Siebentes Kapitel

DIE GRUNDLEGUNG DER ETHIK

 

1. DIE ORESTIE DES AISCHYLOS
Unter Grundlegung der Ethik verstehen wir dasselbe wie unter der Grundsteinlegung eines Baues. Das heißt: es muß sowohl Grund und Boden da sein als auch die Zeichnung des Architekten und die statische Berechnung, sonst fällt das Haus um. Es muß Natur da sein und Wissenschaft.
Sokrates hat - im Gespräch mit Gorgias - im Altertum zum ersten Male die Frage aufgeworfen, was besser sei: Unrecht tun oder Unrecht leiden, eine Frage, die auf die damaligen Athener höchst verblüffend wirkte, denn diese wußten gar nicht, daß es sie überhaupt gäbe. Aber sie saß und erregte die Gemüter, besonders das des Alkibiades, auf das peinlichste. Man wußte nicht mehr, was man von solch einem Manne eigentlich halten sollte. Daß er sich durch diese ständig bohrenden Fragestellungen, die die Athener von damals nun einmal durchaus nicht leiden mochten, allmählich unbeliebt gemacht hatte, das hat JACOB BURCKHARDT klar erkannt, als er bemerkte: »Die Wirkung mag allmählich, doch die gewesen sein, daß alles ausriß, wenn man ihn um die Ecke kommen sah.« Und doch war das anrüchige Thema den Griechen in der Dichtung bereits deutlich merkbar geworden. Die Orestie des Aischylos redet, wenn man ihren eigentlichen Kern herausschält, von dem Verlangen des Menschen, um keinen Preis schuldig zu werden - und dem Scheitern dieses Verlangens. Der Hörer der tragischen Trilogie erlebt im ersten Teile »Agamemnon« die Rückkehr des siegreichen Heerführers von Troja und seine Ermordung durch sein Weib, die Königin Klytaimnestra. Die Tat ist von solcher Ungeheuerlichkeit, daß sie, unterstützt von den dunklen Chorliedern des Aischylos, im Zuschauer das Verlangen nach Vergeltung wie eine Forderung der Weltgerechtigkeit brennend werden läßt. Diese nun vollzieht sich im zweiten Teil, den »Choëphoren«, durch die Hand des Orestes, des Agamemnon und der Klytaimnestra Sohn. Die Sympathie des Hörers steht von Anfang an ganz auf der Seite des Jüngling, der, von Kindheit an im Gedanken an die Rache für den Vater erzogen, im Zusammenspiel mit Elektra, seiner Schwester, etwas wagt und im Morgengrauen in den Königspalast von Mykene eindringt. Man hat das Gefühl: dieser halbe Knabe hat völlig recht, und es gibt keine einzige Stelle in seinem Willen, die von einer verwerflichen Regung getrübt wäre. Es stört uns Heutige nicht, daß die ganze Handlungsart des Orestes streng im Rahmen des antiken Blutrachesystems verläuft und daß er eigentlich nur ein Beauftragter des Apollon Loxias ist; wir spüren deutlich: wenn das alles nicht wäre, so hätte er die Rache doch aus Freiheit übernommen; und er selbst sagt es sogar (Choeph. 295): ((kai mh pepoitha tourgon est ergasteon)). - »Auch ungehorsam mußte diese Tat geschehn«. Durch die archaischen Gitter des Blutrachesystems schimmert das natürliche Recht und die natürliche Pflicht des Orestes hindurch. Das tat es schon bei den Griechen, und nur so ist die Wirkung des Stückes bis auf unsere heutigen Tage zu erklären. - Wir erleben nun den Höhepunkt der Trilogie in dem Augenblick, da Klytaimnestra mit Entsetzen ihren Sohn erkennt und mit ihm den Rächer. Sie entblößt ihren Busen vor dem Kinde, das an ihm gehangen, und fleht um Gnade. Orestes schwankt einen Augenblick, aber dann stößt er zu. Wir bekommen hier das grausige Gefühl, daß mit diesem Stoß etwas Unwiderrufliches geschehen ist. Er scheint auch selbst dieses Gefühl zu bekommen, denn er übertönt es mit einem prahlerischen Siegesruf. Der aber hält nicht lange an, denn nun geschieht das Fürchterliche: er sieht im Hintergrund des Palastes die Erinnyen auf sich zukommen - ein Macht, der er nichts entgegenzustellen hat und die ihn in den Wahnsinn treibt.

  »Seht ihr die Weiber dort...? Gorgonenhaft
  In Schwarz gehüllt, das Haupt von vielen Nattern
  Umzingelt. Meines Bleibens ist nicht mehr.

  Ah, diese Qualen sind kein Wahngebild,
  Ich weiß: das sind der Mutter grimmige Hunde.«

Das ist Orestes, die ethische Urgestalt des Altertums; der Jüngling, der guten Willens ist und doch das Böse tut. Er bleibt in der antiken Überlieferung so bestehen; es gelingt nämlich nicht, ihn von den Erinnyen zu befreien. Das Altertum hatte nicht die Mittel dazu. In den »Eumeniden«, dem schwächsten Teile der aischyleïschen Trilogie, ragt nur der grausige Chor, bei dessen bloßem Anhören die griechischen Weiber die Leibesfrucht verloren, in die Höhe der Dichtung; sie handeln von dem Erlösungsprozeß an Orestes. Dieser vollzieht sich - durch Abstimmung, indem Athene einen zwölften Stimmstein in die Urne wirft. Er ist unglaubwürdig, denn bloße Götter, die im Plural vorkommen und dem principium individuationis unterliegen, haben nicht die Macht dazu. Der antike Mythos hat demnach auch die Erlösung des Orestes nicht akzeptiert; denn wir finden ihn später, in der taurischen Iphigenie des Euripides in demselben bejammernswerten Zustande; wieder wird hier ein Heilungsversuch inszeniert: er soll das Holzbild der taurischen Artemis nach Griechenland bringen. Aber das hat natürlich auch keinen Zweck. Der »Orestes« des Euripides vollends kümmert sich um das Heilungsproblem überhaupt nicht mehr, sondern nur darum, wie er sein bißchen Leben durch Mordpläne gegen alles, was ihm in die Quere kommt, retten kann; ein unerfreuliches Kassenstück. Wir sehen die antike Religion vor dem Eingeständnis ihrer Unzulänglichkeit. Ihr fehlen die Mittel, um so großen Vorgängen, wie es die Schuldverstrickung aus Erbsünde ist, entgegenzutreten. Darum wirken auch all diese antiken Versuche der Lösung, Sühne, Befreiung auf uns ganz unwirklich und abgetan, abergläubisch und veraltet, nicht deswegen, weil sie über zweitausendfünfhundert Jahre alt sind, sondern, weil sie vorchristlich sind. Das Christentum aber hat ein Stück Wirklichkeit, das in den ethischen Prozeß hineingehört und das vom Altertum übersehen wurde, entdeckt.
Die Gestalt des aischyleïschen Orestes ist der Träger des dumpfen Erbsündegefühles, das gesamtmenschlicher Natur ist und das nur ungern herauskommen will; besonders die Griechen wollten nichts davon wissen. Es paßte schlecht in ihre Gedankenwelt, daß jemand, der doch das Beste und Richtigste, ja das Lobenswerteste getan hat, der sogar von den Göttern freigesprochen war, doch eben schuldig blieb und von den Erinnyen nicht freikommen konnte. Das »furchtbare Geschlecht der Nacht« blieb an seinen Sohlen haften, so sagt ihr Mythos hartnäckig trotz der Eumeniden des Aischylos. In die innere Lage aber, in die Orestes kommt, kann jedermann zu aller Zeit geraten, ganz gleichgültig ob Blutrache gilt oder nicht. Das ist der Grund für die Zeitlosigkeit der Orestie.
Niemand ist vor ihrem plötzlichen Auftreten auch in der modernen Seele sicher. - Da war im vorigen Weltkrieg ein deutscher Grenadier, der beim Vormarsch in Frankreich in einem Dorfe ins persönliche Bajonettgefecht mit einem französischen Soldaten kam. Der Deutsche war ganz durchdrungen von der stürmenden Gewalt des Krieges, die über ihn gekommen war; der Franzose wurde in die Verteidigung gedrängt und nahm Rückendeckung vor einem Scheunentor. Dort kam es zum Endkampfe in seiner hitzigsten Form; die Bajonette blitzten gegeneinander, aber die Kraft des Franzosen erlahmte, allmählich. Schließlich stieß der deutsche Soldat seinem Gegner, ehe dieser Zeit hatte, die Waffe zu strecken, das Bajonett durch die Brust und heftete ihn so gegen das Scheunentor. Der Franzose starb, und seine letzten Worte waren »...Ah! Mes deux petits enfants...! Diese Worte haben den jungen Deutschen nie wieder verlassen. Er verfiel in unheilbare Schwermut, und sein Leben war gebrochen. - Und er hatte doch völlig recht gehandelt; es war Krieg, er stand unter seinem Gesetze und setzte jeden Augenblick sein eignes Leben aufs Spiel: und doch riß diese Tat einen Abgrund in ihm auf, der sich nicht wieder schloß. So dicht liegen in der Seele des Menschen der Soldat und der Mörder beieinander. Hier hilft kein Zuspruch wohlwollender Kameraden, keine Kriegsauszeichnung und kein Lob der Tapferkeit. Heroismus, sonst hoch in Ehren, schrumpft hier zur Bedeutungslosigkeit zusammen. - Eine andre Szene: Ich kannte einen Arzt meines Alters, dessen gebrechlicher alter Vater nur noch der Schatten eines Menschen war; ein kleines Hutzelmännchen, das schon meist irre sprach und sich und anderen zur Last fiel. Eines Tages sagte er in einem lichten Augenblick zu seinem Sohn, er möchte nicht mehr leben, denn es sei ja doch aus mit ihm, und was noch kommen könnte, sei nichts als Mühsal und Schmerzen. Er möge ihm doch den letzten Liebesdienst erweisen und ihm eine tüchtige Spritze Morphium geben, dann sei es aus mit ihm, und er hätte seine Ruhí. Der Sohn überlegte sich das lange genug und wollte ausweichen, aber der Vater drang unerbittlich auf ihn ein, ja ermahnte ihn an seine Sohnespflicht. Und schließlich, als es mit dem Alten wieder einmal ganz schlimm stand, erfüllte er ihm seine Bitte. Wie aber die Spritze schon wieder herausgezogen war, trat eine merkwürdige Veränderung in dem Alten ein; er wurde wach und klar, und als er sah, was mit ihm geschehen war, befiel ihn auf einmal die Todesangst der Kreatur: er richtete sich auf und schrie seinen Sohn an : »Mörder...!« und starb. Der Sohn aber verfiel in dieselbe Schwermut wie jener Soldat; er bat mich, ihm zu helfen, aber sein Geist begann sich unheilbar zu verwirren, und eines Tages hing er am Fensterkreuz. - Und es war doch eine Wohltat, die er seinem alten Vater erwiesen hatte! Wer wünschte sich nicht solch einen Sohn! -
Man wird zugeben, daß es ein Leichtes wäre, besonders in der Zeit, in der wir leben, Hunderte und Tausende solcher Beispiele zu nennen. Aber man sieht auch leicht, wie kümmerlich im Grunde diese Methode der empirischen Aufzählung zum Beweise für die Existenz der Erbsünde ist. Man ist da immer auf Hörensagen angewiesen und weiß nie, ob einem genau genug berichtet wird. Anders in der Dichtung. Hier spricht sich, ohne daß es der Dichter weiß, die Erbsünde selber aus, völlig naiv und ganz objektiv; hier stimmt jedes Wort, und alles ist richtig: sie hat sich gewissermaßen den Aischylos als Träger ihrer Offenbarung gedungen. Darum hat die Dichtung, wenn sie auf ihrem Höhepunkte steht, viel mehr Wahrheitsgehalt als die Wissenschaft auf dem ihrigen, jedenfalls, wenn es sich um solche Dinge handelt. Da wir nun in der glücklichen Lage sind, von KARL VOLLMÜLLER eine dem Original sprachlich ebenbürtige Übersetzung zu haben, so folge hier aus den »Choëphoren« jene kurze und atemberaubende Szene, in der alles gesagt ist:

Orestes: Da seht ihr nun des Lands Tyrannenpaar,
 Des Vaters Mörder, des Palasts Verwüster,
 Die stolz vereint jüngst auf dem Throne saßen,
 Sind jetzt vereint am Boden, wie ihr seht
 Mit gleichem Schicksal und den Eiden treu:
 Denn sie verschworen sich zum Tod des Königs,
 Wie jetzt zum eignen. Und der Schur war gut
 (Er hebt das Mordgewand von den Leichen und zeigt es den Umstehenden:)
 Schaut an ihr Zeugen dieser blutigen Tat,
 Das Tuch der Tücke, meines Vaters Falle,
 Drin sie mit Hand und Füßen ihn verstrickt,
 Da breitetís aus, zeigt es im Kreis herum,
 Das Menschennetz, damitís der Vater sieht -
 (Er hält inne.)
 Nicht meiner. Nein, er, der vom Himmel her
 Dies anschaut: daß er am Gerichtstag einst
 Mir dieser Tat Gerechtigkeit bezeuge
 An meiner Mutter. Von Aigistos schweig ich.
 Dem Schänder ward nichts weiter, als sein Recht.
 Und dieses Weib, die solchen Greul ersann
 Dem Mann, von dem sie Leibesfrucht getragen,
 Einst teuer ihr, und jetzt ihr schlimmster Feind,
 Wie dünkt sie euch? Nenn ich Muräne sie?
 Schlange, die durch Berührung, ohne Biß,
 Schon faulen macht: so teuflisch, so verrucht?
 (Auf das Tuch weisend:)
 Und das? Wie nenn ich es? Gebt mir ein Wort,
 Nenn ichís Wolfsfalle, heiß ichís Totenhemd?
 Sargdecke? Schweißtuch? Oder Jägernetz,
 Fußschling und Reuse? Ja, so ein Geweb
 Stünd einem Räuber an, einem, der Fremde
 Ins Haus sich lockt und tötet und beraubt,
 Und so sein Leben fristet. Solch ein Ding,
 Hätt erís, könnt ihm wohl reichen Fang verschaffen.
 (Sein Blick fällt wieder auf die Leiche der Mutter. Er macht eine Bewegung des Abscheus.)
 Doch so ein Weib, wie die, zur Hausgenossin!
 Ihr Götter! Lieber sterb ich kinderlos
 (Ein Schauer packt ihn. Er vergräbt das Gesicht in den Händen.)

Chor: Weh des entsetzlichen Werks!
 Weh!
 Weh der schaurigen Toten!
 Nun sproßt schon Leiden dem, der leben blieb.

Orestes: (wieder das Gewand ergreifend):
 Hat sieís getan? Hat sie es nicht getan?
 Der Fleck bezeugt mirís vom Aigitos Schwert,
 Der Blutfleck, mit dem Tag des Mords gealtert,
 Der viele Farben im Gestück zerfraß...
 Bald lob ich mich. Bald steh ich klagend da
 Und starre auf des Vaters Mordgewand,
 Mein Tun und Leid und ganz Geschlecht bejammernd
 Und mit dem Aussatz dieses Sieges befleckt.

Chor: Kein Sterblicher lebt sein Leben in Ruh
 Und sorgenlos bis ans Ende.
 Und ist Trübsal nicht da, so kommt Trübsal gewiß.
 Weh!

Orestes: (mit deutlichen Zeichen beginnender Zerrüttung):
 Und daß ihrís wißt...Was noch? Ich weiß nicht mehr.
 Wie wilde Rosse reißen aus der Bahn
 Mich Willenlosen* die entfesselten
 Gedanken. Und im Herzen will die Furcht
 Ihr Lied anheben schon und grause Tänze.
 Drum hört, solang ich noch bei Sinnen bin:
 Zu Recht, sag ich, hab ich dies Weib erschlagen,
 Die Vatermörderin, der Götter Greul.
 Den Zaubertrank, daran ich Mut gewann,
 Reichtí mir Apollon selbst, der mir verhieß:
 Führt ich die Tat aus, wird ich frei von Schuld sein;
 Doch ließ ich sie..., nicht nenn ich euch die Strafe,
 Fliegt doch kein Pfeil so hoch, als er gedroht.
ó So seht mich hier gerüstet und geschmückt!
 Mit diesem Kranz und Ölzweig walle ich
 Zum Ort des Erdennabels, Loxias Feld,
 Zum Feuer, das das ewige genannt wird,
 Das Mutterblut zu fliehn. An seinen Herd
 Hat mich Apollons Wille selbst entboten.
 Indessen wollet ihr Argiver mir
 Bezeugen, wie die Unglückstat erwachsen.
 Ich ziehe flüchtig, irr, des Lands verbannt,
 Ein Muttermörder - und mein Leben lang
 Und nach dem Tod werd ich den Namen haben.

Chor: Du hast gerecht getan. Nun öffne nicht
 Den Mund zur Lästerung und bösem Fluch,
 Du hast dem Schlangenpaar den Kopf zertreten,
 Du hast das Land von Argos ja befreit!

Orestes: Ha..Ha..!
 Seht ihr die Weiber dort? Gorgonenhaft
 In Schwarz gehüllt, das Haupt von vielen Nattern
 Umzingelt. Meines Bleibens ist nicht mehr.

Chor: Welch Wahnbild schrickt dich, aller Söhne treuster?
 Auf, faß dich! Fürchte nichts! Dein ist der Sieg.

Orestes: Ah, diese Qualen sind kein Wahngebild,
 Ich weiß, daß sind der Mutter grausige Hunde.

Chor: Vom Blut, das frisch an deinen Händen raucht,
 Hat dieser Taumel deinen Geist befallen.

Orestes: Apollon, hilf...! Sie nahn von allen Seiten,
 Aus ihren Augen sintert böses Blut.

Chor: Eins bleibt dir: Sühnung. Rührst du an den Herd
 Apollons nur, so sinken die Qualen.

Orestes: Ihr seht sie nicht. Ich aber seh sie wohl.
 Ich kann nicht mehr. Sie jagen mich von hinnen.
 

Zwischen dem Dolchstoß in das Herz der Mutter, der Orestes zum scheinbaren Sieger macht, und dem Auftreten der Erinnyen spielt sozusagen die Erbsünde als eine stumme Person heimlich mit und bewirkt den Umschwung in der Tragödie. Diesen erleben wir selbst eben deswegen in so tiefgreifender Spannung, weil er uns ein »tua res agitur« zuruft. Denn wer sich das hat einmal vom Dichter sagen lassen, der wird nicht leicht mehr auf den Gedanken kommen, daß irgendeine seiner Handlungen den Stempel der Wohlgeratenheit, aus sich selbst gezogen, an sich trage. Der Dichter großen Stieles ist der Entdecker wichtiger Seelenzustände, die ihre Verankerung im objektiven Welthintergrunde haben. Aischylos, dem man von jeher einen religiösen Hang nachgesagt hat, greift das Problem der Schuld durch Unschuld auf und stößt damit bis dicht in die Sphäre vor. Die lange vor ihm durch die Propheten Israels angerührt wurde. Diese aber stehen schon eine Stufe tiefer in der Sache; sie haben auch nichts anderes verkündet als eben dies. Auf ihre Aussagen kann man sich daher noch mehr verlassen.
 

2. DIE PROPHETEN ISRAELS
Bei der Betrachtung des entscheidenden Aktes, den Mose und die Propheten Israels begangen haben, beschränken wir uns streng auf das, was eben mit diesem Akte zu tun hat. Wir schalten also das Prophetische im Sinne der Voraussage von Ereignissen aus; ferner alles, was mit der biologischen Sicherung des Volkes Israel zusammenhängt, das heißt also das Zeremonialgesetz. Unsere Aufmerksamkeit gilt nur jener Schnittstelle, die den Namen »Metaphysik und Ethik« trägt. Hier haben sie ein unvergängliches Verdienst. Sie haben nämlich gesagt, sich sagen lassen, was zu hören dem hellenischen Altertum, tausend Jahre später, dringend nötig gewesen wäre (wenn man sich so ausdrücken darf), und was seit der Zeit der Aufklärung bis in unsere Tage hinein gewöhnlich überhört wird - sie haben sich sagen lassen, daß es Taten des Menschen gibt, die unbedingt nicht geschehen dürfen und solche - wenn auch schwächer, die geschehen sollen, nicht, weil das zum Nutzen der menschlichen Gesellschaft wäre, sondern, weil Gott es so will. Auf dieser Begründung allein liegt der Ton. Geschieht eine solche objektiv verbotene Handlung doch, so triff den Täter, je nach der Schwere der Tat, das Schicksal des Orestes, mindestens aber eine peinigende Zerrüttung des Gemütes. Denn was sind die Erinnyen schließlich anderes als die Hölle oder mindestens Gewissenspein. Die Propheten haben mit dem »Gesetz« nichts Privat-Jüdisches gesagt, sondern Gesamtmenschliches ja noch mehr; sie sind nicht nur Verkünder, sondern auch Entdecker.
Das, was bei Mose und den Propheten »nomos« heißt, liegt zunächst in scheinbarer Deckung mit den »Gesetzen« (nomoi) der Staaten und Völker, also mit dem Soziologischen. In allen Gesetzesbüchern der Staaten vor Mose und nach ihm finden sich Bestimmungen, die den Schutz des Lebens, des Eigentums, der Ehe, der Ehre betreffen, und diesen festen Gesetzen des Staates schließen sich die dehnbaren der Gesellschaft an. Der Mordparagraph eines Strafgesetzbuches und das Gebot: »Du sollst nicht töten« liegen auf den ersten Blick in soziologischer Deckung miteinander. In ihren Resultaten kommen sie auf dasselbe hinaus, nämlich, daß nicht getötet wird. Hieraus hat man - voreilig genug - gefolgert, daß das fünfte Gebot des Dekaloges, so wie allen andern, Produkt des Soziologischen sei. Weil die Ethik sich im Sozialen abspiele, deshalb, so sagte man, stamme sie auch aus ihm und sei dessen Funktion. - Eine analog gebaute andere Begründung der Ethik stützt sich auf deren Vernünftigkeit. Es stellt sich nämlich heraus, daß die Gebote der Sittlichkeit durchweg die Eigenschaft haben, im Falle ihrer Verneinung einen Widerspruch zu erzeugen. Wenn ich das Gebot »pacta sunt servanda« verneinen würde, so gäbe ich damit zu, daß auch ein Vertrag, der mit mir geschlossen wurde, vom Partner nicht gehalten zu werden braucht. Das aber gebe ich nicht zu; denn sonst würde ich ja gar keinen Vertrag schließen. Und so bei allen anderen Geboten auch. Die Summe nun der Verneinung aller Gebote ergäbe die Auflösung der Gesellschaft; diese aber kann ich gar nicht wollen denn ich selber gehöre ihr an. Und so sind in der Tat alle ethischen Forderungen im Effekt durch und durch vernünftig, und wir sehen, wie diese Tatsachen zugleich in Deckung mit dem Sozialen liegen.
Aus dieser Vernünftigkeit der ethischen Handlungen hat bekanntlich Immanuel Kant des Schluß bezogen, daß die Vernunft auch der Grund und die Quelle der Ethik sei, und so entstand bei ihm der Begriff der »praktischen Vernunft« wie als einer schöpferischen Macht im Subjekt. Allein Kant unterlag hier einem unbewußten Prozeß der Anpassung an die Signatur des Zeitalters, und so verdarb er sich seine groß angelegte Ethik. Denn in Wirklichkeit hat die Vernunft niemals eine schöpferische, sondern nur eine prophylaktische Bedeutung in der Ethik. Sie ist ein hellhöriger Wächter der Taten, aber nicht ihr Schöpfer. Und bei näherem Zusehen wird es sich überhaupt herausstellen, daß jene Deckung mit dem Sozialen auf einer Augentäuschung beruht, gleich einer perspektivischen Verkürzung, und daß in Wahrheit die Ethik allein steht.
 

