Zweites Kapitel

IMMANUEL KANT

 

Es ist notwendig, wenn man solche Dinge vorträgt, wie es hier geschieht, sie erkenntnistheoretisch zu sichern, und zwar mit der Philosophie Immanuel Kants. Sie ist der Maßstab, den man anlegen muß, um sich vor Schwärmerei zu bewahren, aber auch, um die nötige Tiefenschicht zu erreichen. Denn niemand vor ihm und auch niemand nach ihm hat so gründliche Arbeit geleistet, und wer den Sinn für die Fragen hat, die hier auftauchen, kommt bei der - sehr schwierigen - Lektüre seiner Werke unwillkürlich auf den Gedanken: hier ist vor ihm noch niemand gewesen. Es ist freilich ein Unglück, daß man gute fünfzig Jahre alt sein muß, wenn nicht mehr, um zu begreifen, worum es hier geht. Wenn man aber auf jemanden trifft, der glaubt, auf diese Sicherung verzichten zu können, da hat man es mit einem fahrigen und schalen Kopf zu tun. Kant hat eine Bastion aufgerichtet, die die ganze Landschaft der Philosophie beherrscht.
Man sollte der Philosophie Kants einem Vorschlag ALOIS RIEHLS zufolge nicht mehr den schleppenden und mißverständlichen Namen »transzendentaler Idealismus« geben, sondern sie künftig kritischen Realismus nennen. Kant selbst fühlte sich bei jenem Wortungeheuer nicht wohl, schon weil er damit zu sehr in die Nähe derer um den alten Bischof Berkeley kam, und er hat demnach auch selbst schon die Bezeichnung »kritischer Idealismus« eingeführt. Er blieb damit auf halbem Wege stehen. Die fast gänzliche Unbrauchbarkeit des Wortes Idealismus für die Philosophie war ihm deshalb nicht genügend klar, weil er selbst an ihr die Hauptschuld trägt.
SCHOPENHAUER hat das Wort vom »naiven Realismus« geprägt und damit ins Herz der Frage getroffen. Es besagt, daß alle Menschen vor ihrer philosophischen Besinnung der Meinung sind, daß die Dinge, zunächst der Außenwelt, so sind, wie sie sich darstellen, und somit die Beziehung des Subjektes zum Objekt etwa der gleicht, die jemand hat, der aus dem Fenster sieht. Dieser naive Realismus ist das Merkmal sowohl aller einfachen Menschen, wie auch der gesamten Naturwissenschaft einschließlich der empirischen Psychologie. Hier werden überall die Dinge als Dinge an sich genommen und sollen es auch. Denn alle diese Geistesverfassungen haben nicht die Aufgabe und auch nicht die Fähigkeit, ein Weltbild zu schaffen. Dies kann allein die Philosophie. Ihr erster Schritt aber ist, anstelle des naiven Realismus den kritischen zu setzen, der die absolute Realität der Dinge aufhebt. Hier setzt das erste Sichwundern ein.
 

1. KANTS TRANSZENDENTALES RAUMEXPERIMENT
Jeder kann es in Gedanken vollziehen, es lautet: nimm einen begrenzten, das heißt einen relativen Raum, etwa das Zimmer, in dem du sitzest, und entleere es langsam, so kannst du alles herausnehmen, was in ihm ist, das gesamte Inventar, ja die Luft kannst du herauspumpen; du kannst jetzt den letzten Schritt tun und die Wände wegnehmen, so ist dieser ganze relative Raum in der Vorstellung vernichtet; aber eines bleibt übrig: der Raum. Es gibt durchaus kein Mittel, das diesen absoluten und grenzenlosen Raum aus mir entfernen könnte, und jedes Ding, das mir etwa von neuem begegnete, müßte in diesem Raum »erscheinen«; denn es hat sich eben durch das transzendentale Experiment herausgestellt, daß dieser absolute Raum bleibt und vor aller neuen Erfahrung als reine Form der sinnlichen Anschauung da ist. Dieser absolute Raum gehört demnach nicht den Dingen selber an, sondern mir, dem Subjekt. Was ich also als Ding vor mir sehe, ist nicht das Ding selber, sondern eine Erfahrung. Anders ausgedrückt: die Dinge an sich erscheinen in der Erfahrung, oder: die Erfahrung ist Erscheinung der Dinge an sich im Raume (und in der Zeit). Hätte KANT öfter und eindringlicher von der Erfahrung der Dinge an sich gesprochen, statt von der Erscheinung, und hätte er es gar vermieden, das verhängnisvolle Wort von der »bloßen« Erscheinung zu gebrauchen, so wäre von Anfang an der falsche Eindruck vermieden worden, als wäre die Welt der Erfahrung »bloßer Schein«. So aber mußte er sich schon frühzeitig gegen den Vorwurf eines »materialen Idealismus« verteidigen, was er freilich noch heftiger hätte tun müssen, hätte er den Gebrauch, den Schopenhauer später mit der Lehre vom »Ding an sich« und der »Erscheinung« machte, noch miterlebt. Denn hier, bei Schopenhauer ist das Mißverständnis in vollem Gange.
Es ist auch ein ganz unglücklicher Sprachgebrauch, jenes Resultat des transzendentalen Experimentes als Lehre von der »Idealität« des Raumes und der Zeit zu bezeichnen. Denn das Ergebnis lautet einfach: der absolute Raum gehört nicht ins Objekt, sondern ins Subjekt; mit »Idee« aber hat das weder im platonischen noch gar im moralischen Sinne etwas zu tun. Es ist nicht etwa besser, vornehmer, edler, an die »Idealität des Raumes« zu »glauben«, sondern es ist bewiesen, daß er Raum nicht zu den Dingen an sich, sondern zu mir gehört, sofern ich anschauendes Subjekt bin. Aber das Unglückswort »Idealismus« ist nun einmal geprägt und richtet seine Verwirrungen an.
 

2. DIE TRANSZENDENTALE BEDEUTUNG DER EUKLIDISCHEN GEOMETRIE
Einen indirekten Beweis dafür, daß der Raum dem Subjekt angehört, das heißt a priori ist, findet Kant im Dasein der Geometrie. Ich kann in den freien absoluten Raum hinein geometrische Figuren konstruieren; diese haben durchweg die Eigenschaft, daß ihre Gesetze gefunden werden, ohne daß ich jemals die Erfahrung zu Hilfe nehmen muß. Alle diese Gesetze zeichnen sich durch unbedingte Notwendigkeit ihrer Geltung aus; sie sind durchweg synthetische Urteile und gänzlich a priori. Synthetische Urteile aber sind solche, in denen das Prädikat mehr aussagt, als im Subjekt enthalten ist (im grammatischen Subjekt, nicht im transzendentalen). Der Satz: »Ein Dreieck ist eine geschlossene Figur aus drei Seiten«, ist ein analytisches Urteil, wie alle Definitionen; denn ich habe im Prädikat nicht mehr ausgesagt, als was im Subjekt, dem Begriff Dreieck, schon enthalten war. Der Satz aber: »Im Dreieck ist die Winkelsumme gleich zwei Rechten«, ist ein synthetischer Satz; denn der Begriff »zwei Rechte« steckt keineswegs im Begriff »Dreieck«, sondern ist eine vollkommene Neuigkeit, die aus seinem Gesetze folgt. Diesen Satz aber kann ich finden, ohne ihn etwa durch Erfahrung aus einer Reihe ausgeschnittener Papierdreiecke zu erweisen, sondern nur durch Anwendung der Logik auf die reine Anschauung der konstruierten geometrischen Figur. Also ist der Satz a priori, und damit sind alle geometrischen Lehrsätze »synthetische Urteile a priori« und vor aller Erfahrung giltig. Da somit der absolute Raum zur freien Verfügung des Subjektes steht, kann er nicht den Dingen selber angehören, denn sonst könnte ich die Gesetze der Geometrie nur durch Erfahrung kennenlernen, und ich hätte keinen Augenblick der Gewißheit, daß nicht irgendein eigenmächtiges Dreieck doch aus der Reihe tanzt und mir eine größere oder kleinere Winkelsumme präsentiert. Diese Gewißheit aber habe ich, und eben darauf beruht der »königliche Weg« der Mathematik (KANT).
Da nun, wie das transzendentale Experiment bewies, der Raum die Form ist, in der alle Dinge als Erfahrung erscheinen, so erklärt es sich auch, warum die Natur als Erscheinung, mathematischen Gesetzen unterliegt; denn es ist ja derselbe Raum, der mir die Basis für die geometrischen Figuren gibt, und der, in dem die Dinge an sich als Erfahrung kundtun. Darum ist eben auch der Raum zugleich empirisch real, aber nur der relative. Denn der Raum, der von einem Baume eingenommen wird, erhält seine Größe nicht von mir, sondern vom Baume an sich; er ist vom Grunde der Natur aus in diesen Raum hineingewachsen. Hingegen, daß ich den Holzgehalt des Stammes mathematisch berechnen kann, wenn ich den Durchmesser an der Wurzel und die Höhe kenne, das liegt an der Apriorität des Raumes und der Geometrie. Der hier einlaufende Ungenauigkeitsfaktor, den es in der reinen Geometrie nicht gibt, wird durch den Unterschied des Empirischen vom Begriffliche verursacht: es ist eben ein gewachsener Stamm, der hier gemessen wird, und kein bloßer Kegelstumpf; aber die Form für den Kegel, und keine andre, gilt für den Stamm. Derselbe Raum also wird vom Dinge an sich durch den Zwang der Natur begrenzt und zugleich vom transzendentalen Subjekt nach geometrischen Gesetzen bestimmt. Das ist ein großes Wunder der Natur, das Kant hier entdeckte.
Überall, wo Veränderung eintritt, und das ist ständig der Fall, geschieht sie in der Zeit. Mit ihr aber kann man das gleiche Experiment anstellen wie mit dem Raume, und man kommt zu dem gleichen Ergebnis. Nur fehlt bei ihr der indirekte mathematische Beweis; denn es ist eben nicht so, daß die Arithmetik eine Konstruktion in die absolute Zeit hinein ist, wie die Geometrie in den Raum. KANT ließ sich durch seine bekannte »architektonische Neigung« dazu verleiten, dies anzunehmen, und meinte, »Arithmetik bringt selbst ihre Zahlbegriffe durch sukzessive Hinzusetzung der Einheiten in der Zeit zustande« (Prolegomena, § 10). Er verwechselte dabei aber die Zahl mit dem Akte des Zählens, der freilich in der Zeit abläuft. Allein die Zahl selbst und ihre Gesetze haben weder etwas mit dem Raume noch mit der Zeit zu tun, sondern sind ein Reich für sich von rein begrifflicher Art. An dieser Stelle hat die Kritik OSWALD SPENGLERS an Kant recht, und sein Kapitel über den »Sinn der Zahl« («Untergang des Abendlandes«) ist zweifellos das Bedeutendste, was in der Philosophie darüber gesagt worden ist.
 

