Viertes Kapitel

PLATONS GRÜNDENDE TAT

Was Platon und seine Werke anbetrifft, so liegt in der Großartigkeit des Auftretens der Philosophie, wie es hier geschehen ist, der eigentümliche Grund dafür, daß er die Welt bisher noch nicht losgelassen hat und ein immer wieder neuer Zauber von ihm ausgeht, Das ist wohl auch die Ursache dafür, daß man ihm - und nur ihm allein unter allen Philosophen - den Beinamen des Göttlichen gegeben hat.
 

1. PLATONS »GASTMAHL DES AGATHON« ALS OPUS SUI GENERIS
Wenn man den glanzvollen Wirkungskreis der platonischen Philosophie betrachtet, so fällt einem zunächst als Höhepunkt der Darstellungskraft das »Gastmahl des Agathon« auf. Man hat von diesem Meisterwerke gesagt, daß es der Urtypus, das Paradigma zu der später sogenannten Symposienlitteratur sei, wodurch diese Gattung zum ersten Mal ans Licht getreten wäre. Aber ich gebe den Litterarhistorikern zu bedenken, ob es nicht etwa so sei, daß das Gastmahl als ein factum sui generis zwar Gattungscharakter trägt, daß es aber die ganze innere Kraft - die Entelechie - dieser Gattung mit einem Male für sich selbst verbraucht hat. So etwas kommt vor, auch in anderen Bezirken der Natur. Jedenfalls ist es doch eben so, daß die gesamte Symposienlitteratur kein einziges Werk enthält, daß in die Sphäre des platonischen Gastmahles eingedrungen ist. Keine einzige Nachahmung oder Parallelschöpfung ist gelungen. Sondern nur das »Gastmahl« des Agathon gelang. Homer konnte nachgeahmt werden, und Vergils zweiter Gesang hat vollen homerischen Rang, auch wenn die lateinische Sprache nicht über das Register verfügt, die die griechische ziehen kann. In der attischen Tragödie sind serienweise Meisterwerke geschaffen worden; aber Platons Symposium bleibt allein in eigner Gattung stehen. - Ein modernes Beispiel ähnlicher Art sind Ernst Jüngers »Marmorklippen«; auch dieses Buch trägt Gattungscharakter, und niemand kann ein zweites der Art schrieben, ohne sich lächerlich zu machen.
Bekanntlich hat der kreuzbrave Xenophon auch ein »Gastmahl des Kallias« verfaßt mit Sokrates als spiritus rector, und hieran schloß sich der urkomische Philologenstreit darüber, wem nun eigentlich die Palme gebühre, das heißt, wer von wem abgeschrieben habe. Gesetzt also einmal den Fall, Xenophons Gastmahl sei älter als das des Platon, dann war halt Xenophon wirklich ein Tausendsassa. Es wäre dann so gewesen, daß Platon diesen guten Gedanken als Motiv hat auf sich wirken lassen und nun aus seiner wahrhaft tieferen Substanz ((ousia)) heraus sein Gastmahl schuf, das die ganze Gattungskraft der Symposienlitteratur an sich riß. Denn nur Platon hatte die inneren Mittel und damit die Befugnis, die Gestalt des Sokrates zu deuten. Hat aber er die »litterarische Priorität«, so ist das erste nach ihm geschriebene Symposium genau so gleichgiltig wie das tausendste.
Über den großen dramatischen Reiz des Gastmahles ist schon viel und meist Richtiges geschrieben worden; man denke etwa dabei an das stürmische Auftreten des Alkibiades und seine Rede auf Sokrates, jenen Augenblick, den Anselm Feuerbach in seinem Gemälde festgehalten hat. Hinzu kommt noch ein eigentümlich grammatischer Reiz, auf den die Philologen vielfach hinwiesen. Dieser besteht darin, daß ja das ganze Symposium von einem sonst unbekannten Manne Apollodoros einigen anderen erzählt wird, daß also der Vorgang selber Jahrzehnte zurückliegt. Apollodoros wiederum war selber nicht mit dabei, sondern hat seine Kenntnisse von einem gewissen Aristodemos. Hieraus ergab sich die Nötigung, die ganze Erzählung als indirekte Rede in den sogenannten »Accusativus cum infinitivo« zu setzen, durch welche kunstvolle Sprachführung ein ästhetisches Wohlgefühl entsteht, das dem der Patina auf alten Kupferdächern gleicht. Das alles freilich bekommt nur zu spüren, wer es auf Griechisch lesen kann.