3. DER AUFBAU DER MORALISCHEN URTEILSKRAFT
Denn unsere moralische Urteilskraft fällt Entscheidungen, die eindeutig jede Herkunft der Ethik aus dem Sozialen oder aus der Vernunft ausschließen. - So wie es eine ästhetische Urteilskraft gibt, vermöge der wir einen Gegenstand als schön empfingen und dabei den Anspruch allgemeiner Giltigkeit erheben, so gibt es auch eine moralische, die in uns durch das Gefühl der Achtung jene eigenartige Erhebung des Gemütes bewirkt, die uns sagt: hier ist etwas geschehen, das sich nicht ergründen läßt. Diese moralische Urteilskraft, die jedem Menschen innewohnt, will geübt sein, wie die ästhetische, und sie besteht wie jene aus zwei Elementen, die in ihrem Namen enthalten sind: einem urteilenden, also logischen, und einem andern, das dem Willen angehört, und demnach eine Kraft ist. Kant hat bei seiner Behandlung der verschiedenen Urteilskräfte - deren drei bei ihm vorkommen - durchweg übersehen, daß sie zur Hälfte auf die Seite des Objektes zu liegen kommen, von dem sie, in der Form des »Schemas« etwas enthalten, und sie nach seiner Art ganz zum Subjekt gezogen. Die beiden Elemente wirken aber als eine deutlich gefühlte Einheit zusammen, und das moralische Gefühl hält immer den Kurs auf die Achtung ein. Sein Dasein kann von niemandem abgeleugnet werden; denn sonst wären Gespräche über den ethischen Wert einer Handlung ohne Sinn.
Wir können die sichere Arbeitsweise der ethischen Urteilskraft an jedem beliebigen Beispiele aufzeige, so etwa an diesem: Es wolle jemand seinen Mitmenschen ums Leben bringen, sei es, um Rache zu nehmen, sei es um ihn zu berauben, und er habe Gründe, anzunehmen, daß seine Tat unbemerkt bleibt. Nach einigem Schwanken aber entschließt er sich, den Mord nicht zu begehen. Da gibt es nun eine Reihe von Motiven, die uns sofort in die Hände fallen und sich wie eine Klimax staffeln. Das erste sei, daß er die Sicherheit für das Geheimnis doch nicht für eine vollkommene erkennt und ihn nun die Furcht vor Strafe befällt. Hier sagt uns die moralische Urteilskraft, daß das Motiv für das Unterlassen des Mordes kein sittliches ist, und zwar auch dann nicht, wenn der Nicht-Täter die Strafe der Höllenqual nach dem Tode fürchtet. Diese Bestrafung mag als eine höhere Ordnung gelten, und es mag dem Unterlasser ein gewisses religiöses Gefühl zugebilligt werden: sittlicher aber wird die Unterlassung dadurch nicht. Mit einem Worte: die moralische Urteilskraft läßt eine Unterlassung aus Furcht nicht zu. Sie sagt uns nämlich ganz richtig: der Mann bleibt damit im Grunde seines Wesens doch ein Mörder. Die zweite Stufe der Klimax trägt als tatverhinderndes Motiv eine Einsicht aus Vernunft. Der Mann sagt sich: ich bin kein bloßes Naturwesen, das seinen Trieben folgt, sondern ich habe Vernunft, und dieses macht die Würde meines Menschentums aus. Von ihr aber erfahre ich, daß der Mord eine Tat ist, die, wollte man sie anerkennen, den Menschen, also auch mich selbst, dem Mordwillen seiner Mitmenschen ausliefern würde; damit aber wäre die menschliche Gesellschaft, der ich angehöre, im Prinzip aufgehoben; der Mord also widerspricht also eben diesem Prinzip, er kann niemals als allgemeines Gesetz anerkannt werden und ist demnach gegen die Sittlichkeit. Das ist ohne Zweifel alles richtig, eine echte »Vorspiegelung wahrer Tatsachen« (KURT HILLER). Allein, wenn dieser vernünftige Gedankengang, der nur zu billigen ist, das Motiv ist, das unserm Mann die Mordwaffe entreißt, so sagt die moralische Urteilskraft mit größter Treffsicherheit, daß sie unbefriedigt sei. Sie ist nur eben gerade geneigt, die Unterlassung als ein legales Verhalten anzuerkennen, im übrigen aber hält sie den Mann für einen faden Pedanten; und in einem verborgenen Winkel ihrer Existenz sagt sie sogar heimlich zu sich selber: wenn er doch lieber den Mord begangen hätte, statt mir hier vorzuflunkern daß er kein Mörder sei! Dann wäre er wenigstens ein Kerl, wenn auch ein schlechter. Denn die moralische Urteilskraft bemerkt sehr wohl, daß die Vernunft zwar imstande ist, auf Grund einer solchen Überlegung die Tat zu verhindern, aber das mörderische Wesen, das im Menschen steckt, nicht aus den Angeln heben kann. sie schreckt demnach deutlich davor zurück, eine solche aus Gründen der »praktischen Vernunft« erfolgte Unterlassung als sittlich anzuerkennen, genau so, wie ihre jüngere und darum schönere Schwester, die ästhetische Urteilskraft, sich weigert, eine Blume, die täuschend ähnlich aus Papier gemacht ist, schön zu nennen.
Die moralische Urteilskraft hat mit der ästhetischen auch das gemein, daß sie ihrem Gegenstande vorurteilsfrei gegenübersteht und nicht darauf festgelegt ist, einen bestimmten Kurs einzuhalten. Das heißt, man kann nicht wissen, welche moralischen Werte sie entdeckt und wo sie diese entdeckt. Im Bereiche des Schönen kann man auch nicht vorher sagen, wo überall noch Schönheit gefunden werden kann. Ethik und Schönheit sind beide polymorph. Die beiden Urteilskräfte schlagen sicher an, wie Wünschelruten, wenn sie auf verborgene Adern stoßen. Zu einem Menschen, von dem wir wissen, daß er viel aus Mitleid handelt, Menschen und Tieren Wohltaten erweist, haben wir eine unmittelbare Sympathie ethisch gefärbter Art; allein unser Urteil sagt uns, da wir uns hier erst im Vorfelde befinden, ähnlich wie beim Kunsthandwerk, das noch nicht Schönheit um ihrer selbst willen ist. Erfahren wir aber, daß er für seine Mildtätigkeit Kummer und Elend, ja den drohenden Tod auf sich genommen hat: so schlägt die Wünschelrute der ethischen Urteilskraft sofort gewaltig an und ist so leicht nicht mehr zur Ruhe zu bringen. Das macht: dieser Mensch ist in den Konfliktfall gekommen und hat nun zeigen müssen, was er in Wahrheit ist. Von da an erst, nicht früher, tritt das Sollen als die Form aller Ethik mit kategorischer Deutlichkeit auf. Er weiß nun, daß seine Mildtätigkeit nicht bloß ein weichmütiger Zug seines empirischen Charakters ist, wie wir ihn in entarteter Form bei den typischen Mitgliedern von Tierschutzvereinen finden, sondern ein Gebot höherer Ordnung. - Konflikt aber gibt es zweierlei: den einfachen, zwischen dem sittlichen Gebot und den Widerständen, die aus dem empirischen Charakter stammen - KANTS »Antriebe der Sinnlichkeit« -, und den doppelten zwischen zwei ethischen Forderungen, die sich im Vollzuge gegenseitig ausschließen. Das ist der tragische Konflikt, der so oft Gegenstand der Dichtung, besonders der dramatischen, geworden ist.
 

4. DIE BINDUNG DER ETHIK DURCH DEN STAAT
Ein Teil der ethischen Substanz des Menschen wird vom Staat absorbiert, und zwar geschieht das nicht aus Willkür, sondern dadurch, daß dessen eignes Dasein durch diesen gebundenen Teil bedingt wird. Es ist ein ähnlicher - vielleicht der gleiche - Vorgang, wie wenn in der mineralischen Natur Wasser in den Gesteinen und Salzkristallen in gebundener Form enthalten ist, ebenso wie in jedem lebenden Wesen; ohne diese Bindung des Wassers kann weder die mineralische noch die organische Natur bestehen. In gleicher Weise kann es auch keinen Staat geben ohne Bindung eines großen Teiles der ethischen Kräfte *. Ein Staat setzt stets andere Staaten voraus, mit denen er in verhaltenem Kriege lebt. Die Begeisterung, die er erwecken kann, die heldenmütige Aufopferung tragen unverkennbar ethische Züge, und wenn wir von den Taten des Leonidas, des Mucius Scaevola, des Regulus, des Winkelried oder des Kanoniers Klinke bei den Düppeler Schanzen hören, so schlägt unsere ethische Urteilskraft gewaltig an und ist gar nicht zu bändigen, selbst wenn man es wollte. Der Staat, nicht die bloße Gesellschaft, die keine Befehlsgewalt hat, ist die eigentliche Fundgrube der tragischen Konflikte, die ich hier in reicher Fülle immer wieder anbieten. Man denke etwa an: »Es geht mit gedämpftem Trommelschlag...« oder an König Friedrich Wilhelm I. von Preußen, den es gewiß etwas gekostet hat - denn er war im Grunde von weicher Natur -, seinem alten Katte den Sohn aufs Schafott zu schicken; »aber es ist besser, er stirbt, als daß die Gerechtigkeit Schaden leide«. - Doch wir verlassen diesen gebundenen Teil der Ethik wieder, da er nicht auf dem geraden Wege zu unserm Thema Metaphysik und Ethik, liegt. Wie, als ob wir vom Wasser sprechen wollten, dabei aber nicht von dem reden, das ist den Lebewesen und Gesteinen gebunden ist - obwohl es auch Wasser ist -, sondern nur vom Meer, vom Regen, von den Flüssen und Seen; wir stoßen die Tür ins Freie auf.
 

5. METAPHYSIK UND ETHIK
Bekanntlich hat ARTHUR SCHOPENHAUER mit seinem feinen Gefühl für das innerlich Unwahre in seiner Kritik der kantischen Ethik einen erfolgreichen Vorstoß gemacht; auch er würde einer aus Gründen der »praktischen Vernunft« unterlassenen Übeltat die Anerkennung des Sittlichen versagen, und er hat in seiner plastischen Ausdrucksweise uns sehr eindringliche Bilder von diesem Genre vor Augen geführt. Es sei, so meint er, ganz unglaubwürdig und gar nicht zu begreifen, daß eine so dünne Sache wie die Vernunft imstande sein soll, gegen jenen Berg von Bosheit und Niedertracht, wie er im Menschen sei, mit Erfolg anzurennen. Nur ein Seiendes, eine Realität, kein Denkendes könne einen echten Gegenpol schaffen. Eine hierfür charakteristische Stelle findet sich etwa in der Preisschrift über die Grundlage der Moral, § 12, und lautet: » Dieser (sc. Antrieb zur Gerechtigkeit und Menschenliebe) muß vielmehr etwas seyn, das wenig Nachdenken, noch weniger Abstraktion und Kombination erfordert, das, von der Verstandesbildung unabhängig, jeden, auch den rohesten Menschen anspreche, bloß auf anschaulicher Auffassung beruhe und unmittelbar aus der Realität der Dinge sich aufdringe« (Sperrung von mir). Bis hierhin ist sein Einspruch richtig und fruchtbar; denn er enthält die gänzliche Unproduktivität, man könnte auch sagen, Virginität der Vernunft - über die im übrigen noch zu reden sein wird -; er billigt ihr bestenfalls wohl die Fähigkeit zu, eine einzelne böse Handlung zu unterbinden, nicht aber, das Mördertum im Innern selber auszurotten; gerade das aber fordert die ethische Urteilskraft.
Als jenes Gegengewicht nun hat Schopenhauer bekanntlich das Mitleid genannt und es zur seienden Basis der Ethik überhaupt gemacht. Die Art nun und die ganze Eindringlichkeit, wie er das Mitleid behandelt, ist von solcher bestrickenden Überzeugungskraft und solcher Schönheit, daß man nur dringend wünschen möchte, es stünde mit ihrer Wahrheit ebenso. Allein der metaphysische Rang, den Schopenhauer dem Mitleid erfechten will und der ihm ja allein die Gewalt über die mörderischen Triebe in die Hand spielen würde, dieser Rang ist nicht einzuhalten. Sein Gedankengang ist bekanntlich der folgende: Der Kern und das Wesen der Welt, das ihrer bloßen Erscheinung zum Grunde liegende »Ding an sich« ist der Wille, das heißt das, was wir, nach innen sehend, in uns als das ewig Wollende und Begehrende verspüren. Dieser Wille, der nur einer ist, wird durch das principium individuationis in die unendliche Vielzahl der einzelnen Lebewesen zerspalten und befindet sich nun hier durch das bellum omnium contra omnes im Zustand der Selbstzerfleischung. Im Mitleid aber, welches nur beim Menschen vorkommt, kündet sich die wahre Einheit und Alleinigkeit des Willens an und wird unmittelbar empfunden; das principium individuationis wird hier in seiner Trüglichkeit durchschaut, so daß ich in der leidenden Mitkreatur im Grunde mich selbst als das Leidende empfinde und zwar eben angeschlossen an den metaphysischen Kern der Welt. Es ist die indische tattwam asi (das bist du!) ó Lehre, welche besagen will, daß im Grunde ich mit dem Hund und dem Wurm und dem Mitmenschen ein und dasselbe Wesen ausmache, deren Leid also mein Leid ist und nicht etwa bloß mit ihm verglichen wird. Die Lehre ist aber falsch. Denn wenn ich auch mit all diesen Lebewesen, ja mit Pflanzen und Gestein noch dazu, den Willen gemeinsam habe, so reicht dieser doch nur genau so weit in die Natur hinein wie die Materie, die ich auch mit ihnen teile; denn der Wille ist nichts anderes als die Materie von innen gesehen. Mein Grund aber ist er nicht und auch nicht mein »eigentliches Wesen«. Denn ich unterliege als Mensch zwar dem principium individuationis, durch welches ich der Einzelfall der Tierart Mensch bin, aber außerdem dem principium personalitatis, durch das ich Ich selber bin. Und hier liegt mein Grund und mein Wesen. Durch meine Individualität stehe ich in Beziehung zum Archetypus der Tierart Mensch, und in mir kann niemals mehr sein, als diese Art enthält, genau, wie das einzelne Pferd niemals mehr und anderes enthalten kann als sein platonisches Urbild. Es gibt hier nur ((genesis en kuklos.)) Durch meine Personalität aber bin ich in Richtung auf den Welthintergrund offen und jedem Einbruch metaphysischer Mächte ausgesetzt; das aber macht die Heimatlosigkeit, freilich auch die mögliche Größe und den Wert des höheren Menschentums aus. Die Gewähr, das heißt das Vorhandensein und die objektive Giltigkeit der Person aber ist durch den Eros in seiner Symbiose mit dem Individualbegriff gegeben, und hier ruft die Natur allen Versuche, das »Individuelle« als einen aufhebbaren Schein, der vor dem »Wahren Wesen« als ein Schleier lagert, darzustellen, zu: »Bis hierhin und nicht weiter!« - Diese volle und garantierte Festigkeit des Persönlichen konnte Schopenhauer freilich nicht erkennen, und zwar hinderte ihn darein seine unglückliche Einteilung des Eros in »Wollust« und »Caritas«; auch wollte er es nicht. Kant, der es wollte, konnte es ebensowenig, weil die Liebe bei ihm ein bloßer »Affekt« ist, der noch dazu das Beiwort »pathologisch« trägt. Nur Platon, dessen Spuren wir hier folgen, wäre dazu imstande gewesen; denn er hatte einen unbefangenen Blick für die natürliche Liebe; aber er kam wieder mit der »Idee des Guten« nicht zu Rande. -
So verlockend es also ist, im Mitleid eine Brücke zum leidenden Weltwesen zu sehen, aus dem man die Begründung einer asketischen und welterlösenden Ethik heraufholen kann, und so imponierend der Bau ist, den Schopenhauer um dieses große Thema aufführt: aber er hält nicht stand, und wir müssen es uns damit genug sein lassen, dem Mitleid eine bescheidenere Rolle zuzuweisen. Es gehört offenbar nur dem Subjekte an als ein naher und leicht assimilierbarer Verwandter der Liebe, man könnte sagen: Liebe, infiziert vom Leid.
Auch wenn also Schopenhauer mit seiner Grundlegung der Ethik kein rechtes Glück gehabt hat, so bleibt doch sein Verdienst bestehen, auf die Notwendigkeit einer seienden Basis hingewiesen zu haben. Eine auf reiner praktischer Vernunft aufgebaute Ethik vermag sehr wohl im Menschen, der sie befolgt, einzelne böse Handlungen von Fall zu Fall zu unterbinden, ja sei vermag sogar Grundsätzlichkeiten im Charakter herauszubilden, die ein für allemal einen ganzen Komplex von bösen Taten nicht zur Ausführung kommen lassen: aber sie läßt, genau wie die Furcht-Ethik, die Antriebe bestehen. Wer demnach aus Grundsatz nicht stiehlt, bleibt derselbe Spitzbube, der er war, als er es nötig hatte, diesen Grundsatz für sich aufzustellen. Unsere ethische Urteilskraft aber fragt immer nach dem Sein eines Menschen und verlegt mit Recht dorthin den Grund für seine Handlungen.
Hierüber wird uns Klarheit kommen, wenn wir zu jener Klimax der Motive zurückkehren, die wir vor kurzem verließen, und die nächste Stufe betrachten. Auf dieser finden wir unsern Mann kurz vor dem Begehen der Tat; er hat alle Vorbereitungen getroffen, der Plan ist auf das Genaueste festgelegt, das ahnungslose Opfer im Netz gefangen, eine Möglichkeit der Entdeckung nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen, dabei der Gewinn für ihn enorm. Da plötzlich stößt er auf ein völlig unüberwindliches Hindernis in seinem Innern: er läßt den Mord sein. Die Vorbereitungen werden behutsam rückgängig gemacht - wobei er dazu seinem nicht geringen Schrecken doch einige Unvorsichtigkeiten entdeckt -, und er zieht sich gelassen und nachdenklich in sein bürgerliches Dasein zurück, aus dem er ja durch seine angehende Mörderkarriere nicht unbedenklich herausgeglitten war. Einem vertrauten Freunde aber, dem er die ihm unbegreifliche Geschichte erzählt, antwortet er auf die Frage, warum er denn den Mord schließlich doch nicht begangen habe, ganz einfach: »Weil Gott sprach: Du sollst nicht töten« und aus keinem andern Grunde«. -
Unsere moralische Urteilskraft, wenn sie dieses hört, greift sofort und ohne Bedenken zu, und da sie die ja Kraft ist und nicht bloß Urteil, so erwärmt sie sich im echten Gefühle der Achtung. Bei den faden Erscheinungen der Vernunftethik wollte sie nicht und schüttelte ihr Haupt; hier aber fühlt sie sich in ihrem eignen Wesen getroffen und zufriedengestellt. Denn die Begründung für das Unterlassen des Morde: »es ist Gottes Wille« besagt - ganz gleich, was der Täter sonst etwa über Gott zu denken beliebt -, besagt eben dies, daß der Grund dieser Handlung rein objektiv ist, undurchdenkbar und unbegründbar. Das aber ist das Merkmal einer sittlichen Handlung. Und gerade weil die Vernunftethik diesen Grund angeben will, gerade deshalb rangiert unsere moralische Urteilskraft die daraus fließenden Handlungen nicht unter die sittlichen ein, bestenfalls unter die legalen. Es ist unerfindlich und unergründlich, warum der Mensch absolut nicht töten soll; es ist ergründlich und erfindlich, warum er es relativ nicht soll, nämlich relativ auf Staat und Gesellschaft. Die Antwort nämlich, die diese beiden auf die Frage: »Darf ich morden in eignem Interesse?« geben, lautet natürlich »Nein!« Denn wenn der Mord erlaubt wäre, so würde das dem Bestehen von Staat und Gesellschaft logisch widersprechen; das ist sonnenklar, wie alle hypothetischen Imperative. Frage ich aber. »Darf ich in Notwehr töten?«, so antwortet der Staat »Ja« und begründet das ebenso überzeugend. Frage ich. »Darf ich um meiner Ehre willen einen Zweikampf auf Leben und Tod führen?«, so antwortet der Staat manchmal mit Nein, ist aber sehr tolerant in der Verfolgung der Straftat, manchmal aber auch mit Ja. Die Gesellschaft aber fordert unter allen Umständen den Zweikampf - auch gegen das Gesetz des Staates - und schließt den aus, der ihn unterläßt. Bei der Tötung auf Verlangen aber, sowie beim Selbstmord reagieren die Staaten verschieden, je nachdem, was sich die Vernunft des Gesetzgebers für Vorstellungen über das Wesen des Staates und des Menschen machte. Das Gebot Gottes aber: »Du sollst nicht töten!«, sagt eben dies und gar nichts anderes, kategorisch ohne jede Einschränkung und ohne jede Rücksicht auf die Folgen für den einzelnen und den Staat. Wer aber aus diesem Grunde allein nicht tötet, der bezieht die Kraft, die ihn - obwohl er es gerne möchte - daran hindert, aus einem Bezirk, der, in Achsenrichtung verlaufend, zu den Motiven »aus reiner praktischer Vernunft« oder des Sozialen senkrecht steht. Jenem Manne, der hier auf der dritten Stufe der Klimax plötzlich vom Morde abläßt, passiert etwas ganz anderes als dem Ethiker aus Vernunft; seinem Willen zum Morde begegnete plötzlich ein anderer Wille, der ihm gebot: »Du sollst nicht töten!«, und zwar ohne Begründung, aber auf dem Grunde eben dieses anderen Willens.
Man sieht im Falle der Notwehr besonders deutlich, daß die Ethik und das Staatsgesetz verschiedene Wurzeln haben. Wer einen andern tötet, weil dieser ihn töten wollte, der handelt durchaus so, daß die Maxime seines Tuns Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung werden kann. Er handelt recht. Aber unsere ethische Urteilskraft verhält sich unbeteiligt. Es bleibt für den Täter aus Notwehr ein Rest zu tragen übrig. Recht ist weniger als Ethik. Zudem: Alle Strafgesetzparagraphen aller Länder zu allen Zeiten formulieren sprachlich auf dieselbe Weise, nämlich »wer auch immer (quicumque) tötet, stiehlt, verleumdet, ehebricht usw. ...«. Die Ethik aber sagt: »Du sollst nicht töten!« Das ist etwas völlig anderes. Das Staatsgesetz spricht das Individuum an, die Ethik allein die Person.
Man kann sich getrost hinzudenken, daß bei jener Umkehr des Mordwillens Gefühle des Mitleids mit dem Opfer, in dessen brechendes Auge er nicht zu sehen wagt oder dessen weinende Angehörige er denkt, bei dem Täter eine Rolle gespielt haben, und Schopenhauer meint, daß dies die alleinige Wurzel aller Handlungen sei, die ins Gebiet der Ethik gehören*. Allein es fehlt hier das Moment der Spannung und der Gesetzlichkeit, das unsere ethische Urteilskraft beansprucht. Es muß ein Konflikt da sein, der den Menschen an den Rand des Abgrundes führt. Dieser aber besteht zwischen dem eignen Wollen, das böse ist, und dem andern, das durch eben diesen bösen Willen aus der Tiefe des Welthintergrundes als ein Sollen heraufgerufen wird. Es genügt nicht, den eignen Willen nicht zu wollen, sondern es ist nötig, dem andern zu gehorchen. Wäre Mitleid die reale Wurzel der Ethik, so würde die Tötung eines andern aus Erbarmen sich im Gewissen ohne Rest auflösen. Das ist aber nicht der Fall, sondern es meldet sich allemal ein deutlicher Einspruch, der den Tötenden aus Mitleid schließlich doch zum echten Mörder stempelt und ihn in die Hände des lebendigen Gottes fallen läßt.
Hier liegt aber auf einmal die Spur eines verderblichen Sprachgeizes vor uns. Die deutsche Sprache - und jede andere auch - bildet das Tätigkeitswort »wollen« und dazu das Substantivum »Wille«. Daher nimmt man ohne Arg an, daß all meinem Wollen, das ich in mir habe, Hunger, Durst, Wollust, Trägheit, ein realer Wille zugrunde liegt, der wirklich da ist. Niemand zweifelt daran, und mit Recht. Nun spüre ich aber auch in mir gesollte Dinge, allerdings immer nur negativ als Gewissensbiß, denn da ich unter dem Druck der Erbsünde allem dem, was ich soll, stets zunächst mein Nichtwollen entgegensetze, so ist er es, der sich am vordringlichsten meldet. Obwohl dieser Gewissensbiß als durchaus real empfunden wird, genau wie Hunger und Durst und Wollust - Orestes kann ein Lied davon singen -, hat die Sprache doch hier versagt. Sie hat nämlich zu »sollen« kein Substantivum gebildet, wodurch der Eindruck entsteht, als ob dem Sollen auch nichts Reales entspreche, sondern nur ein leeres Kommando der Vernunft. Das ist nun ein ganz furchtbarer Fall von Sprachgeiz, durch den in der Tat die Menschheit auf den ausweglosen Gedanken gebracht worden ist, daß es eigentlich kein Sollen gibt. Ein Gedanke voller Verhängnis, dem Kant verfiel, und den nur die Propheten Israels richtig gestellt haben. Das Sollen hat eben auch Willenscharakter und ist demnach real-objektiv. Der jüdische Theologe Hans Joachim Schoeps hat einmal ganz richtig bemerkt, daß die einzige Beziehung Gottes zum Menschen eine Willensbeziehung sei und nicht etwa eine der Erkenntnis. Hier kündigt sich an, was später aufglänzen wird, nämlich daß es objektive Theologie gibt, mir der nicht zu spaßen ist.
Wir betreten von neuem die Klimax der ethischen Motive und kehren zu jenem Manne zurück, der plötzlich in seiner Mordabsicht durch das Gebot Gottes - wie er sich ausdrückte - gehindert wird. Dabei müssen wir alles beiseite lassen, was dieser Mann etwa sonst noch über »Gott« denkt, das heißt jede sogenannte »religiöse Überzeugung«, natürlich auch jeden Gedanken an Lohn und Strafe. Denn diese sind alle miteinander bloße Spiegelungen eines Vorganges im Intellekt, der damit nie etwas Rechtes anzufangen weiß. Was diesen Mann im Innersten bewogen hat, von seiner Freveltat abzustehen, war eine Begegnung mit einem andern Willen und ein Erlebnis dieses Willens, wodurch - was für ein Wunder! - sein Mördertum wirklich aufgehoben wurde. Dieser Mann ist kein Mörder mehr. Dadurch, daß er die Rückverbindung mit dem andern Willen tatsächlich fand, hat sich bei ihm Religion ereignet. Es ist ihm etwas zu Hilfe gekommen, und diese Hilfe drang durch, weil er gehorchte. Denn der Wille, auf den er hier stieß, äußerte sich im in der kategorischen Form des unbedingten Verbotes ohne Gründe. Würde man nun näher in ihn eindringen und mit berechtigter Forscherneugier fragen, was denn das nun für ein »anderer Wille« gewesen sei, auf den er dann - nach seiner Aussage - stieß, so würden wir zunächst eine eigentümliche Scheu bemerken davor, den Namen Gottes auszusprechen. Es soll Menschen geben, die so fromm sind, daß sie sich lieber als Atheisten gebärden, als sich auf eine Bank mit denen zu setzen, für die dieser Name zur lieben Gewohnheit geworden ist. Auf dieser natürlicher Scheu ((aidos)) beruht das tiefsinnige Gebot: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnützlich führen.« - Fragen wir nun, ob dieser andere Wille sich an eine Individualität gebunden gezeigt hat, wie bei den antiken Göttern, so wird er mit Bestimmtheit und einem deutlichen Lächeln antworten: Nein! Fragen wir aber, ob an eine Person, so hört er auf zu lächeln und sagt mit dringendem Ernst: »Gott ist Person; denn sonst könnte er nicht zu mir sprechen.« Hier aber ist das Ende möglicher Fragestellungen erreicht.
Wir treiben hier ein empirisches Verfahren, so wie es Schopenhauer für die Ethik empfahl - nur, daß er selber dabei falsch ging -, und holen uns Auskunft über die Abstammung des Guten dort, wo wir hoffen dürfen, das zuständigste Material zu finden. Wenn wir wissen wollen, wie Gesteine kristallisieren, so gehen wir in einen Steinbruch, nicht aber ans Meer, wo alles schon zu Sand zerrieben ist. Wollen wir aber erfahren, aus welchen Quellen das Gute fließt, so schlagen wir nicht die Folianten der Moralphilosophen auf, die schon alles zu Sand verrieben haben, sondern wir prüfen das wirkliche Gewissen eines echten Übeltäters. Denn

