Sechstes Kapitel

DER EROS ALS ORGAN FÜR DIE PERSON

 

1. DER ERKENNTNISAKT SUI GENERIS
Wir kehren auf den Schauplatz der platonischen Philosophie zurück, um dem Sokrates zu Hilfe zu kommen, der gerade dabei ist, sich von Diotima ins Garn locken zu lassen. Im Grunde freilich kämpfen sie beide, ohne es zu wissen, gegen die bedrückende Macht der euklidischen Kulturseele an. Der Eros konnte es nicht weiterbringen, er mußte als Daimon megas unter anderen Dämonen sein Wesen treiben. Aristophanes dagegen hatte in seiner Rede von den Doppelmenschen die Frage, was der Eros sei, am weitesten der Lösung entgegengetrieben; hier klingt es an, daß er ein Erkenntnisorgan ist, aber nur in Bezug auf die Person, die ich wiedererkenne als meine »andere Hälfte«. Hier liegt also etwas vor, was gänzlich einzigartig in der ganzen Natur ist: ein echter und unbestreitbarer Erkenntnisvorgang, der aber nicht vom Intellekt (also von Verstand und Vernunft) vollzogen wird, dem also jede Allgemeinheit fehlt, sondern von einem Organ, das mit voller Sicherheit sein Urteil fällt (dieses: »Du bist es!«) und somit eine Erkenntnis sui generis hervorbringt. Auf dieser Sicherheit beruht das berühmte salomonische Urteil. - Es wird schwierig sein, das zu begreifen, da die Philosophie bisher daran vorbeigegangen ist; es ist ihr überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß es dergleichen geben könne. Bei diesem Erkenntnisakt sui generis handelt es sich nicht etwa um eine bevorzugte Erkenntnis der Charaktereigenschaften eines andern, sondern nur um das Einmalige, das diesen Eigenschaften zugrunde liegt. Also um das, was einer »an und für sich« oder »Er selbst an seinem eignen Ort« ist, das heißt um eine Erkenntnis, die es sonst nicht gibt. Auch ist sie momentan und dauert nur für einen Augenblick, der aber anzuhalten scheint.
Die Erkenntnis der bloß empirischen Eigenschaften eines Menschen dagegen dürfte dem Nichtliebenden besser gelingen; sowie die Seele ins Psychologische eintritt, ist sie bereits getrübt. Auch soll man nur ja nicht meinen, daß es sich hier um eine erschlichene Erkenntnis des »«Dinges an sich« handele, denn es ist aus ihr heraus keine Urteil möglich außer dem einen: »Du bist es!« Diese Anrede der Singularität eines Menschen, als Erlebnis, ist nur dem Eros möglich, es ist aber seine erste vorzügliche Funktion als Organ. Um in der Sprache Kants zu bleiben, könnte man sagen: das, was einer »an sich« ist, und was niemals sonst in die Erkenntnis übergeht, sondern nur im empirischen Charakter als seine Erscheinung auftritt, dieses Singuläre tritt in dem einzigen Falle der Liebe in Berührung mit dem suo genere »erkennenden« Organ des Eros und löst dort die tiefste Beseeligung des Subjektes aus. Darum rechnete SOKRATES den Eros unter die vier Wahnsinnsarten »aus göttlichen Eingriff«. Auch LIONARDO DA VINCI dunkles Wort: »Die große Liebe ist die Tochter der großen Erkenntnis«, gehört wohl hierher. Und sogar die Sprache hat diesen Tatbestand, man könnte sagen, in die Affäre gezogen; man denke an das schon so oft zitierte Wort (1. Mose, Kap. 4, Vers 1) »Und Adam erkannte sein Weib Eva und nahm sie zu sich und zeugte mit ihr«; die Septuaginta hat an dieser Stelle ((egno)), und das ist die genaue Übersetzung des hebräischen Wortes »jada«, das dieselbe Doppelheit und zugleich Einheit von »Erkennen« und »Beischlaf ausüben« in sich trägt. Alle vier großen Ursprachen, in denen die Bibel geschrieben ist, sind sich in diesem Punkte einig.
 