Aber diese Vorzüge künstlicher Art - die völlig einmalig sind - würden nicht genügen, um den auf die Jahrtausende frisch erhaltenen Eindruck des platonischen Gastmahls zu erklären; der eigentliche Grund hierfür ist der, daß hier zum ersten Mal die Liebe als ein Gegenstand der Philosophie behandelt wurde. Was heißt das: »Gegenstand der Philosophie... ?« Es kann durchaus nicht alles und jedes in den Rang der Philosophie erhoben werden. Alle Mühe würde vergeblich sein, etwa die Genüsse des Gaumens und der Zunge als Philosophie zu behandeln, obwohl man darüber freilich popular -philosophisch allerhand neckische Dinge gehört hat. Allein es ist nun einmal so, daß das Triebgebiet des Hungers philosophisch steril bleibt. Es gelingt einfach nicht, hier jene Rangerhöhung vorzunehmen. Beim Liebesleben aber ist es anders. Es gibt in der Natur Stoffe, die leuchten, und andere, die im Dunkeln dunkel bleiben; so phosphoresziert das Geschlechtsleben, der Hunger aber nicht. In jenem ist etwas enthalten, das einen philosophischen Ort hat, etwas, dem transzendentale Bedeutung zukommt, ja, das sogar von »transzendentalem Gebrauch« ist. Das heißt aber: der Kern und der Grund diese Phänomens gehört zum objektiven Weltbild; die Achse der Natur läuft hier hindurch. Dies eben geahnt zu haben, ist das Verdienst Platons, wobei dahingestellt bleibt, wie weit er damit kam. Und darum allein, eben weil diese Ahndung richtig ist, überdauert das »Gastmahl des Agathon« die Jahrtausende.
 
 

2. PLATON ERHEBT DEN EROS IN DEN RANG DER PHILOSOPHIE
Die Sache beginnt mit dem Einspruch des Sokrates in seiner Rede über den Eros. Die anderen Festgenossen nämlich hatten bloße Trinksprüche auf ihn gehalten - nur Aristophanes, der Komödiendichter, überschreitet diese Grenze. Der Arzt Erixymachos redet über den Eros genau dasselbe, was heute noch jeder Mediziner sagen würde. Diese Leute ändern sich nicht. Sokrates aber sagt, ein bloßes »Ergo bibamus« könne er nicht ausbringen, das sei nicht seine Art, sondern er müsse der Sache auf den Grund gehen und nach der Wahrheit forschen; was nämlich der Eros sei, »er selbst an und für sich an seinem eignen Ort«. Damit hat er das Thema gestellt, den Eros aus dem Dunst der Trinksprüche in die Klarheit der Philosophie erhoben, er als Erster - aber er hat, trotz der Hilfe der Diotima, die Lösung nicht gefunden. Zwar fügt er der ganz allgemeinen Ahndung, daß der Eros einen philosophischen Ort mit transzendentaler Bedeutung habe, noch die besondere hinzu, daß er mit »dem Guten« irgendwie verschwistert sei; allein es gelingt ihm nicht, diese Verbindung als eine notwendige zu erweisen, die im Charakter des Eros sowohl als in dem der »Idee des Guten« ihre Verwurzelung hat. Das aber erst wäre die Lösung der Frage. Daß sie nicht gelingen konnte, liegt daran, daß Platon und mit ihm das ganze Altertum vom Guten einen nur relativen Begriff hatten (was wir später ausführen werden), und so konnten die beiden sich nicht finden. Aber er ist ganz dicht davor.