 »Wer niemals am Bruder den Fleck für den Dolchstoß bemaß,
 Wie leicht ist sein Leben, und wie dünn das Gedachte,
 Dem, der von des Schierlings betäubenden Körnern nicht aß,
 Oh, wüßtet ihr, wie ich euch alle ein wenig verachte!«  (GEORGE)

Hierbei stoßen wir noch auf ein anderes Merkmal der echten ethischen Handlung gegenüber den bloßen Scheingeburten aus Vernunft: nämlich auf die deutliche Empfindung dafür, daß die Stromrichtung der ethischen Kraft sich umkehrt; statt vom Subjekt zum Objekt zu gehen, kommt der Druck vom Objekt; es entsteht ein Gefälle, das durch die Handlung ausgeglichen wird. Der Leser erinnert sich, daß wir dieser ƒnderung der Richtung schon öfters begegnet sind, und daß das immer ein Signal dafür war, daß eine Sache richtiggestellt wurde. Der unterlassene Mord, also die gute Handlung, bezieht ihre Kraft aus dem rein objektiven Bereiche dessen, was der Täter den Willen Gottes nennt. Und erst durch diese Umkehrung gelingt die Tat als eine gute. - Sofort aber und aus dem gleichen Grunde schlägt unsere Urteilskraft zu und sagt ihr unbedingtes stürmisches Ja. Die Umkehrung der Stromrichtung ist also sowohl der Grund dafür, daß die Handlung gelingt, wie auch für unser Urteil. Kant formuliert das so: die gute Tat müsse allein um des Gesetzes willen geschehen; er genierte sich zu sagen: allein um des Gesetzgebers willen. Das aber sagt unsere moralische Urteilskraft, und das sagt auch der Täter.
Es stand hier also Wille gegen Wille vermittelt durch die Vernunft, die man dann sehr wohl »praktisch« nennen kann, wenn man es nur unterläßt, ihr auch die leiseste Spur eines schöpferischen Vermögens anzudichten. Daher kommt es auch, daß hier der Mordwille wirklich in Schach gehalten wird. Freilich gehört dazu, daß immer wieder von neuem der Einklang durch den guten Willen des Täters hergestellt wird vermittels einer Art Pädagogik, die dem etwa neu anhebenden Willen zum Bösen siegreich begegnet. Es gelingt aber auch, wenn nur die Brücke zum andern Willen freigehalten wird. Und so wundern wir uns denn nicht, wenn ein Mensch dieser Art ein solches Brückenschlagen seinen Gottesdienst nennt. Sein Ergebnis nennt er die Versöhnung. Das alles aber ist unmöglich in der Vernunftethik. Denn hier steht nicht Wille gegen Wille, also Seiendes gegen Seiendes, sondern Vernunft gegen Willen, also Denkendes gegen Seiendes. Man braucht sich davon nur ein Bild zu machen, um gleich zu bemerken, daß hier der böse Wille nur beiseite geschoben und verdrängt wird, der Täter nur de facto seine Tat nicht begeht und heimlich doch ein Mörder bleibt. Es tritt keine Umkehrung der Stromrichtung ein, und unsere moralische Urteilskraft schlägt nicht an.
 

6. SCHOPENHAUERS »EMPIRISCHER WEG« IN DER ETHIK
Der alte Schopenhauer würde sich im Grabe umdrehen, wenn er das bisher über die Grundlegung der Ethik Vorgetragene läse. Und da wir es hier mit einem großen Geiste zu tun haben, so ist er zu fürchten. Es sei, würde er wettern, ein der Philosophie unwürdiges Unternehmen sich auf den Dekalog zu berufen; sie habe zu forschen und zu begründen, aber nicht Judenmythologie zu treiben; und was die vorgebliche Sollform der Ethik anlangt, so gehöre sie auf den Exerzierplatz, aber nicht in die Moral. Wir sind gerüstet. - Es gehört zu den unvergänglichen Verdiensten Schopenhauers, den wahren, nämlich virginalen Charakter der Vernunft festgestellt zu haben, und wir werden ihm derethalben noch in dem Kapitel über die »Ordnung des Intellektes« ein besonderes Ehrenmal setzen, was die akademische Philosophie bisher unterließ; dies trotz jenes Pferdefußes, wonach die Vernunft ein bloßes »Produkt des Gehirnes« sei, das als ein »Parasit« auf dem Willen aufsitze zu keinem andern Zweck, als zur Befriedigung dieses - stets bösen - Willens über die Möglichkeiten der Tierheit hinaus. Hieraus hat er dem Darwinismus eine unfreiwillige Hilfestellung verschafft, die denn auch weidlich ausgenutzt wurde. Es war aber ein fruchtbarer Gedanke von ihm, in bezug auf die Ethik den empirischen Weg zu gehen; denn es hatte sich als Fehlschlag erwiesen, sie aus der Vernunft abzuleiten. Die Philosophie aber hat nur die beiden Möglichkeiten: aus Vernunft oder aus Erfahrung, wobei sie, im Unterschiede zur Naturwissenschaft, stets eine transzendentale Kritik dieser Erfahrung bereit hält.
Die subjektive Instanz hierfür trägt den Namen der moralischen Urteilskraft in genau demselben Sinne, wie bei der Schönheit die ästhetische gilt. Nun käme man in der Kunstwissenschaft natürlich keinen Schritt weiter, wenn man die Augen nicht aufmachte und einfach hinsähe, was an Werken des Schönen von der Natur her geboten wird. Kant, der den Begriff der ästhetischen Urteilskraft in die Philosophie eingeführt hat, will die Augen nicht recht aufmachen, weshalb jene Schrift von ihm so ausgesprochen dürftig wirkt, dagegen Schopenhauer im dritten Buch der »Welt als Wille und Vorstellung« wie trunken von Schönheit dasteht. Er hat hier den richtigen Weg nicht nur gewählt, sondern ist ihn auch gleich gegangen. Nun muß aber die ethische Urteilskraft in der gleichen Weise in den Erkenntnisprozeß eingesetzt werden, das heißt, sie muß sich von der Natur belehren lassen, wieviele ethische Werte es gibt. Diese werden entdeckt (Alois Riehl) und nicht etwa von der Vernunft konstruiert. Hat man diese Gleichordnung der beiden Urteilskräfte aber zugegeben, so kann man nicht auf einmal sagen: es gibt nur ein Grundelement der sittlichen Werte, das aller anderen Vater ist, nämlich das Mitleid oder sonst etwas. Wir haben es auch in der Naturforschung nicht in der Hand, vorzuschreiben, wieviele Elemente der Stoffe es zu geben habe, sondern die Natur sagt: mit soviel komme ich aus; nicht mehr und nicht weniger. So hat sie auch in der Ethik einen Plural der Grundstämme gesetzt, den die Urteilskraft zu respektieren hat. Oder man versuche einmal, die Tat des Winkelried aus dem Mitleid abzuleiten, wie das Schopenhauer wirklich tut; das wird alles schief und unglaubwürdig. Die Urteilskraft muß unvoreingenommen bleiben, in der Ethik soviel wie in der Kunst; dann wird sie auf den ersten Blick entdecken, daß die Inhalte der Ethik einander divergent sind, daß sie aber alle in einem konvergieren, nämlich in der Form des Sollens. In dieser - und keiner anderen - kommen sie im Subjekt zielsicher an, eben weil im Objekt dafür ein »Soll-Wille« vorhanden ist, für den die Sprache versäumt hat, ein unüberwindliches Wort zu finden. Redlichkeit ist etwas anderes als Hilfsbereitschaft, Tapferkeit etwas anderes als Mitleid, Wahrheitsliebe etwas anderes als Keuschheit, Stolz etwas anderes als Treue - aber indem wir das alles aussprechen und dabei das Gefühl der Zustimmung haben, sagen wir, daß diese Werte sein sollen und zwar absolut, das heißt kategorisch. Kein Mensch ist imstande, einen dieser Werte als für ihn unverbindlich abzulehnen, ohne nicht zugleich auf sein Menschtum zu verzichten, ganz gleich, wie oft er gegen sie verstößt. Er kann das so wenig, wie er leugnen kann, daß Ursache und Wirkung durch das Band der Notwendigkeit verknüpft sind.
Hier begegnen wir Schopenhauers energischem Einspruch, denn er fährt wie von der Tarantel gestochen hoch. Das sei ganz ungehörig, meint er, von einem Soll-Gesetz in der Ethik zu sprechen; diesen Irrtum habe Kant aufgebracht, der es sogar fertig bekäme, hier von einem »Gesetz« zu sprechen, das möglicherweise in keinem einzigen Falle erfüllt werde. Schönes Gesetz das ...! - Dann möge er ruhig so meinen wir bescheiden, statt Gesetz »Gebot« sagen, das ändere nichts, und daß ein Gebot auch dann gilt, wenn es nicht erfüllt wird, das könne er doch nicht leugnen. - »Exerzierplatz...!« knurrt der Alte grimmig, »Lohn und Strafe...!« - Wir sind also hier, ohne es zu wollen, auf den sozial gebundenen Teil der Ethik abgeglitten. »Und im übrigen«, meint SCHOPENHAUER, »wo ein Imperativ ist, da muß es auch einen Imperator geben, und damit stoßen wir haargenau auf diesen Jehova und stehen mitten in der tollsten Judenmythologie. Mit dergleichen Dingen aber gibt sich die Philosophie nicht ab!« - Man sieht: es ist mit ihn nicht zu reden.
Da bleibt kein anderer Rat, als sich gemeinsam mit ihm auf den empirischen Weg zu begeben. Dieser aber verläuft in unserem Falle am besten gleich von seiner Wohnung ins Gasthaus, und wir haben die Ehre ihn zu begleiten. Er geht immer noch mit finsterer Stirn fast beleidigt neben uns; denn wir wissen von ihm, daß er genau wie der alte Goethe, sehr empfindlich ist und es übelnimmt, wenn man ihm eines seiner Grunddogmen bestreitet. - Da begegnet ihm an der Straßenecke ein armes Weib, das, offenbar von Gram gebeugt, ihn um eine kleine Gabe bittet. Schopenhauer aber lehnt mit einer heftig verweisenden Gebärde ab; denn das Weib störte ihn in seinen Gedanken. Ja, man kann sich bei seinem aufbrausenden Charakter vorstellen, daß er das arme Geschöpf bei einer neuen Bitte heftig angefahren habe. Im Gasthaus angelangt, setzt er sich an seinen gewohnten Tisch, sichtlich gebessert in seiner Laune; denn er war ein wohlgemuter Esser, und der Duft der Speisen erheitert unwillkürlich sein Gemüt; er wird auch im Gespräch aufgeschlossener. Das dauert aber nur eine kleine Weile, und noch ehe der zweite Gang aufgetragen ist, wird wieder eine deutliche Verfinsterung seines Gemütes spürbar. Er ist mit irgend etwas unzufrieden. Natürlich verrät er das nicht; und so groß auch die Ehre ist, der er uns würdig befunden hat, mit ihm überhaupt zu sprechen: seine Seele - »wenn ich eine habe« - gibt er uns nicht preis. Warum sollte er auch? Aber wir wissen trotzdem: es ist das alte Bettelweib, das ihn beunruhigt. Er kommt sich auf einmal schäbig vor, daß er, der wohlhabende Mann, der sich jetzt an reich gedeckter Tafel labt, nicht einmal einen Groschen übrig hatte, um der armseligen Kreatur ein Stück Brot zu gewähren. Das devastierende Gefühl, das nun allmählich mit steigender Gewalt von ihm Besitz ergreift, ist zwar im Grade nach nicht mit dem zu vergleichen, von dem Orestes befallen wurde, der Art nach ist es dasselbe. Drückt man es aber in der kürzesten nur möglichen Formel aus, so lautet es: »Du hättest dem Weibe ein Almosen geben sollen.« Da hilft nun kein Wettern und Fluchen: er kann es gar nicht leugnen, daß die Sprache - und zwar alle Sprachen - das Wort »Soll« prägt und zwingend aufnötigt, wo immer ein ƒrgernis geschieht. Ja noch mehr: es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als dem vermeintlichen Jehova zu gehorchen, wenn anders er Wert darauf legt, von dem depravierenden Gefühle seines Defektes frei zu kommen.
Nun ist die deutsche Sprache merkwürdig geizig gewesen, indem sie das Verbum »sollen« für zwei tiefgreifend verschiedene Vorkommnisse gebildet hat. Die lateinische mit ihrem »debet«, »oportet«, »necesse est«, sowie dem imperativen Gebrauche des Konjunktives und des Gerundivums war hier freigebiger, ohne freilich die richtige Verwendung dafür gefunden zu haben. Hier hat nun Kant eingegriffen und hat die Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativen bewirkt. Das läuft so: wenn Schopenhauer, der starke Esser und Trinker, bei einer Abendmahlzeit seien Etat überschritten hat und ein Gericht zuviel aß, so kann es ihm, der Wert auf eine ordentliche Haushaltung legte, passieren, daß er sich hinterher sagt: »Dieses Ausgabe hätte ich mir nicht machen sollen, denn sie widerstreitet meinen Grundsätzen der Sparsamkeit.« Dieses Sollen ist dasselbe Wort wie das obengenannte, bedeutet aber ganz etwas anderes. Denn der Grundsatz der Sparsamkeit wir hier vom Subjekt gemacht. Es ist ebenso gut und lobenswert, wenn man sich sagt: »Ich will im Alter niemandem zur Last fallen und darum sparen, solange ich jung bin«, wie wenn man sagt: »Ich will genießen, wenn ich etwas habe, und mich und mein Alter in Gottes Hände legen.« Die Tugend der Sparsamkeit aber erfordert oft ein erhebliches Maß von Selbstbeherrschung »entgegen den Antrieben der Sinnlichkeit«, und es gibt Lagen, in denen sich dieser rein hypothetische Kampf geradezu zum Heroismus steigert. Trotzdem haben all diese Imperative und die aus ihnen folgenden Handlungen - eben wegen ihres nur hypothetischen Charakters - keinen echten ethischen Klang. Sie gleichen einer Glocke, deren Rand man festhält, so das nur der Ton der geschlagenen Bronze herauskommt. Anders die kategorischen; diese lassen sich nicht aus subjektiven Vornahmen und Beschlüssen ableiten, sie unterliegen keiner begründbaren Bedingung, sondern sind unbedingt und werden nach Analogie der empirischen Dinge unabweisbar gegeben. Sie haben demnach auch die Tiefe und die Rätselhaftigkeit der Dinge; ihre Gesetze und ihre Inhalte werden, wie diese, entdeckt. Ein Verstoß gegen sie greift nicht den geordneten Lebenswillen an, wie es die hypothetischen tun, sondern die Menschenwürde. Man stößt auf sie und ist im Innersten angesprochen, ohne die Möglichkeit einer Widerrede. Daher heißen sie kategorisch; sie wurzeln im Objekt. Das Sollen, in welchem sich diese Inhalte sprachlich ausdrücken, ist daher gar nicht zu verwechseln mit dem der bloß hypothetischen. - Die subjektive Instanz aber, bei der sich diese Imperative melden, heißt das Gewissen.
Verfolgen wir nun den Gang der Handlung weiter. Schopenhauer verabschiedet sich von uns, da er noch etwas vorhabe. Statt aber, wie man vielleicht sonst vermuten könnte, den Weg ins Freudenhaus zu nehmen, begibt er sich zurück und sucht den Platz auf, wo das alte Bettelweib gestanden hat. Er findet sie nicht mehr, fragt aber spielende Kinder nach ihrer Wohnung. Er steigt behutsam in einen dunklen Keller, klopft und steht bald vor der Gesuchten. »Da hat Sie was! Aber unterstehe Sie sich nicht noch einmal, mich anzureden, wenn ich auf der Straße mit jemandem in Unterhaltung bin...!« Damit reicht er ihr einen blanken preußischen Taler. Das alte Weib ist fassungslos über so viel Glück und will dem Alten die Hände küssen. Der aber zuckt unwillig zurück. »Der liebe Gott belohne Ihnen Ihre gute Tat.« »Geh Sie mir mit Ihrem lieben Gott! Ich lasse Sie auch mit meinem Siegreich-Vollendeten in Ruhe!« Womit die Szene beendet ist. Sie ist zwar erfunden, aber man wird zugeben müssen, daß sie aus Elementen seines Charakters aufgebaut ist; er hätte so handeln könne. Aber was bedeutet das?
Nach seiner eignen Philosophie wäre dies eine Tat aus Mitleid gewesen und eben deshalb eine ethische. Allein, man beachte einmal den Unterschied der Lagen und denke sich, er habe doch dem Weibe bei seiner ersten Begegnung in unserer Gesellschaft einen Groschen geschenkt - und nun diese zweite Szene allein mit ihr: so fällt einem sofort ein Unterschied in der Tiefenordnung auf; die zweite Szene im Keller ist voller, enthält einen Ton mehr, und zwar eben den, auf den es ankommt. Schopenhauer stellt hier seine Menschenwürde wieder her, die immerhin etwas gelitten hatte; ja, durch die überschwengliche Gabe eines blanken Talers hat er einen eigentümlichen Glanz erhalten, den er auch nicht versteht, weil er aus anderen Quellen stammt, als seine Philosophie sie zugeben will. Es geht ihm ähnlich wie damals vor dem Löwenzwinger. Seine Tat enthält drei ganz verschiedene Elemente, nämlich zuerst das Vergehen durch die Unterlassung der Mildtätigkeit, dann die aufrührende Gewalt des mahnenden »Soll« und drittens den Akt der Wiederherstellung durch die Gabe. Es ist also ein voller Akkord im Gegensatz zum einfachen Doppelton: Mitleid-Gabe, den die erfüllte erste Szene nur abgegeben hätte. Der führende Ton aber, der die Entscheidung bringt, ist der zweite, das Soll, und nur in ihm liegt die Wendung zur Ethik. Es ist also wohl eine Tat des Mitleids und der Barmherzigkeit, aber nicht eine Tat aus Mitleid, sondern aus dem Gesetz.
So absonderlich es auch klingen mag und so heftig der alte Herr, der im Banne seines Jugendwerkes steht, sich auch dagegen wehren würde: er ist nicht dem vorgeblich »Siegreich Vollendeten« gefolgt, sondern er hat das Gebot: »Du sollst deinen Nächsten lieben als dich selbst« gehorcht. Nur dadurch kann er die Wiederherstellung erlangen. Man kann also ruhig »Atheist« sein - was macht schon das bißchen »religiöse Überzeugung!« -, man dient Gott doch, wenn man seine Gebote erfüllt. Die aber sind dringlich da. Es geht ihm hier so, wie dem großen LAMARCK, der mit seinem falschen Satz: »Es gibt keine Arten, sondern nur Individuen« zum Ersten Namengeber der Arten wird. Das macht: Religion ist nicht Überzeugung, sondern Vorgang der Natur. Sie ist daher, wie wir allmählich sehen werden, mit der gleichen Sicherheit da, wie die Natur selber.
Das war Schopenhauers »empirischer Weg in der Ethik«.
 

