Hans Blüher

 

 

Erschienen 1914 bei Erich Matthes in Leipzig

 

 

Eine Wolke kommt über den Himmel daher des nachts

Von unten her von einer Stadt beleuchtet.

Vorn kleine Wolkenschafe, schnelle,

Dahinter rollt bedächtig

Kumulus auf Kumulus.

 

So ziehen sie langsam langsam über die leuchtende Stadt.

 

Und die Luft um sie ist lau und trocken,

Schmeichelnd wie ein untertäniges Gemüt;

Darinnen wandeln zuversichtlich

Die Wolkenkönige mit ihren Kindern

Formgeschwellt, gestaltenbildend in der lauen Sommernacht,

 

Und wie der Morgen kommt, der neidisch aufweckende,

Und Morgenkühle an unbestirntem Himmel triumphiert,

Da ist sie über einem weiten Brachfeld angelangt,

Ueber ackergefurchten Trostlosigkeiten,

Und mühsam mühsam nur

Hält sie die edle Form zusammen.

 

Die Kühle naht,

Schon vernebeln die Blicke,

Weite Fetzen, unruhig flackernde ...

Schwerer atembeklemmender Dunst:

Und als naßkalter Regen träufelt die Wolke nieder,

 

So ähnlich sind Menschenleben,

Sie türmen sich auf und wollen reden;

Sie ziehen empor mit verwegenen Augen

Und stehen am Himmel für manche Minute

Von einer fernen Stadt beleuchtet.

 

 

 

 

 

 

 

INHALT

 

EINER DER HOMERE

AGNESE LASANTA

ROSA SOLEMNIS

CUM MIT DEM INDIKATIV

DER BERGGEIST

 

 

 

EINER DER HOMERE

 

Es war wildes Gebirge rings umher, und nirgends eines Menschen Wohnung zu sehen. Wäre nicht oft von fern her das Aufbrüllen von Rindern vernehmbar gewesen, man hätte glauben können, die Gegend sei unbewohnt. Hinten erhob sich der Zug eines Hochgebirges mit zwei Gipfeln, die im Nebel standen; es war der Götterberg Olympus. Weiter ins Innere des Landes hinein war nichts als Waldwildnis mit Wiesenmatten durchsetzt. - Das Meer hörte man nicht mehr, obwohl der einsame Mann, der hier stand, es gestern noch gesehen hatte; denn von dort her war er gekommen.

Es war schon spät dem Abend zu, so etwa um die Zeit, wo die Kinder beginnen, müde und unfreundlich zu werden, da war er stehen geblieben und hatte sich an einen Baum gelehnt. Zwei Tage schon ging er allein, denn er hatte seine Gefährten, die jünger waren, als er, am Meer zurückgelassen. Die ersten Sterne brachen durch, Herdenbrüllen von Ferne. Er mußte ungefähr da sein, wo er heute noch hinwollte.

Er setzte sich nieder und schnürte seine Sandalen ab, um die heißgelaufnen Füße zu kühlen, und dabei hörte er zu, wies im Walde einschlief, und sah, wie die Nacht sich immer rascher übers Gebirge legte; die tiefen Täler schwärzten sich, an den Abhängen kämpfte das Grüne mit dem dunklen Ton der Nacht; nur die Gipfel wollten ihr Licht nicht hergeben.

Er blieb schweigend sitzen und ließ alles über sich ergehen.

Und da stand auf einmal seine Jugend vor ihm, eine Nacht und ein Morgen aus seiner Sängerjugend, als er zum erstenmal auf den Bauernhöfen hier herum seine neuen Lieder sang. Er sah ins Tal hinunter, um endlich die Hütte zu erspähen, um deretwillen er die lange Wanderung unternommen hatte an den zackigen Küsten entlang bis in diese Berge. Er sah nichts, aber er wußte, daß er in ihrer Nähe war.

Es kam ihm absonderlich vor und ungewohnt, statt des Meeres die Wälder rauschen zu hören; es war ein ganz anderes Rauschen, so wie damals in jener Zeit ...! Da hörte er ein fernes Brüllen. Er ruckte auf und zitterte. Es mußte ein wildes Tier gewesen sein und man hörte ängstlich das Vieh antworten in immer neuem mühevollen Stöhnen. Er bebte, das merkte er. Früher hatte er das nicht getan und daran erkannte er, wie alt er geworden war.

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Was war damals alles gesungen worden, als er noch ein Jüngling war! Wie vernarrt waren sie gewesen diese Bauern und Viehtreiber, auch die Kleinbürger in den Ackerstädten, auf ein paar Schnurren von den fahrenden Bänklern. Man war hart und unfreundlich gegen Bettler, aber wenn der Bettler eine alte schnurrende Leier hatte aus Steinbockshörnern, einer Schildkrötenschale und ein paar Schafsdärmen, da war er überall willkommen, und so kam es auch, daß fast alle Bettler singen konnten und sich eifrig darum bemühten, Bänkellieder zu lernen, und etwas Neues hie und da hinzuzufügen; denn nur so konnten sie der Gastfreundschaft gewiß sein. Einen Sänger zurückzuweisen galt als Frevel gegen die Götter.

Aber es war nicht gleichgültig, was man sang. Es gab Liedchen, die kannten die Kinder schon, kleine Rätsel und Sprüche, vom Frühling und vom Schlafengehen, von der Großartigkeit der Götter und was es sonst noch für abgetragnes Zeug gab; dafür bekamen sie ein Stück Brot, aber nicht mehr. Doch die Bänkler wollten mehr haben, und da mußten sie etwas singen, was nur für die Alten war, wenn die Kinder schon schliefen, jene Lieder kurz vor Mitternacht, derb und witzig, vermischt mit Grusligem und unbändigen Mordtaten. So mußten es die Begabteren machen, die höher hinaus wollten.

Am meisten begehrt von allen war die Geschichte von dem großen Raub- und Beutekrieg, den vor vielen hundert Jahren die Vorfahren gegen die Barbarenstadt Ilion oder Troja geführt hatten. Mit einer großen Flotte waren die reichen Herrn im Lande dorthin gesegelt und hatten ein festes Lager geschlagen vor Troja; und zehn Jahre hatte der Krieg gedauert. Dann war Troja gefallen. Zehn lange Jahre! Das war ein Lagerleben! Sie wurden heimisch hinter den Wällen und Zelten, sie lebten vom Plündern und Beuten in den kleinen Festen rings umher, und Barbaren-Mädchen gabs die schwere Menge. Da wuchs im Kriege schon ein neues Geschlecht heran, das den Frieden nicht kannte und das den Vätern in den letzten Jahren die Panzer umschnallte und die Lanzen trug bis dicht vor den Feind. Und wie nun die Stadt gefallen war und sie heimziehen mußten zu ihren alten Frauen, zu den sehr alten Frauen .. ja das war es eben, dafür gab es wieder eine ganz besondere Sorte von Liedern, die sich mit jedem einzelnen Krieger beschäftigten, die "Heimfahrten" nannte man sie. Und die wurden bald mehr begehrt, als die von dem ewigen Kriegs- und Lustgeschrei, dem fortwährenden Trinken und Kebsen vor Troja. Die Heimfahrten waren das Neuste. Da hörte man, wie es dem Mächtigsten unter den Fürsten ergangen war, dem Führer des Raubheeres. Der kam nach Hause mit einer barbarischen Traumdeuterin, und wie er sein erstes Bad nahm auf heimatlichen Boden, da schlug der Buhle seines Eheweibes ihn heimtückisch nieder wie einen Stier am Altare. Ganz besonders aber liebte man die Heimfahrt des Odysseus, König von Ithaka; sie war die köstlichste von allen und wurde am meisten gesungen. Er, der Listenreiche, durch dessen Rat Ilion fiel, er war auch klug genug, um lange Wundermären zu erfinden, die er am Schluß seiner tollen Heimfahrt - noch volle zehn Jahre hatte er sich abenteuernd herumgetrieben - seiner altgewordenen Hausgattin erzählte. Denn die empfing ihn mit bösen Blicken: Alle Anderen seien heimgekehrt, wie sichs gehöre, nur er allein habe kein Ende finden wollen. Ja, meinte der Schlaue, wenn sie wüßte, was er alles habe aushalten müssen! In die Höhle der Cyklopen sei er geraten und zwar des Schlimmsten unter ihnen; der habe nur ein Auge gehabt mitten in der Stirn und sei ein wildes Ungeheuer gewesen, das ihm sechs Gefährten mit Haut und Haaren gefressen habe. Aber im Schlaf habe er ihm mit einem glühenden Pfahle sein großes Auge ausgebohrt, daß das Blut nur so zischte und kochte, und dann sei er entflohen. Jedoch des Poseidon Zorn habe ihn nun verfolgt, denn der Cyklop sei des Meergottes und einer Nymphe Sohn gewesen. Und durch den grausen Strudel der Charybdis und der Skylla habe er hindurch gemußt mit seinen Schiffen, ins Land der Riesen und Menschenfresser sei er verschlagen worden, wie zu den Süßmäulern der Lotophagen, deren Blumenspeise sie fast bezaubert hätte, und sogar in der Unterwelt sei er gewesen. So sprach der Lügner zu seiner betrognen Frau und die Einfältige konnte nichts dawider sagen. Aber er schwieg von Kirke, der molligen Zauberin, auf deren Duftkissen er geruht, er schwieg von der Götternymphe Kalypso, in deren kühler Höhle er jahrelang gewohnt auf einsamer Insel nur von Vögeln durchschwirrt und umblüht von wohlriechenden Pflanzen. Er verschwieg vor seiner zürnenden Gattin, daß er die Königstochter der Phäaken geliebt hatte, die noch fast ein Kind war. Aber Anderen hat ers erzählt.

So ging die Heimfahrt des Odysseus im Munde der Bänkler, und die Bauern bezahlten ein solches Lied mit fetten Speisen und schmunzelndem Beifall. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, Odysseus hätte noch zehn Jahre ausbleiben können und immer neue Lügen erfinden.

Aber wie anders hatte er gesungen von seiner Jugend auf, Melesigenes aus Smyrna, der hier in den Wäldern hinter dem Olympus stand und in die Täler lauschte! Er hatte als Knabe schon an den Lippen der Bänkelsänger gehangen und lange still geschwiegen von dem, was er gehört, ganz anders als seine Kameraden, die es auf allen Gassen nachpfiffen. Dann, als er die Saiten der Harfe zu greifen verstand, da war es ihm aus dem Munde gequollen in langen rauschenden Versen, ein wundersames Lied. Der Name Ilion bekam einen feierlichen Klang und nur mit bebenden Lippen sang er von ihren Helden; er sang von Hector, ihrem totgeweihten Beschützer, und von des Königs Priamus nächtigem Gang zu seinem Würger. Ilion wurde zur heiligen Stadt in seinem Munde. Und ebenso ging es mit des Odysseus Heimfahrt. Der spitzbübische Seeräuber verschwand mit seinen tollen Streichen und es wurde aus ihm ein Mensch mit seinem Schicksal. Ein Mann, der sich nach Weib und Kind und Heimat sehnt und den das arge Meer herumtreibt zehn grausame Jahre lang; der die Küsten Ithakas in einer Nacht zu sehen bekommt und wieder zurückgeworfen wird ins salzige Meer, der schließlich spät und allein auf fremdem Schiffe schlafend in die Heimat gelangt und sich verwundert die Augen reiben muß, den Morgennebel zu durchdringen, der über dem geliebten Boden liegt. Und dazwischen erklangen die Mären von der Göttin Kalypso, die den Einsamen, schon aller Gefährten beraubt, auf ihrer Insel bewirtet und sein Gemahl zu werden begehrt, die aber den Sehnsuchtskranken, der klagend am Meere sitzt, den Rauch von Ithaka zu erspähn, schließlich ziehen 1äßt mit reichem Göttersegen. Und das Lied erklang von der sinnenfrohen Kirke und dann vor allen das eine taubenreine: Nausikaa.

So hatte er gesungen.

Aber er mußte es übel bezahlen. Solche Lieder mochte man nicht. Man wollte die kurzen derben Verse mit ihrem Übermut, der die Frauen rot werden ließ, und wo man jedesmal am Ende mitsingen konnte. Das wollten die Bauern des abends in den Zechhäusern und Hütten. Melesigenes hatte hungern müssen in seiner Jugend. Man wies ihn von den Türen als einen Schwärmer und Änderer, der alles auf den Kopf stelle und die besten Lieder verderbe. Es waren schwere Jahre. Aber er sang nicht anders und nährte sich von rohen Muscheln am Meere.

Da war er plötzlich auf einen guten Gedanken gekommen, der ihn rettete. Er flocht in die Lieder von den Kämpfen um Ilion die Heldentaten der Vorfahren alter Geschlechter ein, die noch in seiner Zeit lebten und sich etwas darauf zugute taten, daß sie von so weit herstammten. Es waren die Fürstenhäuser, deren Festen am Meere lagen mit ihren kleinen Städ-ten und Ortschaften rings umher. Melesigenes schuf immer neue Helden, sang von ihren goldenen Rüstungen und daß sie alle von den Göttern stammten. Und das schlug ein. Die Vornehmen luden ihn zu sich und ließen ihn bei ihren Mahlen singen; sie schenkten ihm Gold und Ehren, und er sang ihnen dafür vom Heldentum ihrer Ahnen, während an den Türen das Volk sich drängte, um staunend zu hören.

Es waren Fürsten vom Meere, zu denen er sang. Und Menschen, die das Meer von Jugend auf kannten; es waren keine Bauern mit dicken Knochen und dummem Hirn. Sie kannten fremde Völker, sie hatten phönikische Schiffe gesehen mit bunten Segeln, und in ihren Häfen hörten sie Weisen von den fernsten Ländern. Sie waren freier und größer ums Herz, und es dauerte nicht lange, da ehrten sie des Melesigenes Lieder und mochten die kurzen witzigen Bänkeleien der Andern nicht mehr. Dessen Ruhm nun stieg von Jahr zu Jahr, und bald ward er der gefeierte Sänger von Hellas; vor seinen Liedern erweichten die schwersten Herzen, und Tränen stahlen sich aus den Augen. Wie mit einem Schlage war es anders geworden in der Welt; die Menschen um ihn herum schienen ihm ernster zu sein, sie gaben mehr acht auf ihre Sprache und Sitten. Sie wurden ein königliches Volk.

So waren ihm die Mannesjahre vorübergerauscht in Ruhm und Herrlichkeit. Und wie er sich umsah und merkte, daß er noch älter wurde, da sah er auch, daß er allein war. Das schnelle Glück war Schlag auf Schlag gekommen, er kannte kein langsam erworbenes mehr. Die seinen Sängen lauschten, schmolzen zu Hunderten hin, brachten ihm Lorbeer und goldene Spangen, aber er wußte nicht mehr, was es heißt, wenn es Einer tut,

Da wurde ihm unheimlich zu Mute.

Und nun stand er hier im wildesten Gebirge. Von Ferne brüllte wieder ein wildes Tier, und er schreckte auf. Er blickte ins Tal hinunter; er hatte gefunden: unten glimmte ein kleiner Lichtschein auf, der aus einer Hütte drang. Es war ein Herdfeuer. Den Rauch verschlang die Nacht.

Melesigenes suchte sich den Weg und trat ein mit der Gebärde der Obdach Bittenden. Es war ein kleines verräuchertes Haus ohne viel Schmuck, nur hinter dem Herde an der Wand war eine kleine Nische mit einem Hausgötterbild. Ackergeräte lagen und standen herum, dann große Kübel mit Milch und Wein. Ein dicker Laib dunklen Brotes lag auf dem Tisch. - Neben dem Herde stand ein Mädchen, das sich eben aufgerichtet hatte; und sie erschrak nicht, als sie den fremden Mann an der Schwelle sah; sie streckte ihm die Hände entgegen:

"Willkommen, Fremdling ! Du willst unser Gast sein?"

"Ja; ich danke dir, Tochter. Wir haben einen glasklaren Himmel; ich denke, es wird kalt diese Nacht."