2. DER INDIVIDUALBEGRIFF UND SEINE FUNKTION
Ein weiteres Anzeichen dafür, daß der Eros als Organ zum Bestande des transzendentalen Subjektes gehört, ist seine enge Verwandtschaft mit dem Individualbegriff und eine Art Symbiose mit ihm.
SOKRATES ist der Entdecker des empirischen Begriffes, und über diese Tat des Geistes ist er nie zur Ruhe gekommen. Die Funktion des Begriffes ist es, »aus vielen Wahrnehmungen einen Begriff herauszuheben« (Phaedr. 249 C), wodurch allein etwas verstanden werden kann ((xunienai kat eidos)). Hunde also, die über die Straße laufen, sind zunächst bloße Wahrnehmungen ((aisthsiph)); über sie gibt es kein echtes Wissen, sondern nur Vermutung ((doxa)); durch die zugreifende Tat des Begriffes aber tritt die blitzschnelle Umwandlung in Wissen ((episthmn)) ein. Der Begriff greift aber nicht in die Sinneswahrnehmungen hinein - dort stieße er ins Verworrene -, sondern in die Idee, das heißt hier die Art. Auf diesem Vorgange, nämlich daß er im Subjekt stattfinde, besteht die Natur. Sie läßt es nicht zu, daß ihre Schöpfungen als bloße Sinneswahrnehmungen an einem gedankenlosen Subjekt vorbeilaufen. Diesen Prozeß haben wir bei der Tätigkeit des Ersten Namengebers ausführlich besprochen und schon dort erfahren, daß der Begriff unter dem Drucke des archetypischen Potentials der Natur entsteht und von dorther stammt. Dieser Druck ist nicht spürbar wegen seiner Gleichmäßigkeit, ähnlich dem Luftdruck. Es geschieht nämlich ganz automatisch, daß der Intellekt die Wahrnehmungen unter den Artbegriff subsumiert; aber erst wenn dieser äußerst wichtige Akt der Einordnung stattgefunden hat, ist die Schwelle des Wissens erreicht, und der Wahrnehmungsgegenstand leuchtet als ein Gegenstand der Erkenntnis auf; denn erst von hier an ist der Intellekt imstande Urteile zu bilden. Der Artbegriff »Hund« also umfaßt ganz spontan alle Hunde kraft eines vollziehenden Momentes, das sowohl in objecto, als Archetypus, wie im Subjekt, als Artbegriff, verankert ist. Durch ihn allein werden die in den verschiedensten Gestalten wirr herumlaufenden Wesen - von der Urgestalt her - festgehalten und als Gegenstand der Erkenntnis gesichert. Artbegriffe sind, wie alle Begriffe, stets abstrakt, das heißt, frei von jeder sinnlichen Beigabe, stets exakt, das heißt, sie treffen genau in Richtung auf das eigentliche Wesen, stets allgiltig, das heißt, niemand, der Vernunftwesen ist, kann sich ihrer Anerkennung entziehen.
Nun gibt es aber eine Gruppe von Begriffen, die alle Eigenschaften der Artbegriffe an sich haben, nämlich abstrakt, exakt und allgiltig zu sein, nur mit dem Unterschiede, daß der Akt der Subsumtion sich bei ihnen nur einmal vollziehen läßt, weil der Gegenstand nur einmal vorkommt; das sind die Individualbegriffe. Der Kölner Dom ist ein Individualbegriff; ein einzelner Hund, dem ich einen Namen gebe, ist es; und ebenso ist es der Begriff »Sokrates«, wie der jedes einzelnen Menschen. - Wenn Antisthenes von Megara nach Athen zu läuft und sieht von ferne das Gewimmel von Lebewesen auf der Agora, so wird er diese, je näher er kommt, allmählich zu unterscheiden wissen und schließlich sagen: das sind Menschen, Hunde und Esel; er wendet also die Artbegriffe an. Auf hundert Schritt nahe gekommen, wird er eine unförmliche Mannesgestalt wahrnehmen, noch in unklaren Umrissen, als »Schema«, um dann auf einmal zu erkennen: »Das ist Sokrates...!« Er hat durch den Individualbegriff eine Wahrnehmung in Erkenntnis verwandelt. Nun frage ich: ist der Grad von Sicherheit, Bestimmtheit, Allgiltigkeit, mit dem das geschieht und wodurch jede Verwechslung mit einem andern Menschen ausgeschlossen wird (wenn er nämlich richtig erkannt hat), ein anderer als der, mit dem der Artbegriff »Hund« den einzelnen Hund bestimmt und eine Verwechslung mit dem Esel ausschließt? Ohne Zweifel ist der Grad der Sicherheit der gleiche, denn er hat gleiche Herkunft. Wenn es nämlich richtig ist, daß die Artbegriffe ihre objektive Basis im Archetypus haben, so muß auch der Individualbegriff, da er sonst dieselben Merkmale besitzt, einen objektiven, in der Tiefe der Natur gelagerten Grund besitzen, nämlich die Person. Die Natur besteht darauf, daß die Person im Individualbegriff aufgenommen wird - sonst ließe sie es zu, daß ich einen Menschen mit einem andern endgiltig verwechsle, das heißt, daß ich die differentia specifica als nebensächlich betrachte. Das aber geschieht niemals.
Indessen gilt das alles nur vom Menschen. Es gibt zwar, wie schon erwähnt, auch Individualbegriffe von Tieren, aber diese sind sozusagen blinde Fenster: die Natur besteht hier auf nichts. Ich mag einen treuen Hund, dem ich einen Namen gegeben habe, noch so sehr individualisieren und seine Unersetzlichkeit empfinden, und er unterscheidet sich gewiß von jedem andern Hunde durch untrügliche Merkmale: indessen, das liegt alles im Empirischen, wo es eo ipso nichts Gleiches gibt. Gedeckt aber ist diese auf die Spitze getriebene Individualisierung nicht. Ihr entspricht kein archetypisches Pedant im Welthintergrunde. Tierliebhaber werden hiergegen Einspruch erheben, denn sie behaupten immer, der Hund habe auch eine Seele und jeder seine eigne; oder doch ein eignes »Wesen«. Indessen, sie unterliegen hier einer psychologischen Täuschung, die freilich naheliegt. Wenn man ihnen das Wort »Wesen« hier ruhig konzedieren will, weil damit schon ohnehin genug Unfug getrieben wird, so werden sie hingegen nicht behaupten wollen, daß ihr Hund eine Person sei. Nur darauf aber kommt es an. Denn die Beziehungen zwischen dem Herrn und seinem Hunde mögen noch so innig und wahrhaft rührend sein, wie sie wollen, sie bleiben, was die Person angeht, immer subjektiv, und beim Anruf des Namens springt kein Funke von etwas Seiendem zur Erkenntnis über. Sollte freilich an dem, was die Pythagoräer und die Buddhisten behaupten und was Sokrates im Phaidros aufgreift, etwas Wahres sein, daß nämlich Menschenseelen sich im Tierkörper verfangen könnten, dann läge die Sache anders. Die Pseudonymität des Namens würde dann offenbar, und auch dies, daß sehr bedeutende Menschen ihren bürgerlichen Namen als Pseudonym empfinden und nach ihrem wahren Namen suchen.
Dagegen, wenn Antisthenes den Sokrates nunmehr begrüßt, da antwortet wirklich etwas. Der Individualbegriff »Sokrates« ist durch die objektive Person gedeckt. Er zündet also; hier springt ein Funke von etwas Seiendem zur Erkenntnis über. Antisthenes ist überzeugt davon - denn sonst hätte seine Reise nach Athen keinen Sinn -, daß sein Begriff von Sokrates genau in Richtung auf das eigentliche Wesen des Sokrates geht und dort auch seine Entsprechung hat. Und Kennenlernen heißt ja hier nicht etwa die Gewohnheiten seines empirischen Charakters, die er mehr oder minder mit anderen gemein hat, sondern es heißt, auf den Grund dieses Charakters zu kommen, der nur einmal da ist. Und die Frage, die dann allen anderen das Thema angibt, lautet: wie hält dieser Mensch den Konflikt zwischen Anpassung und Ethik durch...? Daß diese Frage, die an jeden Menschen gestellt ist, und die dem Tiere nicht gestellt werden kann, bei Sokrates auf die Spitze getrieben wurde, das machte die besondere Zugabe aus, die die Natur ihm aufgebürdet hatte.