3. Der RELATIVISTISCHE IRRTUM / OSWALD SPENGLER
Aber das ist auch die einzige Stelle, an der Spengler gegen Kant recht hat; alles übrige, was er gegen ihn vorbringt, zeugt nur davon, wie schwer Kant zu verstehen ist und welchen sehr viel höheren Ort er eingenommen hat. Spenglers Grundgedanke ist bekanntlich der von den Kulturstilen, die sich in der Geschichte der Menschheit überschneiden und, kommend und gehend, ihre Jugend, ihre Reifezeit und ihr Greisenalter haben. Daß wir heute mit unserer abendländischen Kultur in solch einem typischen Greisenalter stehen, das ist der Grund dafür, daß er seinem Werke den wahrhaft zauberischen Titel. »Untergang des Abendlandes« gegeben hat. Er hat mit einem ungeheuren Wissen und einer gewaltigen Kunst der Darstellung dieses Schauspiel der großen Kulturen gemeistert, und hat, Platoniker durch und durch, ein Wachrütteln des fortschrittgläubigen Bürgertumes erzielt, wie kaum jemand vor ihm. Der Mann und sein Werk sollen hier nicht angegriffen werden, weil wir besänftigen wollen - die fortschreitende Zeit gibt ihm ohnehin immer mehr recht -, sondern weil er der bedeutendste Träger einer falschen Weltansicht ist, nämlich des Relativismus.
»Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken« (S. 88) - diesen Satz können wir als kennzeichnend für die relativistische Haltung überhaupt bei ihm in Anspruch nehmen; er findet sich in zahllosen Abwandlungen wieder, auch dort, wo es sich nicht um Mathematik handelt. Alles ist nur in bezug auf eine Kultur wahr. Jede »Kulturseele« - die griechische, die ägyptische, die arabische, die abendländisch-faustische - hat ein eigenes Raumgefühl, für jede bedeutet »Raum« etwas ganz anderes. Der Grieche hatte eine »euklidische Seele« (der Ausdruck stammt von DOSTOJEWSKJI), statisch, körperhaft, plastisch - eben geometrisch mit einem ausgesprochenen Horror vor dem Gefühle des Unendlichen. Das ging so weit, daß es sogar in seiner Sprache kein Wort für Raum gab. In einem Scholion zum zehnten Buche der Stoicheia des Euklid heißt es: »Man sagt, daß der Mann, der zuerst die Betrachtung des Irrationalen (alogon) aus dem Verborgenen in die Öffentlichkeit brachte, durch einen Schiffbruch umgekommen sei. Und zwar deshalb, weil das Unaussprechliche und Bildlose immer verborgen hätte bleiben sollen. Deshalb auch wurde der Untäter, der von ungefähr dieses Bild des Lebendigen berührte und aufdeckte, an den Ort der Entstehung versetzt und wird dort von den ewigen Fluten umspült.« (Zitiert nach Colerus »Von Pythagoras bis Hilbert«.) Dem scharf entgegen steht der »faustische« Mensch des Abendlandes mit seinem ausgesprochenen Drange nach dem Grenzenlosen - gegenüber dem »Provinzlertum« des typischen Polis-Hellenen. Da sich nun alles auf diese spezifischen Seelentümer bezieht als wie auf ein Koordinatensystem, so kann auch das, was Kant lehrt, nur in bezug auf den Abendländer, seine Kulturseele und sein »Raumgefühl« wahr sein; - wenn es sich, so fügen wir hinzu bei Kant um sentimentale, nicht aber um transzendentale Raumlehre handeln würde.
Aber man kann den Fall klären, und zwar durch ein Gedanken-Experiment. Man stelle sich in Elysion Platon, Descartes und Leibniz, im Hintergrunde Isaak Newton an einem Tische sitzend vor und in ein mathematisches Gespräch verwickelt. Descartes versucht, Platon die Grundzüge der analytischen Geometrie klarzumachen; dabei stößt er zunächst auf den Widerstand, der durch Platons »euklidische Seelenverfassung« bewirkt wird; er will nicht recht von der begrenzten Raumvorstellung loslassen, die sich in den festen geometrischen Figuren ausdrückt. Da zeichnet ihm Descartes sein Koordinatensystem auf mit einem Kreis im Mittelpunkte und entwickelt ihm seinen Grundgedanken: daß man nämlich die anschauliche Figur des Kreises mit voller mathematischer Exaktheit durch eine Gleichung ausdrücken kann, der jede Anschaulichkeit fehlt und die nur aus Zahlen und Buchstaben besteht. Von der Zahl aus also kann man die ganze Welt der Geometrie aufrollen und dabei neue Welten entdecken, die den bloß gezeichneten weit überlegen sind. Da es sich hier um einen genialen Akt der Entdeckung handelt, so durchschlägt er wahrscheinlich die euklidische Seelenverfassung, wenn auch widerwillig. »O thaumasie Karteisie!« - wird PLATON ausrufen; aber verstehen und anerkennen muß er es. Oder wie stellt man sich das eigentlich vor, daß Platon, der Mathematiker von hohen pythagoräischen Graden, eine Entdeckung, die in sein Fach schlägt, nicht verstanden haben soll? Oder gar nicht anerkannt? Auch die Differential- und Integralrechnung, die ihm Leibniz und Newton vortragen, muß er verstehen und anerkennen - einfach deshalb, weil sie richtig sind. Das heißt also: alle diese »Mathematiken« tragen eben die unverkennbaren Merkmale der Mathematik an sich und bestehen durchweg aus synthetischen Urteilen a priori mit dem spezifischen Geschmack der Mathematik. Und da hilft keine euklidische Seele: anerkennen muß er es doch.
Wollte man meinen, daß Platon die analytische Geometrie nicht habe verstehen können, so müßte es ja auch umgekehrt sein: kein fünfzehnjähriger Abendländer, der doch also eine durchaus faustische Seele hat, könnte dann die Geometrie des Euklid verstehen. Alle Tertianer der letzten Jahrhunderte aber sind ein Gegenbeweis. Sie verstehen die Geometrie genau so gut wie die Griechen, und sie können sie, Männer geworden, auch erweitern und mehren. Eine Entdeckung auf mathematischem Gebiete kann, einmal gemacht, nicht wieder zurückgenommen werden. Die Kulturseelen kommen und gehen, man mag sie als Moden bezeichnen, was aber objektiv wahr ist, das bleibt ohne jeden Abzug. Die Kulturseele selber ist nicht schöpferisch.
KANT, dessen Suprematie sich immer wieder erweist, hat den Vorgang der Entdeckung völlig richtig gesehen. Er schreibt in jenem sprachlich hochgelungenen Vorwort zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft« (Seite X der Originalausgabe von 1787): »Die Mathematik ist von den frühesten Zeiten her, wohin die Geschichte der menschlichen Vernunft reicht, in dem bewunderungswürdigen Volke der Griechen den sicheren Weg einer Wissenschaft gegangen. Allein man darf nicht denken, daß es ihr so leicht geworden wie der Logik, wo die Vernunft es nur mit sich selbst zu tun hat, jenen königlichen Weg zu treffen oder vielmehr sich selbst zu bahnen; vielmehr glaube ich, daß es lange mir ihr (vornehmlich unter den ƒgyptern) beim Herumtappen geblieben ist, und diese Umänderung einer Revolution zuzuschreiben sey, die der glückliche Einfall eines einzigen Mannes in einem Versuche zu Stande brachte, von welchem an die Bahn, die man nehmen mußte, nicht mehr zu verfehlen war, und der sichere Gang einer Wissenschaft für alle Zeiten und in unendliche Weiten eingeschlagen und vorgezeichnet war...Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrierte (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben), dem ging ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sahe, oder auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondernd durch das, was er nach Begriffen selbst a priori hinein dachte und darstellte (durch Construction), hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie hineingelegt hat.«
In dieser Ausführung über die Entdeckung der Geometrie als Wissenschaft sind von echt metaphysischem Geschmack (aber nicht so, wie Kant »metaphysisch« meinte) die Worte: »glücklicher Einfall eines einzigen Mannes« und »ging ein Licht auf«. Wir befinden uns hier - man soll es nicht für möglich halten - in der Nähe des Büffel-Schamanen. Ein »Einfall«, wenn man es wörtlich nimmt, enthält deutlich zwei Pole: man fragt nämlich: »Woher fällt etwas ein, und wohin..?« Und diese Frage ist richtig gestellt, wenn man das Wort wörtlich und in objektiver Bedeutung nimmt. Ja, durch diese Frage wird das Wort erst objektiv. Wenn man von jemandem sagt: »Er hat allerhand Einfälle«, so meint man es zunächst nur subjektiv; man redet da von einem Manne, der eine Menge schon vorher bekannter Dinge geschickt zu kombinieren versteht. Das wäre also das Talent. Kant hat das Wort »Einfall« aber, ohne es freilich zu wissen, objektiv, und das heißt hier metaphysisch gebraucht. Denn er will ja sagen: die ƒgypter haben die Mathematik nur empirisch behandelt; sie probierten an geschnittenen Pappdreiecken allerhand aus, tappten herum und erreichten durch Zufall einiges, ohne zu wissen warum. Sie lernten von den Figuren ihre Eigenschaften ab, so gut es eben ging. Was aber Thales von Milet tat, das war etwas völlig anderes. Ihm blitzte der Gedanke auf, daß hier Notwendigkeit vorliege und daß diese in ihrer beseligenden Klarheit dann hervortrete, wenn man durch eine »Revolution der Denkart« nicht auf die Figuren starrt, sondern den mathematisch konstruierenden Verstand an der Wurzel packt. Hierbei stellt es sich dann heraus, daß - Wunder über Wunder! - die Gesetze der Mathematik im Subjekt liegen, aber für alle Objekte der Erfahrung giltig sind, und zwar deshalb, weil es derselbe Raum ist, in dem beide erscheinen. Das also war die Entdeckung des Thales von Milet, und das war ein echter »Einfall«, der deutlich als Licht-Aufgang gespürt wird. Während also die Einfälle des Talentes sich in dessen empirischem Subjekt abspielen, läuft der des Genies quer vom Objekt ins transzendentale Subjekt, in Richtung der Achse der Natur.
Der Begriff der Naturachse erscheint hier von neuem und zwar abgeleitet aus der Tatsache, daß es echte Entdeckungsakte gibt, durch die nicht ein einzelner Gegenstand nach schon vorher bekannten Wissenschaftsregeln gefunden wird - so wie die Entdeckung des Planeten Neptun -, sondern diese Wissenschaft selber plötzlich aus der Taufe steigt. Der Vollzieher der Entdeckung aber trägt den Namen Genie; das ist keine willkürliche und schwärmerische Bezeichnung, sondern eine exakte. Die Philosophie ist imstande, den subjektiven Pol der Naturachse mit großer Deutlichkeit aufzuzeigen, während der objektive seinem Dasein nach zwar mit Sicherheit bewiesen werden kann, im übrigen aber im Dunkeln liegt. Es ist eben ein Unterschied, ob ich die Grundsätze und Vermögen a priori in einem mühsamen Verfahren von allem bloß Empirischen ablöse, sie sammle und sie dann in einem Buch säuberlich nebeneinander gelagert liegen lasse - das tat Kant in der Vernunftkritik -, oder ich das so gefundene Gelände, den »apriorischen Organismus« (ERNST MARCUS) durch einen anschließenden Erkenntnisakt zum Polgebiet der Naturachse erhebe. An dieser Stelle verfehlte Kant den genialen Anschluß; nur so aber entsteht ein Weltbild.
Seit der Entdeckung der Geometrie durch Thales von Milet sog das »bewunderungswürdige Volk der Griechen« diese echte Wissenschaft mit der vollen Begier seiner statischen Seele in sich auf. Der ganze höhere Bildungsstand trieb als eine Selbstverständlichkeit Mathematik. Die Geometrie paßte eben zu diesem Seelentum. Eine analytische Geometrie oder gar eine Infinitesimalrechnung hätte das nicht getan; ein Mann, der sie damals erfunden hätte, wäre zum Lebenswege eines verkannten Genies verurteilt gewesen und untergegangen. So scheint es dem Aristarch von Samos ergangen zu sein, der das kopernikanische Weltbild gefunden hatte; darüber aber sind nur Gerüchte verbreitet. Platon indessen hat die wahre Bedeutung der Geometrie sofort erkannt: Er läßt Sokrates in seinem Gespräch mit Menon einen Sklaven herbeirufen und fragt ihn, der nie das geringste gelernt hat, geometrische Sätze ab. Und siehe da: der Sklave antwortet richtig. Vor den Augen der Zuhörer waren geometrische Figuren frei in den reinen Raum hineinkonstruiert und ihre Gesetze klargelegt worden. Der unwissende Sklave also holt hier ein Wissen aus sich heraus, das er von niemandem erfahren hatte und von dem er nicht wußte, daß er es besaß. Gemeint also war mit diesem Sklaven-Experiment, daß die Geometrie synthetische Urteile a priori enthält und ganz und gar aus ihnen besteht. Damit aber ist der philosophische Ort der Geometrie festgelegt.
Wir kehren demnach den Satz Spenglers um und sagen: es gibt nur Mathematik und keine Mathematiken. Alles vielmehr, was je mit Recht so hieß, trägt das gemeinsame Merkmal einer völlig bestimmten Wissenschaft an sich; diese enthält immer nur synthetische Urteile a priori, und ihr Gegenstand ist stets die in den freien Raum konstruierte Figur oder Zahl und nichts anderes. In die Welt aber kommt die Wissenschaft nicht durch »Seelentümer«, sondern allein durch den Entdeckungsakt: je nachdem, in welches Zeitalter ein solcher fällt, hat er Glück oder nicht. Die Kulturseele fördert einen mathematischen Zweig, oder sie läßt ihn verdorren, aber sie erzeugt ihn nicht. Zeugen kann nur die Natur; und sie tut das durch ihren echten Repräsentanten, das Genie, das seinen Sprachstamm mit ihr gemeinsam hat, nur ins Griechische übersetzt.
Mit der Sicherstellung der Geometrie steht auch Kants Lehre vom Raum als Form der Anschauung auf festem Boden; denn sein indirekter Beweis lautete ja: wenn der Raum zu den Dingen selber gehörte, so könnte ich die Gesetze der Geometrie nur durch Erfahrung und also immer mit einer Ungenauigkeitsquote behaftet ergründen. Die Methode der Geometrie also, um etwa den Winkelsummensatz im Dreieck zu ergründen, wäre die: Ich schneide tausend Dreiecke verschiedener Form und Größe aus Papier, messe mit dem Kreisbogen deren Winkelsumme, die dann immer um 180 Grad herum beträgt, addiere sie und dividiere die Summe durch tausend. Das Ergebnis wäre dann immer nur ein Näherungswert mit verschwindend kleiner Ungenauigkeit, die aber immer übrig bliebe. Das wäre die »statische« oder die »ägyptische« Methode des »Herumtappens«.
Zu dieser sind übrigens die theoretischen Physiker von heute zurückgekehrt, die die Geometrie für ein Sondergebiet der Physik halten. Seit Thales aber, »oder wer immer es gewesen sein möge«, wird ein beliebiges Dreieck konstruiert und der Winkelsummensatz durch logische Deduktion und reine geometrische Anschauung bewiesen. Der Satz ist dann a priori, zugleich synthetisch, und trägt das Merkmal der Notwendigkeit an sich ohne Ungenauigkeit, und mit ihm alle Lehrsätze der Geometrie.
Aber die Mathematiker und Physiker lassen nicht locker. Sie behaupten, wie auch Spengler: Wenn Kant noch Gaußí nichteuklidische Geometrie kennengelernt hätte, so würde er seine Lehre vom Raum haben revidieren müssen. Alle nichteuklidische Geometrie beruht auf der Annahme, daß eines und damit alle der sogenannten Axiome keine Giltigkeit haben; die Folgerungen, die hieraus entstehen, kommen auf rein logischem Wege zustande, enthalten demnach nur Zahlbegriffe, sind aber innerhalb ihres Bereiches, dem Merkmal der Anschaulichkeit notwendigerweise fehlt, durchaus richtig. Nun ist es natürlich ein Unterschied, ob ich sage: ich nehme an, daß sich zwei Parallelen im Endlichen schneiden - also hypothetisch -, oder ob ich sage: das Parallelenaxiom ist nicht hinlänglich bewiesen, also problematisch. Im ersten Falle wird seine Giltigkeit gar nicht angezweifelt und nur ein mathematisches Sonderexerzitium gemacht, bei dem es von vornherein feststeht, daß seine Ergebnisse keinen Bezug auf die Welt der Erfahrung haben. Anders steht es mit dem zweiten, dem problematischen Falle, und der fordert allerdings heraus. - Es gibt nämlich Mathematiker - und Spengler gehört zu ihnen -, die allen Ernstes behaupten, das Parallelenaxiom sei »nicht hinlänglich bewiesen«. Es ist beinahe verdrießlich, hier auf den Einwand einzugehen, daß ja jedes Kind sähe, wie sich die Eisenbahnschienen am Horizonte treffen; und er soll auch nur mit der kurzen Bemerkung abgetan werden, daß es sich hier um eine plumpe Verwechslung der Optik mit der transzendentalen ƒsthetik handelt. Nicht minder arg, fast arglistig, ist der Einwand, daß verschiedene Kulturen und Zeiten gänzlich verschiedene »Beziehungen zum Raume« oder »Raumgefühle« hätten. Hier ist nur zu sagen, daß es sich nicht um Gefühle für den Raum, sondern um den Raum handelt; aber man könnte noch hinzufügen, daß es eben sehr schwer ist, ein Buch von Kant zu lesen.
Das Parallelenaxiom dagegen ist so hinlänglich und so vollgiltig bewiesen, wie überhaupt etwas bewiesen werden kann. Daß wir uns in einer glaubenlosen Zeit befinden, das auszusprechen ist schon eine Banalität geworden; daß aber dieselbe Zeit nicht mehr wissen will, was beweisen heißt, das hat man seltener gehört. - Als sicherste Form des echten Beweises kann man den syllogistischen Schluß ansehen. Wenn ich sage:

  Alle Menschen sind sterblich (propositio maior),
  Sokrates ist ein Mensch (propositio minor),
  also ist Sokrates sterblich (conclusio),

so erkennt jeder, daß im logischen Akte der Konklusion, der hier erfolgt, Notwendigkeit herrscht, die zur logischen Wahrheit führt. Zur empirischen braucht der Schluß nicht zu führen, denn wenn ich statt der empirisch richtigen Maior »Alle Menschen sind sterblich«, die empirisch falsche setze, nämlich »Alle Menschen sind unsterblich«, so bleibt der logische Schluß über die Minor »Sokrates ist ein Mensch« trotzdem logisch richtig, aber empirisch falsch. - Ferner gilt als sichere Form des Beweises die empirische Anschauung; allein hier könnte man sagen: das ist immerhin ein Zeugnis der Sinne, und Sinne können täuschen, so wie die Tellergestalt der Erde das Altertum betrog. Dieser Einwand gilt aber nicht bei der reinen Anschauung der geometrischen Figuren. Bei diesen ist der Kreidestrich nur Hilfsmittel für die Deutlichkeit. Ziehe ich nun eine Gerade, mag sie gelingen oder nicht, und setze eine Punkt außerhalb ihrer, so ist es durchaus unmöglich, durch diesen Punkt mehr als eine Parallele zu ziehen; diese eine aber schneidet die Gerade im Endlichen niemals; die reine Anschauung zwingt mich unbedingt dazu, und es gibt hier genau so wenig ein Ausweichen, wie beim Syllogismus. Wer dies aber leugnen will, dem ist in keiner Weise zu helfen, jedenfalls nicht durch die Philosophie. Vielmehr kann man ihm nur raten, eine wohlfeile Kuranstalt aufzusuchen, in der er gewiß Rat und Hilfe finden wird.
Es kann also keine Rede davon sein, daß Kant seine Lehre von der Apriorität des Raumes und der Zeit hätte korrigieren müssen, wenn ihm die nichteuklidische Geometrie bekannt gewesen wäre. Daß man sich Räume mit mehr als drei Dimensionen denken kann, wußte er auch so; daß aber freilich deren Gesetze auf den tatsächlichen Raum der objektiven Anschauung nicht anwendbar sind, das wäre ihm von vornherein ebenso gewiß gewesen.
Der aufsässigen Mathematik hat sich in neuerer Zeit die theoretische Physik angeschlossen, die befugt zu sein glaubt, Kant eine Revision seiner Lehre nahezulegen. Da verwechselt man die Zeit mit der Messung von Zeitabläufen, man behauptet die endliche Teilbarkeit der Materie und verwechselt diesen eminenten Singular mit den Stoffen; die Giltigkeit des allgemeinen Kausalsatzes wird bestritten, und man spricht von »akausalem Geschehen«, nur, weil bei gewissen Experimenten eine »statistische« Methode als Notbehelf angewandt werden muß. Aber überall, wo man solches liest, schimmert unverkennbar als zureichender Grund mangelnde Lektüre der Kantischen Schriften hindurch.
Spenglers »Untergang des Abendlandes« hat schon allein wegen der Eindringlichkeit seines Titels, noch mehr aber wegen der Fülle seiner Gedanken und der Echtheit der Grundkonzeption die Anwartschaft, eben diesen Untergang zu überleben. Nicht aber überleben wird sein Relativismus, denn der war schon im Ansatz falsch gedacht. Dessen Grundformel aber lautet auf die knappste Weise ausgedrückt; »Wahrheit gibt es nur jeweilig bezogen auf eine Kultur.« Bei der Mathematik kann man das schlüssig widerlegen. Das Dreieck, das ich auf den Nagel meines Fingers zeichne, und das Dreieck, dessen Endpunkte der Sirius, die Capella und die Erde sind, unterliegen denselben Gesetzen, ohne jeden Abzug und zu allen Zeiten, ganz gleichgiltig, wann diese Gesetze gefunden wurden. Dasselbe aber gilt von allen mathematischen Entdeckungen der faustischen Kulturseele. Das kann alles nicht mehr zurückgenommen werden und hat, fast möchte man sagen, rückwirkende Kraft; denn jeder angemessene Intellekt auch einer früheren Periode hätte sie anerkennen müssen. - Bei den Werken der Kunst ist der Beweis schon schwieriger. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß die Griechen mit anderen Gefühlen das Theater besuchten als wir. Allein, darauf kommt es nicht an. Man kann die Orestie des Aischylos heute noch mit der gleichen Wirkung, wenn nicht gar mit tieferer, auf die Bühne bringen wie in Athen ein Jahrzehnt nach der Schlacht von Salamis. Denn das ungeheure Motiv am Schlusse der Choëphoren, da Orestes, noch eben als Sieger dastehend und laut triumphierend, langsam von innen her aufgewühlt wird und den Erinnyen verfällt, diese Motiv redet von der notwendigen Verschuldung des menschlichen Geschlechtes, die sich gerade dann am sichersten auftut, wenn es der Meinung ist, eine gerechte Tat begangen zu haben. Man kann beinahe überzeugt davon sein, daß die Griechen das nicht in voller Tiefe verstanden haben, da hierzu ein christlich imprägniertes Menschentum gehört. Gegenüber diesen Dingen, wie Schuld und Sühne, Sünde und Vergebung oder wie man es ausdrücken will, Dingen als, die mit dem Menschentum überhaupt, ja mit noch mehr zu tun haben, sind »Kulturseelen« und Stile bloße Provinzialismen. - Die Philosophie aber soll sich dem Relativismus nicht ergeben, sondern nur deutlich sagen, was relativ ist und was nicht; sie soll zum mindesten keine falschen Relationen bilden und eine Haltung einnehmen wie die Sphingen im zweiten Teile des Faust:

  Sitzen an den Pyramiden
  Zu der Völker Hochgericht
  Überschwemmung, Krieg und Frieden,
  Und verziehen kein Gesicht.
 