Das Mädchen mochte schon viele Sommer gesehen haben, denn sie war immer noch ganz ruhig und ohne Weibesbangigkeit dem fremden Manne gegenüber, der nun nahe zu ihr herantrat. In ihren Zügen lag das Verblühte. - So haben es alle Mädchen des Südens, denn es geht ihnen wie den Tagen und Nächten dort: rasch folgen sie aufeinander. Sie werden frühe blühend und schon als Kinder haben sie das Sinnende in den Augen und schwellende Formen der Glieder; dann geht es schnell aufwärts in immer lodernder Glut, und auf einmal kommt es über sie wie jene raschen Nächte am südlichen Meere, die den Fremden so wundersam begegnen. Die Mädchen des Südens haben keine Abenddämmerung. -

"Du bist ein Sänger?" fragte Atthis.

"Ja, Tochter, ein Spielmann bin ich; aber es ist schlecht in dieser Gegend."

"Die Leute sind hart."

Sie nötigte den Gast ans Feuer und holte Milch und Käse und Brot. Melesigenes schob einen neuen Buchenklotz in die Asche und blieb still davor sitzen.

Als Atthis wiederkam, war sie einen Augenblick an der Tür stehen geblieben und hatte sich den Mann angesehen. Dann war sie wieder stehen geblieben und nun erzählte sie:

"Es sind lange keine Bänkler bei uns gewesen; es scheint, man vergißt diese Gegend ganz. Früher war es anders, sieh, dort oben überm Türbalken, dort haben sie alle ihre Zeichen eingeschnitten, die ihre Namen bedeuten, jeder, der hier gewesen ist; aber der Frischeste ist schon ganz verrußt. Ich hätte gern mehr gehört, grade in den letzten Jahren, seit die Mutter tot ist, aber da war es am stillsten. Sie sind ja nicht alle gleich viel wert, die fahrenden Leute, manche sind blos pfeifende Bettler, die einem nachts die Eier aus den Körben stehlen. Doch es gibt auch bessere, und von denen scheinst du mir zu sein, Vater! - Aber Einer war schön! Es ist schon ganz lange her. Den fanden wir draußen im Walde halb verhungert liegen. Es war grad ein kalter Regentag, ich weiß es noch ganz genau, ich mochte wohl damals an die vierzehn Sommer zählen, da war ich mit meinen Schwestern und ein paar Andern von droben aus den Nachbarhäusern fortgefahren zum Heuholen; und dabei gab es immer ein lustig Spielen und Tollen, wenn alles aufgeladen war. Und auf einmal fanden wir im Walde einen Mann schlafen mit zerrissenen Kleidern und einer Harfe, die er fest im Schlafe hielt. Er wachte auf von unserm Schreien und erhob sich; wir standen gerade dicht vor ihm. Ich fragte ihn, woher er käme; da ergriff er mit der Hand mein Kleid und küßte es, denn er sah, daß ich gut zu ihm sein wollte, und bat mich, ihm zu essen zu geben und Wohnung für eine Nacht: er sei verirrt hier im Gebirge. Da haben wir den Sänger - es war ein feiner Sänger und noch jung - auf den Wagen gehoben und hier zu uns gefahren, Und wie er dann gegessen hatte und stark geworden war, da hat er uns zum Abend an der Herdflamme gesungen."

"Was hat er gesungen?" fragte Melesigenes.

"Wie soll ich das sagen können, was ich nur einmal gehört habe und nie wieder. Er hatte eine tiefe Stimme und ich werde es nie vergessen, Fremdling. Er war so gut zu mir und so dankbar, wie nie ein Mann! Hier sind die Männer roh und kühn."

Atthis schwieg. Einen Augenblick blieb es still in der Hütte, und nur die Flamme knisterte und warf ihren Lichtschein an die Wand. Melesigenes wandte sich zu dem Mädchen hin und fragte sie plötzlich:

"Hast du das schon irgend jemand anderem erzählt?"

Atthis stutzte über die Frage und merkte, daß sie eigentümlich war. Es war das, was sie sich gerade in diesem Augenblicke, als sie schwieg, selbst fragen wollte. Nein, sie hatte es noch nie jemanden erzählt, hatte alles bei sich behalten, und nur diesem müden Sänger, der hier vor ihr saß, den sie nicht kannte, dem sie nicht einmal genau in die Augen gesehen hatte, diesem Fremdling hatte sie soeben das erzählt, was sie als ihre innerste Erinnerung schon so lange bei sich trug!

Melesigenes sah noch tiefer in die Herdflamme, bei der er saß, er beugte sein Haupt hernieder, wie um es an ihr zu wärmen. Aber er wollte nur trocknen, was eben über seine Wangen rollte. Ein wenig ging das Feuer nieder und die Flamme wurde kleiner und blauer; winzige FIämmchen schossen aus den kohlenden Resten. Er wollte neue Kloben auflegen, aber er mochte sich nicht bewegen. Und auch Atthis blieb still an die Wand gelehnt stehen. Da sah er immer schärfer auf das niedergehende Feuer, wie als wollte er neues herausholen, neue Flammen, alte Erinnerungen. Jetzt stand das junge blühende Mädchen vor ihm, das ihm damals so freundlich begegnet war, und noch viel mehr. Er sah die Hütte bevölkert. Dort saß in der Ecke ein einschlafendes Bauernweib, am Tisch vor ihm ihr starker Gemahl mit dem groben Schädel; dessen Kiefern gingen stundenlang hin und her und mahlten ohne Unterbrechung das trockne Bauernbrot; oft stand er auf und holte sich einen Trunk Milch aus dem Kübel, um in anderen mehr quetschenden Tönen weiter zu kauen. Und das alles während er selbst, der junge Sänger, über ihnen stand mit der Leier in der Hand und sein Lied sang vom Dulder Odysseus. So sah er im Feuer seine Jugend erstehen, jenen einen Abend, und er sah über all die groben Geschöpfe hinweg, an denen sein Lied abprallte wie an einer Kalkwand, in zwei Mädchenaugen von vierzehn Frühlingen, die unermüdlich an seinen Lippen hingen; er sah, wie jedes seiner Worte sie ergriff und den jungen Leib erbeben machte. Dazwischen hörte er die kleinen guten Worte des Mädchens, die sie ihm hinterher spendete: "du lachst nicht und du weinst nicht - du gehst nur ins Herz!" Dann sah er sich selber wachsen und größer werden durch die Liebe des holden Kindes. Er sah sich aufrecht stehn voll Siegerglücks, wie Einer, der nun weiß, daß sein Weg ein guter sei; und nun verschwand das Mädchengesicht wieder und er selber stieg immer höher ...

Da erklang auf einmal mitten in seinen Gesichten Atthis Stimme tief und hohl:"... dann ist er fortgezogen früh am Morgen. Ich begleitete ihn ein Stück Weges durchs nasse Gras und zeigte ihm den Weg übers Gebirge. Da zog er mich an sich und sagte er werde wiederkommen und mir alles danken, was ich gestern für ihn getan. Dann solle ich sein Weib werden, und er wolle mir zum Zeichen ein Lied singen, wie noch keines zuvor. Und dann ist er fortgegangen. Ich habe ihn nicht wiedergesehn ... Nun, ich weiß ja, wie es mit den fahrenden Sängern ist: sie haben Mädchen und Wein die Fülle in allen Landen und denken nicht an Eine." Und dann fügte sie mit leiser Bitterkeit hinzu: "Aber sie wissen am Ende auch nicht, wo sie ihr Haupt zur Ruhe legen sollen..."

 

Jetzt war es dunkel genug in der Hütte, und Melesigenes konnte sich die Tränen wischen. Denn sie hatte mit tiefer klagender Stimme gesprochen.

Von draußen her hörte man Schritte, und Atthis schürte das Feuer wieder auf. Ein paar Rinder blökten den Ankommenden entgegen, und bald traten sie ein. Es war ein alter Bauer mit schneeweißem Haar und hinter ihm ein Knecht, der die Ziegen zu besorgen hatte.

"Ein Sänger ist hier, Vater !" rief Atthis dem Alten entgegen, der sich umsah. "Das haben wir lange nicht gehabt, nicht wahr? Und es wird dich heiter machen. Er ist auch kein junger Fant mehr."

Der Bauer bot Melesigenes die Hand und nickte stumm. Seine Bewegungen waren plump und unsicher, und er sah aus, als müsse er sofort anfangen, Brot zu kauen, was er auch bald tat. Dann rüstete man sich zum Mahl. Der Ziegenknecht holte ein Stück Fleisch hervor und das wurde ins Feuer gehangen. Der Bauer fragte, wie das so Sitte war, nach Weg und Herkunft und nach dem Sängerstande überhaupt. Zum Ende wurde Wein und Käse herumgereicht, und Atthis trieb den Fremden an, nun sein Lied zu singen. Es könne dreist etwas Lustiges sein, denn der Vater sei nach dem Tode der Mutter in Schwermütigkeit gefallen und das hülfe ihm dann immer wieder auf. Sie hätten die Mutter auf so schreckliche Weise verloren; das Gespann sei mit ihr durchgegangen, als sie allein zum Heuholen fuhr; sie habe es nicht halten können und sei gegen einen Baum geschleudert worden so heftig, daß der Kopf zerbrach. Am nächsten Morgen erst habe man sie gefunden und dann noch einen Kampf mit einer jungen Hyäne bestehen müssen, die sich schon daran gemacht habe. Melesigenes hörte wenig hin und sagte nur: "Ich singe euch etwas Neues, das noch keiner kennt." Dann stand er auf und nahm seine Harfe zur Hand. Dabei fiel der Mantel ein Stück von seinen Schultern und man sah die goldenen Spangen an seinen Armen, die er gern verborgen hätte,

Er begann mit einem Vorspiel auf der Harfe, das er mit undeutlichen Tönen aus seiner Brust begleitete, dann aber kamen Worte immer klarer hervor: er sang vom Meere, das sich eben zurückzieht nach einer schweren Flut. In seiner Stimmung klang Schauer, wie als habe er es erst gestern selbst erlebt. Die drei in der Hütte schauten auf, denn so etwas hatten sie noch nie gehört.

Dann drang aus seinem Liede eines Mannes Gestalt hervor nackt und zerwildert, vom Meere ans Land gespült wie ein Seestern; er stand nun aufgerichtet am Strande sich die Augen wischend und halb trunken um sich sehend. Es war Odysseus, der eben den rettenden Schleier der Göttin ins Meer zurückwirft. Dann läuft er landeinwärts vor Frost erstarrend und gräbt sich in einen Blätterhaufen ein, der in einer Mulde zwischen zwei Oelbäumen liegt.

- Nun wob sich leise der Schlaf in das Lied; ein kurzer Schlaf, wie alle mühsalbeladenen. Und auf einmal sprang die Stimme um wie eine Böe und er sang von Mädchenspielen am Meeresstrande. Hell dehnt er sich in der Sonne, und ein königliches Gespann steht da, schon wieder vollgeladen mit der sauber getrockneten Wäsche; die Königstochter jauchzt mit ihren Gespielen und tollt und schreit, - der Ball fällt ins Wasser. Da erwacht der Dulder Odysseus in seinem Blätterbett. Ist er wieder im Lästrygonenlande oder bei den Cyklopen? Was war das Schreien ...? Er reibt sich die Augen und richtet sich auf; aber da haben sie sich auch schon ins Angesicht gesehen, er und Nausikaa, die Königstochter. Die bleibt in Ruhe stehen vor dem nackten Manne, der sich mühsam mit einem Laubzweige bedeckt,... die andern kreischen davon. - Und nun kam eine Bitte um Gastesschutz, die mehr ein Gebet war. Melesigenes legte in diese Verse die ganze Inbrunst seiner Stimme, die sich immer wandelte, wie ein Wolkenhimmel mit seinen Winden; es war, als wollte er es recht deutlich machen, was es heißt, wenn ein leidverfolgter Mann vor einer sorgenfreien Jungfrau kniet, die eben erst die Kindheit mühelos verlassen hat. Dem Gebete folgte der Königstochter milde Gastfreundlichkeit: wie sie ihn aufhebt und die Mädchen wieder zu sich heranruft, wie sie ihm Kleider gibt und Nahrung, Oel für die rauhe Haut, in deren Poren Salz und Sand des Meeres klebt. Dann ziehen sie in die Stadt der Phäaken. Aber Odysseus folgt dem Wagen erst eine Strecke weit hinterher; Nausikaa will es so, denn sie fürchtet das böse Reden der Leute.

Der Dulder geht durch die Stadt an den Gärten des Königs Alkinoos vorbei und kommt an die Schwelle seines Hauses; dort sieht er die Häupter der Phäaken sitzen beim Wein und beim Mahle. Er läuft rasch durch die Reihen der Zechenden, ein Nebel der Göttin Athene umhüllt ihn, und plötzlich liegt er zu der Königin Füßen. Der Nebel ist geschwunden, und Alle sehen staunend den Fremden, der um Hilfe fleht; nur Eines liegt ihm ja am Herzen: seine Heimat wiedersehen! Der König faßt seine Hand und führt ihn vom Herde und der Asche weg zum glänzenden Sessel; denn er hat schon längst die edlen Formen des Fremden bewundert und sein festes Auge. Vor allen Gästen verspricht er, ihn in seine Heimat zu geleiten, denn die Phäaken seien die rudergewandtesten unter den Männern der Erde. Wie die Nacht kommt, bereiten ihm die Mägde ein Lager aus weichen Polstern, und er schläft ein in großen schweren, glückseligen Zügen ...

Das war das Lied des ersten Tages im Phäakenlande. Melesigenes schwieg einen Augenblick, aber die Harfe klang weiter von seinen Händen gerührt; auch summte seine Brust die letzten Melodien nach, die wieder so klangen, wie ein fernes abrauschendes Meer. Er hatte während des ersten Gesanges die Augen geschlossen, jetzt öffnete er sie wieder und sein Blick fiel in die dunkle Hütte, in der das Feuer fast erloschen war. Zwei Gestalten kauerten in der Ecke halb schlafend, halb Brot kauend. Nur Atthis' Augen rangen siegreich mit dem Dunkel und schwammen wie klare ferne Lichter umgebungslos in dem finstern Raume.

Nun hub er wieder an. Mit Macht fiel er in die Saiten, daß die halben Schläfer erwachten:... Alkinoos beruft die Volksversammlung. Athene macht in Gestalt eines Heroldes die Säumigen neugierig auf den edlen Fremden; bald wimmelt Markt und Gassen vom drängenden Volke, und sie bestaunen den groß-gewachsenen Gast, den das Meer an ihre Gestade warf. Aber keiner weiß, wer er ist, auch Alkinoos nicht. Und der König spricht zum Volk und zu den Fürsten von ihm und mahnt, für seine Heimfahrt zu sorgen und ein schwärzliches Schiff ins heilige Meer zu wälzen, damit das Vaterlandsweh ihm so kurz wie möglich würde. Und das Volk murmelt Beifall. Dann ziehen sie sich zurück in den Saal zum Opfer, zu Trank und Mahl. Und auch ein Sänger kommt mit seiner Harfe, blind, von einem Knaben geführt, Demodokos. Und er singt ein Lied - vom Dulder Odysseus. Keiner hat es gemerkt, wie der einsame Gast sich heimlich seinen Mantel vor die Augen hält, die Tränen zu verbergen; nur der König hat es gesehen und der ruft schnell zu Kampf und Spiel. Da strömen sie lärmend hinaus auf den sandigen Markt, die Jünglinge voran, und werfen die Kleider ab. Mit Wettlaufen beginnt es, dann kommt das Springen, der Ringkampf und das Scheibenwerfen, zum Schluß das Faustfechten. - Odysseus steht abseits und sieht dem Treiben zu mit halbem Blick. Da tritt des Königs Sohn an ihn heran und fordert ihn freundlich auf, sich auch in den Kämpfen zu versuchen, aber der Dulder sagt: "laßt mich! ich sehne mich nach Hause!" Ein andrer kommt herzu mit frechem Gemüt und meint: nun, er sei ja wohl ein weicher Krämer, der ins Wasser gefallen, und dem könne man so etwas nicht zumuten! Da wird dem Trojabezwinger glutheiß im Kopf. Er faßt nach einer Steinscheibe so schwer, daß sie bisher an ihrer Stelle liegen geblieben war, und schwingt sie kräftig im Wirbel um sich herum: sausend fliegt der Stein über alle Ziele hinweg, und die Männer bücken sich furchtsam unter seiner Bahn. Ein Augenblick hat den Fremden zum Sieger gemacht, ein Augenblick zum Helden, auf dem alle Sinne ruhn. Und der König reicht ihm die Hand, wie als schenke er ihm eine Palme; das Volk aber will kein Ende finden mit seinem Jauchzen. Beschämt steht der Schmäher da. Aber immer neugieriger wird die Frage: wer ist dieser Mann? - Der Kampf ist zu Ende, der Reigen soll kommen und noch einmal der Sänger. Odysseus ist die Wehmut aus dem Herzen geschwunden, über dem Dulder steht der Sieger; Demodokos, der Alte, singt ein tolles Lied von Götterbuhlen. Gastgeschenke kommen, ein Schwert mit silbernen Buckeln ... Der Königsohn tanzt.

