so, daß zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe die Idee des Guten erblickt wird. Wenn man sie aber erblickt hat, so wird sie auch gleich dafür erkannt, daß sie die Ursache alles Richtigen und Schönen ist...als Herrscherin sie allein Wahrheit und Vernunft hervorbringt.«
Diese »Idee des Guten« hat nun mit der Güte nicht das mindeste zu tun, sondern wir entdecken hier, daß Platon jenen bloßen Begriff einer bloßen Beziehung zu einer Idee macht, der Sein, ja »eigentliches Sein« zukomme. Seine alte Verwirrung! Denn es wird, wenn man sich das Bild nur selber in der Vorstellung deutlich vor Augen führt, klar, daß diese vorgebliche »Idee des Guten« keine Gemeinsamkeit mit jenen echten Urbildern hat, deren Schatten die Gefesselten sehen. Sie hat keine Substanz, und sie kann auch keinen Schatten werfen. Darüber aber, wovon es Ideen gibt, entscheidet nicht die Philosophie in eigner Machtvollkommenheit, sondern die Natur. Diese aber läßt Ideen nur zu, wo sie selbst mit Stempel und Abdruck schafft. Oder im Stil des Höhlengleichnisses: nur da, wo etwas einen Schatten wirft, Ideen sind immer archetypisch und nur in dieser Beschränkung behält die Lehre von ihnen Größe und Sinn.
Platon und Sokrates aber ringen vergeblich mit dem Problem der Ethik; es war ihnen nur beschieden, es aufzuwerfen, nicht aber es zu lösen. Wäre die Ethik eine bloße Lehre, dann könnte man so großen Denkern wohl den Vorwurf machen, daß sie ungenügend nachgedacht haben. Aber hier hat ja die Natur ihr Wort mitzusprechen und die forderte ihr Opfer, ehe sie das Geheimnis preisgab. Es ist wahrlich schon viel, daß Platon in einem eigentümlich sichern Instinkt seine Idee des Guten in die Tiefe der Natur verlegte; wir stoßen hier, beim Höhlengleichnis, auf den ersten Versuch, Perspektive in die Natur zu bringen. Daran aber war die verlockende Kraft schuld, die in der einen, der ethischen Bedeutung des Wortes »gut« liegt. Alles andere aber ist verfehlt. Die Güte ist keine Idee, sondern eine Kraft. Die echten archetypischen Ideen sind zwar auch dynamisch, aber sie haben immer eine Beziehung zur Form. Die Güte aber hat keine Form. Der Lichtäther ist eine Kraft der Natur, die auf die Netzhaut des Auges einwirkt; sie liegt im Vordergrunde. Die Güte ist auch eine »Kraft der Natur« (WILUTZKY), aber sie lagert in deren Tiefe. Das ihr zugewiesene Organ aber ist nicht die Erkenntnis, wie Platon meint, sondern die Liebe. Das aber war zu seiner Zeit noch nicht fällig. Darum gelang es ihm wohl, den Eros zum ernsten Gegenstande der Philosophie zu erheben, aber er wies ihm Funktionen zu, die nur zweiten Ranges sind, pädagogische und die »Zeugung im Schönen«. Daß er Organ sei, erkannte er nicht. Aber das war er ja damals auch noch nicht.
 