7. DIE BUDDHISTISCHE BEGRÜNDUNG
Bei dieser Gelegenheit wollen wir nicht versäumen, dem sogenannten »Siegreich Vollendeten« und seinem infernalischen Buddhismus auf die Finger zu sehen. Bei ihm handelt es sich immer nur darum, das eigne Individuum - nicht die von ihm geleugnete Person - dem Leide der Welt zu entreißen, und zwar für immer, das heißt, über alle Inkarnationen hinweg. Dies geschieht von der Seite des Willens her - der im Pali »tanha« Durst heißt - durch die Askese, von der Seite des Intellekts her aber durch eine freilich hochbeachtliche Entdeckung des letzten Buddha Gotama, wonach der begriffliche Prozeß dasselbe ist wie »Ernährung« (»ohne Ernährer«) und wonach dieser, zum Stillstande gebracht, das Leben zum Aufhören bringt (nibbana = Verlöschen) und damit das Leid. Die Askese nun erreicht im alten Hinnajana-Buddhismus, dem wir allein den Primat der reinen Lehre zubilligen können, niemals die aktive Phase als Kasteiung, sondern sie bleibt passiv, indem sie nur jegliches Lustgefühl ausschaltet. Der Mönch ißt soviel als gerade eben zur Erhaltung seiner Körperlichkeit nötig ist. Das Mitleid aber wird aufgefaßt als ein Gefälle zwischen dem akut und dem nur chronisch Leidenden, das sich als Gefühl bemerkbar macht; und hier wird geboten, dem Leidenden durch einen Akt des Opfers beizustehen, um so einen Ausgleich zu schaffen. Das Motiv ist aber allemal die eigne Befreiung vom Leben, dem durch diesen asketischen Akt ein Stück Boden entzogen wird. Der andere ist ganz gleichgiltig. Man sieht also, daß die asketische Ethik im Grunde ganz und gar egoistisch ist. Diesen Geschmack wird man auch beim Lesen der wahrhaft grauenhaften Reden niemals los, und man muß sich stets vor Augen halten, daß, wenn hier von »Mitleid« und »Liebe« gesprochen wird, dies mit den Seelenzuständen im Christentum nur die Worte gemeinsam hat, sonst aber nicht einmal eine Berührungsstelle. Denn es kommt in der Ethik nicht auf den Erfolg einer Handlung an, der der gleiche sein möge, sondern allein auf die Quelle. SCHOPENHAUER, der in seiner Lehre diesen Spuren folgt, sieht ja demnach auch im Mitleid die erste Stufe der asketischen Selbstaufopferung; der folgen dann weitere, die zur »gänzlichen Mortifikation des Willens« führen und die Aufhebung der Welt zur Wirkung haben. Das wäre immerhin möglich, wenn es möglich wäre, so tief nicht zu wollen, wie es Schopenhauer meint; dann aber müßte wiederum der Wille so tief in die Natur hineinreichen, wie es Schopenhauer gleichfalls meint, und das Mitleid müßte ihn so tief begleiten können. Das alles aber ist nicht der Fall; denn der Wille reicht genau so tief in die Natur wie die Materie, deren Innenseite er ist; weiter nicht.
Wenn man also hier von »Ethik« sprechen will, so kann es nur in dem Sinne geschehen wie die Griechen das Wort im allgemeinen gebrauchten; »ethos« (lateinisch: mos) schwingt in seiner Bedeutung etwa zwischen »Lebensgewohnheit«, »Gesinnung«, »Sitte«, »Lebensart«, »Haltung«; und so kann man auch von einer »Ethik des Pessimismus« sprechen, das heißt eben von der Lebensart des Menschen, die einen bestimmten schlechten Geschmack der Welt auf der Zunge haben. Aber dieser Geschmack ist ihre Sache und geht sonst niemanden etwas an. Auch spricht man von einer »Ethik des Kriegers« und das ist seine Sache; einer »Berufsethik« - ja, wessen Sache ist das bloß? - Es gibt aber außerdem und über dem die Ethik, »sie selbst an ihrem eignen Orte«, und deren Giltigkeit begründet sich allein auf der Tatsache eines objektiven Druckes auf jene Stelle im Subjekt, die Gewissen heißt, wenn man ans Handeln denkt, und moralische Urteilskraft, wenn ans Urteilen über eine Handlung. Diese Ethik, die nicht umgestoßen werden kann, ohne zugleich das Menschentum samt der Natur aufzuheben, hat sich nicht gebildet, ist nicht geworden, sondern sie wurde entdeckt, und zwar vom Christentum.
 

8. DIE ENTDECKERROLLE DES CHRISTENTUMS IN DER ETHIK
Die Philosophie hat bisher in zwei verschiedenen Arten dem Christentum gegenübergestanden. Im frühen Mittelalter vergab die mächtige Kirche an sie den Auftrag, die Vernunftgemäßheit der Glaubenssätze zu beweisen, genau so, wie sie an die Malerei, die Architektur und die Plastik den Auftrag vergab, die Geschichte des Christentums zu verherrlichen. Der Auftrag wurde angenommen, und es entstand der Bau der Scholastik; die Philosophie wurde »ancilla theologiae«. Dieses Dienstverhältnis ist auch im Zeitalter der bürgerlichen Gesellschaft protestantischer Prägung aufrechterhalten worden. In dasselbe Zeitalter fiel aber zugleich auch die Aufkündigung, durch welche dann die zweite Art entstand, wie die Philosophie dem Christentum gegenübertrat. Es war die der Aufklärung und der Vernunft, die sich selbständig gemacht hatte und nun, den Spieß umdrehend, sagte: Religion ist soweit zulässig, als es die Vernunft erlaubt, die allein die Herrin der Philosophie ist. Charakteristisch für den höchsten hier erreichbaren Standort ist der Titel von Kants Schrift: »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«; der niedrigste aber wird erreicht durch die zahlreichen Schriften und Pamphlete des naiven Naturalismus, die im große und ganzen nur einfach zeigen, wie man ungestraft die Zunge herausstrecken kann, wenn man davongelaufen ist. Die Religion aber kommt auf jeden Fall hier auf die subjektive Seite zu stehen, ganz gleich, ob in so erhabener Art wie bei Kant, oder in der gemeinen, wie beim gewöhnlichen Aufkläricht. In der Scholastik aber stand sie immer auf der Seite des Objektes.
Dieser Akt der Aufkündigung war notwendig, und man kann ihn einfach nicht entbehren, weil ja nur durch ihn die Vernunft zeigen konnte, was sie kann und was nicht. Er war auch notwendig, um die dritte Art vorzubereiten, die allein die Sache in Ordnung zu bringen vermag: die Begegnung in Freiheit.
»Frei aber möge diejenige Sache genannt ein, die allein aus der Notwendigkeit der eignen Natur besteht und von sich allein zum Handeln bestimmt wird« (SPINOZA, Ethik, Definition VII: Ea res libera dicetur, quae ex sola suae naturae necessitate existit et a se sola ad agendum determinatur). Diese tiefsinnigste Definition der Freiheit wird uns immer wieder begegnen. Frei ist man also nicht, wenn man bloß entronnen ist, sondern nur, wenn man »aus der Notwendigkeit der eignen Natur heraus besteht und handelt«. Alle bloß entronnene Philosophie hat immerhin noch dem schwerwiegenden Einwand standzuhalten, ob es nicht besser wäre, im Dienste zu bleiben. Im Zustande der Freiheit aber hat sie allein die Möglichkeit, »reines willenfreies Subjekt der Erkenntnis zu sein, und da muß ihr denn wohl oder übel auffallen, daß die Lösung des Problems der Ethik nicht von ihr erwirkt worden ist, sondern daß diese in toto durch einen Entdeckungsakt außerhalb ihrer geschah.
Das ist schon öfter vorgekommen. Die Philosophie hat ja auch nicht das Gravitationsgesetz entdeckt, sondern das geschah außerhalb ihrer; wohl aber hat Kant die Entdeckung Newtons benutzt, um den transzendentalen Begriff der Materie zu klären. Die Entdeckung der Kugelgestalt der Erde oder der Körperhaftigkeit der Luft ist auch nicht auf ihrem Boden gefallen; aber die Philosophie verwendet sie im Prozeß der eignen Klärung. Dagegen hat Robert Mayer nicht etwa »das Energiegesetz entdeckt«, wie es immer heißt, sondern das war schon lange vor ihm als Gesetz von der Beharrlichkeit der Materie Eigentum der Philosophie, und Mayer verwandte es zur Entdeckung des mechanischen Wärmeäquivalentes. Es liegt also gar nicht in der Macht der Philosophie, darüber zu verfügen, ob dieses oder jenes Gebiet von ihr selbst oder von einem andern Territorium her bewältigt werde; sie muß abwarten, was geschieht. In der Ethik aber ist es so, daß hier das Christentum alle wesentlichen Elemente in der Hand hält. Da nun die Ethik zu den Kerngebieten der Philosophie gehört, die sie keineswegs auslassen kann, ohne ihren eigenen Bestand zu gefährden, so steht sie zu ihren Entdeckern in einem notwendigen Verhältnis, das eben durch diese Notwendigkeit das der Freiheit ist. Die Philosophie könnte sich etwa sehr wohl in einem besonderen Abschnitt über den Staat verbreiten und eine Politeia schreiben - aber sie kann es auch lassen; denn sie kann den Entdeckungsvorgang ihres wichtigsten Gebietes nicht ignorieren, ohne gegen die »Notwendigkeit ihrer eignen Natur«, das heißt gegen ihre Freiheit, zu verstoßen. Während aber das Christentum immer nur verkünden kann, vermag die Philosophie zu beweisen und darzustellen. Es gibt aber nichts Abgeschmackteres, als wenn die Religion - durch Angestellte - »beweisen« läßt und wenn die Philosophie »verkündet«.
 

9. IMMANUEL KANTS EINGRIFF IN DIE ETHIK
Es hat niemand so tief in das Wesen der Ethik hineingeleuchtet wie Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer; und da wir es hier mit Geistern ersten Ranges zu tun haben, so lohnt es sich auch hier am meisten, ihre Irrtümer kennenzulernen. Wir säßen in größerer Dunkelheit, wenn diese nicht begangen worden wären. Der eine ist ihnen beiden gemeinsam: daß sie das fremde Territorium nicht anerkennen wollen, auf dem die Ethik durch einen Akt der Entdeckung gegründet wurde. Sie halten vielmehr die Philosophie für autark und nehmen die »christliche Ethik« nur als Beispiel. Dabei sieht Schopenhauer das Christentum als einen buddhistischen Absenker an - also falsch - und bei Kant erscheint es gewissermaßen ohne Neues Testament. So haben sie beide zur Ethik eine ähnliche Stellung wie Platon zur Politik. Dieser glaubte auch, die Philosophie könne einen Einfluß auf die Gründung von Staaten haben, während in Wirklichkeit - es hat ihn in Syrakus fast den Kopf gekostet - die Entscheidung auf dem ganz anderen Territorium der Machtpolitik fiel. So blieb ihm nichts anderes übrig, als der litterarische Vater aller Utopien zu werden.
Nun ist es ja wirklich beinahe unverständlich, daß ein sonst so besonnener Geist wie SCHOPENHAUER die imperative Form der Ethik leugnen konnte: wo doch seine eigne Formulierung: »laede neminem, immo omnes, quantum potes, iuva« nicht weniger als zwei Imperative enthält. Man kann das einfach nicht erklären. Er muß von seinem Weltverneinungsgedanken besessen gewesen sein, daß er der Meinung wurde, zu einem Nichtwollen der Welt brauche man nicht besonders aufgefordert zu werden, da hierzu die bloße Erkenntnis ihres wahren Charakters genüge. Aber es ist mit Händen zu greifen, daß ein Nicht-Wollen kein ethischer Inhalt ist. Wir befinden uns gewiß jedesmal in einer ethischen Atmosphäre, wenn er an vielen Stellen seiner Werke das wohltätige menschliche Herz höher stellt als den bedeutendsten Intellekt; allein der Angelpunkt der Ethik ist damit nicht getroffen, nämlich die Stelle, von der aus die Wiederherstellung (restitutio in integrum) eingeleitet wird. Das aber geschieht vom Gesetz aus, und dessen grammatische Form ist allemal die imperativische. Es ist schon geradezu skurril, wie er in seiner sprachlichen Ausdrucksweise das Wort »sollen« vermeidet, das der Leser, dem vorangegangenen Gedanken nach, unbedingt erwartet. So in dem prachtvoll gelungenen § 10 seiner Preisschrift über »Die Grundlage der Moral«, in dem es gegen Schluß hin heißt: »Aber so strenge auch die Notwendigkeit ist, mit welcher, bei gegebenem Charakter, die Thaten von den Motiven hervorgerufen werden; so wird es dennoch keinem, selbst dem nicht, der hievon überzeugt ist, je einfallen, sich dadurch diskulpieren und die Schuld auf die Motive wälzen zu wollen; denn er erkennt deutlich, daß hier, der Sache und den Anlässen nach, also objektive, eine ganz andere, ja entgegengesetzte Handlung sehr wohl möglich war (Sperrung von mir), ja eingetreten sein würde, wenn Er ein anderer gewesen wäre.« Es mußte vielmehr heißen »eine entgegengesetzte Handlung hätte getan werden sollen«. Das bedarf hier weiter gar keiner Begründung, denn jeder, der das liest, fühlt sofort, daß Schopenhauer ausweichen will. An einer anderen Stelle, § 20, derselben Schrift spricht er vom Mitleid, »das uns aufforderte« - also der sachlich unvermeidliche aber sprachlich gemiedene Imperativ!
Hier greift nun Kants Unterscheidung von hypothetischen und kategorischen Imperativ ein, und, wenn man es kurz fassen will, so könnte man sagen: damit ist Kants allerdings tiefgreifendes Verdienst um die Ethik im wesentlichen erschöpft. Es ist aber wie ein Zauberschlag, mit dem er in das Gewirr der Worte hineingefahren ist, oder wie ein Magnet in die Eisenfeilspäne, die sich auf einmal um die Pole ordnen. Nur hat er diese reale Ordnung nicht gesehen, weil es ihm an Auge und Perspektive gebrach. Er begnügte sich mit der bloß begrifflichen Trennung
Es gehört nun ein einfacher, aber klärender Akt des Sehens dazu, um sofort zu bemerken, daß die hypothetischen Imperative (Beispiel: Sparsamkeit) auf die Seite des Subjekts gehören; sie sind Produkte des menschlichen Willens. Die kategorischen aber gehören dem Objekt zu und kommen im Subjekt an. Ohne sie ist man nicht Mensch. Ihre Inhalte werden gegeben, ohne daß der Mensch etwas dazu tun kann, genau so, wie die empirischen Dinge der Außenwelt, Bäume und Tiere und alles Gestein, gegeben werden und dabei unergründlich sind. Auf dieser Unergründlichkeit im Letzten aber beruht beider Dignität.
Von Kants Ethik kann man sagen: weniger wäre mehr gewesen. Denn hätte er sich mit dieser Bannung durch den unterscheidenden Eingriff begnügt und wäre deren Spur »auf empirischem Wege« gefolgt, so wäre diese großangelegte Ethik, die wahrlich alle Trümpfe in der Hand hielt, nicht so im Sande verlaufen. Es muß ein wahrhaft leuchtendes Auge gewesen sein, dem diese Lichter aufgegangen sind; allein, je weiter er sich vom actus concipiendi entfernte und die beschreibende und lehrende Tätigkeit fortschritt, um so mehr verblaßte das Licht und das Auge; der empirische Charakter gewann die Oberhand und verdarb ihm in actu demonstrandi sein so großes Werk. Kant konnte nämlich, nachdem er den kategorischen Imperativ entdeckt hatte, der Versuchung nicht widerstehen, auch seinen Inhalt anzugeben, und verfiel dabei dem Trug, daß dieser konstruiert werden könnte. Aber er ist naturunmittelbar und kann nur entdeckt werden. So kam jene weltbekannte Formulierung zustande, die, in einer ihrer Varianten lautet: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« - Man sieht: hier ist keine Spur einer aus dem Objekte stammenden gebietenden Kraft und auch nicht deren getreues Widerspiel in der Vernunft; sondern diese, rein dem Subjekt angehörende Vernunft kommandiert aus eigner Machtbefugnis. Und wir wissen schon von unserem Nicht-Mörder auf der zweiten Stufe seiner moralischen Laufbahn, daß er und jeder andre, der nach solchen Grundsätzen handelt, es nur bis zur Legalität bringt und persönlich gar ein fader Pedant ist, dem unsere moralische Urteilskraft die Zustimmung versagt.
Kant hat sich also durch die Formulierung des kategorischen Imperatives von der gebundenen Ethik einfangen lassen. Es ist der preußische Staat, und zwar in Zivil, der ihn in Fessel geschlagen hat; denn diese Formel macht jeden, der sie befolgt, zum geheimen »Gesetzgeber«, das heißt, zu jener fingierten Gestalt, deren man sich in der Juristerei bedient, wenn man im Streit erfahren will, was mit einem einzelnen Gesetze gemeint war. Der Leser weiß, daß wir die letzten sind, die den preußischen Staat despektierlich behandeln wollen, allein wir wollten nicht von dem gebundenen Teil der Ethik sprechen, sondern vom freien. Zudem ist der so formulierte kategorische Imperativ ein post festum; denn geschaffen wurde der preußische Staat ja von der realen Königsmacht, und die ethische Formel setzt diese heimlich voraus. Es handelt sich also um eine Ethik im partiellen Sinne, so wie man etwa von einer Samurai-Ethik spricht, nicht aber um »sie selbst an ihrem eignen Ort«.
Hierfür kann man den Beweis leicht antreten, indem man in der Geschichte nach derjenigen Stelle sucht, an der eine solche Ethik »aus reiner praktischer Vernunft« ohne objektive Basis hat Staat werden wollen. Und da treffen wir auf die Französische Revolution, die sich ja vor Kants Augen abspielte, ohne daß er an ihr die Anwendung seiner Vernunft-Ethik wiedererkannte. Denn Maximilian Robespierre dachte ja eben dies: daß die Tugend und das Gute von der Vernunft erzeugt werde und daß dieses Ereignis »Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung« werden müsse. Das war der doktrinäre Kern der Französischen Revolution, und Robespierre fühlte sich als der Priester dieses eigenartigen Schöpfungsvorganges. Das glaubte man ihm auch; denn er war eine anima candida, zudem dämonisiert durch die archetypische Macht der eignen Natur. Der neue Staat aber mußte mit Notwendigkeit dann entstehen, wenn niemand mehr da war, der diese - allein seligmachende - Lehre bezweifelte. Das aber bedeutete den fortlaufenden Auftrag an die Guillotine. Der Untergang Robespierres wurde aber dadurch hervorgerufen, daß er - was unverkennbar war - statt einer Zunahme des Guten und Tugendhaften eine solche des Bösen und des Lasters zu bemerken glaubte; da wurde er unsicher, stotterte und fiel. Man konnte ihn einfach verhaften.
 