Immer weiter schien das Lied des Melesigenes brausen zu wollen, immer lauter werdend mit dem lauteren Ruhm des unbekannten Gastes. Da brach wieder seine Stimme ab, und die Harfe klang leise und dünn:... es ist Abend geworden; sie bereiten ein Bad für den Fremden, und er legt sich wohlig in die duftenden Wasser, die seinen staubigen Körper erfrischen; er salbt sich mit Oel und wirft sich ein neues Gewand und einen reichen Mantel um und will stattlicher als zuvor zu den Männern zurück, die im Saale sind. Da trifft ihn Nausikaa. Sie lehnt an der Pforte und bewundernd fällt ihr Auge auf den herrlichen Mann. - Wie das anders geworden ist seit gestern, wo er vor ihr kniete nackt und hilflos! Jetzt scheint es ihr fast, als wäre es umgekehrt, denn hilflos fühlt sie sich, wie jetzt ihre leichten Glieder schwer von quellender Liebe hangen zu dem fremden Manne. Da bleibt ihr nichts anderes zurück, als Abschied zu nehmen:

... leb wohl !

Und bist du heimgekehrt ins Vaterland,

So denk an mich...! Mir dankst du ja dein Leben.

 

Und Odysseus tritt in die Halle der Männer. In deren Mitte steht Demodokos mit der Harfe in der Hand, den Gästen zu singen. Mutvoll geworden durch sein Siegerglück und übeschwenglich durch die lockende Heimkehr begrüßt er den Sänger vor allen und fordert laut von ihm: er solle singen das Lied vom trojischen Pferde, in dessen Holzleib die Achäer krochen auf des listenreichen Odysseus Rat, das die Trojer in die Stadt holten in ihrer Verblendung, und aus dem des Nachts die vernichtenden Helden stiegen bei Fackelschein. Davon solle er singen. Und der Blinde greift in die Saiten und singt ... Aber da ist es auch schon wieder um Odysseus geschehn; wieder kommen die namenlosen Tränen, und wieder verbirgt der Mantel sein Haupt. Der König sieht es abermals allein, denn sein Auge ruht am liebevollsten auf dem unbekannten Gast; er tritt auf den Weinenden zu und fragt: "Wer bist du nun, Fremdling, daß du die Lieder um Ilion nicht tränenlos ertragen kannst? Wo ist dein Vaterland, denn das weiß noch keiner und doch sollst du mit der Morgenröte dorthin, wenn du uns diese Nacht von deinen Irrfahrten erzählt hast."

- Alle stehen gespannt, und endlich kommt die Antwort:

 

Ich bin Odysseus, des Laertes Sohn,

Der Listenreiche... Meiner Taten Ruhm

Reicht zu den Sternen. -

Wo der Nerythos sich zum Himmel hebt,

Der blätterschüttelnde, liegt meine Heimat,

Liegt Ithaka, das sonnige Felsenland.

Rauh bläst der Wind, doch rüstige Männer wachsen

Auf ihm empor. - O süßes Heimatland ...!

Mich hielt Kalypso, blondes Lockenhaar,

Die Göttertochter in gewölbter Grotte,

Und doch: sie hielt mich nicht.

Mich bannte Kirke Zauberkräuter kochend

Mit wundersamer Liebe fest, und doch:

Mein Herz zerschlug sich fast in Sehnsuchtsklopfen

Nach Ithaka, zu meiner Heimat hin...

 

So sang Melesigenes in der rauchschwarzen Hütte.

Atthis aber war nicht mehr darin. Eben war sie hinausgetreten in die Nacht und stand am Pfosten. Was war das? Was wollte dieser Fremde? Wer hatte doch so gesungen, wie dieser da... ? "Ich bin Odysseus, des Laerters Sohn," diese Worte klangen ihr in den Ohren, und die erkannte den Blick des altgewordnen Jugendfreundes durch das bärtige Gesicht. Melesigenes war da! Er stand unter ihrem Dache und sang! Und was hatte er gesungen? War das ein Lied, das ihr ein Zeichen sein konnte? Sie ging es noch einmal in ihrem Geiste durch, ob sie eine Stelle fände, aber der Gesang wirbelte ihr durch den Kopf und nirgends stand er still. Ihr Herz schlug immer heftiger und lauter, sie krampfte sich mit Mühe an dem Türpfosten fest, um sich zu halten. Aber nur immer banger und zweifelnder drängte sich ihr die Frage auf: was kann er nun von mir wollen, der alte Mann von dem alten Mädchen? Warum ist er denn jetzt gekommen und die ersten drei Sommer nicht, wo ich alle Nächte auf ihn wartete ...?

Da wurde es für einen Augenblick stiller in ihr, und das eben verklungene Lied bekam Gestalt und Geltung. Und wie sie tiefer hineinsah und die Töne an sich vorbeiziehen ließ, da blieb ihr vor allen ein Bild stehen: Nausikaa. Und in allem, was Nausikaa tat, fand sie heimliche Tropfen ihres Wesens wieder. Kein Zweifel: er hatte sie zu sich genommen in ganz wundersamer Art. Da kam über sie ein großes treues Glück.

Es war eine überreiche Sternennacht.

 

Von drinnen heraus drang ein neues Melodieren. Die Flamme schlug wieder auf, und sie lauschte. Was wollte er nun singen? - Wieder begann es in ihr unruhig zu werden, das Glück war wieder zerwirbelt in einem Strudel heißester Wünsche.

Ein Hochzeitslied...?

Törichter Gedanke! Sie wußte wieder nicht aus noch ein.

- Nun hörte sie die ersten deutlichen Worte, und immer höher spannte sich ihr Lauschen. Da klang es klar und schauerlich heraus:

Es war das Lied von Ilions Untergang.

 

 

 

 

AGNESE LASANTA

 

Es war ein altes berühmtes Gichtbad. Alle Völker strömten schon seit Urzeiten dahin und legten ihre Kranken in die heilenden Quellen. Hunderte von steifen und verkrüppelten Men-schen ließen sich auf Stühlen aneinander vorbeifahren, und die Gesundesten schleppten sich mühsam an ihren Krücken fort. - "Im Reiche der Mumien sind die Lahmen König - " hatte ein gemeiner Kerl mal mit Kreide an die Wand geschrieben.

Die Quellen sprudelten heiß seit Jahrtausenden, Paläste hatte man herum gebaut und die einfältige Nixe der Berge vergöttert. Der Wald stand schweigend drüber her. Einige von den Kranken kannten ihn seit Menschenaltern und wußten von diesem und jenem Teile zu erzählen, wie er als junge Schonung ausgesehen, und sahen seine Förster darüber sterben; aber rastlos zogen sie hin zu den heilenden Quellen.

Die Wandelhalle war dicht belebt. Alle Länder hatten ihre Vornehmen und Reichen hierher gesandt, um Tausenden in Krankheit und Armut die letzte Möglichkeit der Heilung mit ihrem Reichtum zu nehmen. Die wuschen sich in kaltgewordenen Bädern, weit fortgesandt, die leblosen Glieder,

Es gab Musik im Gichtbade, und dabei war es, als ob Takt und Melodie in die Räder der Krankenstühle käme, als ob die Krüppel gelegentlich den Kopf bewegten, die es noch konnten.

Die Dienenden, welche die Stühle rollten, und an den Bädern standen, hatten hündische Gesichter, nur Eine nicht, und darum verehrte man sie auch und sprach selten mit ihr. Sie war noch jugendlich, aber nicht mehr jung. Ihre braunen Haare rüsteten sich, ins Graue zu gehen, aber sie waren noch braun, und auch die Haut des Gesichtes war fast glatt geblieben; sie lachte nie, und so hatte das beginnende Alter nicht die Macht, seine Falten in die Falten des Lachens zu legen. Vor ihr auf dem Stuhle lag eine weiße Greisin. Das war nun schon dreizehn Jahre her, aber als ob ein alter Frühling sich über ihren hochgebauten Körper legte, so war des Mädchens Wesen fest und dauerhaft geblieben, Ihr Johanniterdienst schien ihr nichts anhaben zu können, und wenn sie mit dem Stuhl durch die dichten Reihen fuhr, so wich man aus und sah ihr gerne nach, oder es flüsterte gelegentlich einer zum andern, "Lasanta!"

Der Name stammte aus Genua. Dort war sie vor Jahren mit der Kranken durchgekommen auf dem Wege nach Neapel; Pozzuoli sollte helfen. Das einfache Volk in Genua nennt gar leicht jemand "il santo", den Heiligen wenn es mildtätige Gaben ohne das Lächeln der Großmut sieht. Agnese war des Abends durch die verruchten Gassen von Genua gegangen, wo die Frauen auf den Schwellen der Türen sitzen und ihre Kinder säugen, und hatte keine Furcht, und niemand tat ihr etwas. So wurde sie in den Tagen, da sie auf Miramare wohnten, bekannt, und man nannte sie "la santa".

Jetzt aber ging man nicht mehr nach dem Süden, denn es war zu spät. Jeden Sommer waren sie im Gichtbad, und Agnese fuhr tagaus tagein die greise gewordene Kranke durch die Wandelhalle und den Berg hinauf; sie mußte ihr alle Verrichtungen besorgen, nichts konnte sie allein tun, und vor keiner scheute sie zurück. Dabei hatte aber ihr Aeußeres jene Art von Sauberkeit an sich, die mehr war, als die bloße Abwesenheit des Schmutzes, eine Sauberkeit, welche duftete, und dies allein, diese Gegensätzlichkeit, die dem Gemüte anderer bei ihrem Anblick aufgedrungen wurde, genügte schon für die Verehrung, die auch die Kränksten noch für sie empfanden, ohne daß auch nur einer ihr Schicksal wußte. Sie war die Heilige des Gichtbades, obwohl man sonst gewiß nicht mehr an Heilige glaubte.

.

 

Als Agnese noch hellere Kleider trug, die den Farben der Gärten abgelauscht waren, da war jemand gekommen und hatte bei ihr angeklopft; und es klopfte etwas wieder. Keiner wußte davon, daß sie am hellen Vormittage, ja am frühsten Morgen, sich vorm Friedhofe trafen und stundenlang lustwandelten und über die Gräber sprangen.

"Würdest du auch abends hierher kommen, Agnese?" fragte er einmal.

"Aber warum denn nicht? Meinst du etwa, ich fürchte mich?"

 

"Fürchten nicht, dazu bist du wohl schon zu groß; aber was die Leute so graulen nennen."

"Keine Spur. An Ammenmärchen habe ich niemals geglaubt. Was hat sich meine Gouvernante immer geärgert, wenn sie mir ihre Gruselgeschichten erzählte, und ich am Schluß nichts weiter sagte, als: das sei aber wunderschön. - Wie ging doch gleich das Lied, das sie immer sang von der Myrthe auf dem Kindergrab.

"oben grünst du,

unten grinst du

und, kein Vogel singt bei dir . ."

 

weiter kann ichs nicht mehr."

 

"Aber, wenn du dir nun vorstellst, die Gräber gingen plötztlich alle auf; was dann ... ?"

 

"Das wäre freilich scheußlich, ja, aber hier ... können sie kommen!"

So und ähnlich war es gegangen eine selige Zeit hindurch zwischen Agnese und Thorwald. Lang war sie nicht, nur ein flüchtiger Frühling, aber Agnese hatte eigentlich nie gemerkt, daß er zu Ende war, er schien sich über ihr ganzes Leben auszudehnen, nahm den Zauber an, den alles Vergangene hat, und so kam es, daß man ihr lange Zeit das Altern nicht ansehe wollte.

 

Aber es kam heraus. Erst nur ein wenig, ein paar schlecht getrocknete Tränen hatten einiges verraten. Die Mutter dachte an ein fernes ersehntes Glück, streichelte sie und sagte-.

"Sei ruhig, mein Töchterchen; es kommt schon einmal, wir Frauen müssen harren." - Agnese weinte wieder.

Da aber kam es Schlag auf Schlag. Es wurde der Mutter laut, daß das Glück kein so ersehntes und fernes sei, sondern recht handfest in der Nähe stand, manchmal gar an der Friedhofstür wartete, und als sie nun vernahm, daß sie fast täglich miteinander zwischen den Gräbern waren, da wurde der Mutterblick ein Weibesblick, er wurde grün, und es legten sich spöttische Falten um ihren Mund; zuweilen und immer öfter. Bei einem Zusammentreffen vergaß Thorwald, sich vorzustellen, und da nannte sie ihn den "Namenlosen" und spottete tagaus tagein.

Es kam zum Bruch; Stadtgespräch, Familienrat und ewige Tränen; und da sagte Agnese ihm, er solle fortgehen auf ein paar Jahre, aber wiederkommen, wiederkommen um allen Preis, wiederkommen, nicht wahr?

"Ich will ja gerne warten und alles leiden um dich . . ."

Da war er gegangen. Und das war es, was Agnese in ihrer Jugend erlebte, ehe man sie Lasanta nannte. Der grüne Blick hatte gesiegt. Die Nähe des Geliebten war ihr verloren, aber auch die Achtung vor der, die ihn vertrieb.

.

 

Die Gelähmte vor ihre Füßen war ihre Mutter. Die Krankheit hatte etwa ein Jahr, nachdem der Namenlose weggegangen war, in ihren ersten Anzeichen begonnen. Agnesens Herz hatte sich der Mutter gegenüber erkältet. Sie gehörte nun nicht mehr zu den Töchtern, welche glauben, daß Alles was die Mutter tut, in Liebe getan sei. Verstockte und verkümmerte Formen der jugendlichen Begierde, wie Findlingsblöcke in das Flachland des Alters gestreut, so kam ihr manches Mütterliche vor; Haß, Neid, Eifersucht, Herrschgier.

 

Der Arzt stellte jene gefährliche Art der Gicht fest, die in den meisten Fällen zur völligen Versteinung führt, wenn nicht schnell etwas geschieht. Der Vater war ein plumper reicher Tölpel, der verlachte den Medizinmann, und als dieser jedesmal dieselbe Diagnose stellte, nannte er ihn einen verbohrten Besserwisser und untersagte ihm schließlich das Haus. Es kam wieder zu einem Familienrat, und da war mit Agnese, die sich seit so langer Zeit der Mutter gegenüber in düstere Gefühlslosigkeit gehüllt hatte etwas geschehen, was man ihr nicht mehr zugetraut hatte. Sie stampfte leidenschaftlich mit dem Fuße auf den Boden und sagte: es sei eine unverzeihliche Sünde, ein Verbrechen am Leibe eines Menschen, wenn man nicht sofort alles täte, um dem Rate des Arztes zu folgen. Die Mutter müsse ohne Zögern ins Gicht-bad; sie selber, Agnese, wolle mit und dafür sorgen, daß ihr nicht das Geringste abgehe. Alles, alles müsse für die Mutter getan werden, denn es sei ja eine entsetzliche Krankheit ...

 

Und als sie das gesagt hatte, wurde sie so erregt, daß sie in Weinen ausbrach und das Zimmer verließ.