Was sich hier in der Philosophie abspielt, gleicht einem Tunnelbau: ein Berg wird von zwei entgegengesetzten Seiten her angebohrt, damit sich die Stollen in der Mitte treffen. Aber durch ein Versagen der Meßinstrumente, von unberechenbaren Einflüssen der Bergmasse verschuldet, wird die Richtung verfehlt; die Arbeiter hören zwar dumpf durch den Berg hindurch die Bohrmaschinen des Gegenstollens, aber dann klingt das Geräusch wieder ab: die Stollen entfernen sich endgiltig und der Tunnelbau bleibt, mißlingend, liegen. - Und so ist auch in der Tat die philosophische Frage nach dem Eros seit dem Gastmahle des Agathon liegengeblieben. Oder man nenne mir eine einzige Schrift eines Denkers, durch die sie gefördert wurde. Es gibt keine seit diesen reichlich zweitausend Jahren, die seitdem verflossen sind. Alle anderen Gebiete der Philosophie weisen Fortschritte auf; die Logik ist erheblich gefördert, die Ethik ist es, wenigstens nach ihrer formalen Seite hin, sogar die Metaphysik erhielt eine Förderung durch ihren Zusammenbruch als Wissenschaft bei Kant; die ƒsthetik hat erhebliche Blüten gezeitigt; aber, was die Menschen von jeher am tiefsten bewegt hat, die Liebe: bei ihr finden wir eine stehengebliebene Uhr. Und dabei ist es so, daß ohne den philosophischen Ort zu finden, den die Liebe mit transzendentaler Notwendigkeit einnimmt, die Philosophie sich vergeblich bemüht, ein Weltbild zu schaffen.
Woher dieser Vorrang in der Erforschung der Gebiete mit starkem Vernunfteinschlag kommt, ist schwer zu sagen. Es ist doch gewiß nicht so, daß der Eros als Liebesleben zurückhaltender geworden wäre. Von irgendeiner Bändigung durch die christliche Kirche kann doch, in toto gesehen, nicht gesprochen werden; nur verunstaltet hat sie ihn. Ja, man muß zugeben, daß der Widerhall, den das Liebesleben etwa in der Dichtung findet, tiefer und erregender wirkt als er es im Altertum je konnte. Die Welt ist zweifellos seit dem Christentum erotischer geworden, und wir behaupten, daß dieses post hoc ein propter hoc ist. Der wirkliche Dichter, der aus dem Grunde der Dinge spricht, kann heute aus den unscheinbarsten Vorgängen der Liebe die höchsten und besten Erregungen des Gemütes bewirken. Man denke etwa an eine Frauengestalt wie die Gräfin Melusine in Theodor Fontanes »Stechlin«, bei der durchaus nichts vorkommt, was die Neugierde erregen könnte, und von der man doch weiß: diese Gestalt hat die Liebe geschaffen. Die innere Spannung aber, die von solchen Figuren ausgelöst wird - die ja nicht aus den Fingern gesogen sind -, ist ein Beleg dafür, daß die Liebe einen transzendentalen Ort hat und mit dem objektiven Welthintergrunde in einer zunächst noch ungeklärten Verbindung steht. Hätte sie diese Sonderstellung nicht, so wäre ihre unablässige Wirkung in der Dichtung, aber auch im Menschenleben selber unerklärlich. Oder anders ausgedrückt: so könnte man durch dichterische Darstellung der besseren Zungen- und Gaumengefühle auch solche Wirkungen erzielen; das aber geht bekanntlich nicht. - Aber die Philosophie hat seit Platon hier geschwiegen, und der einzige Grund, den man hier etwa finden kann, wäre der, den der Philosoph KONRAD WILUTZKY einmal aussprach: »Philosophie wird nicht von Buch zu Buch und von Blatt zu Blatt überliefert, sondern Philosophie wird incarniert!« Sie muß also Glück haben, und das war ihr all die Zeit versagt.