10. DAS ETHISCHE PRIVILEGIUM
Hier hat heimlich schon der kantische Elendsweg in der Ethik begonnen. Der Vorwurf, den man so oft gegen ihn hört, seine Ethik sei »zu rigoros«, ist natürlich unbegründet. Dadurch, daß ein Imperativ als kategorisch erkannt wird, ist gesagt, daß er seiner Natur nach »rigoros« sein muß, und hier etwas abhandeln zu wollen, hat soviel Sinn als zu sagen, der allgemeine Kausalsatz sei zu rigoros. Kants Verhängnis beginnt vielmehr da, wo er versucht, den Inhalt aus dem Subjekt herauszupressen. Das alte Lied! Hier müssen Scheingebilde der Ethik entstehen, Pedanten, Tugendbolde, Pharisäer und Edel-Spießer, auf die mit Recht Schopenhauers ungeheurer Hohn fiel.
ERNST MARCUS, der in höheren kantischen Einweihungsgraden steht, und sonst ein rechter Israeliter ist, schreibt in seinem trefflichen Werk »Kants Weltgebäude«, Seite 245: »Mit einer solchen logischen Deduktion verbindet sich nun leicht die irrige Vorstellung als ob Sittengesetze aus der Form des Gesetzes ableitbar wären. Aber aus einer leeren Form läßt sich niemals ein Inhalt (aus dem leeren Raum keine Materie) ableiten. (Nun ist aber der kategorische Imperativ keineswegs bloß eine Çleere Formë, sondern der exakte Widerhall jenes Soll-Willens, sein Ç Monogrammë, für den die Sprache das Wort vergessen hat. H. B.) Vielmehr wird ein anderweit gegebener Inhalt unter das Gesetz subsumiert. Ein Gesetz wirkt also nicht in der Weise, daß die Materie (der Inhalt) aus ihm ableitbar wäre, sondern dadurch, daß die anderweit gegebene Materie ihm unterworfen wird. Wie der Verstand Naturregeln dadurch bildet, daß er die Erscheinungen unter die Kategorialgesetze subsumiert (dazwischen liegt aber der Entdeckungsakt! H. B.) so bemächtigte sich auch die Vernunft, und zwar diese zu praktischen Zwecken, des Materials, das sie in der Natur, d. h. in der fertigen Erfahrung vorfindet und das daher zum Inhalt oder Zweck unserer Handlung werden kann. Sie bemächtigt sich der Materie des Trieblebens und bringt sie unter die Form des Gesetzes (sic! H. B.). Sie beseitigt nur die motivierende Kraft des Trieblebens (Neigung und Abneigung) und ersetzt sie durch ihr eigenes Motiv (das Gesetz), nicht aber sucht sie die Materie der Handlung, die durch unsere Neigung erkennbar wird, gänzlich zu beseitigen, bringt sie vielmehr unter das Gesetz«. - Das ist nun schon nicht mehr ganz kantisch; denn die »anderweit gegebene Materie« verrückt den Standpunkt schon leise nach dem Objekt zu. Aber was ist das im übrigen für eine Verstümmelung und Entmannung der Ethik! Dieser domestizierte Trieb-Ballast soll ihr Inhalt sein! Soll jenes Ungeheure sein, an dem die Menschheit überhaupt gewogen und jedesmal zu leicht befunden wird! Dieser »Kantismus« ist nicht einmal Altes Testament, denn dort hören wir eine andere Sprache.
 

a) Abraham und die Samengründung Israels
Es bleibt uns der Atem stehen, wenn wir, im elften Kapitel des Buches Genesis eine dürre Geschlechterfolge lesend, die mit Abram, dem Sohne Tharahs, aus Ur in Chaldäa endet, plötzlich auf den Anfang des zwölften Kapitels stoßen, das gewaltig intoniert mit den weltberühmten Worten: Und der Herr sprach zu Abram: »Gehe aus deinem Vaterlande und aus deiner Freundschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das Ich dir zeigen will. Und Ich will dich zum großen Volke machen und Ich will dich segnen, und in dir sollen gesegnet sein alle Völker auf Erden.« Nähme man diesen Auftrag subjektiv, also von Abram ausgehend, so wäre er eine vollkommene Absurdität. Denn was sollte es für einen Sinn haben, daß ein hochbetagter, angesehener Mann im Stande des wohlhabenden Großbürgertums plötzlich sein Vermögen liquidiert und, sich von allen Bindungen lösend, ins Geratewohl auf die Wanderschaft begibt? Und wieso, fragt man, wäre durch diesen absonderlichen Entschluß die praktische Vernunft befriedigt, die es vorgeblich fordert, so zu handeln, daß die Maxime unseres Willens Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden könne...? Nichts davon ist hier zu spüren. Trotzdem aber ist der Imperativ kategorisch, und so wird er von Abram aufgenommen. Er gehorcht, und zwar blind eben deshalb, weil er den Auftrag nicht versteht, dabei aber genau weiß, daß er seine Wurzel ganz und gar außerhalb seiner hat. Und das nennt man dann »Glauben«. Darum heißt es »Und der Herr sprach zu Abram.« Also nicht Abram spricht. Zieht man seinen Gehorsam fort und denkt sich, er habe seiner Vernunft gehorcht, so hätte er da bleiben müssen und wäre weiter der angesehene Großbürger von Ur in Chaldäa geblieben; das war seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Ein Ungehorsam hätte zwar sein Menschentum nicht in Frage gestellt, wie das bei den gewöhnlichen Imperativen kategorischer Art der Fall ist, wohl aber hätte er sein privilegiertes Menschentum vernichtet. Sein Gehorsam aber »gegen alle Antriebe der Sinnlichkeit«, aber auch gegen alle »praktische Vernunft« ist das Ausgangsereignis der bedeutendsten weltgeschichtlichen Vorgänge geworden. Abram wird noch einmal auf die Probe gestellt im Isaak- Opfer, die er gleichfalls besteht; er kommt gar nicht auf den Gedanken, daß irgend etwas anderes in ihm bei seinem Tun bindend sein könnte als allein das, was hier aus dem dunkelsten Welthintergrunde her, aber klar vernehmlich, gehört hat. Irgendwelche Folgen waren gar nicht abzusehen. Es sind aber gleichwohl Folgen eingetreten, und zwar aus demselben Welthintergrunde, aus dem der Auftrag stammte.
Da ist zunächst eine Namensumwandlung; er findet, daß er in seinem eigentlichen Wesen nicht Abram heiße, sondern Abraham. Das Buch Genesis drückt das so aus, daß Gott spricht: »Abraham soll dein Name sein, denn ich habe dich gemacht vieler Völker Vater.« Solch ein Drängen nach dem »eigentlichen Namen« ist ein sehr dunkler Vorgang, der sich häufig bei Menschen mit privilegierter Ethik findet, und welcher etwa besagt, daß eine tiefere Schicht des Charakters zum Durchbruch gekommen ist, für welche der bürgerliche Umweltsname nicht ausreicht. Der Leser erinnert sich an jene »Priesterin der Astaroth«, die gleichfalls immer nach ihrem »wahren Namen« suchte. Diese Namenswandlung aber hätte sich bei Abraham nicht vollzogen, wenn der Akt des Gehorsams ausgeblieben wäre.
Eine zweite Wirkung ist die Begegnung mit Melchisedek, dem Könige von Salem. Es heißt (Gen., Kap. 14, Vers 18ff.): »Aber Melchisedek, der König von Salem, trug Brot und Wein hervor. Und er war ein Priester Gottes des Höchsten. Und segnete ihn und sprach: Gesegnet seist du, Abram, dem höchsten Gott, der Himmel und Erde besitzet.« - Solche Begegnungen mit Artgleichen sind ebenfalls charakteristisch für den Stand der ethisch Privilegierten, und sie vollziehen sich nach dem Gesetz der Anziehung des Gleichen. Melchisedek war das, was man einen »Eingeweihten« nennen könnte, wenn dieses Wort nicht durch den Mißbrauch der anthroposophischen Mittelstandsbewegung unbrauchbar geworden wäre. Die Griechen nannten das einen ((telestikos)) oder ((mustagogos)) und waren übrigens zur Zeit des Sokrates schon mindestens ebenso ins Schwatzen geraten.
Was aber das Erstaunlichste ist, das sich an Abraham als Wirkung seines Gehorsams vollzog, das ist die - so würden wir heute sagen - »physische Veränderung seines Keimplasmas«. Es entstand plötzlich der »Samen Abrahams«, der die Fähigkeit hat, eine bestimmte, in ihrem Glaubensleben eng und klar determinierte Menschenrasse als »persistente Mutation« zu erzeugen. Es ist dies das Volk Israel oder die Juden, deren Existenz und geschichtliche Bedeutung bis auf den heutigen Tag voll erhalten blieb. Es ist also nicht so, wie man immer sagt, daß die jüdische Religion von der jüdischen Rasse erzeugt worden sei, sondern umgekehrt: die jüdische Rasse ist durch den Glaubensgehorsam Abrahams, also durch einen religiösen Vorgang erzeugt. Wer also überhaupt die Judenfrage erörtern und dabei die Wahrheit nicht verfehlen will, der muß wissen, daß sie zuerst eine theologische ist und dann eine »Rassenfrage«. Wobei man wiederum hier unter »Rasse« etwas durchaus anderes verstehen muß als es die biologischen Lehren tun. Auf der anderen Seite muß man sehen, daß natürlich nicht etwa jener ehrfurchtserregende Glaubensgehorsam Abrahams, der ja ein einmaliges Privileg war, im Judentum vererblich ist; vielmehr unterliegt dieses als eine historische Erscheinung genau so, ja gewiß stärker als andere Völker den auffallenden Phänomen der Entartung. Das ist das, was der Jude den »ständigen Abfall« nennt. Was aber in jedem jüdischen Einzelmenschen, wenn man ihn stellt, ganz aus sich lebendig wird, das ist der erbliche Anspruch auf den Ertrag jenes »Bundes«, den, nach ihrer Meinung, der »Heilige Israels, gelobt sei sein Name«, mit Abraham und damit auch mit jedem seiner Nachkommen geschlossen hat. Denn der Jude hält fest an seiner successio seminis; diese ist gesicherter, nämlich unmittelbar von der Natur, als etwa die successio apostolica der Päpste, die nur eine historische und juridische Basis hat. Niemand weiß, was das im letzten Grunde zu bedeuten hat; sicher ist nur, daß die Entstehung des Volkes Israel durch den Glaubensgehorsam Abrahams zu den wichtigsten Ereignissen der Weltgeschichte gehört. Und es fällt einem dabei unwillkürlich jene Frage Friedrichs des Großen an seinen Leibarzt Zimmermann ein, ob er einen wirklich triftigen Beweis für das Dasein Gottes wisse, worauf dieser antwortet: »Majestät! Das Dasein der Juden.« Es ist der einzige »Gottesbeweis«, der echten Tiefsinn trägt - weil er nämlich auf empirischem Wege liegt. Die synagogentreuen Juden weisen daher mit Recht und Stolz darauf hin, daß sie das einzige Volk des Altertums sind, das mit ungebrochener historischer Befugnis heute noch lebt.
Hätte Kant dieses Bonmot Zimmermanns erfahren und bedacht, so wäre er möglicherweise zu einer Revision seiner Meinung von der vorgeblichen Schöpferkraft der Vernunft gekommen. Seine Ethik wäre ausgewaschen worden wie ein Flußbett aus Sandstein, und nur der harte Felsen des kategorischen Imperativs - ohne »Formulierung« - wäre übriggeblieben. Aber mit einer Umkehr der Stromrichtung. Denn es geht doch so bei Kant zu: Die empirischen Gegenstände der Erfahrung, kurz die »Dinge« verdanken ihr erkennbares Dasein als Erscheinungen zunächst den reinen Verstandesbegriffen, die durchweg a priori sind, sowie den reinen Formen der Sinnlichkeit, Zeit und Raum, von denen das gleiche gilt; dann aber den empirischen Naturgesetzen, die von Fall zu Fall entdeckt werden müssen. Den ersten Teil nennt er die »reine Naturwissenschaft« und von ihr gilt der weithin verblüffende Satz, daß der Verstand der Natur »die Gesetze vorschreibt«. Seine Hauptbemühung nun in der »transzendentalen Analytik« ist die Beantwortung der Frage: wie kommt es, daß jene reinen Verstandesbegriffe, obwohl sie a priori sind, also demnach zunächst bloß subjektiv, doch objektiv giltig werden (was Schopenhauer nie hat begreifen wollen, der glaubte mit seiner Brillentheorie auskommen zu können)? Der Beweis gelingt ihm ohne Zweifel durch »tanszendentale Deduktion«, bei der es sich als ganz natürlich herausstellt, daß der »bloßen Erscheinung« »Dinge an sich selbst« zum Grunde liegen, die objektiv vorhanden sind, aber außerhalb der Erkennbarkeit liegen. Eine Veränderung in den empirischen Dingen bin ich also gezwungen, nach dem mir a priori gegebenen Gesetz der Kausalität als mit einer Ursache im Objekt notwendig verknüpft zu betrachten. Daß aber die Veränderung überhaupt eintritt, das liegt in der Sphäre der Dinge selber; ARISTOTELES würde sagen: im »Grunde«, ((ousia)) der Dinge, der aber, obwohl unerkennbar, doch eben da sein muß und zwar rein objektiv gegeben bis in den letzten Welthintergrund hinein gesichert und unaufhebbar. (Schopenhauer fährt hier empört hoch bei diesem - zweifellos allein richtigen - Gedanken) Das wäre der »der gestirnte Himmel über mir«.
Nun aber gibt es in uns nicht nur jene kategorialen Formen des Intellektes, die das Band der Notwendigkeit herstellen, sondern auch das Sollen in kategorischer Form. Dem entspricht natürlich kein empirischer Gegenstand, weil ja eben das, was sein soll, nicht ist. Daraus aber kann nicht gefolgert werden, daß ihm überhaupt nichts entspricht, daß es objektlos ist und kein vis-à-vis hat. Ethische Handlungen - als Gegenteil der Anpassung - kommen ja vor, und wenn man schon bei denen, die sich im Bezirke der gebundenen Ethik abspielen, wegen ihrer schließlichen und endlichen Vernünftigkeit auf den Verdacht kommen kann, sie stammen deshalb aus der Vernunft, so wird das ganz unmöglich bei den ethischen Privilegien,. Denn diese fordern ja etwas gänzlich Neues, das immer als Paradoxie und Absurdität auftritt. Abraham handelt gegen alle Vernunft, man mag diese drehen und wenden wie man will, und doch ist der Imperativ, unter dem er steht, kategorisch. Er aber, der es doch wissen muß, würde mit Bestimmtheit sagen, daß dieser Auftrag eben nicht von ihm und seiner Vernunft stammt, sondern seine Wurzeln außer ihm hat. Er ist durch und durch heteronom. Und dies allein macht den Auftrag giltig und verbindlich. Ein anderer, der in der gebundenen Ethik befangen ist, kann das nicht wissen, denn ihm fehlt die Erfahrung des originalen Auftrages. Auf das Zeugnis des Abraham aber und jedes anderen seiner Art kann man sich verlassen. Denn es ist ja doch so, daß die gesamte Kultur aus originalen Impulsen stammt, die für den jeweiligen Träger als ethische Privilegien auftreten. Wer den ersten Tempel baute, das erste Götterbild schuf, den ersten Heldengesang anstimmte, das erste Lied erfand, der tat das unter Druck und Auftrag einer unbekannten Macht, und zu jedem von diesen hätte eine Stimme sagen können: »Gehe aus deinem Vaterlande ...!« Denn was heißt das anderes als dies: »Verlaß den weiteren Prozeß der bloßen Anpassung und diene allein diesem dir zunächst unbekannten Werk, für das aber du allein verantwortlich bist!« Von jedem Maler, jedem Musiker, jedem Dichter wissen wir, daß er aus dem unbekannten Dunkel des Welthintergrundes einen privilegierten Auftrag empfing, zu dem er genau so steht wie Abraham zu dem seinen. Und der muß schon Glück haben, wenn das ohne Gefährdung seines Lebens abgeht.
Auf jeden Fall aber steht immer Ethik gegen Anpassung. Die Anpassung ist eine Funktion des Biologischen, die jedem Lebewesen anhaftet, wie der Stoffwechsel, und die dauernd tätig ist. Die Ethik dagegen ist als deren gerader Gegenpol eine Funktion des Metaphysischen, die über den kategorischen Imperativ eine unmittelbare Beziehung zum Welthintergrunde herstellt. Wie die Anpassung in der lebendigen Substanz wirkt, so wirkt die Ethik in der Freiheit als in ihrem Medium. Sie bezieht sich gleichfalls auf den Willen, und zwar auf denselben, der als Innenseite der Materie allen Lebewesen gemeinsam ist, nur hier unter höchster konkreter Wachsamkeit der Vernunft. Die Ethik ist die einzige Stelle, an der die Vernunft konkret wird, das heißt, mit ihrem Gegenstande zusammenwächst, ein Phänomen, das wir sonst nur beim Verstande (im richtigen schopenhauerischen Sinne) kennen. Anpassung und Ethik verhalten sich daher wie Gravitation zu Repulsion, ohne welche - auch nach Kants tiefer Einsicht - die Materie nicht bestehen könnte. Sie gehören zu ihren »Prädikabilien«.
Das »moralische Gesetz in mir« sieht also nicht so aus, wie KANT es sich denkt. Die praktische Vernunft erzeugt nicht, denn zeugen kann nur die Natur. Sie enthält nur den kategorischen Imperativ in mir und alles, was er aussagt (Unbedingtheit, Notwendigkeit); alles andere kommt vom Objekt und wird als Auftrag entgegengeworfen. Während aber die Kategorien des Verstandes ein empirisches Objekt in der Gegenwart vor sich haben, fehlt dies beim kategorischen Imperativ; dieser ist vielmehr unmittelbar metaphysisch (nicht transzendental) an den Welthintergrunde angeschlossen, reicht demnach in die Tiefe der Natur, aus der er gespeist wird, und nun wird im Falle des Gehorsams der empirische Gegenstand in der Zukunft geschaffen. Diese Zukunft kann ein Augenblick sein und ist es sogar in statu nascendi. Denn im Augenblick des Gehorsams Abrahams trat das empirische Ereignis der Samenwandlung ein, die später in der Geburt Isaaks als Mutation einer Menschenrasse durchbrach. Wäre der kategorische Imperativ eine »leere Form«, so wäre der Vorgang unerklärlich, da nur Seiendes auf Seiendes wirken kann. Er ist aber das »Monogramm« jenes Soll-Willens, den die Sprache vergaß. Dieser lag hart neben dem gewöhnlichen »Willen in der Natur«, dessen Objektivation die Genitalien und die Samenflüssigkeit Abrahams waren. Durch den Glaubensgehorsam nun, einen zunächst nur inneren Akt, wurde jener Soll-Wille aktiviert und griff gründend und verwandelnd in den gewöhnlichen Willen ein. Wäre der Akt des Gehorsams nicht erfolgt, so wäre alles beim alten geblieben. Der kategorische Imperativ aber - von Kant unterschätzt - hat die entscheidende Rolle gespielt, und nur so konnte jenes Wunder geschehen, das tatsächlich vorliegt. Es wäre unerklärlich, wenn nicht der subjektive Hintergrund der empirischen Dinge, zu denen auch »Abram« gehört, also sein »an sich selber sein«, und der objektive Hintergrund des kategorischen Imperativs für einen Augenblick dasselbe gewesen wären. Demnach wird die Lagerung der Ethik bestimmt durch die Lage der Naturachse, und man muß Auge und Perspektive haben, um das deutlich zu sehen. Beides fehlte Kant, und darum konnte er nur vom moralischen Gesetz »in mir« sprechen, das allerdings und mit Recht allein schon seine höchste Bewunderung erregte. Der Heteronomie der Ethik aber ist gar nicht auszuweichen - das setzt sie nicht herab, wenn man weiß, wer hier der Heteros ist.
Daß aber die Vernunft unmittelbar aus sich selbst heraus »praktisch« werden könnte und also letzten Endes die Erzeugerin der gesamten Kultur wäre, das ist ein unvollziehbarer Gedanke gleich dem, daß durch Bewegung der Materie allein ohne bildende Kräfte ein organisches Wesen entstünde. Daher gelingt es Kant auch nicht, bei der Konstruktion ethischer Handlungen »aus reiner praktischer Vernunft« den Zuschlag unserer moralischen Urteilskraft zu erwirken; vielmehr bleiben diese von ihm gemeldeten Beispiele allemal im bloß Legalen stecken, und der beißende Hohn Schopenhauers über diese hölzernen Vernunftgebilde wirkt wie eine Befreiung von einer naturlosen Ethik, die nicht der wirkliche Gegenpol der Anpassung ist. »So soll ich z. B. fremde Glückseligkeit zu befördern suchen, nicht, als wenn mir an deren Existenz was gelegen wäre,......sondern bloß deswegen, weil die Maxime, die sie ausschließt, nicht in einem und demselben Wollen als allgemeines Gesetz begriffen werden kann (es sei durch unmittelbare Neigung, oder irgend ein Wohlgefallen indirekt durch Vernunft)« (Metaphysik der Sitten, S. 89 der Erstausgabe von 1785). Das meint Schopenhauer mit seinem Hohn, und unsere ethische Urteilskraft stimmt ihm zu.
 