Keiner wußte sich das zu erklären und keiner war fein genug, um Einiges zu erraten.

"Ich habe es immer gesagt: Agneslein hat ein gutes Herz und liebt ihre Mutter im Stillen, obgleich sie hat so streng zu ihr sein müssen" - so erklärte ihre Patentante die Situation.

Noch am selben Abend, als Alles ruhig war, kam Agnese in das Schlafgemach Anettas, ihrer jüngeren Schwester, gestürzt. Sie hatten nie Vertraulichkeiten miteinander gehabt,

"Aber siehst du denn nicht, Anetta, was da kommen muß; begreifst du denn nicht , ..?"

"Nein wirklich nicht, Agnese."

"Anetta ...! Du oder ich...! Eine von uns beiden muß ihr Leben der Mutter opfern - hinter dem Krankenstuhl."

Da war die Jüngere eilig bleich geworden.

"O Netta! Netta! So hast du mich noch nie gesehen, Schwesterchen ... !" und sie stürzte ihr vor die Knie und barg ihr Haupt.

"Ach, was soll denn aus uns werden ...! Nächtelang sehe ich nichts, als den Krankenstuhl, höre das fürchterliche Geklapper! Die ekelhaften Dienstleistungen, die Musik des Gichtbades! O Netta! Soll ich denn sagen: hilf mir! - es gilt ja: du oder ich. - Thorwald hat gestern geschrieben."

Schwester Anetta antwortete wenig und sagte nur, es wür-de ja alles nicht so schlimm werden. Es dauerte nicht lange, da verlobe sie sich. Sie war fünfzehn Jahr.

Und in Agnese begann der große Untergang. Ein frostiger Regentag hatte die Mutter hingestreckt. Sie hatte geschrieen: "Kind, verlaß mich nicht ... !" und in dem Momente, da Agnese Alles einsah, mußte sie auch eine jener fürchterlichen Erkenntnisse erleben, die den Menschen für immer zu verändern pflegen und ihm zeigen, daß es keiner von den allmächtigen Göttern ist, die Alles können. Sie hörte die allesbetäubende Stimme in sich: "du sollst hier helfen! Und nichts Anderes tun!" - Früher hatte sie zu Thorwald im Uebermute oft gesagt, sie könne alles, was sie wolle, und er hatte sie dafür gekost; jetzt aber von dieser Stimme sich befreien und wieder der alte Mensch sein, das konnte sie nicht. Sie kämpfte in hundert Nächten dagegen, sie wollte die Fesseln sprengen, die sich mit unentwindbarer Gewalt um ihre Glieder legten, sie versuchte diese und jene Deutung der Frage, sie sagte sich: was hat Mutter für Unrecht gegen mich getan, daß sie mir Thorwald nahm! Wäre es nicht Anettas Pflicht gewesen, hier zu helfen? Bin ich nicht ein junges Geschöpf, das noch viel, viel zu hoffen hat, das Menschen beglücken kann, wenn er nur wiederkommt? Bessere Menschen, - als sie! Und kann er jetzt nicht ungehindert wiederkommen ...? Was geht sie mich an, die fremde Kranke? Ist es nicht Aller Los, zu leiden, und soll ich das meine noch mit in die große Urne werfen? - O Thorwald, Thorwald, komm schnell und hilf mir! Erlöse mich von dieser fürchterlichen Stimme..." - So dachte Agnese hundert Nächte lang und grübelte und sprach mit sich selber. Einmal sah sie aus dem Fenster heraus und einen hellen Stem am Himmel stehen. Das begeisterte sie. Eine Nachtigall hörte sie schlagen und da sprach sie vom Rechte der Natur.

"Ist es nicht aller Wesen Recht, glücklich zu sein und zu genießen? Würdest du dich hindern lassen, Stern, zu strahlen, und du, Nachtigall, zu singen, es sei denn mit Gewalt ...? Darf nicht Jedes glücklich sein?"

"Der Mensch nicht!" sagte die Stimme, "Und ich bin die Gewalt." - Da sank sie wieder in ihr Bett zurück.

Sie dachte auch, wie alle unglücklichen Weiber tun, an den lieben Gott, und ob er nicht die Menschen geschaffen habe sich des Lebens zu freuen. Aber der 1iebe Gott antwortete nicht.

Ein glücklicher, aber verwegner Gedanke kam ihr noch. Sie dachte an jenen Verrückten, der alle Morgen durch die Strassen rannte und mitten im Winter Blaubeeren ausrief.

"Wie wäre es, wenn du würdest, wie er ...? Würde er denn der Stimme gehorchen brauchen und so handeln, wie ich jetzt soll? Könnte ich nicht sein, wie er; der ist doch sicher glücklich genug!" - Aber da dachte sie an seine blöden Augen und sie schauderte wieder zurück. Keine Rettung! Immer wieder sprach das unerschütterliche Gebot: "Du sollst dich opfern!" und endlich sank Agnese hilflos der eigenen Stimme in den kalten lieblosen Atem.

"Ach, wir Menschen können Berge durchbohren, Planeten belauschen, aber gegen das eiserne Sollen unseres Herzens sind wir Nichts." Das waren etwa ihre letzten Worte, die sie zu sich sprach, als der Kampf entschieden war. Und so wurde sie der Mutter Pflegerin für alle Zeit.

Thorwald war wiedergekommen, sah ihren strengen Blick und ging wieder fort. Agnese hatte auf die Kranke gedeutet und meinte, sie wisse ja nicht, wie lange sie noch zu leben habe, aber er solle doch einmal wieder anfragen. Und von da an bewegte sich das Rad ihres Lebens in steter Einförmigkeit dahin. - Niemals war in ihren Mienen der Zug des Stolzes gediehen, den Menschen tragen, die viel gelitten und Siege errungen, sie fühlte sich stets nur als Sklavin ihres Soll, das in jenen Nächten so unbarmherzig erklungen war, und sah ihr besseres Selbst in dem, was dieses Gebot zu durchbrechen vermöchte, sah es auch zugleich von Jahr zu Jahr verloren gehn immer mehr, und wie ein Löwe, der an die Kräfte nicht mehr denkt, die ihm das Gitter sprengen heißen, so dachte auch sie nicht mehr daran, zu entrinnen, und es versiegte der Wunsch zur Freiheit. Selten, ganz selten war die Wonne des Verzichtens über sie gekommen, ein Zustand, den sie nicht zu halten vermochte. Er hatte die Wohltaten von Genua gebracht und ihren Namen Agnese Lasanta.

Die Mutter, deren Wesen durch die Krankheit immer mehr verfiel, dachte wohl darüber nach, sprach aber nie davon und ließ alles mit sich geschehen, wie es geschehen mußte. Und Alles, was Agnese tat, war gut und niemals versäumte sie, auch bis ins Letzte das Beste für die Kranke zu tun. So war sie die Heilige des Gichtbades geworden, man behandelte sie mit gewisser ehrfürchtiger Scheu, und obgleich einige leichtkranke Schlemmer mit näselnder Ungläubigkeit behaupteten, es gäbe überhaupt keine Heiligen, so hielt sich doch Agnesens Ruf und breitete die Feierlichkeit des Abstandes über sie aus. Nur die Kinder drängten sich gern in ihre Nähe, und sie liebkoste ihre Lippen, hob sie hoch und gab sie der Mutter zu sehen. Das aber wollten sie nicht.

Außer den Kleinen war nur noch Einer da, der sich stets in ihre Nähe wagte. Er trug ein seltsames Äußere zur Schau. Es war, als ob er ein gewisses Gewand nicht ausziehen wollte und doch wieder Keinem verraten, daß er es trug. Es lag ihm dunkel an mit einigen silbernen Knöpfen. Er erschien stets zur selben Jahreszeit, wenn Agnese kam, und verschwand, wenn sie ging. Krank war er nicht und man wunderte sich, was er zwischen den Siechen und Krüppeln wollte. Man sagte, er trachte in Lüsten nach der Heiligen, und die Rachsüchtigen unter den Kranken weideten sich am Schauspiel seines Mißerfolges. Aber das alles war Lüge.

Wer sich des jungen Fabian Züge genauer ansah, der musste merken, daß hinter ihnen kein Wunsch schlummern konnte. Und mehr noch, er mußte sehen, daß er nicht nur fehlte, sondern daß dieses Fehlen auch seine Wonne und sein Bedürfnis war. Er hatte Agnese in Genua zum ersten Mal gesehen, als sie durch die klebrigen Gassen schritt zur Zeit der Teuerung, Melonen und Brot verteilend. Seitdem war er ihrer Spur gefolgt, Er hatte ein feines südlich geschnittnes Gesicht und die Hände waren zart wie Frauenhände ohne Ringe.

Agnese war gern mit Herrn Fabian zusammen, er war der einzige Mensch, mit dem sie verkehren konnte, und oft kam er abends zu ihr zum Tee, wenn im Nebenzimmer die Greisin zu entschlummern begann.

"Dort sollen gütige Menschen wohnen, wo dieser Tee wächst, Freund," so fing sie eines Abends die Unterhaltung an.

"Ich habe auch einmal davon gelesen, ja."

"Er stammt aus Ceylon; ich nehme stets nur den besten. Es sind die leisen und zartesten Triebe eines Strauches, den diese Menschen mit ihren Fingern zerpflücken. Blumennahrung! Denken Sie!"

Es war lange schon dunkel geworden, als der feine Duft des Ceylon-Tees an die Decke stieg. Vom Nebenzimmer leuchtete ein schmaler senkrechter Lichtschein, der aus dem Spalt der beiden Türflügel drang, ganz matt hindurch. Die Mutter war nebenan, und eine Öllampe brannte zur Nacht. Agnese zündete eine Ampel an; Fabian erhob sich und ging an einen Blumenstrauß, der am Fenster stand.

"Parnassia!" sagte Agnese,

"Ja, ich sehe; es ist eine Bergblume, ich kenne sie auch."

"Haben Sie einmal genau zugeschaut, ganz tief in den Blütenkelch hinein ...?"

"Ich tue es eben."

"Sehen Sie hier eine Blüte;" und sie nahm eines der weißen Kinder heraus, "fünf helle Blütenblätter und an der Wurzel jedes ein Büschel gelber Staubfäden. - Und nun: Bruder und Schwester in einem Bett, Bruder und Geliebte zugleich, Sehen Sie hier in der Mitte!"

Der junge Zarte wurde verlegen und wollte sich abwenden.

"Nicht fortgehen!" rief Agnese, "sehen Sie hier, was ist das...? Es trägt schon Frucht; es ist alles geschehen; die Glückliche..! Bald würde sie angeschwollen sein mit dunkler Frucht im Schoß - wenn ich nicht gekommen wäre."

Fabian wurde immer verlegner, aber er wollte es nicht zeigen, daß er es werden konnte; er nahm eine andre Blüte zur Hand; Agnese aber blieb bei der ersten.

"Sehen Sie, jetzt kommt die Hauptsache. Was ist das hier um die fruchtbare Narbe herum ... ? Sehen Sie deutlich hin!"

"Ja, eine Reihe anderer Narben."

Agnese legte die Blumen hin.

"Wozu das, wozu das, Freund Fabian...! Sehen Sie: um dieses Schauspieles willen liebe ich die Parnassia so. In ihr liegt das ganze Schicksal der Welt so deutlich geschrieben, daß ein Kind es lesen könnte."

Fabian zuckte mit dem Kopf.

"Das Schicksal der Welt ...?"

"Ja, sehen Sie nicht, wie diese schuldlosen Schwesterweibchen verkümmern müssen? Die eine hier ist nur noch ein Stumpf, die Narbe ist ihr abgefallen, und nun ragt sie sinnlos in die Luft; der andern wird es bald auch so gehen. Die Natur, Fabian, ist höchstens ein Säemann, aber kein Baumeister. - Höchstens ein Säemann!"

Herr Fabian wandte sich schweigend ab. Agnese ging ans Fenster und sah hinaus. Es gab eine lange Pause.

"Wir sprachen gestern vom Tode, nicht wahr ...?"

erinnerte sie.

"Ja."

"Und wie gleichgültig er ist."

"Davon sprachen Sie, nicht ich."

"Aber Sie hörten zu und sagten nur am Ende, daß Sie sich sehr um ihn bekümmerten."

"Jawohl," antwortete er mit einigem Trotz, "weil er das Wichtigste ist von allem, das Entscheidende."

"Fabian, Fabian! Wo wollen Sie hinaus..!" und sie begann laut und leidenschaftlich zu reden, "Sie wollen wieder Fesseln auf Fesseln um die Menschen legen, als ob sie nicht genug schon zu tragen hätten! Und das bischen Leben wollen Sie ihnen mit dem Tode verleiden. Ach, ich kenne Sie ja."

"Reden Sie nicht so laut, Agnese! Die Kranke nebenan!"

"Auf einmal werden Sie rücksichtsvoll gegen Kranke - und Sterbende ...! Aber wir können ruhig laut sprechen. Der da drinnen sagen wir nichts Neues. Die kennt den Tod."

"Sie kennt ihn ..? Woher?"

"Nun von Ihnen und Ihresgleichen! Woher denn sonst? Sie kennt den Tod in jedem Vokal seiner Sprache, weiß jede Silbe auswendig, die seine Priester, die alten Weiber unter den Männern, mit ihm zu flüstern haben. Sie hat erschauert und ausgeschauert. Jetzt lebt sie so dahin und denkt nicht mehr daran, und zieht dieses elende Leben dem Nichts vor ... in dem sie sein könnte." Sie ging behutsam an die Tür und lauschte.

"Außerdem: sie schläft. - Sehen Sie, fuhr sie fort, das ist der Fluch, der unauslöschliche Fluch, den Sie und alles, was Ihnen gleicht, über die Menschheit gebracht hat, daß Sie den Tod überhaupt für etwas halten, daß Sie sagen: er ist! wo er doch gar nicht existiert. Sie sagen, er ist das Entscheidende am Leben. Sehen Sie: die Kranke da drinnen wagt nicht zu entscheiden."

Das hatte sie laut gesprochen und nun fuhr sie gemäßigt fort: "Ich könnte Sie hassen, Freund, um diese Lehre, so lieb Sie mir sind." -

Nun wurde Fabian bitter ernst, und es begann wie ein gewaltiger Fanatismus in ihm zu leuchten.

"Agnese, spotten Sie nicht ...! Mißachten Sie wenigstens nicht den heiligen Ernst, der durch mein Leben geht, und mein Leben, das wissen Sie, wurzelt im Gedanken des Todes, der mir der feierlichste von allen ist, und den Sie verblendet ein leeres Nichts zu nennen wagen, und Gott einen Säemann."

In Agnese glühte ein beginnender Kampf. Es war, als ob sie auf diese letzten Worte wie auf eine Parole nur gewartet hätte, um dem andern eine große Frage vorzulegen.

"Nun seien Sie einmal ehrlich, Fabian!" entfuhr es ihr in eiligem Trotz. "Wozu sind Sie gekommen?"

Er senkte die Augen.

"Nein nein, schamhaft brauchen Sie nicht zu werden; daran, daß Sie mich begehrt, habe ich nie geglaubt, nicht im Entferntesten. Aber sagen Sie es mir jetzt an dieser Stelle: ist es nicht der Ehrgeiz, der Sie rastlos von Genua, oder gar von Pozzuoli her auf meine Spuren heftete, so daß alle Welt darüber sprach? Sie wollen mich entdecken, wollen eine neue Heilige erfinden. Das wollen Sie und weiter nichts! O Sie begehrender Mensch, Sie Ehrgeiziger ...!"

"Nennen Sie es Ehrgeiz, wie Sie wollen. Es trifft mich nicht; ich bin nur ein Knecht." Und dabei machte er eine leise verbeugende Bewegung mit Kopf und Händen, eine Bewegung, die verriet, daß sie der Anfang einer sonst tiefer gehaltenen war.

"Wie Sie es wollen. Aber es ist vergeblich Ihr Suchen. Sie finden nichts bei mir, was mich einer Heiligen ähnlich macht."

Im Nebenzimmer seufzte es leise.

"Sie hat uns gehört, Agnese, sehen Sie. Wir sind zu laut gewesen."