Das platonische Gastmahl hat einen schlimmen Ballast mitgeschleppt, der die Köpfe und die Gemüter vernebelt hat; es ist das Schlagwort von der »platonischen Liebe« - wie als ob das eine besondere Art von Liebe sei, zu der man sich irgendwie so oder so emporschwingen könne und gar soll. Zwei geistige Bewegungen, sonst sehr beachtlicher Art, haben in dieser Phrase geschwelgt: die italienische Renaissance - mit Ausnahme Lionardos da Vinci, der alles wußte - und der »deutsche Idealismus«. Hier ist Schwärmerei ausgebrochen, was jedenfalls innerhalb der Philosophie nicht standesgemäß ist. Aus diesem ganzen Bezirk stammen auch jene falsch gestellten Fragen: ob die Liebe sinnlich oder geistig sei, ob körperlich oder seelisch, und wie sie alle lauten mögen. Es gibt aber hier in Wirklichkeit nur ein EntwederóOder. Nämlich entweder: die Liebe ist Trieb, wie der Hunger, und veredelt, vergeistigt sich möglicherweise, wie das ja auch der Hunger in der Form der Gourmandise tut; dann kann sie gar nicht Gegenstand der Philosophie und überhaupt einer besseren Erwägung sein, sondern gehört, wie alles bloß Empirische, unter die Einzelwissenschaften: Medizin, Psychologie, Soziologie, Ethnologie. Oder aber: die Liebe ist Organ, wie das Auge, dann ist ihr ein Objekt zugehörig, und sie selber hat einen transzendentalen Ort im Subjekt.
Einen ernsten Versuch, der Liebe und dem Geschlechtsleben unbefangen gegenüberzutreten, hat Schopenhauer unternommen. Wohlbemerkt: wenn ein Mediziner oder Psychologe diesem Gegenstande »unbefangen« gegenübertritt - so reden sie doch immer -, so sagt das nichts, denn diese Leute haben kein Gewicht. Nur wenn es der Denker tut, gilt es; denn nur er verfügt über die Weltknotenpunkte, die hier im Spiel sind. Schopenhauer hat ja überhaupt das Verdienst, Leben in die Philosophie gebracht zu haben, auch wenn das, was er schließlich über das Leben selber dachte, nicht standhält. Schon allein das Thema zu stellen, »Zur Metaphysik der Geschlechtsliebe«, war ein Signal in einer philosophischen Welt, die dachte, es gäbe überhaupt nichts weiter als Vernunftkritik. Mehr aber, als in dieser nur wahrheitsdurchwachsenen Schrift stand Schopenhauer vor der Wahrheit bei einem persönlichen Erlebnis, das er erzählt. Er ging nämlich eines Tages in den Frankfurter Zoologischen Garten, um sich den für eine bestimmte Stunde vorgesehenen Begattungsakt eines Löwenpaares anzusehen. Da nach seiner Auffassung ja im Akte der Kopulation das eigentliche Wesen der Welt zu seiner deutlichsten Ausprägung kommt, so erwartete er, daß beim Löwen, der ja eine ungleich stärkere Objektivation des Willens sei als der Mensch, dieser Akt sich in besonders riesiger Aufwallung vollziehen müßte. Seine Erwartung wurde getäuscht; er stellte fest, daß die Affektäußerung weit hinter der des Menschen in der gleichen Lage zurückstand und eher eine gewisse Nüchternheit an sich hatte. Hier war für ihn die Gelegenheit zum Wundern gegeben; aber er ist der Sache nicht weiter nachgegangen. Wie er überhaupt ein tödlich sicheres Gefühl für alle Fragestellungen hatte, die sein System gefährden konnten, in dessen Bann er seit frühen Mannesjahren stand.