4. DER ANTHROPOLOGISCHE IRRTUM / DIE VERUNSTALTUNG DER
KANTISCHEN PHILOSOPHIE DURCH SCHOPENHAUER
Der Relativismus war Kants Philosophie entgegen und wollte es sein; wer sie anthropologisch deutet, der beansprucht - so war es bisher - sein Schüler, ja sein Vollender zu sein. Sie behaupten, Kant habe auch anthropologisch gedacht, und berufen sich dabei, zunächst mit scheinbarem Recht, auf seine Ausdrucksweise, die ja in der Tat allenthalben von der »menschlichen« Erkenntnis spricht. Weil nämlich der Mensch nun einmal das einzige Lebewesen ist, an dem die Gesetze der Anschauung und des Denkens studiert werden können, so schließt man daraus, daß es eben menschliche Angelegenheiten seien, um die es hier geht; NIETZSCHE würde sagen »allzumenschliche«.
KANT hat gegen diese Auffassung seiner Philosophie ausdrücklich Stellung genommen. »Ich würde nicht sagen können: die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. nothwendig) verbunden, sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung nicht anders, als so verknüpft denken kann; welches gerade das ist, was der Skeptiker am meisten wünscht; denn alsdann ist alle unsere Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urtheile, nichts als lauter Schein, und es würde auch an Leuten nicht fehlen, die diese subjektive Nothwendigkeit (die gefühlt werden muß) von sich nicht gestehen würden; zum wenigsten könnte man mit niemanden über dasjenige hadern, was bloß auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist« (K.R.V., 2. Auflage, 1787, § 27: »Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe«. Sperrung von mir.) Ferner: »Es sind Sophysticationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste sich nicht losmachen ..... kann« (K.R.V., »Von den dialectischen Schlüssen der reinen Vernunft«. Sperrung von mir.) - Kant hat also, auch wenn er von menschlicher Vernunft, menschlicher Erfahrung, menschlicher Erkenntnis spricht in Wirklichkeit nie vom Menschen geredet, sondern vom Begriff der Erfahrung, und es ist eine ganz besonders schwierige Denklage, die hier dadurch entstanden ist, daß jemand, der Mensch ist und von etwas redet, das nur beim Menschen vorkommt, dennoch eben dies gänzlich beiseite gelassen hat. Er ist, im Bilde gesprochen, aus der eignen Haut gefahren, wozu eine besondere Veranlagung gehört.
Wenn es also bei KANT heißt: »transzendentales Subjekt«, »Kategorien«, »reine Anschauung« usw., so sind das nicht Wesensmerkmale des menschlichen Erkenntnisapparates, der nun einmal so gebaut ist, sondern es sind Polgebiete der Achse der Natur, und zwar an deren subjektiver Seite. Kant hat das nicht gewußt, daher seine ständige Flucht in Richtung auf den subjektiven Pol. Aber an der Freilegung des Gebietes hat er mit einer Denkenergie gearbeitet, die den Leser oft zur Verzweiflung bringt und deren Opfer er selber wurde. Wir lesen nicht ohne Ergriffenheit in den nachgelassenen Papieren die deutlichen Spuren der geistigen Umnachtung. Der Mensch gerät bei solchen Unternehmungen immer in Gefahr, eben, weil es nichts »bloß Menschliches« ist. Wer den Ossa besteigen will, der wird hinauf- und wieder herunterkommen; wer den Pelion besteigen will, dem wird das auch gelingen; wer aber beide übereinander türmen will, um den Sitz der Götter zu erobern, der soll sich vorsehen. Kant hat sich allerdings vorgesehen, was bald ersichtlich werden wird. Darum trägt seine späte Geisteskrankheit auch die Anzeichen der Überarbeitung des Gehirnes, nicht die des Wahnsinns.
Es ist bei Kant immer schwer, aus der Atmosphäre der Gelehrsamkeit in die der Genialität und des dämonischen Denkens vorzudringen, welches beides aber ganz offensichtlich in höchstem Maße vorliegt. Und es ist leicht und billig, die Sache mit der kantischen Philosophie so anzusehen, daß ihr Urheber eine Art Analyse der menschlichen Gehirntätigkeit vorgenommen habe, so als ob die Philosophie sich jemals mit dergleichen Dingen getragen hätte. Dieses »ich bin nun einmal so eingerichtet«, daß ich die Welt so ansehen muß, genau dieses ist es gerade, dem Kant mit der ganzen immensen Anstrengung seiner Philosophie entgegengetreten ist, und zwar trotz allem mit Erfolg. Er ist der entschiedene Gegner einer anthropologischen Weltdeutung, und was er »subjektiv« nennt, heißt niemals menschlich-willkürlich, sondern immer »auf die Seite des Subjekts gehörig« oder »im transzendentalen Subjekt verankert«. Das aber ist ein Pol der Naturachse und keine Brille.
Hier stoßen wir auf die große Mißdeutung der kantischen Philosophie durch Arthur Schopenhauer, die einiges Aufsehen in den Seminarien der Universitäten erregt hat; der Streit darum trat aber auch in die Öffentlichkeit, und man konnte finden, daß das Laienpublikum für Schopenhauer Partei nahm, die gelehrten Kreise aber für Kant. Das geht so weit, daß die Gelehrsamkeit kein gutes Haar an Schopenhauer ließ, während der Laienstand - wozu auch die gelehrten Naturforscher gehören -, bewegt durch die wahrhaft große Sprache Schopenhauers, glaubt, sich der Lektüre der kantischen Werke entschlagen zu dürfen.
Es ist schon ein landläufiges und dabei richtiges Urteil geworden, daß erst Schopenhauers Pessimismus da war und dann seine Philosophie, die er eben deshalb schrieb, um jenen zu beweisen. In der Schulsprache würde das lauten: es ist der empirische Charakter Schopenhauers, der seine Philosophie bestimmt. Das ist freilich irgendwie und in irgend einem Grade bei jedem Denker unvermeidlich, aber es ist doch eben das, was man abziehen muß. Es tritt allemal der Wahrheit in den Weg, auch wenn es wie bei Schopenhauer über Ausdrucksmittel verfügt, die bisher in der Philosophie noch nicht gehört worden sind.
Man kann den empirischen Charakter SCHOPENHAUERs und seine Einwirkung auf die Philosophie nicht besser erkennen, als aus einer sehr intimen Stelle, die sich nicht in seinen Werken, sondern in der sogenannten »Brieftasche« aus den Jahren 1822 - 1823, die mir in Faksimile vorliegt, findet. Dort heißt es auf Seite 19: »So gewiß zwischen dem Leben und dem Traum kein spezifischer und absoluter, sondern nur ein formeller und relativer Unterschied ist, so gewiß ist eigentlich im Ernst kein wesentliche Unterschied zwischen einer Pollution und einem Koitus. Beide geben ein verfließendes Traumbild und eine Ergießung des Samens, d. h. bei beiden hat der Wille die Befriedigung, deren er fähig ist, und die Vorstellung hat alles, dessen sie empfänglich ist, nämlich ein Bild, eine Erscheinung.- Nach beidem fühlen wir, daß wir nach einem wesenlosen Schatten gehascht haben.« - Diese Stelle können natürlich - wie so vieles - nur Männer verstehen. Aber in ihr ist der ganze Schopenhauer enthalten. Man komme hier nicht mit dem Einwand, das sei Psychologie, also Schnüffelei. Das ist es nur mit dem ersten Schritt; denn was hier konfessionsmäßig beschrieben wird, das sind ja Randbegebenheiten des Eros. Der aber gehört, wie wir bald erfahren werden ins Polgebiet der Naturachse, und wenn hier jemand nicht in Ordnung ist, so hat das transzendentale Folgen, und er soll sich in acht nehmen, daß er die Welt nicht falsch begreife. Auch bei Kant liegt übrigens etwas ähnliches vor. Astrologen haben herausgefunden, daß in seinem Wurzelhoroskop das sogenannte fünfte Haus, das Liebesabenteuer anzeigt, eine eigentümlich starke planetarische Besetzung hat; man könnte darauf auf das Leben eines Don Juan schließen. Nun liegt aber bei Kant so etwa das Gegenteil davon im wirklich abgelaufenen Leben vor. Es muß also aus einer tieferen Schicht des Charakters, die vom Horoskop nicht erreicht wird, eine Hemmung eingesetzt haben, die ihn hinderte, die Gegenstände der Begierde zu ergreifen. Just das aber gerade ist es, was zum ersten Mal GOETHE an der Philosophie »unseres herrlichen Kant« auszusetzen hatte: »er kommt nicht zum Objekt«. Das aber ist ein ganz entscheidender Punkt in der Philosophie. Schopenhauer, der zwar mit sicherem Wortgefüge zum Objekt zu sprechen versteht, hat doch, wenn man es von Nahem betrachtet, eine ganz unsichere Hand, und man weiß nie, was es bei ihm eigentlich mit der Realität auf sich hat und ob nicht das Objekt projiziert ist wie das Lichtbild auf der Leinwand; denn er wird geradezu unhöflich gegen Kant, wenn er auf dessen - einzig richtige - Formulierung stößt, daß die Objekte uns »gegeben« werden, daß sie also Stromrichtung vom Gegenpol her haben und dadurch das unvertilgbare Mal der Realität. Kant hat die richtige Vorstellung vom Objekt, das sich bei ihm wirklich den Sinnesorganen und dem Verstande »entgegenwirft«, aber - er »kommt nicht zu ihm«. Wieso und warum, das wird eine spätere Darstellung zeigen, und der Leser kann sich auch nur allmählich an die hier vorliegende transzendentale Problemstellung gewöhnen.
Jene Tagebuchnotiz Schopenhauers, die, um uns seiner eignen Ausdrucksweise zu bedienen, ein »naives Bekenntnis seines Geschlechtstriebes« enthält, besagt also, daß sich in seinem eignen Leben zwei so grundverschiedene Erlebnisse, wie der Koitus und die Pollution, von denen doch das eine an das gegebene Objekt gebunden ist, das andere aber vom bloßen Subjekte herkommt, und deren Lebhaftigkeit von jedermann ohne weiteres unterschieden wird, daß diese beiden Erlebnisse bei ihm eben keine sichere Grenze hatten. Er war hier leidend, und dieses Leiden übertrug sich auf sein ganzes Leben. Kein Wunder daher, daß er ein tiefes Interesse daran haben mußte, die Welt und das Leben als bloßen Schein und mit dem Träume verwandt darzustellen. Kein Wunder auch, daß er den Eros, den Träger dieser Erlebnisse, mißdeuten mußte und keinen Blick freibekam für dessen wahre Stellung im Polgebiete der Natur.