"Nein, es sind die Schmerzen."....

Dann blieb es wieder einen Augenblick still in dem kleinen teedurchdufteten Erkerzimmer. Ueber Agnesens Glieder legte sich ein leises Zittern, das sich immer mehr verstärkte und ihr das Rote von den Lippen trieb, in die Augen hinein, die immer größer wurden. Aber dann beruhigte es sich wieder, und sie bekam den Ausdruck großer Entschlossenheit.

"Wir sind Freunde, Fabian?"

"Ich meine es, ja."

Ihre Worte begannen die Bestimmtheit zu bekommen, die der Ausdruck ihres Körpers schon versprochen. Aber ein grausamer Glanz legte sich in ihre Augen, wie man ihn bei Menschen findet, die dazu bereit sind, ein vernichtendes Urteil zu fällen.

"Kennen Sie - die Leidenschaft, Freund?"

"Ich bin ein Mensch," antwortete er.

"Aber kennen Sie die große Leidenschaft, ich meine die unterdrückte ...?"

"Auch sie. - Aber Agnese, was wollen Sie von mir mit diesen Fragen?"

"Reden Sie nicht. - Kennen Sie auch die Liebe?"

"Ja."

"Und die mißachtete, die verdammte von Menschen, die nicht das Recht haben, sie zu verdammen, weil sie ihnen nicht gehört? Kennen Sie das trotzige Schweigen eines Menschen, der Ihnen Abbitte schuldig ist, und der es nicht tut, obwohl jahraus jahrein die Oellampe jeden Abend dazu mahnt...? Kurz: - kennen Sie meine Mutter?"

"Agnese ...! Welche Sprache!"

"Die, welche ich seit dreizehn Jahren mit mir alleine führe und die mich heilig gemacht hat, wie die Leute sagen."

Fabian stand auf und ging im Zimmer umher. Es war eine große Erregung über ihn gekommen, wie als ob er mit einer nahenden Enttäuschung zu ringen habe.

Agnese selbst hatte sich im Sessel aufgerichtet, und es gingen ihr hundert Gedanken durch den Kopf. Von diesen hundert Gedanken war der eine der: soll Mutter es hören, was ich jetzt sagen will, endlich hören...? Sie suchte mit den Händen heimlich nach dem engen Lichtspalt, wollte die wohltätige Hand dazu benutzen, ihn zu vergrößern und ihren Worten den Weg zu den Ohren der Mutter zu bahnen. Dann aber schreckte sie davor zurück.

"Wenn dieser Unsinn mit dem Tode nicht wäre, lieber Freund, wenn es nicht Leute gäbe, die immer wieder behaupten, es sei etwas damit, so gäbe es auch wiederum keine Menschen, die zu nichts mehr gut sind, als zu leben und andere in die abscheulichsten Fesseln zu schmieden, sondern sie würden..." fuhr sie mit hartem Tone fort, "sie würden, wie sichs gehört ..."

"Halten Sie ein, Agnese, Sie Fürchterliche ...!"

"Sie würden das nutzlose Leben aus eignem Willen zerbrechen wie ein vergiftetes Glas."

Fabian hatte den Kopf gesenkt, und als er ihn wieder erhob, war ihm der Blick der Liebe für Agnese verloren gegangen, und er schaute gleichgültig umher, erwartete mit gleichgültiger Miene alles, was er etwa aus ihrem Munde noch hören konnte. - -

"Ich habe nun nichts mehr hier zu tun," sagte er mit veränderter Stimme, "lassen Sie mich hinaus. Nun mögen die Leute, welche meinen, ich trachte in Lüsten nach Ihnen, getrost glauben, ich sei zu meinem Ziel gekommen. Lassen Sie mich hinaus."

"Gehen Sie, Fra Fabiano. Ich bin keine Luft für Sie. Ich bin vielleicht die einzige, die Sie nicht vertragen können. Verzeihen Sie, wenn ich Sie so lange zu täuschen wagte."

Der Priester nahm seinen schwarzen geschwungenen Hut und ging schweigend voran die Treppe hinunter. Dann schieden sie.

Als sie wieder in ihr Zimmer gelangt war, blieb Agnese am Fenster stehen und sah dem Freunde nach, wie er wankenden Schrittes durch die Gärten nach seiner Wohnung ging. Dann öffnete sie und ließ frische Nachtluft ins Zimmer, goß den letzten Rest des kalten Tees aufs Blumenbrett und atmete die schwergewordene Spätsommerluft in großen erholenden Zügen ein. Sie merkte, daß sie glutheiß geworden war und ließ den Wind der Nacht durch ihre Haare gehn. - Wie nach einer Schlacht, so fühlte sie sich, aber eine, die sie gewonnen hatte. Die Erinnerung an Thorwald kam. In den letzten Jahren war ihr dieses Gefühl immer nur die Liebe gewesen, zu einer ungefähren Stimmung war es geworden ohne Zweck und Ende nur ein Spiel mit dem ewig bewegten Gemüt. Denn Thorwald selbst war ja nicht wiedergekommen. Jetzt aber war es grade die Liebe zu Thorwald, die in ihr Herr wurde; es war ihr, als ob dieser Kampf ihm gegolten habe, und als ob der Sieg ein Denkmal sein könnte für jenen Frühling, da sie über die Gräber sprangen, und von dem sie ja jetzt noch lebte. - Sie atmete hell auf. Das erste mal im Leben ein wirklich großer Sieg! Wie das feierlich stimmte!

Sie öffnete die Schiebetür mit leiser Vorsicht. Die Kranke schlug die Augen zu. Das tat sie immer, wenn sie im Einschlafen war und nicht mehr reden wollte. Agnese hob sie auf und legte sie in ihr Bett. Dann löschte sie die Lampe aus und ging zur Ruh.

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Mit der Mutter war es in der Zeit darauf anders geworden. Die steinernen Gichtzüge ihres Gesichtes, die sich kaum zu verändern wagten aus Furcht, ein Glied dabei zu bewegen, begannen, aus ihrer maskenhaften Ruhe aufzuwachen. Die Augen, die allein nie denkend genug aussahen, begannen, ein Wechselspiel mit den Muskeln des Gesichtes zu treiben. Man sah ihr an, daß sie dachte, ja, daß in ihr wohl Stimmungen und Wünsche, vielleicht auch gar Entschlüsse zu sprechen anfingen. Sie blieb oft die ganze Nacht bei brennender Oellampe auf und hatte des morgens unverschlafene Augen, die die eintretende Agnese begrüßten.

Agnese ergriff dieses Schauspiel. Sie hatte einst als Kind einen merkwürdigen Traum mehrere Male geträumt: man habe die Mumie einer ägyptischen Königstochter gefunden, und als die Totengräber das erste Mal mit Licht in die alte Grabkammer kamen und die Tote blendeten, da habe sich die Hand der Mumie bewegt und habe das Leichentuch über die nacktliegende Brust gedeckt. Dann aber sei sie für immer eingeschlafen.

Das Verhalten der Mutter erinnerte sie an diesen Traum. Die Greisin hatte all' die Jahre hindurch nichts mehr von Scham und Würde gezeigt. Sie war ein krankes Tier gewesen, willenlos und ohne Gedanken in der wohltätigen Hand der Tochter. Nun schien es, als ob es anders werden wollte. Sie sprach oft von ihrem weißen Haar, und Agnese gehorchte. Aus dem Gleichmaß ihrer jahregewohnten Hilfeleistung erwuchs eine gewisse Feinheit und Scheu vor dem Alter der Mutter.

Und eines Tages, als es nun etwas feierlicher zu sein begonnen hatte, da schien sie die Hand der Tochter ergreifen zu wollen und sprach zu ihr:

"Sage mir, Agnese, liebst du ihn noch den Thorwald?"

Wie gebannt war sie von diesem Wort, und das Auge der Alten blickte wieder ruhig wie ein Mutterauge. Aber das sah sie nicht, sondern hörte nur die lange verschwiegene Frage, sie verstand die Brücke nicht, die sich auf einmal vom Mutterherzen zu ihrem schlagen wollte; die Mutter hatte diesen Namen nie ausgesprochen, sondern immer nur die spöttische Bezeichnung gebraucht, sie hörte sie von ihrer Liebe reden und konnte sich nichts Anderes mehr denken, als daß es Hohn sei. Der alte Grimm wurde Herr in Agnese, sie sah den Weibesblick der Mutter wieder und antwortete nur das eine Wort: "Namenlos ...!" dann ging sie hinaus. -

Also hatte die Greisin gehört, was sie an jenem Abend zu Bruder Fabian gesprochen ...? Oder doch nicht? - Sie wußte nicht ein noch aus; sie fügte im Geiste zusammen, wie sich die Dinge trafen, das Erwachen des Willens und des Denkens in dem gichtversteinerten Leibe,... der Traum von der Königstochter, die sich die Brust zudeckt, das Wiederaufleben der Würde in ihrem Greisenblick,... was war das Alles? - Es türmte sich zu ungefügen Haufen in ihrem Geiste empor und wurde kein Entschluß. Sie dachte viel, aber sie tat nichts, als Schweigen und ihre Pflicht.

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Im Oktober, wenn die Forellen stiegen, wurde man neugierig im Gichtbade. Das waren die Tage, wo man Etwas hatte, wovon alle Kranken sprachen. Mitte August waren es die Sternschnuppen, die es den Gichtbrüchigen antaten. Da lagen sie ganze Nächte lang mit ihren gelenklosen Gliedern auf den Balkonen und starrten in den stahlblauen Himmel. Es war still auf den Straßen, und man hörte hier und da von der Höhe oder aus den Gärten erstaunte Rufe, wenn ein Stern gefallen war. Die minder Kranken, die mehr eitel waren als gichtbrüchig, machten sich weniger daraus und saßen beim Skat in den blendenden Cafés, aber die Hoffnungslosen liebten jene Nächte über alles; sie blieben bis weit an den Morgen heran in den Dunkelheiten des Augustes liegen, und ihre Wärter ließen sich die Nachtwachen gut bezahlen.

Im Oktober, wenn die Forellen kamen, war es schwerer. Die scheuen Tiere ließen sich nicht so leicht beobachten in ihrem Liebesspiel und ihrer Wandrung; sie schienen die Stelle, wo am Bache das Bad der Kranken lag, mit der Scheu des gehetzten Wildes schneller zu durchschießen; es war, als kennten sie die Neigungen gichtischer Hypochonder. Aber es blieb doch immer noch genug zum Schauen übrig für die, die sich gerne damit begnügten.

"Agnese", sagte an einem späten Nachmittage die Mutter, "fahre mich heute dicht ans Wasser, ganz dicht; ich will die Forellen steigen sehen. Aber so dicht heran mußt du mich fahren, daß ich hineinlangen könnte, hörst du?"

Sie fuhr den Krankenstuhl bis nahe an den Bach, da wo er am wildesten schäumte und über die Steine ging. Sie mußte ihn durch Wiesenboden fahren, und das galt eine schwere Arbeit. Dann bat sie um Urlaub; sie wolle den letzten Sonnenschein genießen und über die Stoppelfelder gehn. - Ihr Kleid rauschte durch das Wiesengras.

Die Mutter war allein. Sie horchte dem Kleiderrauschen nach, bis es ganz verschwunden war, und der Bach allein seine Stimme hatte ...

"Ein vergiftetes Glas hat sie mich genannt..."

Sie blickte in den schäumenden Sturzbach hinunter, der seine Tropfen bis an ihre Füße spritzen ließ. Sie sah keine Forellen, denn sie dachte nicht an sie, sondern sah nur das Wasser und die großen runden Steine, die sich seiner Gewalt entgegenstellen wollten. Das schien sie schaudern zu machen, und sie blickte schnell wieder fort, um einen Entschluß wieder Herr werden zu lassen, den die Furcht zu ersticken begann.

"Ob der Priester noch bei ihr ist ...?"

Mit dieser Frage, die sie garnicht interessierte, kam sie wenigstens über die Angstgefühle hinweg, die sie beim Anblick des wilden Wassers beschlichen hatten, und sie sah beruhigt über die weiten Wiesen fort nach dem Westhimmel zu, der in herbstlichem Rot erblaßte.

Ihr Auge bekam einen Glanz, der das Alter hätte verjagen können; sie übertraf das Schauspiel der letzten Zeit um ein Weites; es schien vollendet zu sein, was damals werden wollte. Oder war es Irrsinn, der über sie kam ...?

 

Zwischen ihren Lippen murmelte sie einige rhythmische Worte. Es war ein Gedicht, das sie in einer Frauenzeitung gelesen hatte,

 

Wie einen Menschenriesen sterben sah

Ich gestern die Natur. -

In allen Bäumen sank der Saft

Wegmüde nieder;

Die letzten Blätter kaum

Verhalten sich an braunen Zweigen.

 

Und Leichentücher zögernd warfen sich

Auf den noch warmen Leib,

Vergingen einige Mal, aber dann

Lag es in breitem Weiß

Triumphierend da.

 

Und Krähen sangen darüber her

Und flogen laut begrüßt zur Stadt . .

 

Jetzt legte sich ein fröstelnder Wind über die Wiese, und sie erschrak. Wozu war sie hierher gekommen ...? Was wollte sie hier? Wozu die Lüge von den Forellen? ... Es wurde kalt, und Agnese mußte bald wieder da sein. Sollte sie noch einmal die fremde Tochter erwarten, noch einen Tag länger ihr Kerkermeister sein...? Der Unversöhnten, der Pflichttuenden - der Hassenden? Ob Fabiano, der Priester, noch bei ihr war ...?

Sie stand auf von ihrem Stuhl.

Ja, es ging, Die Mumie konnte gehen. Es war ihr gar nicht wunderlich mehr, daß jetzt ein Wunder geschah.

"Ein vergiftetes Glas hat sie mich genannt..."

Und dann rauschte das Wasser über sie hinweg. Den kurzen leisen Schrei hatte keiner gehört, und er Körper trieb den Bach hinab.

.

 

Agnese war schnell durch die Straßen des Gichtbades geeilt, um wieder ins Freie zu kommen. Das kam daher: sie hatte heut wieder einen Tag heftiger Erinnerung zu erleben; drum hatte sie sich so schnell von der Mutter losgesagt. Es kamen gewisse Zeiten über sie - die die Frauen kennen -, in denen das Gemüt leichter der Sehnsucht oder schmerzlichem Aerger ausgesetzt ist; launige, empfindliche, lose Tage.

Als die Stoppelfelder kamen, ging sie langsamer. Die Vergangenheit streckte ihre Hand nach ihr aus, eine Hand, die schön war, wenn auch Narben und Nägelmale in ihr ruhten. Die fuhr über ihre heißgelaufene Stirn, über die Augen, die sich eben schlossen, und ruhte dort eine lange Zeit. Und vor den blinden Augen stieg eine Jünglingsgestalt empor, die nur noch Thorwalds Züge trug, aber so, als hätte sie ein Künstler in dunkles Erz gegossen - braun, kräftig, klar.

So stand die Heilige für eine lange Zeit, und es war so still umher, daß sie die Augen nicht zu öffnen brauchte. Sie genoß lange das Bild des Gemütes und vergaß, daß sie hier einsam auf den Stoppelfeldern stand, eine Gefangene, die neben einer Kranken auf deren letzte Züge wartete, und dabei selber dem Alter entgegenschlich.

 

... Sie hatte es nicht gemerkt, wie die Nebel der Wiese sich sammelten und langsam, langsam emportrieben heimtückisch bis über die gemähten Kornfelder hinweg. Sie kamen angekrochen die feuchten, langgedehnten, nur von Ferne sichtbaren Nebeltücher und kamen unhörbar bis dahin, wo sie versunken stand. Sie küßten leise ihren untersten Kleidersaum, als wollten sie sagen, "halt ein ...! Wir kommen ...!" - Der Nebel stieg und stieg, ging über die Hüften weg, und war am Herzen, als sein Opfer auch schon zu seufzen begann. Agneses Erinnerung zog sich ins Schmerzliche; der Bronzekopf wurde Marmor, Granit und Sandstein. Die Herbstnebel siegten. Sie nahm die Hände von den Augen und sah entfremdet in die Landschaft, die dunkler und unheimlich geworden war; und auch die Sonne war schon fort,

Da plötzlich durchfuhr es ihre Glieder. Was war das eben...? Sie hatte von Ferne einen verworrnen Schrei gehört, wie einen Hilferuf. Er zitterte noch deutlich vernehmbar durch die Abendluft in ihrer ermattenden Kühle, aber es war ihr, als hätte sie ihn schon lange vernommen und sie wäre nur nicht gefolgt.