16. DIE POSITION DER SATANISCHEN GEGENMACHT
Hier drängt sich, wie von selber, die Frage auf: Wenn die Liebe das Organ für die Güte ist, - muß dann nicht »folgerichtig« der Haß das Organ für das Böse sein? »Folgerichtig« ja, und wenn es erst Philosophie gäbe und dann die Natur, so würde es auch zweifellos so sein. Allein es ist anders entschieden worden.
Wir lassen aus der Betrachtung all jenen Haß aus dem Spiel, der aus dem Futterneide stammt; denn dieser ist bloß empirisch, hat keine Wurzeln in der Tiefe und ist schnell wieder geschwunden, wenn der Hunger gestillt ist. Dagegen ist der aus verletzter Liebe entstandene transzendental, wie die Liebe selber; er tritt daher in höherer Dimension auf und macht den Eindruck der Unaufhaltsamkeit. Das Selbstbekenntnis der Medea redet hier eine vernehmliche Sprache, ebenso wie der fürchterliche Haß der Kriemhild gegen Hagen Tronje, der auf der Etzelburg zu seinem Austrag kommt. Hier wird am Weltgeheimnis gerührt, wie das alles Transzendentale tut. Da es nun keinen Menschen gibt, dessen Liebe nicht beschädigt ist, so gibt es auch keinen, der nicht dem echten Hasse anheimgefallen wäre. Die Geschichte, besonders der Revolutionen ist voll davon.
Aber es ist ein Irrtum zu meinen, daß Liebe und Haß in einem polaren Verhältnis zueinander stünden, das heißt indem zweier Kräfte, die sich gegenseitig durch bloßes Dasein in gleicher Stärke bedingen. Vielmehr scheint es ein komplementäres zu sein. Ein lange betrachtetes Violett auf weißem Grunde hinterläßt als »geforderte Farbe« (GOETHE) einen orangegelben Fleck im Auge. Während aber das Violett von einem wirklichen Veilchen stammt, hat das Orangegelb keine Wurzel im Objekt, sondern ist eine bloße Reaktion der Retina. Ebenso ist das Verhältnis LiebeóHaß gebaut, und der Liebe gebührt ohne jeden Zweifel der Vorrang des Primären. Sie ist allemal eher da. Ihre Störung aber ist durch den Weltlauf unvermeidlich; sie beginnt schon durch eine versagte Säugung an der Mutterbrust. Von da an nehmen die Störungen ständig zu und steigern den Haß bis zu einer fast aufzehrenden Inbrunst; immer aber steht die vorher geliebte Person als das eigentlich Primäre im Hintergrund. Aber trotz aller Mächtigkeit bleibt der Haß ein Phänomen von sekundärer, nachfolgender Natur, wie die geforderte Farbe im Auge.
Dies alles aber bliebe ohne Belang und im Individuellen befangen, wenn nicht eine objektive Macht, die schon bei der Schöpfung zugegen war, ihre gewaltige Anziehungskraft auf dieses zunächst nur psychologische Phänomen des Hasses ausüben würde. Diese Macht ist das Böse, und ihr ist es gelungen, den Haß aus der psychologischen Verstrickung herauszulösen. Die Existenz des Hasses als Massenwahn ist dafür der Beleg. Er gehört zu den stärksten Motiven der Geschichte.
Wer das alles unbefangen betrachtet, der kommt zu dem Schluß, daß in der Natur ein gewaltiges Ringen darum stattfindet, daß das Böse, die satanische Gegenmacht, den Haß, den es schon kosmologisch aufgestachelt hat, zu seinem Organ machen will. Ist das aber geschehen, so gibt es kein Halten mehr, vielmehr bräche dann nach kurzen Schlägen das siegreiche Satansreich an. Und es hat manchmal den Anschein, als ob die Welt kurz davor stünde. Davon aber allein hängt es ab, ob hier ein festes Organverhältnis gegründet wird, das nie wieder gelöst werden kann, so wie der Lichtäther sich nie wieder vom Auge löst. Solange aber der Haß nur als sekundäre Erscheinung da ist, gleich der objektiven Komplementärfarbe im Auge: solange ist dieses Ziel des Bösen nicht zu erreichen, und immer wieder müssen die satanischen Scheingründungen zusammenbrechen. Satanisch aber ist alles, was den Menschen in die Hände des Menschen spielt.
Es hat also hier ein Ringen stattgefunden, das sich um den Beginn unserer Zeitrechnung auf das heftigste zuspitzte. Aber es ist nun einmal so abgelaufen, daß wohl die Güte in der Liebe ihr Organ fand, nicht aber das Böse im Haß. Diese beiden sind zu einem ständigen Fehltreffen verurteilt, so sehr auch, was die Ausdehnung und Massivität betrifft, das Übergewicht auf ihrer Seite liegen mag. Aber nicht auf sie kommt es an, sondern auf das Eigentümlich-Qualitative des andern. Die satanische Gegenmacht hat in der Tat keine Möglichkeit mehr, das Spiel zu gewinnen; denn man kann, nachdem das Opfer auf Golgatha geschehen und die Entscheidung gefallen ist, das Verhältnis nicht mehr umkehren. Man kann nicht die Komplementärfarbe zum farbigen Gebilde machen, das aus dem ewigen Borne der Natur selber schöpft.
Freilich steht außer Zweifel, daß die Liebe nicht so fest und sicher zum Organ für die Güte geworden ist, wie das Auge für den Lichtäther. Und es handelt sich auch nur um ein erstes Dämmern, für das man bangen könnte, es möge wieder verlöschen, wenn der Vorgang, auf dem es gründet, ein empirischer wäre; aber es ist metaphysischer Natur und kann nicht zurückgenommen werden. Satan bleibt im Vorhofe des bloß Transzendentalen: was immerhin genügt, die Welt ständig in Schrecken zu halten. Aber metaphysisch ist hier nichts geschehen. Es gibt keinen kategorischen Imperativ des Bösen; den gäbe es aber sofort, wenn eines Tages das Böse sein Organ im Haß gefunden hätte. Oder gibt es einen Mann von Menschensohn-Charakter, der von sich sagen könnte, daß er nur das Böse wolle aus reinstem Herzen und der es auch wirklich wollen kann und der dafür sein Blut als Opfer fließen läßt? Die schwarzen Messen reden wohl davon, aber historisch ist das alles nicht.



 

 

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