Nun ein Szenenwechsel: der König von Juda läßt sich durch die Straßen von Jerusalem tragen; da fällt sein Blick unter dem Gewühl von Menschen auf eine Mädchengestalt: die Fürstentochter Sulamith. Was hier zuerst beim König geschieht, ist auch nur ein Erkenntnisakt unter Anwendung des Individualbegriffes; dieser reicht genau bis zu dem Gedanken: das ist Sulamith! Aber dieser Akt dauert nur einen kurzen Augenblick, denn er wird sofort überschwemmt vom Erlebnis der Person Sulamith. Der Eros greift im Nu gewaltig ein; es beginnt das Hohelied Salomonis. Möge da neben ihr noch ihre Dienerin Suleika stehen mit schöneren Brüsten, vollerem Haar und zarteren Gliedern: - hilft nichts, denn die Liebe springt zwischen der Person der Sulamith und König Salomon über und wieder zurück, und nirgendwo anders. Sie ist gemeint, oder, wie die deutsche Sprache tiefsinnig sagt: geminnt. Es ist das einmalige Menschenantlitz, das der Vermittler dieses Vorganges ist. Man sieht also: die Liebe tut dasselbe wie der Individualbegriff, sie laufen beide in gleicher Bahn dorthin, wo die Person im Objekte lagert. Nur tut es der Eros als ein Organ, jener aber als eine Funktion des Intellektes. Diese kann man durch erkenntniskritische Untersuchung genau bestimmen und erklären, bei der Liebe geht das nur in beschränktem Maße; es ist das aber kein Schaden, denn jedermann weiß, was Liebe ist. Um aber ihren Ort im Subjekt genau festzulegen, müßte man sagen: sie nimmt eine eminent deutlich markierte Sonderstellung ein zwischen Subjekt der Erkenntnis und dem des Willens; sie ist Wille und Erkenntnis zugleich, ähnlich so wie das »Schema« Kants ein Mittelding zwischen Begriff und Anschauung ist. Hierbei bedienen wir uns des schopenhauerischen Begriffes vom Willen, ohne dessen metaphysischen Mißbrauch als »Ding an sich« zu akzeptieren.
 