- Die Mutter ...! Das mußte sie gewesen sein...! Sie hatte den Krankenstuhl ja stehen lassen am Wiesenrand, wo man die Forellen sah. ...Da eilte sie über die nassen Felder.

Agnese sah den zerbrochenen Leichnam liegen.

Unten an der Wiese vor dem Gichtbade, wo das Wasser flacher wurde, war die Tote an einer Weide hängen geblieben, und die Leute standen herum.

"Lasanta ...!" murmelten sie, Agnese sagte nichts, gab einige Befehle und ging in ihr Zimmer.

Parnassia blühte in hellen Büschen, und es duftete leise nach ceylonischem Tee. Sie nahm eine Blume aus der Vase und dabei merkte sie, daß ihre Hand zitterte, sie fühlte, wie ihr ganzer Körper bebte, als wollte er sich gegen ein unbekanntes Gefühl sträuben.

"Agnese, was ist dir...?

Willst du nicht stille halten?" rief sie sich hart zu. "Der Tag ist da...! Stehe! Stehe...!"

Es kam ein frischer Hauch aus dem Garten, der roch nach Abend und Nebel; es waren dieselben, wie vorhin, als sie in den Kornfeldern stand.

 

"Liebt mich der Nebel so ...?"

Sie blickte nebenan ins Zimmer durch den berühmten Türspalt hindurch, und da kam etwas wie ein Gefühl über sie: von dorther klang nun nicht mehr das alte Stöhnen, die hilfesuchende vernichtende Stimme, von dorther zog sie nicht mehr das Verlangen nach Wohltat hinein und das Seufzen der Greisin. Sie war keine wohltätige Heilige mehr, sie merkte nur eine große Leere im Zimmer drüben, eine ungewohnte Stille, das Verstummen der lange belauschten Atemzüge, Kälte, Einsamkeit ...

Sie hörte Stimmen von unten. Man trug sie gerade hinauf, und sie kamen und grüßten verlegen. Agnese befahl, man solle sie auf ihr Bett legen, und dann gingen die Bauern fort.

Es dunkelte weit über den Feldern, und die Berge lagen in trübe gefärbtem Mondlicht, Was war das für eine sonderbare Einsamkeit ...? Als ob es von Ferne sänge, war es ihr; als sie aber hinhorchte, da sang sie selber. Es war das Ammenlied, das ihr auf einmal einfiel, von der Myrthe über dem Grab:

Bist ein falsches Kind!

Komm geschwind, geschwind,

Laß die schlechte, schlechte Myrthe dort!

Weiße Blüten stehn,

Doch die Wurzeln sehn

Leichentücher an vergrabnem Ort.

 

Wehe, wenn du säumst!

Hüt' dich, wenn du träumst

Von der Myrthe, der verlognen, hier. -

 

Oben grünst du,

Unten grinst du,

Und kein Vogel singt bei dir ...

 

Und sie sang es bis zu Ende, denn es fiel ihr auf einmal alles wieder ein, und was sie als Kind nicht zu fühlen vermochte, das kam nun über sie.

"Fabiano ...! Fabiano ...!"

Für einen Augenblick überfiel sie die Angst und die Gewalt der Oede. Sie wußte sich mit der Toten allein im Zimmer. Kalter Schweiß rann ihr herab, und sie hielt sich mühsam fest. Was war das? Es antwortete ihr nur: Seine Majestät, der Tod.

Bald verlor sie die Furcht vor dem einzelnen Wesen, über das die Vernichtung hinweggeschritten war, und sie trat ruhig in das stille Zimmer. Aber es kam wieder ein großer Kampf über sie, der sie zum zweiten Male zu verändern drohte. Sie war ein Mensch, den ein großer Irrtum zersprengen konnte, wenn er sich etwa in seiner ganzen Nacktheit vors Angesicht gestellt hätte.

Sie dachte an jene Nächte vor dreizehn Jahren; da war es ebenso gewesen. Jene Nächte, da sie mit der Pflicht in heißem Ringen lag, und sie mit Sternen und Nachtigallen vergeblich abzuwehren versuchte. Jetzt war es der Gedanke des Todes, der von ihr die versagte Anerkennung heischte, und der mit allen Mitteln ihr Gemüt bedrängte. Was kostete der Kampf? Konnte sie ihn noch aushalten und Agnese Lasanta bleiben, die Stolze, die dem Priester sagte, der Tod sei nichts, und ihn verjagte ...?

Sie hatte mitten im Zimmer gestanden, aber da kam die Leere und machte sich Platz. Sie sah so seelenlos und zwecklos den fahlen Körper im Halbdunkel liegen, sah sich selber und alle Menschen seelenlos und zwecklos liegen. Und da fand sie die Antwort und ließ den Kopf auf ihre Brust herniedersinken. Morgen, wußte sie, morgen, da sind die Haare grau.

Von unten hörte sie eine Tür gehen, das schreckte sie auf. Sie lauschte zum Fenster hin und lehnte sich leise über das Brett, wo die Parnassia wie eine weiße Erinnerung im Dunkeln schwamm. Es war Fabiano, der Priester, der gerade fortreisen wollte zu seinem Bischof und ihm die Meldung bringen. Er sprach noch ein paar Worte hinauf, erst Bedauerndes, dann gleichgültige Dinge, dann von ihr selbst.

"Nichts haben Sie geliebt in ihrem Leben, Agnese; nicht einmal Ihr Schicksal."

Und dann ging er,

Agnese antwortete nichts, denn sie hatte nichts zu antworten. Das Leben war dahin, und lieb hatte sie nichts mehr. Sie sah nach der Stelle, wo die tote Mutter lag, und nun rannen die heißen Tränen durch die lange begonnene Nacht.

 

 

 

ROSA SOLEMNIS

 

Niemand hatte es gemerkt, was mit Irmin dem Kinde vorgegangen war, als ihre Mutter allein. Sie hatte stets so ausgesehen, als wäre sie aus einer alten Sage entsprungen mit offnen Haaren in kurzem Hemd und barfuß und das Tränenkrüglein in der Hand. Man blieb stehen, wenn man Irmin mit Frau Gotlind auf der Straße sah. Aber das war nun anders geworden. Als sie eines Abends von einem Halbenkinderball heimkehrte, tat sie eine Frage, aus der die Mutter merkte, daß sie kein Kind mehr war. Die Frage war töricht, aber sie verbarg etwas. Darüber wurde ihre Stimme tiefer, die Augen schienen wie umflort. Da schlich sich Frau Gotlind nachts von ihrem Gatten fort und trat in die Stube, wo Irmin schlief. Vor ihrem Bette war eine spanische Wand aufgestellt und die Mutter ließ sich hinter ihr ganz leise auf einem Sessel nieder. Irmin schlief schon; aber in ihren Träumen ging es unruhig her. Sie griff oft mit den Händen in die Luft und schrie ängstlich ein Wort, das die Mutter nicht verstand. Dann wurde es wieder ruhiger, bis nach Stunden ein neuer Schrei sie selbst und die Lauscherin aus dem Schlafe rief. Irmin ahnte nichts davon, daß jemand ihr Inneres beschlich. Am Tage schien sie wie immer. Aber die Mutter fragte viel, kümmerte sich um alles, sah ihren Wegen nach, ihren Kinderspielen; und mit dem Grade, wie sie fühlte, daß Irmin sie unmerklich zu hassen begann, legte sich Falte um Falte auf ihre Stirn.

Eines Abends, als sie wieder ihren altgewohnten Gang machen wollte, fand sie die Tür verschlossen.

Frau Gotlind stammte aus einer jener alten Familien, die Güter im flachen Lande zwischen Weizenfeldern besaßen. Von dort her hatte sie ihre Art und ihre Rasse genommen. Sie gehörte zu den halb herrischen, halb demütigen Protestantinnen, deren Inneres geordnet ist, wie die Steingefüge in einem Dom; denen nichts ferner liegt, als Zweifel und Mißmut, und die bei gewissen aufdringlichen Fragen einer dreisteren und klügelnden Umgebung fromm verstummen. Gott war ihr in scharfen Umrissen ins Weltall gezeichnet und dieses Weltall hing wunderschwer in sich selbst, und die Dinge, die in ihm vorfielen, waren von seiner greisen Hand gelenkt. Das war so von Ewigkeit zu Ewigkeit. Aber die Welt, das fühlte sie so, war größer als Gott. Sie dehnte sich, soweit ihr blinder Drang es begehrte, zerfraß den Raum, sie war ein Ungeheuer mit unendlichem Verlangen und keine Ferne war ihr Maß und Ziel. Gott aber brauchte den Raum nicht, um groß zu sein, und das Wunder, das die Menschen erleben, wenn sie an die Unendlichkeit denken, das war ihm eine törichte Kinderweisheit. Er war der Geist, und es dünkte ihm nicht erstrebenswert, den Gesteinen und Gestirnen gleich nach Fernen zu eilen.

Sie hatte sich das alles nicht selbst erdacht; es stammte von ihrem alten Pastor, der sie eingesegnet hatte, und der ein einsamer stiller Denker war. Er durfte solche Gedanken eigentlich nicht sagen, denn so manches verstieß wider die Lehre, die er verkünden mußte. Aber als Gotlind noch Mädchen war und mit ihren Augen an ihm hing, da war sie öfter allein zu ihm gekommen und da hatte er ihr das alles gesagt. Weil er ihr nicht sagen durfte, daß er sie in heimlichen Stürmen liebte, so vertraute er ihr sein Gottesdenken an, das diese Stürme so oft beschwichtigt hatte.

Daher kam es auch, daß Gotlind noch immer an dieser verheimlichten Weisheit festhielt. Sie haderte nie mit irgend jemand darum, obwohl es in der Stadt viel Frauen gab, die das unter sich alle Wochen taten. Sie war ihrem Gott ergeben, der hoch über allem Streit um sich selber stand, und darum fühlte sie sich auch so überlegen über all die Zänkerinnen. Ihr alter Freund hatte sie manchmal warnen müssen: Gotlind, du darfst dich nicht überheben! Aber nun war er lange tot und sie tat es doch manchmal.

Er, ihr Gatte, war Kaufmann, hieß Erich Bürger und war schon ein wenig ergraut. Es ließ sich gegen ihn nie das mindeste einwenden, seine Laufbahn, die nun schon beendet war, zeigte nicht den leisesten Makel. Und wenn es etwas gab, was ihn in ihren Augen herabsetzte, und wenn nicht gerade dies, so doch ihm den Zauber unbedingter Männlichkeit für Augenblicke nahm, so war es seine leicht hervortretende Sucht, Wert darauf zu legen, daß man ihm nichts nachsagte. So hatte sein Leben trotz aller Tatkraft, die in ihm strömte, stets etwas Tastendes an sich gehabt; es war ein Seitenblicken gewesen und ein nie versiegendes Spüren nach der Beurteilung der Menschen. Beim Abschluß seiner Laufbahn tat er noch ein übriges, um ja nichts unrechtmäßiges in seinen Händen zu haben. Er schenkte eine bedeutende Summe seines erworbenen Vermögens den Armen der Stadt, heimlich, keiner sollte etwas wissen. Aber es wurde doch verraten und trug ihm einen ehrbaren kaufmännischen Titel ein. Er war zufrieden und legte die Urkunde des Königs beiseite.

Frau Gotlind wurde bei jedem Schritt um Rat gefragt. Sie billigte alles, denn es war nichts, was man nicht billigen konnte, und so gab es auch nirgends in ihrer Ehe eine offne Stelle, über die nicht eine gute Brücke führte oder gar ein breiter Wiesenstrich.

Da auf einmal wurde Irmin krank. Sie war der Mutter entwischt, nicht lange, nachdem sie das erste Mal die Tür hinter sich abgeriegelt hatte. Und als sie wiederkam, war sie gebrochen und verfiebert. Es mußte etwas ganz Unheimliches mit ihr geschehen sein, denn aus dem Mädchen war kein Wort herauszubekommen. Ihre kranken Träume wurden so laut, daß man sie nachts von draußen her hören konnte. Der Hausarzt, den sie holen ließen, gehörte zu jenen alten halb komischen, halb ehrwürdigen Doktoren, die es nur schwer über sich bringen, einer jungen Frau ein warmes Bad zu verordnen oder mit einer Frau über Dinge des Körpers zu sprechen; und daher kam es auch, daß er das Gespräch mit ihrem Gatten stets ablenkte, wenn sie erschien. Sie wußte nicht, was ihrem Kinde fehlte. Sie hörte die Männer tuscheln, sah ihren Mann mit dem Kopfe nicken und vor sich hinstarren, und fühlte auch heraus, daß man sie im Gespräch mit einbezog. Damals lag auch immer bei Tisch seine Hand leise auf der ihren und wenn es Abend wurde, saß er stets dicht bei ihr und verließ sie nicht. Nur ins Krankenzimmer ging sie allein und studierte mit fieberndem Auge die fremden Namen auf den Flaschen. Irmin lag ruhig, aber es fiel der Mutter auf, daß sie sie selten ansah. Sie stierte an die Decke und atmete so leise wie möglich.

Nachdem dieser Zustand lange Zeit angedauert hatte und Frau Gotlind immer neue Rätsel aufgegeben, begann Irmin unruhig zu werden. Ihre Augen flimmerten hin und her, sie schien sich über etwas zu wundern, schien etwas sagen zu wollen und sagte schließlich eine gleichgiltige Sache. Abends um die sechste Stunde rief sie dringend nach ihrer Mutter. Frau Gotlind eilte hinzu und fand Irmin aufgerichtet. "Mutter, Mutter!" sagte sie, "hör mal zu . ." Sie beugte sich über sie und Irmin legte die Hände auf ihre Schultern. Sie sah sie ganz dringend an und suchte wieder nach Worten. Irmin hatte als Kind, wenn sie um etwas bat, die Mutter niemals dringend angesehen und gefordert, sie hatte immer ihre Bitten nur nebenher halb als Anspielungen verlauten lassen. Jetzt aber sah sie die Mutter mit einem neuen Blicke an und diese wartete geduldig. Irmin fieberte stark. "Mutter, mir ist so ... es ist so ganz wunderlich ... wie als ob sich alles drehte und ich stände still und verstehe alles ... Mutter, da kommt etwas, das will zu mir, sieh mal ..." Dann schwieg sie, wie als wollte sie lauschen, was da käme und sah die Mütter immer noch dringend an. Sie schien ihr die Seele aus dem Leibe holen zu wollen. Sekundenlang blieb das so und Frau Gotlind blickte noch immer ruhig in die Augen ihres Kindes. Da merkte sie auf einmal, daß die Iris nicht flimmerte, daß das Auge so still stand, wie kein Auge stehen kann und daß keine Tränen kamen. Sie sah, daß dies das Auge einer Toten war.

Sie ließ Irmin los, die zurückfiel. Kurz darauf stand sie am Türpfosten und brüllte wie ein Tier des Waldes.

 

.

 

Irmin war noch nicht vierzehn Jahre alt, als sie starb. In den drei Tagen, die sie zu Hause liegen blieb, war aus Frau Gotlind fast kein Wort herauszubekommen. Sie war jedem Troste unzugänglich, wehrte alles ab, was sich zu ihr drängte, und jeden Abend hörte man einmal das furchtbare Brüllen aus ihrem Munde, das so klang wie von brünstigen Hirschen im Herbst. Es war entsetzlich für die anderen Einwohner des Hauses, für Bürger sowohl, wie für die Dienerschaft, denn daß ein Weib solch eine Stimme haben könnte, das war ihnen noch nicht bekannt.