Die Stärke der Geschlechtslust nimmt also nicht zu mit der Stärke der Objektivation des Willens in einer Tierart; sondern der Mensch, die weit schwächere, hat einen Zuschuß an Wollust, die noch dazu qualitativ von der tierischen abweicht. Sie ist beim Menschen - und nur bei ihm - dämonisiert und bedeutet eine ständige Erschütterung und Gefährdung der Person. Das ist also eine ganz andere Sache, die sich gar nicht aus einer bloßen Steigerung der Willensobjektivation erklären läßt. Die Wollust reißt sich hier vom Dienste an der Gattung los, sie ist nicht selber »Gattungstrieb«, sondern autonom, ob sie gleich in verschwindend geringen Fällen, verglichen am Ausmaß ihrer selbstherrlichen Betätigung, die Befruchtung zur Wirkung hat. Es steht hier nicht zur Rede, ob sie etwas Gutes oder Verdammenswertes ist, sondern nur ihre Unableitbarkeit vom tierischen Gattungstrieb. Der Mensch hat wahrlich genug mit ihr zu schaffen, und es gibt genügend Einwände gegen sie; aber eben »tierisch« ist sie nicht. Wer, von ihr übermäßig bestürmt, glaubt, fürchten zu müssen, »zum Tier herabzusinken«, den kann man beruhigen, da um eben dieses Ziel zu erreicht, sehr viel mehr dazu gehört; dieser Ausweg in die Unschuld ist ihm versperrt. Nur freilich eines kann ihm passieren: ihn kann der Teufel holen. - Der überwiegend ungünstigen Beurteilung der Wollust stehen nur wenige gegenüber, die sie, mit zureichendem Grunde, in Schutz nehmen. Es ist zu bedauern, daß das beste Wort über sie als vom »Gartenglück der Erde« von einem Manne stammt, der sie selber nur in den allerdürtigsten Formen kennengelernt hat.
Der Ertrag von Schopenhauers Löwenhochzeit ist jedenfalls der, daß innerhalb der Tierheit der Geschlechtstrieb als eine bloße Lustprämie auftritt, die das einzelne Tier dazu antreibt, den Begattungsakt überhaupt zu begehen, wobei es sich im übrigen streng an diese Gattung - will sagen Art - hält. Er ist hier ein echter Trieb, wie der Hunger, der ja auch eine Lustprämie ist, um das Tier zur Aufnahme der Nahrung zu bewegen. Beide liegen voll im Biologischen. Die menschliche Wollust dagegen ist dämonisierter Geschlechtstrieb; es liegt hier der Einbruch einer Macht vor, die keinen biologischen Ursprung hat. Eine solche Macht nannten die Griechen Daimon und diese hier im besonderen Eros. Daß er sie bei der Löwenhochzeit nicht antraf, darüber wunderte sich Schopenhauer. Aber man kann eben dieses Problem nur verstehen, wenn man von allen vorgeblichen Naturzwecken absieht. Ein weiterer Beweis aber für die Unableitbarkeit der Wollust aus dem Biologischen ist die Tatsache, daß sie kultisch werden kann, was bei keinem bloßen Naturtrieb vorkommt.
Auch was die eigentliche Liebe betrifft, so hat Schopenhauer hier keine glückliche Hand. Es gibt bei ihm nur »Geschlechtstrieb« auf der einen Seite, den er verwirft, und »caritas« auf der anderen, die er preist, also die selbstlose entsagende Liebe, die im Dienste der leidenden Kreatur steht. Man hat bei dieser gewalttätigen Einteilung sofort das bestimmte Gefühl, daß hier etwas ausgelassen ist, nämlich die Hauptsache. Denn es mag einer noch so sehr entsagen, niemals entsteht durch diesen negativen Willensakt das positive Gefühl der Liebe; und es mag einer noch so sehr vom Mitleid ergriffen sein, Leben für die Leidenden hingeben: niemals entsteht dadurch Liebe. Und mag man es drehen und wenden wie man will: Liebe entsteht immer selbständig, aus eignem Gesetz, ist völlig autonom, unverkennbar und unableitbar. Wenn man bei Urphänomen bleiben und kein hysteron proteron begehen will, so bleibt gar nichts anderes übrig als zu sagen: Liebe verbindet zwei Menschen miteinander, und zwar genau in dem Sinne, wie es Aristophanes im platonischen Gastmahl in seiner großen Rede von den zerschnittenen Doppelmenschen darstellt. Mit Askese und Willensverneinung hat das nicht einmal Berührungspunkte, geschweige denn, daß man das positivste aller Gefühle aus diesen Negationen ableiten könnte. Es ist auch nicht etwa »christlich«, was Schopenhauer hier meint, sondern buddhistisch, und wir werden es noch später zeigen können, daß auch dieses beides nicht einmal Berührungspunkte miteinander hat, sondern vielmehr sich gegenseitig ausschließt - ich meine Buddhismus und Christentum.