3. AUCH DIE WOLLUST UNTERLIEGT DEM PRINCIPIUM PERSONALITATIS
Daß der Eros seinen Charakter als Organ für die Person niemals aufgibt, so gut wie das Auge niemals davon läßt, auf den Lichtätherdruck zu antworten, das zeigt sich eben so sicher auf dem Gebiete der bloßen Wollust. Es kann keine Rede davon sein, daß der Mensch imstande wäre, hier wahllos zu handeln; die Person wird nur ausgeklammert. Man kann hierzu in Gedanken das folgende Experiment anstellen:
1. Ein läufiger Rüde werde einem Dutzend gleichfalls läufiger Hündinnen zum Zwecke der Begattung zugeführt. Seine erste Wahl wird dann auf diejenige treffen, die den stärksten Geschlechtsduft an sich trägt; das heißt also, der Rüde reagiert rein sinnlich.
2. Ein menschlicher Mann befinde sich in derselben Lage, das heißt in einer casa lupanare, und die domina meretrix stelle ihm die gleiche Anzahl von Freudenmädchen zur Auswahl vor: seine Wahl fällt nicht nach sinnlichen Reizen, etwa der gleichen Art, aus, sondern nach einem geheimen ihm selbst nicht bewußten personalen Prinzip. In der Erwählten steckt für ihn irgend ein Anklang von Person, der sich über den Blick des Auges kundtut, und das ist es, was ihn zu seiner Wahl bestimmt.
Man darf in der Auswertung dieses Experiments sich nicht von den trüben Einflüssen der Psychologie behelligen lassen. Diese spricht von »Partialtrieben«, das heißt, von einzelnen Körperteilen des Geschlechtspartners, die vorgeblich einen »erogenen« Einfluß auf die ebenso vorgebliche »sexuelle Sphäre« ausüben. Das ist ein Gewimmel von Denk- und Beobachtungsfehlern. Denn weder die traubenförmigen Brüste Sulamiths, noch das, was die berühmte Aphrodite Kallipygos so reichlich anzubieten hat, haben an sich auch nur die geringste erogene Kraft, sondern allein ihre Eigentümerinnen. Mag die Person im wildesten Orgasmus verraten und verkauft werden, aber dasein muß sie. Und ohne sie gibt es auch nicht die Spur eines »sexuellen Reizes«. Das macht: der Eros ist kein »Gattungstrieb«.
Nun scheint es der Natur an einer Stelle des menschlichen Geschlechtes nicht geglückt zu sein, das Prinzip der Personalität durchzuführen; sie blieb vielmehr im bloßen principium individuationis stecken, und zwar bei der echten Dirne. Diese ist durchaus nicht zu verwechseln mit jenen, wenn auch käuflichen Freudenmädchen, denn diese können allemal Freude bereiten, ja fast Glück; die Dirne aber hinterläßt immer Grauen. Es gibt hierfür kein männliches Analogon, sondern nur beim Weibe hat jene eigenartige, in der Substanz verankerte Auslassung des Persönlichen stattgefunden. Man sagt, sie sind ohne Seele. Stößt nun der Eros auf solch ein Geschöpf in der ihm eignen, weil a priori gegebenen Erwartung, es mit einem persönlichen Wesen zu tun zu haben, das er immerhin gröblich mißbraucht, so tritt ganz unmittelbar jene bekannte Reaktion der tiefen Enttäuschung, der Scham, des Ekels und des Grauens ein, die so viele jungen Männer zu dem, wenn auch vorübergehenden Urteil geführt hat, das Weib überhaupt habe keine Seele. Es ist hier wahrhaft Sodomie getrieben worden, und der Eros hat ins Nichts gestoßen; was nichts weiter auf sich hätte, wenn er nicht ein Organ von transzendentaler Bedeutung wäre. Die Dirne mag im übrigen den schönsten Körper haben: wenn die Person nicht da ist, auch um mißbraucht zu werden, so nützt es alles nichts.
 

4. EROS UND ERBSÜNDE
Wäre der Eros »Gattungstrieb«, so verliefe das ganze menschliche Liebesleben konfliktlos. Das aber ist wie figura zeigt, nicht der Fall. Sondern es ist vielmehr der Schauplatz wildester und zerstörender Szenen, wie auch der edelsten Erhebungen des Gemütes; und der Mensch hat nicht die Möglichkeit, um der guten Ordnung willen, die Extreme zu vermeiden. Der große Dämon Eros hat sich von jeher als der Stärkere erwiesen. - Wie ist dieser Zustand zu erklären? Wenn es mit rechten Dingen zuginge, so müßte der Liebesakt des Menschen in der gleichen Weise von der Natur gesichert sein, wie der Zeugungsakt beim Tier, und demnach ständig denselben Ablauf haben. Und das täte er auch, wenn alle seine Elemente dem gleichen Naturvordergrunde angehörten. So verstehen ja die sogenannten Naturforscher bekanntlich den menschlichen Liebesakt. Gerade das aber ist nicht der Fall. Das bloße Individuum gehört in die Fläche der Natur, die Person aber in deren Tiefe und tönt von dorther durch (personare). Daher kann man sich hier auf jede mögliche Komplikation metaphysischer Art gefaßt machen. Denn niemand ist davor sicher, daß die Liebe, in der er zu einem andern in jahrelangem Glück lebt, sich heimlich entwindet, um eines Tags unter Schmerzen zu verschwinden, denn:
  Wahrlich, keiner ist weise,
  Der nicht das Dunkel kennt,
  das unentrinnbar und leise
  von allen ihn trennt. (Hermann Hesse)