Irmins Gesicht, von dem leinenen Kinnbande gehalten, hatte nichts von der Schönheit einer Schlafenden verloren. Manchmal saß Gotlind neben ihr, aber sie küßte sie selten. Niemand kam in das Totenzimmer, wenn sie darin war; sie hatten alle ein Grauen vor ihrem Schmerze. Ihren Befehlen gehorchte man blind, selbst wenn sie sonderbar und aufsehenerregend waren.

So ging der Tag des Begräbnisses nach ihren harten Wünschen vonstatten. Niemand durfte mitkommen, das Datum wurde auf den Karten falsch angegeben. - Der Friedhof mit der kleinen kuppligen Brandkapelle lag ziemlich weit außerhalb der Stadt. Am frühen Abend vom Straßennebel eingehüllt fuhr der Wagen mit den zwei schwarzen Pferden und den dumm geputzten Leichenrittern ab, Frau Gotlind allein mit ihrem Kinde darin. Der Geistliche sprach nur zu ihr, und die Worte des heiligen Buches, die immer an eine Mehrzahl gerichtet waren, schienen ihr heute das erste Mal auf sie nicht zu stimmen. Sie bäumte ihren ganzen starken Glauben auf, jetzt, wo er sich am besten erproben sollte, aber da merkte sie, daß er versagte, und fast kamen ihr die Worte über die Lippen, die sie heimlich zum Prediger sprach: du kennst ja das Leid nur aus diesem Buch!

Dann glimmte bald das Zehrfeuer auf in dem kleinen Kuppelbau; es war eine überstarke Flamme für den geringen Körper, und die Form war bald zerstört.

Als Frau Gotlind nach Hause kam, war sie noch immer unleidlich für alle andern. Sie blieb zu den Mahlzeiten allein auf ihrem Zimmer. Aber die brüllenden Töne hörten auf. Aus ihnen wurden Rufe, eine Sprache zu sich selbst, und die Sprache verdünnte sich zum Denken. Und was sie zuerst dachte, war unziemlich für Frauenherzen; aus ihren schwersten Innern kam es herauf, reihte sich Bild an Bild, keines war milde und freundlich, alle voll alter Wünsche, von denen sie nichts mehr wußte und die jetzt damit zu drohen schienen, wieder lüstern zu werden. Ihr allerversunkenstes Vineta kam nach oben.

Und schließlich dachte sie nach über das Kreuz von Golgatha. Aber sie hatte nicht mehr die Augen gläubig von unten nach oben gerichtet wie die füßeküssende Maria: sie stand mit dem Volk auf dem Hügel daneben, wo man schätzend und abwägend zu dem Kreuz herübersah und dem Leichnam, der daran hing.

Dies Bild war es ja, das ihr von den Tagen der Kindheit an stets gefolgt war. Ueberall, wo es etwas zu freuen oder ernst zu sein gab, da hatte es sich gezeigt in Elfenbein und Ebenholz. Es hatte überall hineingesehen und zu allen Dingen gesagt, daß sie nur halb soviel wert seien, als sie schienen, oder noch weniger. Es hatte über hellodernde Mädchenfreuden, wo das Blut mächtig hatte aufrauschen wollen, eine dumpfe Patina gelegt, die alles Glitzern betäubte; und wenn vom Tode gesprochen war, - gesehen hatte sie ihn nie -, dann war es wieder erschienen und hatte ihm, wie seine Priester sagten, den Stachel genommen. So waren ihrem Leben die Gipfel gekappt und die Schluchten mit Sand gefüllt worden.

Da bäumte sie sich gegen auf. Ihr Schmerz war unzerteilbar und unvergleichlich, an Irmins Tod war nichts zu deuteln und besser zu wissen, er furchte kindheitstief in ihre Seele und sie empfand es als eine Verschnödung, von diesem Schmerze gering zu denken. - Und das Volk auf dem andern Hügel murmelte unwirsch; sie hörte, wie es noch immer schrie: Kreuzige, Kreuzige ihn! obwohl er schon tot war. Und sie stimmte mit ein. Da brach das Kreuz von Golgatha zusammen und stürzte in den Abgrund mitsamt dem Körper, der an ihm hing. Der Vorhang im Tempel ihrer Seele zerriß, die Blitzglut ihres Innern machte sich frei und es war dunkler weltaufrührender Schmerz überall.

Am folgenden Tage kam Irmins Asche an. Frau Gotlind begrub sie selbst ganz am entlegensten Ende des Parkes, dicht neben einem kleinen Gartenhaus, das Bürger ihr hatte bauen lassen, als sie noch jung verheiratet waren. Seitdem war es fast nicht benutzt und etwas verwildert. Dort dicht daneben war ein ganz stiller Platz, den man vom Vorderhause aus nicht sehen konnte, und dort vergrub sie die Asche in ihrer eisernen Hülle. Später kam ein Granitquader hin, auf dem nur Irmins Name stand.

Bürger hatte das alles so gehen lassen. Er war wirklich nicht der steife schwernahbare Aristokrat, für den man ihn hielt, sondern er konnte mit einem halbernsten Lächeln den Wünschen einer Frau gehorchen, von denen er sich sagen mußte, daß sie keine bloßen Launen seien. Ja er gab noch manches mehr zu. Er pflegte in jener Zeit ihr fast dienstbar zu werden; er wußte es, noch ehe er sie darum bat, daß sie nun allein schlafen wollte und hatte alles dazu herrichten lassen. Etwas schwerer fiel es ihm aber aufs Herz, als er zusehen mußte, wie die strenge Frömmigkeit seiner Gattin in Stücke brach.

 

Die ordnungsheischende Protestantin war ihm stets ein willkommenes Gegenstück zu seinem Kaufmannstume gewesen. Er brauchte sich nie um diese Dinge zu kümmern, die doch nun einmal von der Gesellschaft gefordert wurden, und die man bei jedem gebildeten Menschen voraussetzte: sie machte alles, sie lenkte, sie regelte und balanzierte die Dinge mit Gott und so mit der Stimme des Volkes. Aber jetzt mußte er das, und er trocknete sich manchmal den Schweiß von der Stirn. Er bekam oft genug ein Zittern in die Glieder, wenn er sie reden hörte, oder wenn er in ihrem Zimmer eines jener Bücher fand, die von der Welt behaupteten, daß sie ein Chaos sei.

 

Himmel und Erde stürmend war Frau Gotlinds Gottlosigkeit geworden. Wie eine warme Kinderhand die dünnen Eisblumen am Fenster zu einem schneeigen Gewühl von den Scheiben herunterwischt, so griff ihr Geist in die weit ausgedehnte Welt und vernichtete mit einem bösen Lachen die Sphärenharmonie.

Als sie eines Morgens von ihrem Lager im Gartenhause aufstand und ungewaschen ins Freie zu Irmin trat, fand sie dort eine weiße Rose in Knospen stehen. Der Gärtner hatte sie am Morgen gebracht und gleich eingesetzt. Gotlind blieb eine Weile still. Es mußte eine kostbare Rose sein, mit der man sie hier überrascht hatte, denn es war nur eine einzige große Blütenknospe an ihr, die Blätter waren klein und blieben dicht an der Erde.

Was Bürger gewünscht hatte: die Rose sollte seiner Gattin einen Gruß von ihm bedeuten und einen Ruf zuruck in sein Haus, das blieb unerfüllt. Gotlind dachte garnicht darüber nach, von wem die Rose stammen könnte und was irgend jemand wohl damit meinte; sie begann allmählich alles, was geschah, so hinzunehmen, wie die Kinder: es hatte immer nur einen ganz kurzen Weg vom Nichts zum Hiersein. Die Rose war da; sie rief sie nicht zurück ins Haus, sondern sie lockte sie immer mehr an jenes andere Ufer, das sie nur ahnte, dem sie aber im Stillen schon verfallen war.

Die Rose blühte an einem kühlen Julitage plötzlich auf. Gotlind hatte lange gewartet, hatte immer wieder vorsichtig den Sprung an der Knospe befühlt, wie damals, als sie sich das erste Lächeln von Irmin erzwang. Und wie sie nun an einem Morgen tropfenschwer in ihrer reinen Blüte dastand, da fühlte sie zum erstenmal wieder so etwas, wie einen Sinn des Lebens. Das Grab hatte mit ihr eine Seele bekommen, denn der kalte Granitstein mit den lateinischen Lettern darauf, und unter ihm die leblose Asche, das war zu fern und zu fremd ihrem eignen warmen Leibe. Es führte keine Brücke von ihr dorthin. Ihr Gemüt und ihr äußeres Leben war in der letzten Zeit immer mehr verwildert. Ihr Sinnen und Denken raste an den Sternen vorbei und fuhr rastlos zurück bis in die Tiefe irgend eines Ozeans, und überall hatte sie das Wirre und Gleichgiltige gefunden, das nichtseiend ebensoviel Wert enthält als so in seiner Pracht. Ihre Kleidung war allmählich zerschlissen und schmutzig geworden, ihr Haar hing herunter und sie hatte es nicht beachtet. Niemand durfte zu ihr, niemand durfte sie grüßen, und wenn die Dienstboten mit verhaltenem Atem kamen und ihre Speisen brachten, so hüllte sie sich in fremdes Schweigen. Jetzt aber, seit die Rose blühte, wurde es auf einmal anders. Sie begehrte zwar nicht nach neuen Dingen in ihrer Umgebung, aber sie begann, die alten in Ordnung zu halten. Sie ließ um einfache Stoffe für ein neues Kleid bitten, das machte sie sich selbst, sie pflegte ihr Haar, aber sie ließ es offen herunterhängen von einem Bande aus gutem Samt gehalten. Sie sorgte für peinlichste Sauberkeit im Gartenhause und entfernte alles Ueberflüssige, was an irgend eine Vergangenheit erinnern konnte.

Die erste Rose hatte unersättlich lange geblüht, eine zweite war ihr nach langem Zögern gefolgt. Sie pflegte sie mit dringender Umsicht, grub die Erde mit den eigenen Fingern um und entfernte jedes kleine Unkraut, das sich neben sie drängte. Sie kniete wie mit einer betenden Geberde vor ihr und zog langsam ihren Anblick in sich hinein.

Es war eben wirklich ganz anders geworden mit ihr.

Alles das, was seit Kindheit Tagen der Gegenstand ihrer alten Frömmigkeit gewesen war, das war für immer und ohne Auferstehen in den Abgrund gestürzt. Nichts mehr blieb übrig. Sie hatte nie den leisesten Gedanken mehr dafür und sie konnte es kaum noch begreifen, wie sie je hatte an diese Dinge Menschen und Götter glauben können. Aber die Zeit, wo sie über das alles fluchte und in aufbäumender Art umwarf, was davon seine Heiligung genommen hatte, diese Zeit war auch vorbei. Sie tat so etwas nicht mehr. Aber das, was von ihr zu diesen alten Dingen geströmt war, dieses innere fromme Begehren, das nun herrenlos geworden war, das war darum nicht auch mit in den Abgrund Gottes gestürzt. Es suchte heimlich und suchte immer weiter und fand: eine Rose. Und daß es eben wirklich so war, daß sich hinter dem, was sie zu ihr trieb, nicht jene plumpe vernarrte Zärlichkeit versteckte, mit der andere Weiber Blumen pflegen und ihre spitzen und stumpfen Nasen lüstern schnüffelnd in die Blütenkelche bohren, das wurde ihr zu einem neuen Glück. Gotlind begehrte diese Rose stets nur mit den Augen, sie pflegte sie wie einen kranken Heiligen und stand in stürmischen Nächten auf, nach ihr zu sehen. So kam eine große und unerklärliche Feierlichkeit in ihr Herz.

Bürger ertrug das Fehlen seiner Gattin nur eine gewisse Zeit lang, dann meldete sich auch bei ihm ein leichter Verfall. Er spürte, wie er unfreundlicher gegen fremde Menschen wurde, er ertappte sich bei kleinen Unförmlichkeiten, wenn er allein bei Tisch aß und der Diener hinausgegangen war. Sein Zimmer verstaubte, und er selbst mit. Als er das merkte, gab er sich einen kurzen Ruck und stellte eine Dame an, der er die Leitung seiner Wirtschaft übertrug und die sein Haus nach außen zu vertreten hatte.

Fräulein Lisa Beauté, die einen kleinen Jungen bei sich hatte, fuhr wie ein Windwirbel in Bürgers Haus ein. Jetzt sah er erst, wie weit er gekommen war, und da sie wirklich ganz tief drang, verschwiegen tief mit ihrer Reinigungswut, so merkte er zu seinem Staunen dazu, daß durch diese Aufwühlung verstecktester Ecken und die Art, wie sie sie behandelte, mit einem Schlage eine Vertraulichkeit zwischen ihm und Fräulein Lisa entstanden war, die er bei sich nie für möglich gehalten hatte. Und da dachte er - was er sonst auch nicht tat - darüber nach, was für widrige und kleine Dinge doch unter Umständen die Bausteine zu einer Liebe abgeben könnten. Er hatte früher immer an die Geistlichen geglaubt.

Fräulein Lisa hatte für Gotlind sehr schnell eine Sprache voller Teilnahme und Innigkeit, obwohl sie sie niemals zu sehen bekam. Bald steigerte sich das zu offner Zärtlichkeit; sie erfand Kosenamen und ließ ihr gern Kindergerichte kochen. Aber sie war auch die erste, die von ihr als von einer Kranken sprach. Bürger hatte das niemals getan. So wunderlich ihm oft Gotlinds Benehmen vorkam, es war ihm doch alles verständlich. Ja, er verehrte es oft. Jetzt, als Fräulein Lisa das erste Mal von der "armen Kranken" sprach, kam es ihm in den Sinn, daß sie vielleicht doch ärmlicher sei als er und - sie.

Drüben im Gartenhaus, das man nach gefallenem Laube von vorn her sehen konnte, mußte irgend etwas geschehen sein, denn man sah nach Anbruch der Dunkelheit, wie das Licht in kurzen Abständen ausgelöscht und wieder angesteckt wurde. Und das ging manchmal bis spät in die Nacht hinein an den frühen Morgen heran. Irgend eine schwere Unruhe mußte über Gotlind gekommen sein.

Und so war es auch, und die Rose war schuld daran. Die letzte Blüte begann zu verwelken, und Frau Gotfind hatte sorgsam Blatt um Blatt begraben, das zu Boden gefallen war. Die halbentblätterte Rose schnitt sie ab. Sie entfaltete die innersten Blütenblätter mit den Fingern, wie um von ihr Abschied zu nehmen; und wie sie bis ins Innerste gekommen war, prallte sie auf einmal jäh zurück. Diese zweite Rose, die der Stock hervorgebracht hatte, war anders. Die erste war in unergründlichem Weiß erblüht und war sich bis ins Innerste hinein darin treu geblieben. In dieser zweiten aber, die dem Winter entgegengeblüht war, hatte die Natur sich empört: sie war keine Asketin mehr.

Das Gemunkel der Leute und das Flüstern im Hause hatte damals schon gesagt, daß Irmin von einem Roué verwüstet worden und daran gestorben sei. - Das zuckte ihr nun wieder unheimlich durchs Hirn und ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie lernte erst jetzt im späten Herbste kennen, was an der Rose sie so beglückt hatte; es war noch niemals früher Gedanke gewesen. Und nun wankte sie wieder. Das Welt-Weib drohte in ihr Herr zu werden, der Weg zurück schien für einen Augenblick verlockend und die Kleider der Vestalin betrügerisch. Drüben, in ihrem Hause, war es hell und man schien zu tanzen ... vielleicht die neue schöne Frau, die gekommen war?

Nun kam tagaus tagein das Lichtanzünden und Auslöschen im Gartenhaus. Sie schien sich an einem Punkte angekommen, wo das Leben, das sie jetzt führte, ungefähr ebensoviel Wert besaß, als das, was sie früher geführt hatte; ... und wieder führen konnte? Sie fühlte sich einem Menschen gleich, der ins Meer gefallen war, der nach zwei Seiten hin Land sieht, aber nicht weiß, welches wohl näher liegt. Die Wellenberge türmten sich in ihr auf, die einen schlugen brandend an steiniges Ufer, die andern wälzten sich an neue Wellenberge und diese wieder weiter fort bis in ein seeliges Ungewiß. Warum war die feierliche Rose im Herbst so schnöd gewesen und hatte ihr ein unkeusches Innre enthüllt? Rief etwa Irmins Seele in ihr?