b) Jeanne díArc und die Gründung des königlichen Frankreich
Wir verbleiben auf dem empirischen Wege unter transzendentaler Kontrolle und entdecken dabei, daß die privilegierte Ethik in der menschlichen Geschichte allenthalben wiederkehrt und dabei stets analog verläuft. (Wahrscheinlich ist die Methode, der wir uns hier bedienen, Max Steiners »reine Erfahrung«.) Wenn wir etwa das Leben der Jeanne díArc betrachten, so fällt es auf, daß die Struktur ihres Handelns fast völlig mit der Abrahams übereinstimmt. Sie ist von Geburt an ein einfaches Bauernmädchen in einem lothringischen Dorfe, das seinem Vater die Schafe weidet, und erhält plötzlich den Auftrag, das von den Engländern belagerte Orléans zu entsetzen und den Dauphin als Karl VII. in Reims zum König von Frankreich zu krönen. Also auch hier das »Gehe aus deinem Vaterlande...!« Auch hier die volle Vernunftwidrigkeit und Absurdität; auch hier ferner der Gehorsam und die volle Zuversicht, daß durch ihn das Werk gelingt. Und es ist auch gelungen; denn alle Welt gibt zu, daß durch ihren Eingriff die geschichtliche Wende in der verzweifelten Lage geschah, und man nennt sie mit Recht die Gründerin des einigen Frankreich bis zur Revolution. Ohne sie gäbe es dieses Frankreich nicht. - Auch die Tendenz der Namensänderung findet sich, wenn auch schwach angedeutet. Bei ihrem ersten öffentlichen Verhör am 21. Februar 1431 gibt sie zu den Personalakten an, daß sie in ihrer Heimat »Hannchen« genannt wurde. »Seitdem ich nun in Frankreich lebe, nennen sie mich Johanna«* Außerdem aber heißt sie auf einmal »die Jungfrau« (la pucelle). Und hier liegt offenbar wieder ein physischer Prozeß vor, wie bei der Samenwandlung Abrahams. Denn das, was hier Jungfrau heißt und was als Prägung der Natur entstand, ist nicht mit dem bürgerlich-biologischen Begriff gleichen Namens zu verwechseln, der gang und gäbe ist. Dieser nämlich ist rein negativ und beim jugendlichen Weibe ganz und gar auf den Moment der Beendigung abgestellt; beim alternden aber wird das Jungferntum zur ƒrgerlichkeit, auch wenn es noch so sehr in Ehren verdient ist. Beim Manne kommt eine analoge Erscheinung nicht vor, und die Sprache hat sogar darauf verzichtet, hier ein Merkmal zu setzen. Bei Johanna aber ist die Jungfräulichkeit positiv, eine durchdringende und hinreißende Eigenschaft ihres Charakters, den sie sich durch den Akt des Gehorsams erworben hat, ohne es zu wissen. Die Natur hat hier einen besonderen Stempel aus ihrer eignen Tiefe heraufgeholt, um das zu prägen - »è poi rupe lo stampo«. Jungfräulichkeit im positiven Sinne gibt es nur im Kraftfeld ethischer Privilegien; alles andre ist Dressur.
Darum kann man die Abgeschmacktheit SCHILLERS in seiner vorgeblichen »Jungfrau von Orléans«, die nach einem Ausspruche ihres Retters BERNHARD SHAW »nicht einen einzigen Berührungspunkt mit der echten Johanna noch überhaupt mit irgendeinem weiblichen Wesen« hat, nicht genug verwerfen. Denn Schiller läßt sie auf dem Schlachtfelde sterben, nachdem sie sich »in sündigen Flammen eitler Erdenlust« in einen englischen Offizier verliebt hat. Solche typischen Untaten des »deutschen Idealismus« verdienen gebrandmarkt zu werden, da diese elende Dichterei die historischen Gestalten und zugleich die Nation lächerlich macht, die solche Produkte bewundert. Johanna hat nie um ihre Jungfräulichkeit kämpfen müssen, denn diese war nie in Gefahr; sie ist nicht das Produkt der Askese, sondern trägt den Stempel der Natur, auf den sie sich verlassen konnte.
Den wichtigsten Beitrag aber zur philosophischen Grundlegung der Ethik liefert der Prozeß Johannas. Bekanntlich wurde sie im Jahre 1431 nach einem ausgiebigen Verhör, dessen Akten noch vorliegen, wegen Ketzerei und Zauberei vom Inquisitionsgericht in Rouen zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt und lebendig verbrannt. Das Urteil wurde indessen revidiert, so daß im Jahre 1456 ihre Rehabilitierung erfolgte. Die Sache ging durch die Jahrhunderte weiter, so daß im Jahre 1908 ihre Seligsprechung, 1920 ihre Heiligsprechung ex officio verkündet wurde. Das ist immerhin ein erstaunlicher und ganz eigenartiger Vorgang; denn er bedeutet die bis ins äußerste Extrem gehende Umkehrung des kirchlichen Standpunktes. Die aber liegt in der Sache begründet, und der historische Vorgang war so bedeutend, daß er die Gemüter nicht zur Ruhe kommen ließ. Denn wenn man nämlich den Kernpunkt des ersten Prozesses von 1431 herausschält, und alles übrige beiseite läßt, so handelt es sich nur um die eine Frage: waren die von der Jungfrau behaupteten »Stimmen« und Gesichte, durch welche sie den Auftrag erhielt, Halluzinationen, also subjektiver Natur, oder entsprach ihnen etwas im Objekt? Das heißt also: ging die Kraftwirkung Johannas von ihr aus oder umgekehrt zu ihr hin und durch sie in die geschichtliche Wirklichkeit? Nahm sie also den zur Verwirklichung des kategorischen Imperativs vorgesehenen Verlauf? Nun findet man, wenn man die Protokolle der einzelnen Vernehmungen durchliest, allerhand subjektives Material, so etwa, daß sie die »Stimmen der Heiligen Katharina und Margarete« zuschreibt, die ihr erschienen seien, und deren Gewandungen sie beschreibt. Es fällt aber auf, daß für sie schließlich diese Stimmen bloße Boten sind, hinter denen Gottes Wille steht. »Die Stimme tönt auf göttliches Geheiß« (24. Febr. 1431). Und dem ist sie bereit, ohne jedes Wanken zu folgen; sie fällt ihre ethische Entscheidung ganz furchtlos und klar auch gegen die Autorität der Kirche, der sie sich im übrigen als gläubige Katholikin unterwirft. Sie läßt hier gar nicht mit sich handeln, und sie weiß und spricht es aus, daß ein Ungehorsam dieser Stimme gegenüber ihren eigentlichen Untergang bedeuten würde. Die Halluzinationen, die sie tatsächlich hat, sind also nur aufgewühltes psychisches Terrain, durch das quer hindurch der objektive Auftrag tönt.
Das Inquisitionsgericht von 1431 aber hat sich auf den anderen, den subjektiven Standpunkt gestellt und kam daher zu dem Urteil, daß es sich um »lügenhaftes Erfinden göttlicher Offenbarung« handle; hieraus allein folgte die Verurteilung. So würde heute jeder Psychiater plädieren, nur mit dem Unterschied, daß er alle solchen Erscheinungen nur aus dem Psychischen ableiten würde, auch den Auftrag an Abraham, während das Inquisitionsgericht natürlich wußte, daß es »((mania theia))« und »((mania ek noshmaton anthropinon))« gibt. Es hat sich nur in diesem Falle auf die Seite der Manie aus menschlicher Erkrankung gestellt. Aber auch Kant könnte mit dem Falle Johannas nichts anfangen. Deren ethisches Verhalten ist zwar ein Musterbeispiel für den kategorischen Imperativ, aber sein Inhalt widerspricht ja durchaus der »praktischen Vernunft« und ihrer Interpretation. Denn dieser Inhalt wird gegeben vom Objekt her aus völlig undurchdringlichem Grunde, genau wie die Inhalte der empirischen Außenwelt - und aus demselben Grunde. Johanna aber hat diesen Inhalt, der auf sie allein kraft privilegierter Ethik gemünzt war, entdeckt und hat ihm gehorcht. Diesen Tatbestand hat die Kirche durch den jahrhundertelang währenden Revisionsvorgang zugegeben und sich damit ein unsterbliches Verdienst - contra se ipsam - um die Wahrheit in Sachen Ethik erworben. Sie hat sich auf den Standpunkt Johannas gestellt.
Es spielt dabei keine Rolle, daß die Anlässe für die Aufnahme der einzelnen Revisionsetappen bis zum Extrem der Heiligsprechung rein politischer Natur gewesen sind. Es bleibt immerhin etwas übrig, was nicht politisch ist, nämlich die Hauptsache. Daß die Kirche mit den beiden letzten etwas hastig aufeinanderfolgenden Etappen (1908ó1922) politische Vorteile im laizistischen Frankreich der letzten Republik hat erwerben wollen, das ist occasio, causa, Anlaß, und berührt nicht den wahren Grund ((ousia)), der in der Sache selber ruht und ohne den die Revision gar nicht möglich, weil unglaubwürdig gewesen wäre. Die Sache selbst aber besagt, daß es ethische Privilegien gibt, deren Echtheit in ihrem objektiven Ankergrunde liegt. Der Beweis hierfür ist oft schwer zu erbringen, da die menschlichen Handlungen durch den empirischen Charakter unter dem Drucke der Erbsünde stehen. Im Falle Johannas war das auch keineswegs leicht; denn sie gab durch manche Züge in ihrem Benehmen immerhin zu Zweifel Anlaß; sie war, wie Shaw sich ausdrückt, »unausstehlich«. Es wird sich also immer um einen Indizienbeweis handeln. Gibt man aber überhaupt das Bestehen ethischer Privilegien zu, so gilt auch gleich der Satz, daß sie gegenüber allen anderen Forderungen den Vorrang haben. So auch gegenüber dem Dekalog. Johanna ist sich bewußt, daß sie um ihrer Sendung willen ihren alten Eltern einen unversiegbaren Kummer bereiten muß; ein Verstoß gegen das vierte Gebot ist unvermeidlich. Sie begeht ihn, wissentlich, und mildert ihn nur dadurch, daß sie ihre Eltern in einem Brief um Verzeihung bittet. -
Der Prozeß Johannas also, immerhin ein gedanklicher Vorgang, der sich fast auf ein halbes Jahrtausend erstreckt, beschäftigt sich mit demselben Thema, das auch die hier vorgetragene Philosophie auf die Hörner nimmt: die Umkehrung des Objekt-Subjekt-Verhältnisses zugunsten des Objektes. Durch sie wird die Reformation und Wiederherstellung der Philosophie bewirkt. Daß sich die Kirche nicht damit begnügte, Johanna Satisfaktion zu geben, sondern sie durch Heiligsprechung in den höchsten Stand erhob, den sie zu vergeben hat, ist ein Anzeichen für die Wichtigkeit des Prozesses im doppelten Sinne. Das gilt auch dann, wen eine lückenlose Kette rein politischer Motive angenommen wird, durch den er jemals in Gang kam. Es hat aber in der Kirche zu jeder Zeit Männer gegeben, die, gleichfalls in lückenloser Kette, allem, was in ihr und außerhalb ihrer geschah, geistig weit überlegen waren; sie treten meist nicht in Erscheinung, aber ohne ihre Existenz, als Katalysatoren etwa, geschieht überhaupt nichts. Abraham begegnet Melchisedek. Und so kann man sich bei der zunehmenden Bedrängnis, in welche das Gesamtchristentum in diesem Zeitalter gelangen wird, sehr wohl rein politische Konstellationen vorstellen, in denen eine Revision der Akten Martin Luthers nötig wird, auch wenn sie nicht zu jenem extremen Ende führt. Denn schließlich ist die Kirche Christi eine weitaus wichtigere Sache als das Bestehen irgendwelcher Nationalstaaten, deren Vergänglichkeit geschichtsnotorisch ist. Wenn Luther auch noch weit unausstehlicher war als Johanna, durch keinen weiblichen Charme gemildert, so war doch die Sache, die er vertrat, umso universaler; und er, nicht Zwingli oder Calvin, ist der tragende Geist alles dessen, was man Protestantismus nennt, und dessen Kern die unabdingbare Freiheit des Gewissens und der Erkenntnis ist. Man glaube aber nicht, daß solch ein geschichtlicher Vorgang sich mit Formeln wie »Rückkehr zur Mutterkirche« erschöpfen läßt - jenes feige Unterkriechenwollen, wie es sich im Konvertitentum ausdrückt -, sondern hier muß eine günstige Stunde abgewartet werden, in der ohne Verrat an den geistigen Gütern der Reformation die Revision vollzogen werden kann. Denn »alle Ketzerei beruht auf Übertreibung« (BERGENGRUEN).
 