Die Person hat sich dem Organ entzogen.
Auf der andern Seite kann es kommen, daß jemand glaubt, in einem nur wollüstigen Verhältnis zum andern leben zu können, unter Ausklammerung der Person, bis auf einmal durch ein Wort, das fällt, oder einen Blick, er Hintergründe aufreißt, die Liebe durchschlägt und unter glückseligem Gefühl die Einklammerung vollzieht. Das sind rätselhafte Vorgänge, die sich nicht aus Trieb und Sinnlichkeit erklären lassen, denn die sinnliche Gestalt ist ja dieselbe geblieben; der Weltvordergrund blieb unverrückt. Was aber bei solchen Ereignissen, die der Mensch tief ernst zu nehmen gezwungen wird, sich seinem Gemüte aufdrängt, ist das ungewisse Gefühl von Schuldigwerdenkönnen ohne bösen Willen. Diesem mit der Erkenntnis nahezukommen und wenigstens seine Wurzeln zu fühlen, ist schwer und ist auch von jeher nur dadurch gelungen, daß man mythologische Vorstellungen benutzte.
Nimmt man hier das von Aristophanes im Gastmahl angeschlagene Thema auf, so müßte man, es weiterführend, sagen: Jene entzweigeschnittenen Hälften des mythischen Urmenschengeschlechtes wurden von Zeus in alle Windrichtungen zerstreut und fanden sich nicht wieder. Der Eros aber entstand hier durch die Wunde der großen Schnittfläche, wie ein Heilmittel, und brach, wegen der Frische der Wunde, mit umso ungestümerer Gewalt auf. Jene Urmenschen, ein jeder im tiefsten sich halb fühlend, haben es nun nicht über sich gebracht, zu warten, bis sie die andere Hälfte nach langem Suchen wiederfanden; noch weniger aber, auf alles andere zu verzichten und lieber ein Leben in stolzer Einsamkeit zu ertragen als vorliebzunehmen; sondern sie haben vorliebgenommen und sich blind auf das gestürzt, was ihnen gerade begegnete. Das aber war Liebesverrat. - Wo nun das Ganze ein Hermaphrodit war, da wurden Kinder gezeugt, und dieses neu entstandene Menschengeschlecht ist das empirische, dem wir angehören. Für jedes Einzelwesen dieses Geschlechtes aber gibt es das Original der andern Hälfte nicht mehr - das ist verspielt und vertan worden durch jenen voreiligen Zeugungsakt, den das Christentum eine Tat des alten Adam nenn. Wohl aber schimmert das Original durch jede Liebesbegegnung hindurch. Jenes hastige Fehlgreifen aber ((amartia)), das eigentlich nicht hätte sein sollen, macht sich als dunkles Gefühl von Schuld bemerkbar, einer Schuld aber, die nicht aus bösem Willen des Einzelnen stammt, sondern die dem ganzen Menschengeschlechte als ein Erbteil anhaftet und der daher das Merkmal der Unvermeidlichkeit zukommt; dies um so mehr, als ja die Liebe, die dem mythischen Urmenschen in jener kritischen Stunde zu Hilfe kam, nicht sein Werk ist, sondern ihm von der Natur geschickt wurde mit dem Anspruch erfüllt zu werden. So ist der Mensch in der Erbsünde zugleich unschuldig.
Aber wir sind allein deshalb nicht ausgestorben, weil jener mythische Urmensch - also doch eben letzten Endes »wir« - jenen ungeduldigen Fehlgriff beging. Wir verdanken unser Leben einem Liebesverrat - und wir selbst begehen ihn ständig weiter: mit gutem Willen. Es trafen eben in jener Zeit drei tiefgreifende Vorgänge zusammen, die einander durchdrangen: das Schöpfungswort, wonach es überhaupt Menschen gab, war gesprochen; das heißt, jene völlig dunkle und rätselhafte Verbindung zwischen dem Archetypus Mensch und der Materie war eingetreten. Materie aber ist von innen gesehen Wille, und dieser macht sich als unbedingter Daseinsdrang bemerkbar, nachdem jene Verbindung einmal geschah. Der Hilferuf des Selbstmörders, kurz vor dem Versinken, ist der beste Ausdruck dieses Willens zum Leben. Von jenem Schnitt längs durch den Hermaphroditen aber wurde jener Wille zum Dasein schwer erschüttert. Fanden sich die beiden originalen Hälften nicht wieder, so starb das Menschengeschlecht aus, denn es war ja durch den Schnitt sterblich geworden. Der jetzt zu Hilfe kommende Eros aber vermehrte durch sein bloßes Dasein sofort den Lebenswillen, denn durch ihn trat ja das neue Prinzip der Person auf den Plan. Der Mensch will von nun an nicht bloß Mensch bleiben, sondern vor allem Er selber; dieses Ich selber hatte er aber durch das Erlebnis der Sehnsucht zur andern Hälfte kennengelernt, die ja eben dadurch zugleich mit ihm eine andere Person wurde. Nun riß der Eros gewaltig den sonst bloß generellen Gattungstrieb mit sich fort, und der Griff nach dem nächsten Weibe war getan. Mit diesem Liebesverrat war zugleich die Zukunft des Menschengeschlechtes gesichert in einem unübersehbar langen, keineswegs freilich ewigen Leben. - Diese Tat aber wirkt in uns fort und wird kraft Satzung der Natur immer wieder von neuem begangen.
Da aber das Original nun einmal verlorengegangen ist, so folgt daraus, daß jedes irdische Liebesverhältnis mit einer geheimen Grundschuld belastet ist, die nur im flammenden Augenblicke der ersten Umarmung übersehen wird. Sie macht sich aber früher oder später als ein beträchtliches Vakuum bemerkbar, das die Heimat oder doch der Unterschlupf sehr böser Dinge, ja des Bösen selber werden kann.