In Kants »Transcendentaler ƒsthetik« nun glaubte Schopenhauer das Mittel gefunden zu haben, um seine Lehre von der »Welt als Vorstellung« - die eben im Vorgestelltsein ihre ganze Realität erschöpft - zu begründen. In diesem Mittel aber vergriff er sich. Denn wenn auch Kant, besonders in der ersten Auflage der Vernunftkritik, durch seine Ausdrucksweise von der »bloßen« Erscheinung Anlaß zu jener Mißdeutung gegeben hat, so hat er es doch nicht so gemeint. ƒndert man diese, so wird sofort alles klar. Man braucht nur zu sagen: »Die Dinge an sich erscheinen in Raum und Zeit und werden hier erfahrbar«, so verschwindet jeder Gedanke an »bloßen Schein«. Das Wort »Erscheinung« in dem so ausgesprochnen Satze hat den Charakter einer Unternehmung der Dinge selber, und die Welt der Erfahrung ist von einer vollen und durch nichts aufzuhebenden Sicherheit. Es gibt nichts Festeres auf der Welt.
Unter dem Drucke seines empirischen Charakters - das ist also das, wodurch wir alle bedrückt werden - griff Schopenhauer mitten in das Gefüge der kantischen Philosophie hinein und - vergriff sich. Er stellte zunächst mit seinem scharfen Blick den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Auflage der Vernunftkritik fest und behauptete, Kant habe in der zweiten seine eigentliche Grundabsicht verfälscht, »verstümmelt, verunstaltet, verdorben«; denn in der ersten komme Kants »idealistische Auffassung« klar zum Ausdruck, während die zweite eben dies vermissen lasse. Unter »idealistisch« ist hier wiederum nichts anders zu verstehen, als die Lehre von der Unbeweisbarkeit und Scheinhaftigkeit der Außenwelt, also das, was der Bischof Berkeley und vor allem die Inder meinten. Er schrieb, bewegt durch diese Entdeckung, an Professor Rosenkranz und bestimmte diesen in der Tat, seiner Kantausgabe die erste »unverfälschte« Auflage von 1781 zugrunde zu legen.
Und in der Tat will es zunächst, wenn man die beiden Auflagen vergleicht, so scheinen, daß Kant der Verführung, den objektiven Hintergrund in Frage zu stellen, in der ersten Auflage nicht ganz entkommen ist. Schopenhauer zitiert daher mit einem gewissen Behagen einige Stellen aus dem Kapitel »Von den Paralogismen der reinen Vernunft«, das in der zweiten Auflage stark gekürzt ist, und diese klingen denn auch erheblich »idealistisch«; »daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjekts und eine Art Vorstellung desselben« (K.R.V. Ausgabe Kehrbach, S. 323). So könnte ein Hindu oder ein Buddhist sprechen, und so meint es Schopenhauer. Aber trotz diesem und manchem anderen Satze von idealistischer Färbung hat es Kant doch nicht so gemeint, vielmehr ist ihm nur die Feder ausgeglitten. Er hat in der zweiten Auflage der Vernunftkritik, noch besser aber in den schön geschriebenen »Prolegomena« klar und eindeutig gesagt, was seine wahre Meinung ist, und da kann keine Rede sein von Hindutum. Ja, es ist vielmehr gerade so, daß erst durch die Kantische Philosophie der volle Unterschied von Erscheinung (= Erfahrung) und Schein als einem allo genos erwiesen ist; es sind kontradiktorische Gegensätze, keine bloß konträren, und damit ist die gesamte indische Philosophie samt Schopenhauer aus den Angeln gehoben. Für diese beiden aber sind Schein und Erscheinung, Leben und Traum Geschwister, die von dem gleichen Elternpaare stammen: so wie man auch etwa den Schlaf und den Tod als Brüder bezeichnet. Aber gerade so ist es eben nicht, sondern quer durch sie verläuft die Achse der Natur. Jedem Gedanken an eine falsch verstandene »Erlösung« (die nichts als Ablösung wäre), eine Aufhebbarkeit des Lebens der objektiven Welt durch den Verneinungsakt des Heiligen, sei es im Willen, wie bei Schopenhauer, oder in der Erkenntnis, wie beim letzten Buddha - jedem solchen Gedanken ist durch die Kantische Philosophie der Boden entzogen. Die Welt kann nicht zurückgenommen werden.
Wenn Schopenhauer in seinem Briefe an Rosenkranz vom 24. August 1837 in bezug auf die Textänderung der zweiten Auflage von einer »Unredlichkeit« Kants spricht, so ist dem freilich auf das entschiedenste entgegenzutreten. Kant hatte vielmehr gemerkt, daß ihm die Feder entglitten war, und da war es sein gutes Recht, ja die Pflicht der Wahrheit, nun die Sache so darzustellen, wie er sie meinte. Daß aber in seinem Hauptwerk der Ton des Hinduismus überhaupt anklingen konnte, damit hat es offenbar folgende Bewandtnis: Kant war, obwohl tief in die Schulphilosophie verstrickt und von deren Denkgewohnheiten durchtränkt, doch nicht eben ein Fortsetzer von Gedanken anderer, sondern er war Entdecker. Die es sich mit ihm leicht machen, erheben immer gar zu gerne den Einwand, daß er sein ganzes Leben lang - und er ist über Achtzig geworden - nie aus Königsberg herausgekommen sei. Es gibt aber gar viele Leute, die sehr wohl aus Königsberg herausgekommen sind, die aber deshalb nicht einen einzigen Gedanken gedacht haben. Entdeckersein heiß aber nicht, etwas finden, was schließlich auch ein anderer hätte finden können (jeder beliebige andere Physiker hätte die »Röntgenstrahlen« finden können, und der sogenannte »Erreger« der Tuberkulose lag geradezu auf dem Präsentierteller, genau wie das Radium) - Entdeckersein in diesem ganz spezifischen Sinne ist allemal ein singulärer Fall und trifft eine unersetzbare Person, ohne die es nicht geht. Es ist ein echtes Schicksal. Kant hatte den ersten, den sinnlichen Teil seiner Lehre nicht aus fremden Büchern herausgeklügelt, trotz Königsberg und trotz Professorentum, sondern diese ist überfallartig auf ihn hereingebrochen - ex objecto: Seine nüchterne Natur verbot es ihm, davon viel herzumachen; aber das, was er in der Vorrede zur zweiten Auflage der Vernunftkritik von Thales, Galilei und Torricelli sagt, nämlich das mit dem »Einfall eines genialen Mannes«, das trifft auch auf ihn selber zu. Wir wissen sogar, daß er es so gesehen hatte, und er kannte auch das Jahr, in dem es geschah: »Das Jahr 69 gab mir großes Licht«, heißt es in einer seither von B. Erdmann veröffentlichten Aufzeichnung Kants. (Zitiert nach Alois Riehl »Krititizismus«, S. 256). Das ist, gemessen an seiner sonst so pedantischen Ausdrucksweise, ein geradezu pathetisches Bekenntnis, um so mehr, als es sein persönliches Leben betrifft. Aber es ist vollkommen wahr; denn solch eine Lehre wir nicht vom Intellekt ersonnen, sondern vom Geiste durch Licht empfangen. Es schien sich dabei im Jahre 1769 bei Kant zunächst nur um die Apriorität von Zeit und Raum zu handeln - so sagen die nachspürenden Gelehrten -, aber der Augenblick enthielt in der Tat schon das Ganze: nicht nur die transzendentale Logik, sondern auch die Lehre von der Freiheit; dies alles in statu nascendi.
Man vergißt leicht, daß darüber schon hundertvierundsiebzig Jahre vergangen sind und daß ganze Gelehrtengenerationen Bibliotheken mit dem Kantischen Thema füllten. Man hat sich an die Problemstellung gewöhnt und tut so, als ob das gar nichts wäre. Man nimmt freilich aus zweiter Hand, und das ist auch »gar nichts«. Erlitten aber hat das große Licht um 1769 nur Einer. - Immerhin aber wirkt auf jeden, der es zum ersten Male begreift, die Aufhebung des naiven Realismus einigermaßen erregend. Denn dieser war bisher ein Seelenzustand, den die Natur als Anpassung einhielt. Ein Rütteln daran aber bedeutet das philosophische Erwachen und eine Erhöhung des menschlichen Daseins über die Anpassung hinaus. Es wirkt schon leicht prickelnd, wenn man in Platons »Theätet« liest, daß das Süße nicht im Weine sei und auch nicht in der Zunge, sondern »dazwischen« (metaju); hier wird also Welt schon als ein Zwischenreich gesehen. Und wer aus John Lockes »Essay on the human understanding« in der Lehre von den primären und sekundären Qualitäten erfährt, daß die Farbe, der Geruch, das Warm und Kalt, das Rauh und Weich nicht den Dingen selber zugehören, vielmehr von unseren Sinnesorganen mitverschuldet sind, der fängt auch an, sich zu wundern: er bemerkt, daß die eigentlichen Wunder der Natur nicht in deren sichtbaren Großartigkeiten liegen, sondern da, wo das Erkennende und das Seiende zusammenstoßen. Dabei kann ein Mensch wohl einen fragenden Blick für das Ganze des Lebens erwerben. Es ist das Abwerfen des naiven Realismus, das sich hier vollzieht. - Viel heißer aber geht es noch zu, wenn nicht nur die Sinnesqualitäten, die ja den Dingen nicht notwendig angehören, sich als von uns verschuldet erweisen, sondern gar Zeit und Raum, ohne die gar keine Dinge gedacht werden können. Und nun gar bei dem, der es nicht von anderen hörte und in Büchern auflas, sondern dem es sich zum ersten Male von selber zeigte! Solche Entdeckungen greifen tief in das Gemüt dessen ein, der von ihnen befallen wird, und wir wundern uns nicht, wenn wir hören, daß so viele unter dem Druck dieses göttlichen Eingriffes in die Lebensordnung ihren Verstand verlieren. Da ist es denn ein Zeichen von hoher Disziplin, wenn ein Geist wie Kant hier standgehalten hat und nur die Feder ihm ausglitt.