11. ÜBER DIE »BEGRIFFLICHE ALLGEMEINHEIT« IN DER ETHIK
Kant war mit der Entdeckung des kategorischen Imperativs ein großer Wurf gelungen; aber er verfolgte den Weg in Richtung auf das Objekt nicht, sondern, indem er zur Feder griff und interpretieren wollte, was eine glückliche Stunde ihm gab, verfiel er dem Druck seines empirischen Charakters, der offensichtliche Spuren von Dürftigkeit aufweist. Er bog in die gebundene Ethik ab und wurde so der Gefangene des preußischen Staates. Man kann freilich bei einem so großen Geiste wie ihm nicht annehmen, daß der wahre Sachverhalt spurlos an ihm vorübergegangen sei; denn sonst ließe sich seine »größte Verwunderung über das moralische Gesetz in mir« nicht erklären. Der berühmte Ausspruch, der für die Mehrzahl der Menschen der einzige ist was sie von KANT wissen, hinkt ja offensichtlich dadurch, daß sein Pendant, der »gestirnte Himmel über mir« die volle Ladung des Objektes hat, während jener im Subjekt verharrt und nicht heraus kann. Wahrscheinlich hat KANT bei seiner Formulierung in den Worten von der »allgemeinen Gesetzgebung« die andere Bedeutung von »allgemein«, nämlich die begriffliche, im Augenblicke des Niederschreibens vergessen, ja verdrängt, und unterlag nun dem Zwang, den alles Niedergeschriebene auf den Geist ausübt und der den Sokrates und Platon veranlaßte, erhebliche Einwände gegen die Erfindung der Buchstabenschrift zu machen (Platon Phaidr. St. 275).
Die begriffliche Allgemeinheit der ethischen Handlung aber kommt auf folgende Weise zustande und ist nur am privilegierten Falle aufweisbar: Der Auftrag meldet sich zunächst bei der erwählten Person durch starke psychische Störungen an; es kommen schwere Träume, Visionen, Stimmen, die Kontinuität der logischen Prozesse wird in Mitleidenschaft gezogen, und das Bewußtsein seiner selbst kommt bis dicht an die Gefährdung. Nun setzt, als ein Rettungsversuch, der begriffliche Prozeß ein, der die Frage stellt, ob hinter diesen Störungen etwas Objektives steht, dessen Vorposten sie sind; es setzt ein Ringen um die Giltigkeit ein. Wird, was der seltene Fall ist, endlich ein Zipfel des Objektiven gefaßt, so dringt der begriffliche Vorgang weiter ein und stellt die Frage nach dem Inhalte dieses Auftrages, während zugleich sich die psychischen Zerrüttungen zu legen beginnen. Dann kommt der Moment des vollen Kontaktes, in dem sich Subjekt und Objekt gewissermaßen berühren, und das ist der Höhepunkt der Krisis, der, wenn er durchgehalten, mit der Formel faßbar ist: Handle so, daß, wenn es unendlich viele Personen von deiner Einmaligkeit, also unendlich viele Abram oder Johanna gäbe, sie alle so handeln müßten wie du.
Hier wird nun wieder der Individualbegriff sichtbar, dem wir schon früher begegnet waren. SCHOPENHAUER wies nur vom logischen Standpunkte auf ihn hin, wenn er sagte, »Sokrates« heißt »alle Sokrates«; wir fanden ihn in Funktion als Symbioten des Eros, und hier stoßen wir auf ihn als Axiom der Ethik im Falle des Privilegiums. Es wird auch dem Leser jetzt klar werden, weshalb wir stets nur das Wort Person brauchten und nie Persönlichkeit sagten; denn erst hier ist deren Geburtsort gefunden. Die Person ist Gegenstand des Eros und des Individualbegriffes; sie enthält nichts von einem Wert. Die Persönlichkeit beginnt erst mit der Ethik, und hier geht es nur um den Wert. Da das Wort aber häßlich ist, zudem abgegriffen und von Goethe in einen schlechten Reim gebracht, so werden wir es weiter vermeiden und es dem Scharfsinn des Lesers überlassen herauszufinden, was wir jedesmal meinen.
Diese Peripetie in der privilegierten Ethik bedeutet also die volle Entblößung des Kernes der Person von allen psychischen Umlagerungen und deren Zuwendung zum objektiven Welthintergrund, der sich in diesem Fall wiederum - so berichten einstimmig alle davon Betroffenen - als Person, und zwar als befehlende, offenbart. Die Bibel nennt diesen Vorgang »das Angesicht Gottes schauen«. Es scheint uns so, als ob die mit gutem Recht berühmt gewordene Szene (1. Mose 32, 24 ff.), in der Jakob, Abrahams Enkel, mit dem fremden Manne ringt und in der die Worte fallen »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«, eben dies meint; sie endet zudem mit der Namenwandlung Jakobs in Israel.
Man sieht also mit aller Deutlichkeit: die hier beschriebene ethische Situation, die ja zu den bedeutendsten und ruhmreichsten, vor allem aber zu den gründenden gehört, läßt sich keineswegs in die Formel fassen: »Handle so, daß die Maxime deines Wollens Grundlage für eine allgemeine Gesetzgebung werden kann«; denn es kann in solcher Lage immer nur je einer den Akt des Gehorsams vollziehen, und doch ist dieser von »allgemeiner begrifflicher Giltigkeit« und ist auch kategorisch. Es liegt ihm aber die Giltigkeit des Individualbegriffes zu Grunde. Man wird dadurch eine giltige Person. Und es ist auch die Vernunft, die hier ständig arbeitet mit bohrender Klarheit; aber ihre Tätigkeit erschöpft sich darin, daß sie dem verhüllten Auftrag, der vor ihr und ohne sie da war, auf die Spur kommt und diese bis auf ihren letzten Grund verfolgt. Den aber muß sie stehen lassen, wie die »Dinge an sich.« Es war Kants Unglück, ihr schöpferische Fähigkeiten beizulegen, und so gelang es ihm auch nicht, mit seiner Entdeckung des kategorischen Imperativs ins Freie vorzustoßen.
Es ist ihm aber aufgefallen, und er hat es ausdrücklich gesagt, man könne nie mit Sicherheit behaupten, daß so etwas wie ein kategorischer Imperativ wirklich vorkomme und erfüllt werde. Die Natur hat den schützenden Mantel der hypothetischen Imperative um ihn gelagert, wie als wolle sie den Menschen davor bewahren, ganz genau senkrecht und geradlinig gegen das Gesetz der Anpassung zu verstoßen. So ist etwa die Wahrheit, »sie selbst an sich und an ihrem eignen Ort«, zweifellos Inhalt des kategorischen Imperativs, weil, wenn ich zugeben wollte, daß ihr Gegenteil ebenso berechtigt sei, ich damit die Grundlage der menschlichen Gesellschaft, also auch die für ein Gespräch oder ein Buch, aufheben würde. So spiegelt es sich in der Vernunft, so »begründet« es sich, ohne daß es deshalb darin »gründet« im Sinne von Ankergrund. Das logische Rüstzeug zur Wahrheit aber steht auf jeder ihrer Rangstufen vom Einmaleins bis zur Metaphysik immer zur Verfügung, und es gibt wahrlich keine törichtere Frage als die: »Was ist Wahrheit?« Nämlich, weil das jeder weiß. Allein der Auftrag an den Denker besteht ja nicht darin, am Leitfaden der Syllogismen Folgerungen aus gegebenen Prämissen zu ziehen, die schon vorher - in Büchern - da waren; das ist vielmehr die Tätigkeit des philosophischen Gelehrenstandes. Sondern der Auftrag an den einzelnen Denker, der auch jedesmal eine neue Inkarnation ist, liegt darin, unter dem freien Drucke des Welthintergrundes ein Gedankengebäude wie aus dem Urgestein herauszumeißeln, das Auskunft über den Bau der Welt und deren Bedeutung gibt. Dieser Vorgang aber steht unter kategorischer Befehlsgewalt.
Dem Denker liegt also der Dienst an der Wahrheit als seiner gestrengen Herrin ob, und die Formel für diesen Dienst ist der kategorische Imperativ. Das gleiche gilt für alle, die etwa als Künstler dazu berufen sind, eine Reihe von Handlungen »von selbst anzufangen«. Und sie haben bestanden, wenn sie ihr Leben ohne Rücksicht auf ihre eignen Wünsche nur um der Sache selber willen geführt zu haben. Das weiß jeder von ihnen. Nun ist es aber ganz unvermeidlich, daß sich im Laufe eines langen Lebens, in dem sich der harte Kampf vollzieht, ein anderes Motiv unterschiebt, das einige Erleichterung gewährt, aber eben nur hypothetisch ist, der Gedanke etwa an den eignen Ruhm bei der Nachwelt. Ganz unwillkürlich spendet unsere moralische Urteilskraft einer solchen Haltung die größte Bewunderung und wir wissen ja, daß der antike Mensch in seiner Ethik ganz diesem Gedanken lebte, der einen vornehmen Verzicht auf die Berühmtheit bei den Zeitgenossen enthält. Der Denker aber hat vor allen anderen den meisten Grund, sich dieser tröstenden Zuversicht zu ergeben; denn ihm ist es bei der langsamen Wirksamkeit seines Werkes am meisten beschieden, auf den Beifall der Zeitgenossen verzichten zu müssen. Trotzdem aber ist auch der Dienst am eignen Nachruhm nur ein hypothetischer Imperativ, in dem freilich, um die Bewunderung herauszufordern, der kategorische enthalten sein muß. Die Gründung des Nachruhmes in einem großen und unbefleckten Namen ist aber nicht dasselbe, wie jene ganz interne Namenswandlung im Vollzuge des Gehorsams, sondern es bleibt immer der Name vor den Menschen, der die geheime und unaussprechbare Berufenheit mitzieht. Diese selbst aber steht vor einem andern Richter. Und das dunkle, aber ganz sichre Gefühl, daß es hier ums Ganze geht, hat die großen Denker nie verlassen. Sie wissen, daß ihr Leben verloren ist, wenn es ihnen nicht gelingt, den Auftrag durchzuführen, und daß sie nicht sagen können: »Wenn ich es nicht schaffe, so schafftís ein andrer.«
Es ist nämlich so - und das weiß man dort unausgesprochen -, daß, wenn hier etwas passiert, an der Naturstelle, die der Denker einnimmt, die ganze Natur daran teilhat. Denn der Genius ist, jedenfalls im Augenblicke der Konzeption, selber Organ der Natur und, wenn der Funke vorbeispringt, dann ist ein Unheil geschehen. Die Philosophie trennt zwar in einem analytischen Verfahren die einzelnen charakteristischen Ordnungsteile der Natur voneinander und kann darin nie sauber genug verfahren; sie definiert also der Reihe nach etwa vom Subjekt aus in Richtung aufs Objekt: Vernunft, Verstand, die Urteilskräfte, das Schema, die Idee, den Willen, die Materie: aber die Natur selber ist eine synthetische Einheit, kontinuierlich. Dort nun, wo der Genius steht, finden reine Ereignisse statt, deren Träger der Geist ist, den es nur hier gibt und den man keineswegs mit dem bloßen Intellekt, Vernunft und Verstand, verwechseln darf. Die Wahrheit aber kann demnach sehr wohl rückwirkende Kraft auf den Willen und damit auf die Materie haben. Dies gilt aber nur, falls die Vernunft nicht etwa eine hergelaufene Sache ist, wie bei Schopenhauer und dem naiven Naturalismus, sondern im subjektiven Pol der Naturachse liegt, wie es Kant beinahe gesehen hat. Freilich darf es dann - ernsthaft - keine »Vernunftideen« geben. - So also ist der Dienst an der Wahrheit allerdings wie ein heiliges Opferfeuer, das nie ausgehen darf und das von der Philosophie immer wieder aufs neue angefacht werden muß.
 

12. KANT UND DAS PROBLEM DES SELBSTMORDES
Es gibt in Kants »Metaphysik der Sitten« eine Stelle, deren Klang und deren Worte fast die Erwartung erregen, als sei er hier zur eigentlichen Tiefe und Freiheit durchgedrungen. Dort bringt er nämlich anstelle jener legislativen Auslegung des kategorischen Imperativs eine andere, in der er nicht von einer »allgemeinen Gesetzgebung« - de lege ferenda - spricht, sondern nur von einem »allgemeinen Gesetz«; aber es kommt noch deutlicher; denn kurz darauf heißt es: »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (Seite 52 der Erstausgabe von 1785). Das hört sich doch so an, also ob die Natur, die wir kennen, durch die ethische Kraft von innen her verwandelt werden könnte, so daß sie nicht mehr den Kategorien des Verstandes und den empirischen Naturgesetzen unterliege, sondern den Kräften der Ethik. Ein wahrhaft kühner Gedanke! Wäre Nietzsche auf ihn gekommen, er hätte nur in Dithyramben weiter gesprochen. Aber bei KANT ist das anders. Sein eingeschränktes Gemütsleben läßt so etwas nicht zu, und so lesen wird denn hart hinter dieser hochgestimmten Stelle mit zunehmender Ernüchterung, daß er nunmehr als Beispiel »einige Pflichten herzählen« wolle »nach der gewöhnlichen Einteilung derselben in Pflichten gegen uns selbst und gegen andere Menschen, in vollkommene und unvollkommene Pflichten«, denn es ist ihm, wie er später sagt (Seite 61), um die »Lauterkeit der Sitten« zu tun. Wir wollen diese - versteht sich - nicht angreifen, aber eben hörten wir noch einen anderen Ton. Da ist zunächst »Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, ein Überdruß am Leben empfindet« und die Absicht hat, sich das Leben zu nehmen. Seine Maxime ist: »Ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, daß wenn das Leben bey seiner längern Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen.« »Es frägt sich nur noch« - wendet KANT ein -, »ob dieses Prinzip der Selbstliebe ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Da sieht man aber bald, daß eine Natur, deren Gesetz es wäre, durch dieselbe Empfindung, deren Bestimmung es ist, zur Beförderung des Lebens anzutreiben, das Leben selbst zu zerstören, ihr selbst widersprechen und also nicht als Natur bestehen würde, mithin jene Maxime unmöglich als allgemeines Naturgesetz stattfinden könnte und folglich dem obersten Prinzip aller Pflicht gänzlich widerstreite« - Mag sein; indessen, unser sittlicher Geschmack erhebt spürbare Einwände. So nämlich sieht ein echter Selbstmörder nicht aus, und man merkt dieser konstruierten Figur an, daß Kant selbst jemals »von des Schierlings betäubenden Körnern« gegessen hat. Denn, was dieser Mann tut, ist nichts weiter, als das Leben wie ein Geschäft ansehen, und er ist gerade eben dabei, festzustellen, daß es die Kosten nicht deckt; nun besinnt er sich, ob er einen - selbstbetrügerischen - Bankrott anmelden soll. Gesetzt nun, der Mann bliebe leben - was sehr wahrscheinlich ist -, so ist es gänzlich gleichgiltig, ob er es aus Gründen einer neu auflebenden Hoffnung tut oder - als ob er der liebe Gott wäre - deshalb, weil der Selbstmord sich nicht dazu eignet, »allgemeines Naturgesetz« zu werden. Der Mann bleibt ein lederner Pinsel, so oder so, und am besten ist es, man läßt ihn stehen. Er kann uns nämlich gar nichts berichten, was wir nicht auch ohne ihn wüßten; denn solange jemand noch darüber nachdenken kann, ob das Leben sich lohnt, solange er also vernünftelt, ist er noch gar nicht in den Bereich eingedrungen, in dem der Selbstmord als eine ernst zu nehmende Gefahr droht. Das tritt vielmehr erst dann ein, wenn der erste Griff nach den Schierlingskörnern getan ist. Dann aber verwandelt sich die Erwägung, ob ja oder nein, und warum und wieso, sehr schnell in ein unmittelbares, fast anschaulich zu nennendes Erlebnis seiner selbst: die Frage nach dem Wert des Lebens hat aufgehört und an ihre Stelle tritt die nach der Unsterblichkeit. Aber nicht als Frage »der Vernunft«, auf die man hinterher eine unvermeidlich paralogistische Antwort geben kann, sondern als Frage, die dadurch beantwortet ist, daß sie im Geiste gestellt wird. Hier stand Hamlet.
In solcher Lage lernt der Mensch nämlich auf eine ganz intime und unvermittelte Weise jenen Unterschied kennen, den die Philosophie zwischen dem empirischen und dem intelligiblen Charakter macht. Der empirische Charakter ist das, was sich, von außen gesehen, als die Physiognomie eines Menschen zeigt und was in die Materie, aus der er besteht, eingedrückt ist, so, daß diese niemals anders bei ihrem dauernden Wechsel sich lagern kann als der empirische Charakter es vorschreibt. Jede Wimper, jede Ader am Daumen, die Struktur der Haut und die Dicke der Schädeldecke, die Farbe der Augen, aber auch die Art des Blickes bestimmt. Man sieht nicht umsonst so und nicht anders aus. Dasselbe, von innen gesehen, ist der Wille: wir folgen hier weitgehend Schopenhauers Auffassung, nur ohne uns seines Dogmas vom Willen zu bedienen. Das gesamte Wunschleben mit seinen Trieben, bewußt oder unbewußt, darunterliegend die Vorgänge der biologischen Anpassung, des Stoffwechsels und des Wachstums, schließlich aber, ganz tief, der eigentliche »Wille zum Dasein« - das alles ist die genaue Entsprechung der Materie und würde auch seine sichtbare Physiognomie haben, wenn der Wille selber im Raume erschiene; er erscheint aber nur als Materie im Raum. Die »Physiognomie des Willens« aber ist genau so geprägt wie die Materie selbst, und ich kann nicht anders wollen als ich bin. Der empirische Charakter ist das, was GOETHE in seinem vielzitierten »Orphidischen Urworten« anredet (»Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehn...«), und seine exakte Signatur ist das Geburtshoroskop.
Dieser empirische Charakter nun ist der Schauplatz des Leides, das in gewissen Fällen das Maß des Erträglichen zu überschreiten scheint, und auf ihn hat es der angehende Selbstmörder abgesehen. Allein unter der Voraussetzung, daß er mit seinem Plane bereits über das bloße Räsonnieren hinausgekommen und in die Zone eingedrungen ist, in der es ernst wird: in dieser Zone tritt ihm plötzlich die Frage nach dem, was diesem empirischen Charakter zum Grunde liegt, als Erlebnis entgegen, und er schreckt zurück. HAMLET denkt ja nicht darüber nach, ob es sich lohnt zu leben, sondern er stellt die Frage: »Sein oder Nichtsein...« Anders ausgedrückt: was an mir ist das eigentlich Seiende, jener empirische Charakter, der Träger des Leidens, oder das, wodurch dieser überhaupt Charakter ist? Diese Frage aber bliebt mindestens offen, und das genügt. Nur eines ist gewiß: er kann mit der Kugel und dem Gift jenes eigentlich Seiende gar nicht treffen. Also ist in einem tieferen Sinne die Möglichkeit des Selbstmordes in Frage gestellt, auch wenn er physisch gelingt.
Daß diese typischen Erwägungen, die wir immer wieder finden und von denen uns die Betroffenen, wenn wir ihr Vertrauen genießen, nachher berichten, eine giltige Spur verfolgen, ist ganz evident. Wer sich je ernsthaft in dieser Lage befunden hat, der gleicht einem Menschen, der die Erde vom Weltraum her betrachtet: er sieht, daß sie eine Kugel ist und frei im Raume schwebt, während der Erdbewohner das nur weiß und übrigens meistens vergißt. So wird hier der Unterschied zwischen dem empirischen und dem intelligiblen Charakter erlebt, statt nur gewußt. Diesem Eindruck kann er sich für die Zukunft nicht mehr entziehen, und wir wundern uns nicht, daß wir gerade unter jenen die ernstesten Menschen finden; denn sie sind mit ihrem innersten Leben auf die Tiefenordnung der Natur gestoßen. Im früheren Stadium des Selbstmordplanes, dort, wo sie noch Bilanz machten, ist ihnen gewiß einmal das frivole Wort aufgekommen: »Ich habe meinen Eltern ja nicht die Erlaubnis gegeben, mich in die Welt zu setzen«; ist der Griff nach den Körnern aber schon erfolgt, so geht ihnen als ein Licht die Erkenntnis auf, daß sie von ihren Eltern zwar erzeugt, aber nicht geschaffen sind; und dieses zweite, was es ist, bemerken sie erst jetzt. Je nach ihrer Gemütslage wird ihnen, an diese Stelle gelangt, der Mangel an Verfügung klar, den sie über ihr Leben haben und der sich in dem Gebote ausdrückt: »Du sollst nicht töten!« Die Einheit von Ethik und Metaphysik ist aber hier so dicht gefügt, daß gar kein Soll-Charakter mehr verspürt wird, sondern alles auf der andern Seite liegt, und wie ein Hilfsakt der Natur aus ihrem Hintergrunde sich anläßt.
Aber man darf nicht meinen, daß solch ein Selbstmörder, der gerade eben dem Leben wiedergewonnen wurde, sich ein Wissen über das Leben nach dem Tode erworben habe. Ein solches Wissen gibt es nicht. Sondern er ist durch ein reines Ereignis der Natur auf die Unsterblichkeit gestoßen. Er erlebt die Stelle, an der das Prägende und das Geprägte seines Charakters einander begegnen, und das ist ihm zu einer unvergeßlichen Wahrheit ((a-lhtheia)) geworden. Er kann allerdings wissen, daß die Beziehung, die seine Person zu seiner Individualität hat,dieselbe ist, wie die des Archetypus einer Tierart zu den unzähligen Exemplaren in denen sie erscheint. Und diese Beziehung kann man mit Fug und Recht die der Ewigkeit und Unsterblichkeit nennen. Mehr aber weiß er nicht. Und er würde sofort wieder verlieren, was er gewann, wenn es ihm etwa einfiele, Märchen über das Leben nach dem Tode zu erzählen. Die Natur hat hier eine harte Grenze gesetzt.
Daß der physisch gelungene Selbstmord die Person nicht trifft, findet eine bemerkenswerte Parallele in einem biologischen Experiment, das Hans Driesch gemacht hat; dieser durchschnitt befruchtete Seeigeleier und ließ sie in der Sonne ausbrüten; das Ergebnis war nicht, wie man vermuten konnte, der Tod des Keimes oder eine verkrüppelte Nachkommenschaft, sondern je zwei gesunde Seeigel von halber Größe! Hier kann man die platonische Idee geradezu mit Händen greifen. Das Messer des Biologen konnte wohl die Materie zerteilen, aber den dahinter wirkenden Archetypus der Tierart kann es nicht treffen; dieser vielmehr reagiert in Freiheit und bildet aus derselben Materie zwei Individuen. Der Mensch unterliegt als Individuum dem Archetypus Mensch, und außerdem ist er Person; das aber bedeutet, daß er einen eignen intelligiblen Charakter von der Kraft und der Herkunft eines echten Archetypus besitzt. Der aber wird von der Kugel nicht getroffen.
Es sind also wahrlich ganz andere Kräfte, die einem Selbstmorde entgegenwirken, als KANT sie seinem Beispiele unterschiebt. Jener Mann ist gar nicht Natur, sondern ein Buchhalter. Er ist von KANT konstruiert gemäß seiner Definition von »Natur«, die aber ganz und gar für den Gebrauch der Naturwissenschaft hergerichtet ist und dafür auch ihre Giltigkeit hat. Sie lautet: »Natur ist das Daseyn der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist« (Prol. § 14). Diese »allgemeinen Gesetze« sind die des Verstandes, also die Kategorien unter deutlicher Vorherrschaft der Kausalität und des Substanzsatzes, die durchweg a priori sind. Die besonderen Gesetze der Natur aber, wie das der Gravitation oder des Wärmeäquivalentes der Bewegung, ferner alle biologischen sind a posteriori und müssen entdeckt werden; diese Entdeckung geschieht durch den Einfall des Genius, der in statu nascendi selber Natur ist; das bereits geformte Gesetz aber in actu demonstrandi wird Basis der weiteren Forschung und hat die Eigenschaft, an die Stelle der vollen Natur ein Eliminat zu setzen, durch das allein weitere Forschung möglich ist. So spricht man mit Recht von einem »Weltbild der Physik« oder einem »biologischen Weltbild«, die aber durchweg Eliminate sind und kein Bild der Natur selber geben können. Konstruiert man aber, rückwärts gehend, vom Standpunkte eines solchen Eliminates aus, einen Menschen, der doch eben Natur in toto sein soll, so entstehen solche Mißgebilde wie jener verunglückte Selbstmörder, dem wir jedes Urteil in Sachen eines so tief angelegten Antriebes verwehren. Wir müssen uns vielmehr einer anderen Definition der Natur bedienen und diese lautet: Natur ist ein transzendentales Kontinuum; ihre Ladung ist das archetypische Potential.
Aber die Instanz, die über die Moralität entscheidet, ist nicht eine diskursive praktische Vernunft, sondern die moralische Urteilskraft, auf deren Ausschlag wir angewiesen sind. Diese aber ist dem Selbstmorde gegenüber weit toleranter als ihre unzuständige Schwerster mit ihren »allgemeinen Gesetzen«. Und nicht nur das, sondern sie stimmt in einigen Fällen ausdrücklich zu. Marcus Porcius Cato, der sich nach der Schlacht von Tapsus in sein Schwert stürzte, weil er das Ende der Republik nicht erleben wollte, stünde in unserer Achtung weit geringer da, wenn er leben geblieben wäre. Er ist erst durch seinen freien Tod der echte Cato geworden. Napoleon nahm nach Waterloo Gift, aber sein schlechter Magen brach es ihm wieder aus: wir bedauern das, denn unser Gefühl wünscht, daß ihm St. Helena erspart geblieben wäre. Friedrich der Große trug immer Gift bei sich und hätte es genommen, wenn er die Schlacht von Roßbach verloren hätte. Spinoza schrieb sein Hauptwerk, die Ethik, um es zu hinterlassen, und dann nahm er Gift; denn er liebte den Tod. Wer würde wohl so roh sein, ihm das zu verargen, weil die Maxime diese Todes nicht Grundlage für ein allgemeines Naturgesetz werden kann? Das hieße, dem großen Manne zuzumuten, nach erfülltem Auftrag sich für den Rest seines Lebens brillenschleifend, zu Tode zu husten. Von Max Steiner erfahren wir, daß er eine Lösung des ethischen Problems im Kopfe gehabt, die er aber nicht verraten hat; ganz unerwartet, mitten in bürgerlichen Verrichtungen begriffen, nahm er Gift und starb.* Dieser Jüngling von siebenundzwanzig Jahren war ein vortrefflicher Mann und klarer Denker kantischer Schule. Seine Werke lauten: »Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen«, »Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums«; sein Nachlaßwerk, das nur in Fragmenten, aber in einer vorzüglichen Sprache vorliegt, sollte wohl »Die Welt der Aufklärung« heißen. Die Formel aber, die seine Grundlegung der Ethik bezeichnen sollte, lautete »aus bloßer Vernunft und reiner Erfahrung.« Man kann nicht umhin, mindestens den Begriff »reine Erfahrung« als verwandt mit dem hier Vorgetragenen zu vermuten. Aber er hat das Geheimnis seines Gedankens mit ins Grab genommen. Auch er liebte den Tod. - Von Konrad Wilutzky aber erfahren wir durch seinen Bruder: »Mein Bruder ist ruhig und, wie ich nach seinem Gesichtsausdruck auf dem Totenbett schließe, im Denken an seine Frau in die andere Welt hinübergegangen. Er hat am Vortage seines sechzigsten Geburtstages Veronal genommen. Er war ausgeglichen und wie immer von seiner Liebe und seinem Werke erfüllt. Leben und Werk in dieser Welt sah er als vollendet an, er konnte seiner Frau folgen. Seine letzen Worte in einer hinterlassenen Arbeit sind: »...als Philosoph will ich das Mittel Homers, weil es sanft ist und zur Liebe paßt, und solange es wirkt, kann man an den Geliebten denken. Und so will ich nun den Tod auf griechische Art beschwören, vielleicht, daß er sich dadurch auf sein altes, schönes Amt der Euthanasie wiederbesinnt und mir freundlich ist und hilft: o schöner Tod, lieber Tod, sei mir glückhaft, Tod!«
So wird dem Menschen der freiwillige Tod als ein Gnadengeschenk von der Natur selber gereicht, die ihn freigibt und damit keineswegs ihr Gesetz bricht, sondern es vielmehr erfüllt. Bei der Tötung eines andern erfolgt immer ein Einspruch der Ethik, auch dort, wo sie so berechtigt wie möglich ist. Die Ermordung Geßlers in Schillers Tell erregt die höchste Beipflichtung des Zuschauers, aber nicht des Täters; denn Tell selbst entzieht sich den Festlichkeiten, weil er weiß, daß er ein Mörder ist. Beim Selbstmord aber ist das nicht sicher, daß immer das Gebot »Du sollst nicht töten« vernehmbar wird; vielmehr wird in einigen Fällen der Weg freigegeben.
Daß Selbstmord überhaupt möglich ist - er wäre unmöglich, wenn die Natur naturalistisch wäre -, beweist, daß das Leben nicht biologisch ist, sondern archetypisch und wer dort hineinsieht, kommt leicht in die Lage, den Tod zu lieben. Aber weniger leicht in die, wiedergeliebt zu werden. Bei den Betrachtungen, die so oft bei einem Selbstmorde angestellt werden, heißt es immer: »er hatte doch eigentlich gar keinen Grund dazu«, denn die psychologischen Motive wollen immer nicht recht genügen. Man kann nur sicher sein: der Tote hat den Grund gewußt, und darin liegt seine Überlegenheit.
 