5. MEDEA UND DIE QUELLE DES BÖSEN
Da ist Medea, die Tochter des Königs Aiëtes von Kolchis; sie ist mit Jason auf der Argos gefahren, um das Goldene Vlies zu holen, ist seine Gattin geworden und hat zwei Kinder von ihm. Beide kommen mit den Kindern nach Korinth zum Könige Kreon. Da begeht Jason einen Liebesverrat an ihr, indem er hinter ihrem Rücken die Königstochter Glauke freit. Kreon aber verlangt, daß Medea mit ihren Kindern das Land verlasse. Da flammt in der Zauberin aus unergründlicher Tiefe, nämlich aus derselben, aus der ihre Liebe stammt, ein Haß gegen Jason auf, der sie zum ƒußersten treibt.

  »... des Weibes Herz ist voller Furcht
  Und schlecht in Kraft und Eisen anzusehen,
  Jedoch im Bett betrogen schlägt kein Herz
  Dem Weibe gleich in mordbegieriger Lust« (H. B.)
     (Euripides, Medea, 263ó66.)

Sie beschließt, Jason zu ermorden, außerdem den König Kreon und Glauke, ihre Nebenbuhlerin. Um aber ihren Gatten vorher noch aufs tiefste zu treffen: auch ihre eignen Kinder. Und wir erleben am Schluß die grausige Szene, wie sie auf ihrem Drachenwagen, Siegerin über alle, mit den Leichen der Kinder einherkommt und dem gebrochenen Jason ihre Auslieferung, ja den Kuß auf die toten Lippen verweigert.
Alle andern Arten von Tötung eines Menschen haben eine nur relative Bedeutung; der Raubmörder tötet sein Opfer nur eben, weil es nicht anders geht; im Kriege und im Zweikampf, wo ja das eigne Leben aufs Spiel gesetzt wird, geht es immer um eine - freilich nur subjektive - höherer Sache; hier aber, bei Medea, ist das Mordverlangen von gänzlich anderer Herkunft, ist absolut und die reine und genaue Umkehrung der Liebe. Wir stehen hier an der Quelle des Bösen selber. Sie sprudelt unmittelbar neben dem Eros und beginnt in dem Augenblick des Liebesverrates. Denn das ist wirklich das echte Böse, das nur zu seiner eignen Befriedigung in die Welt tritt.
Nun handelt es sich bei Jason freilich um ein wirkliches Unrecht; denn er nimmt hinter Medeas Rücken eine andre zur Frau; uns verwundert nur die ungeheure Maßlosigkeit des Hasses, die eine Bürgschaft für die Tiefe ist, aus der er stammt. In seinem Verhalten aber gleicht er der Liebe, die sich auch leicht auf alles überträgt, was mit dem geliebten Partner zusammenhängt. Aber es ist nicht das Unrecht, das den Haß auslöst, sondern - und das ist der entscheidende Punkt - die Tatsache, daß überhaupt eine andere Frau geliebt werden kann, nicht statt ihrer, sondern außer ihr. Es ist der verletzte Anspruch auf Alleinbesitz in der Ehe, der als Verrat empfunden wird. Xanthippe verfolge auch den Sokrates mit Gift und Geifer, obwohl sie genau wußte, daß dieser redliche Mann sie nie verstoße würde. Aber, was er außer ihr noch trieb, das und alles, was daran hing, wollte sie von Grund auf zerstören. Jedes Weib aber fühlt sich vom Manne »im Bett betrogen«. Aber wie, wenn diese Zerstörung gelungen wäre...? Und wer zählt die vom Weibe verdorbenen Werke des Mannes?
 