Wir müssen die ertraglos gewordene Deutungsart Schopenhauers, dessen falscher Schritt durch den Gegenstand sichtlich aus den Bedrängnissen seines empirischen Charakters stammt, wieder verlassen und uns auf platonischen Boden zurückziehen. Hier finden wir zunächst die eine große Sicherheit: daß Platon immer nur von der wirklichen Liebe zwischen zwei Menschen spricht und von da aus weiterbaut. Dieser Baugrund ist gut. Das ist ja überhaupt der Vorzug, der seiner ganzen Philosophie anhaftet, daß sie immer auf den realen Gegenstand zurückführt, wie weit auch sonst die Abstraktion gegangen ist. In der Rede des Aristophanes kommt das zur größten Klarheit. Bei den andern reden die Zechgenossen dazwischen und trinken sich zu; bei ihm herrscht atemlose Stille, und nur auf ihn kommt Sokrates in seiner Rede zurück. Er scheint ihm die Malicen die er gegen ihn in seinen »Wolken« vorgebracht hat, nicht übelgenommen zu haben. - Früher, im mythischen Zeitalter, so meint Aristophanes, waren die Menschen nicht von der Gestalt wie heute, vielmehr gab es nur Doppelmenschen und zwar von dreierlei Art: Doppelmänner, Doppelfrauen und Hermaphroditen; sie sahen also aus wie jene gedoppelten Hermen mit zwei Gesichtern nach vorn und nach hinten. Dieses Geschlecht der Menschen nun war sehr übermütig und frevelte gegen die Götter. Um dem ein Ende zu setzen, zerschnitt Zeus sie längs ihrem Rückgrat, nähte die Fleischwunde hinten zu und verstreute die getrennten Hälften in alle Winde. Da aber entstand in jeder die Sehnsucht nach der Wiedervereinigung mit seiner anderen Hälfte, und diese Sehnsucht sei der Eros. Je nach dem nun, was jemand früher gewesen, entschiede es sich, was er zu lieben genötigt sei; war er ein Doppelmann, so bleibt er zeitlebens ein Knabenliebhaber ((paiderasthos)), eine Doppelfrau aber ergibt je eine Lesbierin, und die Hermaphroditen, offenbar die weit überwiegende Mehrheit im mythischen Urgeschlecht, die Ehemänner und Ehefrauen. - Welch großartige Unbefangenheit und vollkommene Wahrheit spricht aus diesem antiken Munde! Es ist beinahe alles enthalten, was die Philosophie hier zu sagen hat. Jedenfalls ist der Ansatzpunkt klar bestimmt. Das Entscheidende an der Liebe ist nicht der Trieb, aus dem sie niemals abgeleitet werden kann, sondern der Akt des Wiedererkennens, also ein Erkenntnisakt, durch den der Trieb erst in Wallung gerät. Der Gegenstand aber dieses Erkenntnisaktes, den nur die Liebe begehen kann, ist die Person; diese aber wird nicht durch die begrifflichen Mittel des Intellektes erkannt, sondern durch die eines Organes. »Wenn nun jemand auf seine eigne Hälfte trifft, dann werden sie wunderbar erschüttert von Freundschaft und Vertrautheit und Liebe und wollen voneinander nicht lassen, auch nicht einen Augenblick. Diese sind es auch, die gemeinsam das ganze Leben zubringen und nicht einmal zu sagen wüßten, was sie von einander haben wollen. Denn es kann doch wohl nicht die Gemeinschaft des Liebesgenusses sein, derentwegen der eine dem andern sich so froh und mit so großem Eifer eint, sondern etwas anderes will offenbar die Seele der beiden, was sie nicht sagen kann, aber in Zeichen verkündet sie ihr Wollen und in Rätseln.«