Die Überwindung des naiven Realismus, eben jenes Anpassungszustandes der Natur, ist ja nicht zum ersten Male hier angesponnen worden, sondern das kommt im Laufe der Jahrtausende immer wieder vor und wird immer wieder verschüttet. So standen die Inder an demselben Ort. Allein sie glitten aus, und dann kam das mit dem »Schleier der Maja« und der »Aufhörbarkeit des Lebens, der Anatta-Lehre des letzten Buddha »vom Nicht-Sein der Seele«. Kant aber glitt nicht aus. Nur eben die Spuren einer noch unsicheren Sprache finden wir in dem Unterschied zwischen beiden Auflagen der Vernunftkritik. Die Feder entglitt ihm, nicht er selbst.
Es bleibt hier noch einzufügen, daß echte Entdecker in dem präzisen Sinne, wie es hier gemeint ist, das heißt solche, die sich im Bereiche der Naturachse befinden (also nicht etwa die »großen Entdecker« auf dem Gebiete der Technik, bloße »Wohltäter der Menschheit«, die keinen Deut zur Gründung eines höheren Menschtums beigetragen haben) - ich sage, daß solche Entdecker eigentlich kaum in der Lage sind, das, was ihnen durch das »große Licht« in statu nascendi zuteil geworden ist, auch in actu demonstrandi angemessen auszudrücken; es scheitert immer an den zu schwachen Mitteln der Sprache. Und so muß man Kants Hauptwerk als ein durchaus mißlungenes ansehen, gemessen an dem, was dahintersteht. Das befugt niemand, ihn zu schulmeistern, denn niemand hat dort gestanden. - Von diesem Ansichtspunkte aus betrachtet, ist Schopenhauers erstaunliche Sprachschönheit fast ein Einwand.
Das Wesen der anthropologischen Mißdeutung der Erkenntnis, deren Hauptträger Schopenhauer auf der einen Seite, auf der anderen aber die naturwissenschaftliche Aufklärung ist, dieses Wesen liegt darin, daß das transzendentale Subjekt in den empirischen Menschen, wie er nun einmal ist oder wie er sich womöglich gar aus »tierischen Ahnen« entwickelt hat, verlegt wird. Dadurch wird die Erkenntnisart zur bloßen Brille, bleibt also subjektiv, besser subjektivisch. Schopenhauer hat sogar den Ausdruck »Brille« vergleichsweise für seine Auffassung von der Erkenntnis gebraucht, mit welchem einen Wort er seine Grundansicht entblößt hat. Kant hätte solch einen Vergleich niemals finden können.
Aber wie in den halbfertigen und mißlungenen Aussprüchen nicht selten mehr Wahrheit enthalten ist, als in den expressis verbis geratenen, so steht es auch mit jenen Worten KANTS, die Schopenhauer aus der ersten Auflage jubelnd als Beleg für die ursprünglich »idealistische« Auffassung Kants zitiert. Ich wiederhole: » ... daß, wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, die ganze Körperwelt wegfallen muß, als die nichts ist, als die Erscheinung in der Sinnlichkeit unseres Subjektes und eine Art Vorstellung desselben.« Der Satz wird mit einem Schlag richtig, wenn man unter dem Subjekte, und zwar dem transzendentalen, einen echten Pol versteht, dem mit Notwendigkeit ein anderer im Objekte, obgleich unerkennbar, entspricht. Wendet man auf diese Auffassung ein Gleichnis an, so ist das mit der »Brille« ganz unmöglich; es drängt sich aber das von den zwei Polen der Elektrizität und des Magnetismus auf, die natürlich, da rein empirisch, beide in gleicher Weise der Erkenntnis offenstehen. Nimmt man hiervon einen Pol fort, so fällt freilich die ganze Welt des Magnetismus und der Elektrizität; es gibt dann keine. Dieses Gleichnis könnte, ohne daß er es hier ausgesprochen hat, Kant vorgeschwebt haben, als er jenen Satz schrieb, oder er könnte immanent und unbewußt in ihm enthalten gewesen sein; jedenfalls bekommt er dadurch seine Richtigkeit. Aber wir gehen eine Schritt weiter und nehmen die Auffassung vom Pole nicht mehr bloß als Gleichnis, sondern als real und den wahren Verhältnissen entsprechend; dann finden wir, daß das Bild der Natur, so wie es Kant im stillen gemeint haben mag, klar hervortritt. Nur muß man freilich im Auge behalten, daß die empirischen Beispiele echter Polarität, wie die von Magnetismus und Elektrizität, als auch die zweifelhaften, wie die von Licht und Finsternis, Wärme und Kälte, eben weil empirisch, der transzendentalen Polarität nicht voll entsprechen. Denn bei ihr ist wohl der subjektive Pol zu erfassen und liegt im Gemüte des Menschen aufspürbar bereit, während der objektive in unaussprechbares Dunkel gehüllt ist. Der subjektive kann am Menschen studiert werden, obwohl er nicht etwa Eigentum des Menschen ist, wie die durch Anpassung erklärbaren Besitztümer. Aber wenn die Natur eine Achse hat, so muß sie auch Pole haben.
Dasjenige nun, was sich zwischen Subjekt und Objekt abspielt, nennt Kant die Erfahrung, und da, als Ganzes gesehen, sich zwischen zwei Polen nur eines abspielen kann, so gibt es nur eine Erfahrung. Für dieses singulare tantum nun hat Kant die Theorie geschrieben. Er hat dadurch die Erfahrung entdeckt, genau so wie Thales von Milet die Geometrie. Dabei hat er den objektiven Pol vernachlässigt, und er mußte das, weil er den Polcharakter überhaupt nicht sah, ebenso, wie sein Interesse überwiegend der Naturwissenschaft aus Bewegung und Materie galt; aber das sind Grenzen, die ihm der empirische Charakter setzte. Es ginge also, »wenn ich das Subjekt wegnehme«, wahrlich mehr verloren, als bloß die Körperwelt; nämlich alles.
Kant hat demnach ausdrücklich erklärt, es handle sich bei seinen Untersuchungen nicht etwa um die Frage, wie Erfahrung entstände oder wie man sie sich erwürbe, sondern darum, was sie enthält. Das aber bedeutet soviel wie den Begriff der Erfahrung, und so hat er es gemeint. Es wird erst durch die späteren Untersuchungen über das Wesen des Begriffes klar werden, wie das zu verstehen ist; vorläufig sei hier nur bemerkt: es gibt - denkwürdigerweise - Individualbegriffe empirischer Art, die, da ihr Gegenstand nur einmal vorkommt, notwendigerweise nicht »allgemein« im Sinne einer beliebigen Vervielfältigung er Gegenstände sein können, die unter sie fallen. Mit dem Begriff »Hund« meine ich stets alle Hunde; sage ich aber »Sokrates« und meine damit jenen großen Athener, so habe ich auch seinen Begriff gebildet, aber dessen Allgemeinheit ist völlig anderer, nämlich rein begrifflicher Art. SCHOPENHAUER hat hier einmal tiefsinnig bemerkt: »Sokrates heißt Çalle Sokratesë«. Das wäre außen gesehen ein logisches absurdum, und doch trifft es genau das in sich kreislaufende Wesen des Individualbegriffes. Es lohnt sich, an diesem Tatbestande nicht ohne Nachdenken vorüberzugehen; denn wir werden an späterer Stelle darauf kommen, daß es noch eine andere Kraft im Bezirk des subjektiven Naturpoles gibt, die den gleichen Anspruch auf unbedingte Einmaligkeit und zugleich »Allgemeinheit« erhebt; diese Kraft ist der Eros, zu dessen Wesen es gehört, dasselbe zu tun wie der Individualbegriff, nur mit durchdringender Leidenschaft. Dies alles muß vorläufig freilich noch dunkel bleiben. - Und ein solcher Individualbegriff ist auch bei Kant der Begriff der »Erfahrung«, von dem wir also auch sagen können: »Erfahrung« heißt »alle Erfahrung«. KANT nennt das alles »für jedes Vernunftwesen giltig«, wobei der Mensch ein Fall davon ist, wenn auch der einzige. Das aber ist das Gegenteil von anthropologisch.
KANT hat für die Art seines Denkens und den eigentümlichen Griff, den er vollzog, die Bezeichnung »kopernikanische Veränderung des Standpunktes« geprägt, und dieser Vergleich, der in der Tat den Kern der Sache trifft, ist tausend und abertausendmal nachgesprochen worden. Allein, wenn man es bei Lichte besieht, so ist die kopernikanische Weltanschauung, obwohl sie keineswegs durch Experimente gesichert ist, volkstümlich geworden und alle Welt ist von ihrer Richtigkeit überzeugt. Dagegen hat derselbe Griff bei Kant, obwohl hier echte Beweise vorliegen, noch nicht vermocht, selbst in der gebildeten Oberschicht nicht, den Blick für die Natur sicher zu machen. Das liegt daran, daß es sich bei Kopernikus um einen Fall von Erfahrung handelt und um ein Stück Natur sinnfälliger Art, bei Kant aber um die Erfahrung selbst und um die Natur überhaupt. Um das aber erlebnishaft zu erfassen, bedarf es eines Aktes höchster Besinnung und schärfster Prüfung seiner selbst. Denn die Sache ist paradox, wie alle großen Entdeckungen. Dies hat auch KANT sehr deutlich empfunden, als er den Satz niederschrieb: »So klingt es zwar anfangs befremdlich, ist aber nichts destoweniger gewiß, wenn ich....sage: Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor« (Prol., § 36, Schluß). Das klingt genau so ungeheuerlich, wie es jedem Menschen klingt, wenn er zum ersten Male hört, die Erde sei eine Kugel; denn unwillkürlich stellt sich der Gedanke ein: Wie kommt es, daß ich da nicht herunterfalle? So stellt sich bei dem transzendentalen Satz Kants der Gedanke ein: Wie soll der Verstand (»mein« Verstand!) der Natur Gesetze vorschreiben? - indem man nämlich unwillkürlich doch an die empirischen Gesetze denkt und etwa meint, der Verstand »schaffe« das Gravitationsgesetz oder die Gesetze der Elektrizität, nach denen sich die Natur richtet. So aber ist es nicht gemeint. Wenn ein Meteor auf die Erde fällt, so ist an dieser sinnfälligen Erfahrung folgendes a priori gewiß; daß der Meteor im Raume erscheint und für seinen Weg eine Zeit braucht, daß er eine Größe hat und das sein Fallen nur geschehen kann, wenn eine zureichende Ursache es veranlaßt. Das sind die allgemeinen und reinen Gesetze der Natur, und diese wurzeln im Subjekt. Ohne sie wäre »Natur überall nicht möglich«, wie KANT sich ausdrückt. Welches aber der Grund für seinen Fall ist (wobei noch Grund und Ursache zu unterscheiden sind), nämlich die Anziehungskraft der Erde, welche Größe und welches Gewicht er haben muß, um diese und keine andere Geschwindigkeit zu erlangen, das alles gehört dem Objekte an, ebenso wie seine Temperatur, sein elektrisches Potential und seine Helligkeit. Die Gesetze der Beschleunigung aber zu kennen, setzt den Akt der Entdeckung voraus, in diesem Fall Galilei. Unter dem Druck des Objektes, so kann man sagen, kommt das Subjekt zur Entfaltung und schreibt der Natur nunmehr seine und keine anderen allgemeinen und reinen Gesetze vor. Denn das Subjekt ist Bestandteil der Natur und kein Punkt in ihr.