6. DIE EHE ALS PRÜFSTEIN ZWISCHEN GESETZ UND CHRISTENTUM
Es ist schwer zu bestreiten, daß die Einehe unter allen sonst möglichen Formen einen besonderen Rang einnimmt und daß sie, mag man es wollen oder nicht, stets am höchsten geschätzt wird. Das kommt nicht daher, daß sie etwa die vernünftigste Form ist - weil auf einen Mann durchschnittlich nur eine Frau kommt -, sondern daher, daß sie das Symbol für den Urzustand ist. Der Ehepartner ist zwar nicht selber die originale Hälfte, aber doch ihr Statthalter auf dieser Erde und trägt damit alle Vorzüge an sich, die eine Statthalterschaft nun einmal hat - freilich auch alle Fragwürdigkeit. Aber allein diese Tatsache, daß sie auf das mythische Bestehen eines verlorenen Originales hinweist, verleiht ihr eine Würde, welche die freien Beziehungen nicht aufzubringen vermögen, obwohl nicht selten Größe und Schönheit auf deren Seite liegen. Und das wird dumpf empfunden, wenn man die Einehe, wie es so heißt, als den sittlichen Höhepunkt der Geschlechterbeziehung bezeichnet. Denn es kann ja eben nur eine andere Hälfte geben. Daß »zweierlei Fleisch eines« werde, das heißt, eine wirkliche, in die Tiefe des Welthintergrundes reichende Einheit, das nannte, wie man weiß, der mysterienkundige Apostel Paulus ein »mega mysterion« - ein großes Geheimnis.
Geschlossen wird die Ehe durch das Jawort zueinander; dieses Ja wird zunächst vom Subjekt des Willens ausgesprochen und ist demnach eine verbindliche und unbezweifelbare Verpflichtung. Mitklingt aber in dieses Ja unvermeidlich ein Urteil, das etwa lautet: Du bist die Frau, die objektiv zu mir gehört. Dieses Erkenntnis-Ja aber unterliegt dem unvermeidlichen Irrtum. Darum wird auch an dieser metaphysisch brüchigen Stelle der Ehe der kultische Akt des Priesters eingeschoben, der den wahren Tatbestand in einer erhöhten Schicht des Seins läutern soll - und kann. Die Ehe besteht daher aus drei deutlich erkennbaren Komponenten: Der Liebe, dem Vertrag und dem Sakrament. (Es soll aber hiermit nicht gesagt sein, daß die Ehe im theologischen Sinne Sakrament ist). Wo das Sakrament ausfällt, wie in der Zivilehe, da tritt zweifellos eine Schwächung des Bestandes ein; wo aber die Liebe ausfällt, das heißt, in den Vernunft-Ehen, da hat der Vertrag und das Sakrament alles zu tragen. Diese - sehr häufige - Form aber schaltet aus unserer Betrachtung aus, denn wir treiben hier nicht Soziologie, sondern Philosophie, und wollen auf den Grund der Erbsünde sowie des Bösen kommen, der, wie es uns scheint, im Eros zu suchen ist.
Man sieht aus alledem, daß die Ehe keinen eignen Bestand hat, daß sie vielmehr der Stützung bedarf. Die Natur hat ihr die urtümliche Sanktion versagt. Sie schenkt ihr nicht die Sicherheit, die sie dem befruchteten Ei im Mutterleibe gewährt, wo keine Macht der Welt imstande ist, die männliche von der weiblichen Keimzelle zu trennen, wenn die Empfängnis einmal eingetreten ist; sondern sie verwies ihren Bestand an die sichernden Mächte Vertrag und Sakrament, will sagen Staat und Kirche. Das aber liegt an der Unergründlichkeit der Person, deren Gehalt nicht im Naturvordergrunde liegt wie Ei und Samenzelle. Wäre es anders, so gäbe es so wenig Ehebruch, wie es einen Bruch der Befruchtung gibt. Keiner der beiden Partner würde auch nur auf den Gedanken kommen, sich einem andern hinzugeben, und die volle und dauernde Glückseligkeit wäre der Zustand, in dem sie sich bis an ihr Lebensende befänden. Das aber ist nicht der Fall. Dabei bleibt es noch allemal offen, durch welchen Akt die eigentliche Untreue begangen wird. Es kann sich sehr wohl jemand unschuldig fühlen, ja sogar sein, der vor der Wollust mit einem fremden Partner nicht zurückgeschreckt ist, wenn er nur an einer bestimmten Stelle, die wie ein gemeinsamer Schwerpunkt der drei Komponenten gelagert ist, nicht gefehlt hat. Das ist möglich aus Gründen der Unerschöpflichkeit der Person. Auf der andern Seite kann ein wesentlich geringerer Akt, den kein Gesetz zu fassen vermag, den vollen und unsühnbaren Verrat bedeuten.