Dies alles heißt: dem Urphänomen der Liebe genau ins Gesicht sehen. Sie ist das Organ für die Person. Durch sie allein wird mit der reinsten und todbereiten Leidenschaft bezeugt, daß der andere, das heißt der Mensch, den ich liebe, wirklich jemand ist, unersetzlich, nur einmal da, nie wiederkehrend, in jeder seiner Handlungen und Erduldungen bestimmt durch das, was er selber ist und worauf allein sich die Liebe bezieht. Daß ich aber überhaupt geliebt werden kann, liegt nicht daran, daß ich Person bin. Das aber heißt, daß meine bloße Individualität, wodurch ich mich von jedem andern Menschen unterscheide, nicht, wie beim Tier, nur Varietät gegenüber der Art ist, sondern besiegeltes Sosein, das seine Lebensbefugnis aus dem Schöpfungswillen der Natur nimmt. »Fece mi la natura, e poi rupe lo stampo« - das Christentum sagt: »Ich glaube, daß Gott mich geschaffen hat.«
 

3. EROS UND ACHSE DER NATUR
Es war ein Zeichen von Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens, daß Platon den Eros von der Fortpflanzung trennte. Solche Freiheit findet man nur in der Antike, die es dem Menschen ersparte, sie sich erst zu erkämpfen. Die Fortpflanzung kommt, als Nebenthema, wohl vor, mit ihr das Tierreich, aber gleich hebt sich die Rede der Diotima von der Zeugung der Kinder wieder fort und auf zu der »Zeugung im Schönen«, die als das Wichtigere mit aller Deutlichkeit betont wird. Der Mensch gehört zu den Säugetieren; unter denen ist er eine selbständige Art, die von keiner anderen abstammt. Dadurch aber sind ihm, gleich allen andern, von der Natur die Funktionen gegeben, die zur Erhaltung der Art notwendig sind. Kinder verstehen sich von selbst; das ist überhaupt kein Problem. In die Geschlechtsfunktion aber - und in keine andre - fährt dieser Daimon Eros hinein und richtet beim Menschen, und nur bei ihm, das Wunder der Liebe an. Demnach gehört sowohl die Wollust als auch die Liebe nicht in dem Sinne zur »Natur« wie etwa der Befruchtungsvorgang, der Stoffwechsel oder das Wachstum; denn beide sind aus jenen nicht ableitbar. Es ist aber in der Philosophie unerlaubt, das Wort »übernatürlich« zu gebrauchen mit dem Anspruch, damit etwas sagen zu können.
Wenn also Platon die Diotima den Eros einen »großen Daimon«, nennen und von ihm sagen läßt, daß alles Dämonische »zwischen dem Göttlichen und dem Sterblichen liegt« und zwischen beiden tätig vermittelt, so entsteht die Frage: Hat er das ernst gemeint, oder ist das ein Ausdruck der Verlegenheit? Denn Dämonen gibt es ja nicht in dem Sinne, wie es die gewöhnlichen Naturgebilde gibt; und doch sollen sie da sein; denn der Eros ist doch da. Ohne Zweifel meinte es Platon ernst damit; er war davon überzeugt, daß der »Daimon megas« sein objektives Dasein hat. Er war also nicht etwa der Meinung der modernen Psychologie, daß sich dieses sogenannte Dämonische lediglich als psychischer Prozeß im Subjekt abspiele, denn sonst kann man so nicht von ihm reden. Um aber die Frage zu lösen, wie und wo denn nun dieser Daimon unterzubringen sei, dazu fehlte ihm etwas, das dem Altertum überhaupt abging: der Orientierungssinn. Das hat etwas mit dem zu tun, was Spengler die »euklidische Seele« nennt. Dazu gehört auch, daß das Altertum die Erde für eine Scheibe hielt, die auf dem Okeanos schwimmt. Das ist nicht etwa bloß eine falsche wissenschaftliche Ansicht, die jeden Augenblick durch die richtige hätte ersetzt werden können, sondern diese Überzeugung vom orbis terrarum gehörte zu den konstitutiven Elementen des antiken Charakters, und daran hielt diese Menschheit wie unter dem Zwange einer inneren Not fest. Man kann es wohl wagen, auszusprechen: hätte das Griechentum als Ganzes gewußt, daß es so etwas wie Antipoden gibt, es wäre außer