Durch all das wird die Natur allerdings zur »bloßen« Erscheinung, was unwillkürlich wie eine Herabsetzung wirkt. Indessen auch Licht und Schall, sowie alle andern Sinneseindrücke haben sich als Erscheinungen herausgestellt, ohne deshalb an ihrer verbürgten Realität einzubüßen; und nach dem Bilde dieser empirischen Vorstellung von Erscheinung ist Kants transzendentale Trennung von »Erscheinungen« und »Ding an sich« vollzogen worden. Wir können beim Schall durch Experiment feststellen, daß es die mathematisch abgestimmten Schwingungen der Luft sind, welche, auf das Ohr treffend, den Schall erzeugen. Ohne Ohr kein Schall; aber auch kein Schall ohne Schwingung der Luft; diese also ist das »Ding an sich« des Schalles, das mit ihm selbst als Empfindung keinerlei ƒhnlichkeit hat. Beim Lichte wissen wir heute gleichfalls durch die freilich schwierigeren Experimente von Maxwell und Heinrich Hertz, daß es elektromagnetische Wellen sind, welche, wiederum mathematisch geordnet, je nach ihrer Länge und Schwingungszahl im Auge die farbigen Lichtempfindungen hervorrufen. Wenn es kein Auge gäbe, so schiene die Sonne nicht. Und wiederum ist das »Ding an sich« des Lichtes, also die elektromagnetische Welle, ohne jede ƒhnlichkeit mit dem Licht, das erst im Auge entsteht; sie sind »an sich« dunkel. Aber sowohl die Schwingungen der Luft wie die des Lichtäthers sind jedes für sich Gegenstände der Erfahrung im vollen Sinne des Wortes. Daher hat man auch die physikalische Optik eine Wissenschaft vom Lichte ohne das Auge genannt, was soviel besagen will, als daß sie sich nur mit dem Dinge an sich des Lichtes beschäftigt; und die Physiker gehen denn auch gelegentlich so weit, zu sagen: Licht ist elektromagnetische Schwingung; oder Rot ist die Wellenlänge 800. Das könnte man denn die Definition des Lichtes und der Farbe nennen im Rahmen des physikalischen Weltbildes. Allein dieses Weltbild ist ein Eliminat. Und auch der Physiker muß ja, um die Richtigkeit seiner Formeln zu prüfen, jedesmal hinsehen, also das Auge mindestens als Kontrollorgan benutzen. Denn woher sollte er es sonst wissen, ob diese oder jene Wellenlänge wirklich eine bestimmte Farbe erzeugt, als dadurch, daß er sie auf ein Auge wirken läßt? Die Wirklichkeit des Lichtes liegt also nicht in den Wellen, sondern in deren adäquater Einwirkung auf die Retina; das heißt aber : in ihrer Erscheinung.
Dasselbe auf Goethes Weise: Blau wird dadurch erzeugt, daß ein dunkler Hintergrund durch ein trübes Mittel gesehen wird und zwar in bestimmten Abständen voneinander. Das sind nun ganz reale und handfeste Dinge »an sich«, die das Blau erzeugen und die selber nicht die mindeste ƒhnlichkeit mit ihm haben, so etwa eine dunkle Bergwand, davor in gewissen Abstand aufsteigender Rauch, also feinverteilte pechschwarze Kohlenstoffpartikel. Aber erst das Auge macht aus diesen Dingen an sich das Blau: wiederum »nur« in der Erscheinung wird es wirklich. Daß das Blau des Himmels auf diesem selben Gesetze des trüben Mittels beruht, ist bekanntlich Goethes Entdeckung.
Ob also auf Newtonischer oder auf Goethescher Basis gedeutet: immer hat das echte und wirkliche Phänomen der Farbe seinen objektiven Hintergrund und seine subjektive Bedingung im Auge. Die Farben werden nicht wie ein willkürlicher Schleier über die Gegenstände der Erfahrung gelegt, sondern sie sind allemal durch objektive, mathematisch geordnete Verhältnisse in ihren Dingen an sich gesetzmäßig begründet. Dies gilt auch dann, wenn durch Störungen im Auge, »Farbblindheit«, verschiedene Meinungen über ein Farbphänomen entstehen; gilt aber ganz besonders dann, wenn durch das tiefer angelegte Auge des Malers Farbenschicksale gesehen werden, die dem gewöhnlichen Menschen verschlossen sind.
Der transzendentale Begriff der Erscheinung, wie er die Kantische Philosophie beherrscht, ist also nach dem Modell der empirischen gebaut. Kant würde diese Analogie nur ungern zugeben, allein es ist doch so, und man kann ihn nur so richtig verstehen. Das physikalische Experiment beweist für die einzelnen Sinnesorgane den Erscheinungscharakter ihres Bereiches, und bei einem jeden bleibt ein zugeordnetes Ding an sich übrig, das es affiziert; beim Auge der Lichtäther (um das besser klingende Wort zu wählen), beim Ohr die schwingende Luft, bei der Nase und dem Gaumen, die Duftstoffe und beim Tastsinn jeder beliebige Gegenstand. Alle diese Dinge an sich sind aber selber Gegenstände der Erfahrung; denn sie erscheinen in Raum und Zeit. Das transzendentale Experiment dagegen löst Raum und Zeit von den Gegenständen der Erfahrung ab; das hier übrigbleibende Ding an sich ist demnach nicht erfahrbar, sondern nur denkbar. KANT nennt es »Nooumenon in negativer Bedeutung«. Es ist aber als das der Erscheinung zugrundeliegende auch denknotwendig, wodurch die Existenz der Dinge an sich verbürgt wird. Nennt man die Welt Erscheinung - und man muß es -, so muß es auch etwas geben, was ihr zum Grunde liegt.
Nur so aber kann in Wirklichkeit mit letzer Bürgschaft von einem Objekt gesprochen werden. Kant drückt das in einfacher Art aus: die Dinge (an sich) sind uns schlechterdings gegeben und werden als Erscheinung Erfahrung. Von hier aus gesehen entbehren sie jedes Ansatzes von Mystik oder auch nur Rätselhaftigkeit; sie sind eine nüchterne Sache. Hier von »wahren Wesen der Welt« zu sprechen, ist eine falsche Anrede. Wen SCHOPENHAUER in seiner »Brieftasche« S. 28 schreibt: »Das wäre mein höchster Ruhm, wenn man einst von mir sagte, daß ich das Räthsel gelöst, welches Kant aufgegeben hatte«, so kann man hierzu nur sagen: Kant hat dieses Rätsel nicht aufgegeben, und Schopenhauer hat es nicht gelöst. Denn wenn er den »Willen« - also etwas halbwegs Bekanntes - zum »Dinge an sich« und damit zum »wahren Wesen der Welt« macht, so wird am echten Objekte, wie es nur Kant richtig verstanden hat, eben das weggenommen, wodurch es ausgezeichnet ist: daß es sich aus schlechthin unbekannter Tiefe dem Subjekte entgegenwirft. Wenn Schopenhauer, ganz unkantisch, immer vom »Ding an sich« redet und das Suchen danach zu einer Rätselfrage macht, so beweist er damit, daß er die kantische Philosophie nicht verstanden hat und demnach gar keinen rechten Begriff vom Objekt haben konnte. Er denkt anthropologisch statt transzendental und damit schnurstracks am Problem vorbei.
In die Dinge an sich kommt allerdings von zwei Stellen aus Bewegung, und sie hören dann auf, bloße entia rationis zu sein: beim Entdeckungsakt und in der Ethik. Aber auch hier wird nichts an ihrer Unerkennbarkeit geändert; beim Akte der Entdeckung kann man nur sagen, daß sie in anderer Art affizieren als in der gewöhnlichen Erfahrung. Zu dieser Einsicht aber kann man nur gelangen, wenn die kantische Denkart in Richtung auf die platonische umgestimmt wird, ähnlich der Transposition eines Musikstückes in eine andere Tonart. In der Ethik aber tritt an Stelle der Dinge an sich der intelligible Charakter. Hier, wo der Unterschied zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich sein soll, in verhängnisvolle Nähe gerückt wird, kommt zwar das Wissen davon, was ich selber bin, nicht um einen Deut besser fort; allein, es tritt eine Bewegung ein, die als Gewissen spürbar wird und deren Richtung vom intelligiblen Charakter her auf den empirischen - den Ort der Tat - zugeht. Über die ethischen Vorgänge aber hat bisher das Christentum die besten Auskünfte erteilt und erst zu zweit die Philosophie.
Wenn es richtig ist, daß Kant die Erfahrung in ihrer Singularität entdeckt hat, so wie Newton das Gravitationsgesetz, dann muß es falsch sein zu sagen, er habe die angeborenen Eigenschaften des menschlichen Intellektes studiert und dessen Grenzen gesichert. Obwohl - mit Ausnahme des Wortes »angeboren« - der Satz selber nicht einmal falsch ist, denn so findet man ihn sogar wörtlich bei Kant, so ist die Meinung doch falsch, die sich aus ihm ergeben soll, nämlich, daß es sich um nichts weiter als um ein menschliches Phänomen handelt, da der Mensch ja »nun einmal« so gebaut sei. Wir nennen diese Auffassung der kantischen Philosophie die anthropologische und halten sie für ein Mißverständnis.
 