13. EPILOG ZU KANTS EINGRIFF IN DIE ETHIK
Kants Philosophie verläuft so, als hätte das naturwissenschaftliche Zeitalter ihm den Auftrag erteilt, für die Sicherung seiner Grundlagen Sorge zu tragen. Wie die Kirche im frühen Mittelalter den Auftrag an die Philosophie vergab, die Vernunftgemäßheit des Dogmas zu begründen, so tat es die Naturwissenschaft mit Kant. Der Auftrag ist erfüllt worden, und zwar richtig. Aber diese Erfüllung bezieht sich nur auf die Naturwissenschaft »überhaupt«, oder, wie es in den Prolegomena heißt: »Wie ist reine Naturwissenschaft möglich?« Dagegen, wie die einzelnen Wissenschaften möglich sind, das beantwortete Kants Philosophie nicht, obwohl er selbst es wußte. Hier macht nur Mathematik und theoretische Mechanik eine Ausnahme. Er weiß nämlich - denn er hat es gesagt -, daß die einzelnen Erkenntnisse durch den Entdeckungsakt des Genius in die Welt kommen; demnach ist die Naturwissenschaft, deren reine, aber leere Form sicher steht, auf den Genius angewiesen, damit sie gefüllt werde. Das Gravitationsgesetz ist nicht ohne Isaak Newton da; jedenfalls nicht ohne den genialen Konzeptionsmoment, in welchem zum ersten Mal der irdische Fall schwerer Körper und die Bewegung der Gestirne als dasselbe erkannt wurden. Statt vom einzelnen Genius zu sprechen, den man mit Namen kennt, kann man auch von der »genialen Zone« reden, die wie ein phosphoreszierender Streifen über der sonst dunklen Menschheit liegt. Der Genius aber ist in statu concipiendi selber Natur, wobei aber hier »Natur« bereits die Einheit von natura naturans und natura naturata bedeutet. Das heißt, ihr Gesetz springt durch das transparente Wesen des Genius hindurch in die Welt des Intellektes, wo es im actus demonstrandi verarbeitet wird. Es ist das ewige Lied, vom zeugenden Genius, ohne das es weder Erkenntnis noch Kunst, noch Ethik gibt.
Nun aber ist es KANTS Meinung, daß wohl in der Naturwissenschaft die Inhalte von den »Einfällen eines genialen Mannes« abhängig sind, daß aber in der Ethik alles von der praktischen Vernunft konstruiert wird, so ähnlich, wie die geometrischen Figuren vom Intellekt in den reinen Raum. Daher kommt es auch, daß seine Beispiele des Fluidum der Natur vermissen lassen, wie jener spintisierende Selbstmörder, der, in des Wortes wahrster Bedeutung, nicht leben und nicht sterben kann. Durch diese Verlagerung der Wurzel der Ethik, ihres Grundes, in das Subjekt, eine autonome praktische Vernunft, wird die Ethik selbst aus der Natur herausgehoben, so als könne sie leben, ohne Kräfte aus ihr zu beziehen. So etwas aber gibt es nicht. - Daß hier aber kein Mißverständnis aufkommt: wir reden ja nicht etwa einer »natürlichen Ethik« das Wort. Ethik ist immer widernatürlich und wurzelt in keiner Stelle in der natura naturata, in der das Gesetz der Anpassung gilt. Dieses hat zum Ziel die Erhaltung und Stärkung des biologischen Lebens; die Ethik aber hat dieses Ziel nicht, und KANT ist im Recht, wenn er irgendwelche »Antriebe der Sinnlichkeit« verwirft. Die Ethik ist eben gerade der genaue Widerpart der Anpassung im polaren Sinne des Wortes, nicht bloß im logischen; sie ist ein arteignes Kraftfeld, dessen Medium die Freiheit ist. Als solches aber gehört sie mit zur Natur, die freilich nun um eine Dimension vertieft worden ist. Das wirkliche Leben sowohl als die Dichtung spricht von ethischen Taten, die vollen Zusammenhang mit einer kontinuierlichen Natur bezeugen; Kants konstruierte Ethik aber setzt ein Loch in ihr voraus. Das aber gibt es nicht. - Es bleibt also keine andre Wahl als die: genau so wie die Gesetze der Natur entdeckt worden sind, genau so auch wurde der Inhalt der Ethik entdeckt. Im ersten Falle nennen wir die Namen: Aristarch von Samos, Kopernikus, Newton, Galilei, Mayer; im zweiten nennen wir sie auch, und zwar sind es, vom jeweils privilegierten Falle abgesehen, die Propheten Israels.
Jeder Denker hat einen empirischen Charakter, und dieser tritt unvermeidlich als ein trübendes Element in den Denkakt ein. Der angeborene und der erworbene Teil durchdringen sich hier gegenseitig im Laufe eines langen Lebens wie ein Amalgam. Kant hatte einen offenbar unwiderstehlichen Hang zum Staatlichen, und dieser wirkte wie ein Sog auf seine Ethik ein: kaum bricht sie aus seiner genialen Natur heraus, so wird sie auch schon eingefangen und gebunden. Darum kann er auch sein Versprechen nicht halten, uns zu zeigen, wie Ethik »allgemeines Naturgesetz« wird. Im Falle 1 des verhinderten Selbstmörders haben wir das dargelegt; der gütige Leser möge an jener zitierten Stelle der »Metaphysik der Sitten« selbst nachlesen, wie, mit dauernd zunehmender Entfernung von der Natur, sich im Fall 2, 3 und 4 die ethischen Einsprüche geltend machen. Da ist jemand, der einer Notlage ein betrügerisches Versprechen abgeben will, oder einer, der seine angebornen Talente nicht ausbildet, dann jemand, der in Reichtum lebend, durchaus nicht auch anderen davon abgeben will. Das ethische Gegenmotiv hat aber gar nichts mehr von Natur an sich, sondern ist reine Soziologie und geht rund heraus nach der Formel »Wie, wenn jeder so dächte?« Man spürt hier deutlich, wie Kant dem Charybdis-Strudel anheimfällt, der unweigerlich alles in die Ebene der staatlich gebundenen Ethik zieht, und aus ist es mit der Herrlichkeit.
Allein man muß bei aller Kant-Kritik, die von jeher geübt worden ist, eines im Auge behalten: es handelt sich allemal um Kritik am Genius, die aber stets vom Gelehrten ausging. Zum mindesten ist der Akt der Kritik selber einer der Gelehrsamkeit und nicht der Genialität. Hierdurch kommt ein unvermeidliches Mißverhältnis auf, wodurch ja auch Kant im Laufe von anderthalb Jahrhunderten in den Bezirk der Gelehrsamkeit übergeführt worden ist. Der Genius aber unterscheidet sich dadurch, daß er echte Einfälle vom Objekt her hat; er kommt daher unvermeidlich bei deren Verarbeitung in die Spaltung des genialen Vorganges in status nascendi und actus demonstrandi, eine Lage, die es beim Gelehrten nicht gibt. Bei der Verarbeitung nun des genialen Vorganges (KANT: »ein Licht aufgehen«) verschiebt sich die Sprache, die Worte werden mehrdeutig und spiegeln dabei eben jenen Spaltungsprozeß wider. Die Werke des genialen Menschen enthalten daher Partien, in denen sich der ursprüngliche Einfall noch organisch zur Geltung bringt, und dann wieder andere, in denen er sich gewissermaßen selber abschreibt, schon festgewordenes Gedankengut niederlegt. Das aber gerade ist der unwiderstehliche Reiz genialer Werke gegenüber denen der bloßen Gelehrsamkeit.
Nun kann man bei näherem Hinhören, wohl bemerken, daß Kants Hauptwort, nämlich »Vernunft«, in solch einem doppelten Lichte einhergeht. Einmal nämlich ist sie durchaus deliberativ, nachdenkend, abstrakt, vernünftelnd und syllogistisch, so etwa, wie sie Schopenhauer faßt; Kant würde das »diskursiven Verstand« nennen; nur, daß eben die praktische Vernunft über Seinsollendes nachdenkt. Dann wieder scheint sie - aber nur in der Ethik - die Bedeutung von »vernehmende Vernunft« zu bekommen, wodurch sie sofort in eine gänzlich andere Lage gerät. Wir treiben hier nicht Kant-Philologie und wollen daher nicht auf die Suche nach Belegstellen gehen, umsoweniger, als das hier Gemeinte mehr dem Sprachgefühl anheimgestellt werden muß. Wir vermuten aber, daß Kant mit seinem terminus »praktische Vernunft« im Grunde und unbewußt eben eine solche »vernehmende« gemeint hat. Dann nämlich würde die ganze Sache auch eine andere Wendung bekommen. Denn eine vernehmende Vernunft ist etwas zunächst Passives, das seinen Inhalt empfängt und damit seine Virginität beendet. Es würde sich dann in der Ethik der gleiche Vorgang abspielen, wie in der transzendentalen Logik bei der Erklärung der sinnlichen Anschauung. Hier unterscheidet KANT in meisterhafter Sicherheit die »Rezeptivität der Sinnlichkeit«, die eben widerstandslos empfängt, was gegeben wird, von der »SpontanÇität des Verstandes«, wodurch wie in einem aktiven Vorgang, den er »Synthesis« nennt, der Sinneseindruck gedeutet, verstanden wird. »Anschauung ohne Begriffe sind blind; Begriffe ohne Anschauung sind leer.« Man fühlt auch hier wieder einmal deutlich die Stromrichtung als Garant für die Wirklichkeit: sie fängt an, vom Objekt her auf die Sinne einzudringen und endet mit dem Gegenstoß des Verstandes vom Subjekt her. Nur was so gebaut ist, hat Realität, alles andere ist Schein und Gedachtes. Die Natur hat kein Loch, und das Objekt ist stärker. In der Ethik nun, wo dasselbe gefordert werden muß, kommt das nur dann zustande wenn das Wort Vernunft die Bedeutung »das Vernehmende« hat. Und das Was, der Inhalt muß zuerst im Objekt dasein und muß stärker sein. Nur liegt es freilich woanders, nämlich um eine Dimension tiefer, als der Ursprung der Sinnesempfindungen.
Hat Kant - im stillen - seine »praktische Vernunft« so gemeint, dann wäre nichts gegen sie einzuwenden; denn sie wäre von der odium befreit, aus sich heraus schöpferisch zu sein. Sie wäre von der Natur genährt, die allein zeugen kann, und bliebe dabei selber das ewige Licht. Einen Hinweis darauf, daß Kant es heimlich so gemeint hat, bietet sein Begriff vom »Vernunftwesen«, für das der Mensch das einzig bekannte Beispiel ist. Ein Vernunftwesen ist nicht etwa ein Tier, das sich im Verlaufe seines biologischen Entwicklungsprozesses die Vernunft hinzuerworben hat, um damit zu überlisten und Werkzeuge zu schaffen, sondern eines, dessen Wesen die Vernunft ist. Darwin und - Gott seiís geklagt! - auch Schopenhauer sehen ja den Menschen so, als ob die Vernunft dessen empirische Eigenschaft sei; Kant aber nicht. Und Kant sieht tiefer. Mache ich aber die Vernunft zu meinem Wesen, so habe ich damit sofort deren Begriff verwandelt, die Sprachspaltung macht sich bemerkbar, und »Vernunft« heißt nun auf einmal »die Vernehmende«; denn ich will doch nicht etwa sagen, daß mein Wesen das »Vernünftelnde« sei.
Es ist aber in der Tat gar nicht unstatthaft, ja fast geboten, mein Wesen in den Bezirk der Vernunft einzureihen; denn welche Wahl bliebe sonst? Ich müßte sagen, mein Wesen sei »Wille«, was bestimmt falsch ist; oder ich müßte sagen, es sei Materie, was ja auch kein Mensch glauben will. Denn nicht das Geprägte, sondern allemal das Prägende geht voraus, und ich verspüre sehr deutlich, daß dieses weder Wille noch Materie sein kann - wenn es überhaupt ist. Was bleibt also übrig? Daß ich dieses mein eigentliches Wesen »Vernunft« nenne, ist zwar nicht geschickt, eben wegen der Verwechslung mit der vernünftelnden Vernunft (ratio cogitans), aber falsch ist es nicht. Setzen wir dagegen anstelle des Ausdruckes Vernunftwesen das Wort Person, so haben wir genau getroffen, was, wenigstens im Ethischen, damit gemeint war. Ich bestehe als Person aus vernehmender Vernunft, und diese gebietet mir in der Form des kategorischen Imperatives, was getan werden soll - aber erst, nachdem sie selber empfangen hat. So wird es richtig. Kant aber glitt in actu demonstrandi auf dem Wege der Sprachspaltung in die andere, vernünftelnde Bedeutung ab, und dadurch entstand der Schein, als ob die stets passiv empfangenen Inhalte begründbar seien. Kant, der Entdecker, befand sich eben dauernd im verwirrenden Kraftfeld der genialen Zone, und diese brachte ihm die Begriffe durcheinander. »Manchmal verstehe ich mich selber nicht«. ƒhnlich, aber mit mehr Glück, erging es ihm bei dem Worte »Freiheit«, das gleichfalls in zwei gänzlich verschiedenen Bedeutungen vorkommt; hier aber gelang es ihm die Sache festzuriegeln. Platon unterlag demselben Prozeß, indem er durch dauernde Verwechslung von Idee und Begriff die eigne Ideenlehre verwirrte.
Die Ethik hat also denselben Bau wie die anschauliche Welt. Und nur wenn und weil es so ist, kann es sie überhaupt geben, nur so hat sie ihren Grund in der Natur. Die Sinnesorgane empfangen aus dem Unergründlichen jenen Rohstoff der Anschauung, der als spezifische Sinnesempfindung in den einzelnen Organen ankommt. Ich kann nicht wissen, was die Sinnlichkeit mir liefert, sie ist rezeptiv und paßt sich dem Druck, der von außen kommt, nach dem allgemeinen Gesetz der organischen Lebewesen an; es ist auch nur der gegenwärtige Anpassungszustand, der die Zahl der Sinnesorgane auf fünf beschränkt, und wir haben guten Grund, anzunehmen, daß der Mensch in einer früheren Erdperiode noch einen sechsten besessen hat. Ich kann nicht wissen, ob nicht eines Tages ein neuer erwacht; hier gibt es keinerlei Notwendigkeit. Aber ich kann mit Sicherheit wissen, was der Verstand daraus machen muß. Denn der jeweilige Sinnesreiz trifft ja eben auf ihn, und erst hier wird er verstanden, d. h. es entsteht die anschauliche Welt der Erscheinung. Die Gesetze des Verstandes aber sind mir durchweg bekannt; denn sie sind allesamt a priori und also notwendig. Es kann der Natur eines Tages gefallen, die Augen des Menschengeschlechtes zu verändern, so daß es durch parabolische Linsen sieht, statt durch sphärische; die Welt der Erscheinung sähe dann anders aus. Man könnte sich auch vorstellen, daß das Auge für die Strahlen jenseits von Rot und Violett empfänglich würden, und das gäbe dann den Stoff für eine phantastisch veränderte Welt, an der sich ein Groteskenschreiber versuchen könnte. Daß aber diese von Grund auf umgerodete Sinnenwelt außerhalb der Denkgesetze läge, das ist weder vorstellbar, noch auch nur denkbar. Denn die Denkgesetze gehören ins Polgebiet der Achse der Natur; der Sinnenzustand aber bloß zum empirischen Menschen. Dieser ist variabel, jene in alle Ewigkeit konstant. Ich kann wohl logisch einwandfrei und grammatisch richtig den Satz bilden: »Es gibt eine Welt mit anderen Denkgesetzen«, aber ich kann keinen zweiten Satz anknüpfen, der zu dem ersten eine logische Beziehung hat; denn ich müßte dazu dieselben Denkgesetze anwenden, deren Existenz der erste Satz ja gerade bestreitet. Man sieht: ein solcher Standpunkt ist nichts als vollkommener Unsinn. Er wird übrigens ständig von typischen Querulanten vorgebracht, die wissen, daß es Denker gibt, die Weltbilder schaffen, und die sich ärgern, daß sie nicht dazu gehören. - Der Verstand ist keineswegs rezeptiv, sondern spontan, aber nicht etwa produktiv; er kann keine blaue Farbe schaffen. Aber er verwandelt einen blauen Fleck auf der Retina des Auges in ein Veilchen, das im Garten blüht. Die Vernunft aber - um es vorwegzunehmen - denkt über das Veilchen nach und bestimmt seinen Ort im System der Pflanzen; der Verstand dagegen bestimmt seinen Ort im Garten.
Dieses Verhältnis nun waltet in der ganzen Natur, auch in der Ethik. Denn auch bei ihr stammt der Inhalt aus dem Unergründlichen, aber er wendet sich nicht an den Verstand, auch nicht an die Vernunft, sondern an mich. Ich bin also hier wie ein Sinnesorgan rezeptiv und habe keine Verfügung darüber, was mir geboten wird. Im gleichen Augenblick aber stößt dieser Inhalt, der noch Rohstoff ist, auf die Vernunft, und diese antwortet spontan mit der ihr eigentümlichen ordnenden Kraft. Und weil sie sich hier nicht, wie im Falle der theoretischen Erkenntnis, mit Dingen beschäftigt, die sind, sondern mit solchen, die sein sollen, so trägt sie hier den Namen praktische Vernunft. So wenig aber der Verstand, als ein intellektuelle Faktor der anschaulichen Welt, die blaue Farbe schaffen kann, so wenig kann die praktische Vernunft das Gebot schaffen: »Du sollst nicht töten!« Sie ist nur der intellektuelle Faktor der Ethik und als solcher spontan und aktiv, wie der Verstand in der anschaulichen Welt. Man kann auch sagen: Die Ethik ist die einzige Stelle in der Natur, an der die Vernunft konkret wird.
In der Geschichte der Philosophie gab es bekanntlich eine Richtung, die sich »Sensualismus« nannte und die behauptete, daß unsere anschauliche Erkenntnis nichts weiter sei als ein sehr verfeinerter Sinneseindruck; diese Schule läßt also den subjektiven Faktor weg, den Verstand. Die Vernunft-Ethik nun tat genau das Umgekehrte; sie ließ den objektiven Faktor weg. Beide haben gemeinsam, daß sie ihren Gegenstand, hier die Erkenntnis, dort die Ethik, nicht als Produkt zweier Faktoren auffassen, sondern einfach. Das heißt aber, beide sind wider die Natur; denn diese hat an jeder Stelle zwei Pole. In der Ethik nun ist der kategorische Imperativ das Konstante, die Inhalte aber sind veränderlich und stammen aus dem Objekt. Kants Versuch, sie aus der Form des Subjektes abzuleiten, muß als gescheitert angesehen werden.



 

 

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