Man stößt hier unwillkürlich und doch mit innerer Folgerichtigkeit auf die Worte der Bergpredigt des Herrn: »Wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen.« (Matth. 5, 28.) - Dieses Wort kann von zwei Seiten her ausgedeutet werden; zunächst von der Gesetzesverschärfung her. Man hatte ihm vorgeworfen, daß er das Gesetz auflösen wolle, und nun kommt seine Erwiderung in der stereotypen Form »Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist...Ich aber sage euch...«; darauf folgt, an mehreren Beispielen erläutert, seine Verschärfung des Gesetzes, die jenen Vorwurf widerlegen soll. Nun aber die andre Seite: »Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren« - das ist ein unvermeidlicher Vorgang -, »der hat schon die Ehe gebrochen in seinem Herzen«, das heißt: der gute Wille, es nicht zu tun, kommt immer zu spät. Es ist so, als ob man zu Auge sagen wollte: »Tue dich auf, aber sie kein Rot, denn sowie du Rot gesehen hast, wirst du blind sein.« Auf diese Stelle im Wesen des Menschen, an der er, ohne es zu wollen, schuldig wird, wollte der Herr mit jenem doppelträchtigen Wort hinweisen. Denn das »Ansehen, ihrer zu begehren« ist ja noch kein Tun, sondern ein unvermeidlicher Zustand, der aber die Basis für alles, was sonsthin Sünde heißt, abgibt. Und eben diese Basis der Erbsünde ist es, auf die das Christentum hinweist. Sie ist seine Entdeckung.
Dahingegen behauptet die israelitische Religion von alters her bis auf den heutigen Tag, daß durch das Halten der Gebote Gottes, also durch einen Akt des Gehorsams, zugleich das Tor für die Rückverbindung (religio) des Menschen mit Gott geöffnet wird. Dabei wird dem Menschen unterstellt, daß er von sich aus die Freiheit habe, seinen Willen zu einem guten Willen zu machen. Die Theologie nennt das die Rechtfertigung (dikaiosyne) des Menschen. Nun gibt es gar keinen Zweifel darüber, daß das Gebot »Du sollst nicht ehebrechen« zu Recht besteht und nicht etwa »aufgelöst« werden kann, genau so wenig wie irgendein anderes. Fragt sich nur, durch welche Handlung die Ehe wirklich, das heißt, an ihrer tiefsten Stelle, das aber heißt dort, wo das Ja zur Person stattfand, durch welche Handlung also die Ehe gebrochen wird. Wenn nun das Wort Christi vom »Ansehen, ihrer zu begehren« gilt, so folgt daraus, daß das Gebot von Menschen nicht gehalten werden kann. Das Wort gilt aber, denn es verweist ja deutlich auf das Vakuum der Schuld. Wodurch dieses entstand, wissen wir, vom mythischen Grunde her, bereits. Es nützt also nichts, kasuistische Vorschriften anzuhäufen, die das eheliche Leben regeln, und es nützt nichts, sie getreulich zu halten: es entsteht dadurch immer nur der Pharisäer im besten Sinne des Wortes oder der bürgerliche Christ -, was dasselbe ist. Jenes Tor der religio wird dadurch nicht aufgestoßen, und schließlich kommt doch der Beste unter ihnen, Nikodemos, des Nachts zum Herrn und stellt eben dies fest. Es nützt nichts. Das heißt aber, er ist auf die Erbsünde gestoßen; er hat sich an ihr wundgerieben, indem er glaubte, durch redliches Nichtbegehen der verbotenen Handlungen und durch Erfüllung der geforderten von ihr freizukommen. Und er hatte nicht bemerkt, daß diese Befreiung (aphesis) umsonst geschenkt wird.
Es ist ein gewisses Wagnis, das Motiv für den Besuch des Nikodemos (Joh. 3, 1 ff.) so auszulegen; allein es kann nicht gut ein anderes gewesen sein, und die Analogie zum reichen Jüngling liegt auf der Hand (Matth. 19, 16). Beide sind Pharisäer, beide haben das Gesetz getreulich erfüllt, beide aber wollen nicht die »Rechtfertigung«, sondern sie wollen selig werden (»ins ewige Leben kommen«).
Die Erbsünde bedeutet die notwendige Verfehlung (harmartia) aller menschlichen Taten. Sie wird aber nur sichtbar und prägt sich dem Gemüte als ein Gefühl von Schuld auf, wenn das menschliche Tun und Lassen auf metaphysische Druckpunkte stößt. Bei den Tätigkeiten, die dem Bestellen des Landes und der Herstellung von Werkzeugen diesen, tritt sie nicht in Erscheinung. Metaphysisch empfindlich aber sind neben dem Urphänomen der Liebe drei Gebiete: Die Ethik, die Kunst und die großen Erkenntnisprozesse, deren Thema die Ergründung des Weltcharakters ist, also die Philosophie. Das Christentum, das die Erbsünde entdeckte, hat in seinem bisherigen Verlauf sein Augenmerk nur auf die Ethik gerichtet, die anderen beiden Gebiete aber übergangen. Das rührt offenbar daher, daß die Ethik alle Menschen angeht, während in der Kunst und in der Philosophie jene Last nur den von der Natur Privilegierten aufgebürdet wird, der übrige Teil der Menschheit dagegen nur empfangend ist. Man kann aber auch freilich sagen, daß in der Ethik die Erbsünde am grellsten aufleuchtet; jedenfalls tat sie es bisher.
 
 



 

 

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