5. DER NAIVE NATURALISMUS
Während Schopenhauer kantisch sein will, ohne daß es ihm gelingt, will der Naturalismus des 19. Jahrhunderts dies ausgesprochen nicht, weil er glaubt, auf eignen Füßen stehen zu können; das aber gelingt auch ihm nicht. Und wenn nicht das Genie Lamarcks und etwa auch Darwins an seinen Anfängen stünden, so brauchte man, nach Kant, überhaupt nicht von ihm zu reden.
Seine These lautet: Die Natur - das ist das, was man sieht, wenn man das Fenster aufmacht -, die Natur, die etwas so Selbstverständliches ist, daß man schon ein Leben lang in Königsberg gelebt haben muß, um zu der Frage fähig zu sein, »wie ist Natur überhaupt möglich?« -, diese Natur also schafft im Laufe der ungezählten Jahrmillionen ebenso ungezählte Lebewesen von den Amöben über die ganze Skala der Tier- und Pflanzenwelt hinweg »bis hinauf zum Menschen«, der durch und durch nichts anderes ist als ein Geschöpf eben dieser Natur. Nun wird allgemein zugegeben, daß das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Menschen vom Tier die Vernunft sei, das heißt: den menschlichen Handlungen gehen Überlegungen voraus, die aus Urteilen und Schlußketten bestehen. Um das als Entwicklungsvorgang zu begreifen, muß man nach Anknüpfungsstellen im Tierreich suchen, und da glaubt man denn unter den höheren Pithekoiden deutliche Anzeichen einer »entstehenden« Vernunft zu finden. Es kommt daher zu folgendem Entwicklungsbild: die heute lebenden höheren Affenarten und der Mensch haben eine gemeinsame Wurzel in einer ausgestorbenen Tierart. Diese muß gewisse Anpassungsschwierigkeiten gehabt haben, so daß sie in Gefahr geriet, den Kampf ums Dasein nicht durchzuhalten. Die Kieferpartie bildete sich zurück, so daß durch Schwächung des Gebisses eine wichtige Waffe verlorenzugehen drohte: als Ersatz dafür trat aber bei begünstigten Exemplaren eine Vergrößerung des Gehirnes auf; das aber bedeutet die Entstehung der Vernunft als einer neuen Waffe zum Zwecke der Überlistung und zur Herstellung von Werkzeugen. Was an der besagten Tierart diesen Prozeß nicht schnell genug mitmachte, das ging unter, während die übrigen Exemplare sich durch Fortpflanzung und Vererbung erhielten; so bildeten sie den neuen Tiertypus homo sapiens. - Das klingt ungemein verlockend, und wir können dieser günstigen Diagnose des Menschen, in der unübersehbare Chancen nach oben liegen, sogar noch einiges hinzufügen. Es gibt nämlich Affenarten, die mit Steinen werfen können, ja mit ihnen werkzeugartig umgehen; und sie treffen immer, nämlich mit der selben Sicherheit, mit der sie ein Insekt auf ihrem Körper zu greifen vermögen. Der konsequente Naturalismus kann nun hier einsetzen und sagen: wir haben hier deutlich unverkennbare Spuren einer intelligenzartigen Tätigkeit vor uns, von der wir nur anzunehmen brauchen, daß sie sich im Laufe der Jahrmillionen durch allmähliche Anhäufung kleinster Verstärkungen schließlich zur vollen Entwicklung der nunmehr menschlichen Vernunft gesteigert haben. Von hier aber konnte der so entstandene Mensch bewußt durch Überlegung zielen, werfen und neue Werkzeuge schaffen; womit die Grundlage der menschlichen Kultur gelegt wurde, die, im ständigen weiteren Aufstiege begriffen, den Menschen zum Herrn der Erde macht. - Das ist das Lied vom Menschen, wie es der Naturalismus angestimmt hat und wie es von der Mehrzahl der heutigen Menschen geglaubt wird.
Die Suggestivkraft, die von dieser Lehre auf die großen und kompakten Massen der Halbbildung ausgeübt wird, stammt nicht von ihrem Wahrheitsgehalt - denn dieser besteht nicht -, sondern daher, daß sie bestimmten Tendenzen, die etwa seit der Französischen Revolution (aber nicht durch sie) in die geschichtsempfindliche Schicht der europäischen Menschheit eingedrungen sind, entgegenkommt. Seit jener Zeit etwa hebt es an, das der Inhalt des Menschentums wesentlich in der Erfindung neuer Werkzeuge gesucht wird, wobei man annimmt, daß diese dann mit der Verbesserung der Lebenslage auch eine solche des Menschentums selber herbeiführen werden. Mit diesem Gedanken hat soeben diese selbe Menschheit ahnungslos ihren Untergang besiegelt, und man könnte sagen: ein falsches Denken über die Vernunft, vorausgesetzt, daß es Massenwahn wird, kann Völker und Erdteile ins Verderben stürzen.

 



 

 

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