Rand und Band geraten, hätte die Schiffe bestiegen und Kultur Kultur sein lassen. Seine statische Seele wäre gesprengt worden, aus der heraus allein jener Höhepunkt des menschlichen Daseins möglich war, den die Kultur der Griechen darstellt. Jenes Wissen einzelner aber von der Kugelgestalt der Erde - auch Platon gehörte zu ihnen - hatte gar keinen Einfluß; die Gesamtseele von Hellas reagierte nicht darauf. Und dieser Zustand hat ja praktisch bis in die Renaissance vorgehalten - ein Inkubations-Zeit von rund eineinhalb Jahrtausenden. Da aber brach es los: Die Erde ist eine Kugel! Sie dreht sich und hat daher eine Achse! Die Bewegung der Sonne ist scheinbar, auch die der Planeten; die des Mondes teils wirklich, teils scheinbar! Um die Erde aber kann man herumfahren! Darum los! Auf die Schiffe...! - Das war nicht nur die Zertrümmerung des antiken Weltbildes; es war auch die Aufhebung eben jenes konstitutiven Elementes, das dem antiken Menschen den statischen Charakter verlieh. Also ganz kurz gefaßt: Die Erkenntnis, daß die Erde eine Achse habe, hat das moderne Menschentum geschaffen. Die Erde wurde dabei entdeckt. Dadurch aber ist jeder Ort auf ihr mathematische genau fixierbar geworden; man weiß, wie er zu jedem andern liegt, und es kann niemals einen Fehler in der Orientierung geben.
Um aber zu Platon zurückzukehren, so finden wir ihn immer noch in jener Verlegenheit, den Eros unterzubringen. Er muß sich mythologischer Mittel bedienen, und wenn man das liest vom »Daimon megas«, so erinnert es an den großen Pan, dem man jeden Augenblick im Walde begegnen kann. Aber die Philosophie könnte fast neidisch darüber werden, daß es ihr heute nicht mehr vergönnt ist, in mythischer Sprache zu reden, sondern daß sei den harten Weg der Wissenschaft zu gehen gezwungen ist. Denn was gäbe wohl unsereiner darum, wenn er einfach den Sokrates fragen lassen könnte: »Was für eine Art von Macht hat denn nun dieser große Dämon Eros?! Und Diotima antwortet: »Zu verkünden und zu überbringen Göttern, was von den Menschen kommt, und Menschen, was von den Göttern. Von den einen Gebete und Opfer, von den andern Aufträge und Antworten. In der Mitte füllt er den Raum zwischen beiden, damit das All sich selbst zusammenschließe. Durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und Kunst der Priester in den Opfern und den Weihen und den Gesängen, und in aller Wahrsagerei und Verzauberung.« - Aber so dürfen wir nicht mehr reden. -
Nenne ich nun aber den Eros ein Organ und fixiere es im Subjekte, so liegt das, wofür er Organ ist, im Objekt; und in diesem Moment habe ich der Natur eine Achse gegeben. Während aber die Erdachse im Empirischen liegt, vom Nordpol zum Südpol läuft und zum Beweise ihres Daseins nur physikalische und mathematische Mittel nötig sind, verläuft die Achse der Natur zwischen dem transzendentalen Subjekt und dem transzendentalen Objekt. Der Beweis für ihr Dasein fällt der Philosophie zur Last, die hierfür eine transzendentale Deduktion auf sich nehmen muß. - Die Entdeckung der Erde - das heißt ihrer Achse - hatte die Entstehung eines anderen Menschentypus zur Folge; die Entdeckung der Natur - das heißt ihrer Achse - aber steht im Dienste eines höheren Menschentums. Denn wie die Lage der Länder zueinander bestimmt ist durch die Erdachse, so ist die Lage der großen Gemütsmächte des Menschen bestimmt durch die Achse der Natur.
 
 
 
 



 

 

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