Eines Abends kam ihr ein hastiger Gedanke. Sie blies das Licht aus und eilte vor die Tür. Sie sah sich scheu um nach dem Hause hinüber, sie schlich heimlich durch den Garten, der frisch geharkt war und lauschte gespannt, ob jemand käme. Aber es war alles still und schon gegen Mitternacht. Die Laternen auf der Straße brannten nicht mehr. Sie tastete sich zurück ans Grab und sah in bleichem Licht den Stein und die entlaubte Rose vor sich stehen. Sie fing unter dem Steine an, mit bloßen Händen zu wühlen. Der Boden war lehmig und es fiel nicht leicht, da hindurch zu kommen. Oft hielt sie still um zu lauschen. Endlich hatte sie, was sie suchte: jenes kleine schwarze Gefäß aus Blech mit einer Bleiplombe daran, das damals hier versenkt worden war. Sie riß es mit einem Ruck aus dem Lehm los und eilte ins Gartenhaus.

 

Sie schloß hinter sich ab, was sie sonst nie tat, und beim Scheine einer Kerze begann sie, mit einem langen rostigen Nagel die Kapsel zu öffnen.

Bald lag Irmins Asche in ihrer Hand. Sie gönnte sich nur einen flüchtigen Blick auf den weißen Staub und die kleinen Knochenstückchen, die darin verstreut lagen, dann schlich sie sich wieder hinaus und ging zur Rose. Sie wühlte die schwarze Humuserde auf, in die sie gepflanzt war, bis sie an die Wurzeln kam; dann streute sie vorsichtig mit Gärtneraugen die Asche hinein. Einen Teil vermengte sie mit der Erde, füllte dann das Loch wieder zu, überdeckte es mit feuchtem Laub und ging zurück.

Jetzt merkte sie erst, daß sie am ganzen Körper zitterte und in Schweiß gebadet war. Sie löschte das Licht und ging zur Ruhe.

Dann kam ein harter Winter. Er führte Frau Gotlind manchmal in Versuchung, von ihrem Leben zu lassen und zurückzukehren. Sie lenkte die Blicke öfters nach außen, als sie im Sommer getan hatte und spähte halb neugierig nach irgend etwas, das sie erhoffte. Und wie sie merkte, daß die Läuterung ihrer Seele oder ihres "umdüsterten Gemütes", wie Fräulein Lisa vom Vorderhause zu sagen pflegte, durch allerhand Kleinigkeiten zu leiden begann, gab sie in einigem nach. Sie bezog das ganze Gartenhaus, das sie in Ordnung bringen ließ, während sie sonst nur ein Zimmer bewohnte. Sie bat durch einen Zettel, den sie dem Diener mitgab, um neue Kleidung, und eines Tages ging sie gegen Abend fort in die Stadt, hüllte sich aber in einen dichten Schleier ein. Nur in der Nahrung ging sie immer weiter zurück. Die Speisen, die ihr herübergeschickt wurden, verloren immer mehr an Wert und Menge, je mehr sie an zierenden Beilagen zunahmen. Gotlind achtete nicht darauf und es war ihr so recht. Aber sie magerte immer mehr ab; sie verfiel bei wachem Verstande in eine Art Winterschlaf und es wurde ihr dabei zu Mut, als ob ihre Seele zu Tieren und Pflanzen und zu den Gesteinen zurückkehrte.

Da schickte sich die Rose wieder an zu blühen. Es war warm geworden, ohne daß Frau Gotlind die Tage gezählt hatte; denn einem ewigen Augenblicke gleich schien ihr die Zeit zu verlaufen. Es begann in ihr zu fiebern, ihr schwacher Körper gärte. Dann kam eine Julinacht. Sie stand vor der Tür des Gartenhauses und starrte in die große schweigende Glocke, sprang mit den Blicken von Stern zu Stern, erst zu den hellen nahen, dann zu den kleineren, zu den winzigen und schließlich zu den Millionen gedachten. Und da war sie mitten drin im Grenzenlosen und wie eins mit ihm. Sie hatte die Augen staunend weit geöffnet dem All entgegen. Sie wollte fragen, was es zu bedeuten habe, und mit ihm das Leben, aber da verschwanden Frage und Antwort, verschwanden alle Gründe, und Abgründe gab es nur. Sie hatte vergessen, was um sie war, sie fühlte sich wie im Innern alles Seins; nur ihr Ohr schien ihr noch eine Melodie zu vernehmen, die aber auch verklang.

So verharrte sie, wie lange es war, das kam ihr nicht zu Bewußtsein; aber es war noch tiefdunkle Nacht, als sie wieder einen Weltkörper blinken sah, dann noch einen, einen näheren und immer näheren, die Sternenreise ging wieder zurück, dann sah sie um sich wieder den dunklen Park mit seinen Gängen, hinten das hell erleuchtete Haus und die fast erblühte Rose auf Irmins Grab.

Zu dieser Zeit gab Fräulein Lisa im Vorderhause ein großes Fest. Man feierte aus irgend einem Grunde. Die Herrin des Hauses hatte weitgehende Verfügung über alles erhalten und so fehlte es an nichts. Sie selbst gab heute das Beste her, was sie besaß. Sie hatte sich ein Phantasiekleid machen lassen, das die schillernden Farben einer südlichen Schlange trug, und sie tanzte darin. Aber auch die bösesten Zungen gesitteter Frauen, die sich schon längst über Fräulein Lisa Beauté aufhielten, hätten gegen diesen Tanz nichts einwenden können. Er hatte nicht die verwegenen Biegungen an sich, wie man sie auf Schaubühnen sieht und die sich aus dem Menschenkörper einen Schlangenkörper zu erzwingen scheinen, nein, sondern ihre Bewegungen blieben die eines Menschen und sie tasteten sich nur vorsichtig nach der Reptiliennatur hin; sie waren träge, um plötzlich aufzuschießen und unruhig in die Luft zu starren, sie hatten ein leises Zittern in sich und dann wieder ein inniges Behagen, wie als ob die Sonne auf sie schiene. Die Augen nicht zu vergessen: sie begann mit einem teilnahmlosen Blick irgendwohin, um sich auf einmal, wenn der Höhepunkt einer Erregung kam, hypnotisch auf einen der Zuschauer zu werfen, sodaß dieser sie wie gebannt ansehen mußte; dann kam ein Lächeln nach Frauenart, das über den Schreck vertröstete. Lisas Tanz hatte einen Sinn. Er schien zu sagen, daß jenes blauschillernde Tier, das einst hinter Evas Rücken am Baume herabgeglitten war, im Grunde der Wohltäter der Menschheit sei. Dieser Tanz sollte die Schlange verunschuldigen.

Da trat Frau Gotlind herein,

Im Augenblick hörte die Tänzerin auf; kein Mensch sah sie mehr an, und alle Blicke waren auf die Eintretende gerichtet. Aber Gotlind blieb am Türpfosten stehen und ließ für kurze Zeit alles ruhig atmen. Dann sagte sie: "Ich komme von der weißen Rose hinten im Park. Sie ist eben aufgeblüht. Sie wird dieses Jahr feierlicher blühen, denn in ihr steigt Irmins Asche lautlos empor. Was früher Irmin war und noch früher ich, das duftet jetzt in ihr und formt die Blütenkrone. Und die Bienen saugen es fort, und die Nachtfalter berauschen sich an Irmins Körper, der in der Rose zittert. Und wenn ihr sie morgen sehen werdet, so schaut ihr ganz tief ins Herz, tief in die Blüte hinein, und ihr werdet sehen: sie ist ganz rein. Denn Irmins Körper dehnt sich in ihr."

Hier machte sie eine kleine Pause und nötigte der Gesellschaft neues Schweigen auf. Dann fuhr sie fort: "Was seht ihr mich an? Ich bin kein Rachegeist; mir liegt nichts daran, zu richten, denn sinnlos und ohne Ziel ist alles Tun... Was seht ihr mich an ...? Ich bin nicht mehr, als Irmin ist und der Saft in der Rose. In mir schreit das All von seinem Weh, so wie es allenthalben schreit in Steinen und Gräsern. In mir versinkt das All und ich in ihm, wie eine Perle, die man fallen läßt und die ins Meer versinkt. Was willst du Tänzerin da, du liebes Tier? Geh in die Wüste zu den Schlangen und wirf dich ihnen zum Fraße vor: es tut nicht weh; und sie hungern so. Paß auf, ich sage es dir: es tut wirklich nicht weh; du wirst es spüren. Und du, mein Liebster mit dem grauen Haar, was wartest du in deinem Samtgewande ...? Geh auf die Straße und erzähle den Leuten, was du bist, und du wirst sehen - sie sind alle gleich dir. Erzähle ihnen von den Lüsten deines Bettes, und dieselben Lüste werden dir Antwort geben. Ihr Echo halt bis zu den Tieren hinab, die im Ozean angewachsen sind und von den Planeten prallt es von neuem zurück.... Jetzt laß mich fort. Ich will eine Blüte bewachen ..."

Dann verschwand Gotlind schnell. Auf die Männer im Saal hatte ihr Erscheinen einen Eindruck gemacht, von dem sie sich nicht so leicht erholen konnten. Nicht einmal deshalb, weil sie - in rechtem Lichte besehen - die Herrin des Hauses war, sondern das, was sie gesprochen hatte, war in sie gedrungen. Es hatte ihnen wie ein Märchen geklungen, das niemals so ganz Erfindung ist. Nur allein Lisa Beauté beherrschte die Situation vollständig. Nach Frauenart traf sie sofort den Nagel auf den Kopf und wußte, was hier not tat. Sie rief Bürger heraus und drang darauf, daß mit Gotlind sofort etwas geschehe. Ob er es sich denn gar nicht klar gemacht habe, welche immense Bedeutung es für sein Renommé haben könne, wenn die Irre noch mehr dergleichen Dinge der Oeffentlichkeit unterbreite. Es sei ja zu bedauern, daß seine eigne Gattin soweit kommen könne aber hier müsse man sich schützen. Gesetzt den Fall, unter den Gästen befände sich irgend jemand, der ihm später einmal übel wolle, so sei die Blamage da. Jedenfalls könne sie es nicht mit ansehen, daß bei ihm, in dessen Diensten sie stehe, sich so gefährliche Dinge zutrügen. Denn wenn es auch eine Irre sei, er wisse ja doch, daß man Irre immer gerade solange für unglaubwürdig hinstelle, als die Personen, mit denen sich ihre Phantasie in der Oeffentlichkeit beschäftige, dort angesehen seien. Drehe sich der Spieß einmal um, so hieße es gleich "es steckt doch ein Körnchen Wahrheit dahinter!" - Und im Grund, wenn er seine Frau lieb habe und vielleicht doch noch auf Besserung hoffe, so müsse er doch einsehen, daß sie in dieser Umgebung, in der Nähe des Grabes ihres Kindes ...

"Bitte sprich nicht von meinem Kinde, Lisa ..." - Jedenfalls, sie müsse unbedingt fort und sie werde schon alles besorgen. Er solle nur wieder zu den Gästen hineingehen. Was die nur denken würden!

Am nächsten Morgen, als der Arzt in Begleitung von Bürger in den Garten kam, um nach Gotlind zu sehen, fand man sie tot vor der erblühten Rose liegen. Es war nichts an ihr zu sehen, als eine kleine Verletzung am Finger, die von einem Dorn herrühren konnte. Ein Dichter würde wohl sagen, sie habe sich an der Rose gestochen und da habe die Seele ihres Kindes sie zu sich gerufen. Aber sie war einfach vom Leben abgefallen pünktlich zu ihrer Stunde, wie eine Blüte vom Baume fällt.

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CUM MIT DEM INDIKATIV

 

EINE SCHULMEISTERGESCHICHTE

 

Es ist bekannt, daß die alten Römer, wenn sie einen Satz mit "als" anfingen, das Verbum, das dazu gehört, in den Konjunktiv setzten. Sie sagten also nicht: "als wir gesiegt hatten," sondern: "als wir gesiegt hätten." - Das ist recht merkwürdig. Warum hatte dieses Volk, das entschlossen aufzutreten gewohnt war, es nötig, in seinen Berichten die eigentliche Tatsache, auf die es ankam, in jene zögernde zweifelnde unentschlossene und weichliche Form zu setzen, die man den Konjunktiv nennt, statt in den tatenfröhlichen Indikativ, der doch eigentlich dazu wie geschaffen ist...? Logen sie etwa so gern, daß sie nicht recht wußten, ob es auch wirklich stimmte, was sie sagten? Dafür gibt es gewiß viele Belege, daß sie gern logen. Oder waren sie vielleicht ihrer selbst nicht recht sicher, zu erfolgübergossen, um so ganz und gar an das Glück zu glauben...? Abergläubisch waren sie ja auch, das steht fest: was gingen sie sonst die rumorenden Eingeweide frischgeschlachteter Opfertiere an, und das Körnerpicken der heiligen Hühner! ... Nun, es mag gewesen sein, wie es auch wolle, fest steht das Eine: dieses Volk, das Tarent zerstörte, weil man dort seinen Gesandten verhöhnt hatte, dieses Volk, dessen Straßen Blitzzüge von Soldaten beförderte, Straßen, die schnurstracks auf die Gebirge losgingen, ohne sich der Serpentine und ähnlicher Einwendungen zu bedienen: dieses Volk hätte unentschlossene Stellen in seiner Sprache und erzählte zögernd, selbst von den wichtigsten und glaubhaftesten Dingen. Cum mit dem Konjunktiv!

Ich schiebe diese Gedanken keineswegs mir selbst zu, sondern sie gehören ausschließlich dem Helden dieser Geschichte, dem Magister Augustin Dernbundt, Lehrer am Gymnasium zu Ottenrode, und zwar zu einer Zeit, als er noch Primaner war. Ich nenne ihn Magister, nicht Doktor; eigentlich war er das Letztere, aber dieser alte Titel paßt ihm nun einmal auf Haut und Hirn, und seine Kollegen hatten ganz recht, wenn sie ihn scherzhaft so nannten.

Es ist eine merkwürdige und eigentlich schlimme Geschichte, wenn mans genau nimmt, aber schließlich doch amüsant, wenn mans nicht genau nimmt, und das tat u. a. auch seine eigne Frau, die kreuzbrave Friedel Richter, der man trotz jenes Jugendstreiches doch eben das Verdienst lassen muß, daß sie ihm das Leben gerettet hat. Ich kam darauf, diese alte Geschichte herauszukramen, als ich von dem kleinen aber bedauerlichen Unfall hörte, der dem wackeren Magister vor einigen Tagen zugestoßen war. Er stand vor seiner Klasse und hielt ein Extemporaleheft in der Hand; er hatte die böse Angewohnheit, bei der Rückgabe jeden Einzelnen vorzunehmen. Dabei hatte er sich heftig erregt, und schließlich, als er zu einem besonders schlimmen Fehler kam, war er so in Wut geraten, daß er sich einen Schlag holte und ohnmächtig auf den Holzstuhl zurücksank. Man hat ihn nach Hause bringen müssen, und dort hat er sich glücklicherweise wieder erholt...

Aber die Geschichte beginnt rund vierzig Jahre früher. Und zwar zu einer Zeit, wo es noch hoch herging mit dem alten Latein. Man maß den Menschen nach seiner Bekanntschaft mit dieser knifflichen Sprache, von domus, manus, porticus, bis zu den Leibgerichten des Maecenas, und vom Stammbaum des Aristius Fuscus, bis zu den Sprachfinessen der oratio obliqua. Augustin Dernbundt beherrschte das alles in ausnehmenden Maße, und zwar nicht nur so, daß er es "konnte", wie der Fachausdruck lautet, sondern er trieb auch damit seinen Unfug. Er mischte sich gerne in die Gespräche Aelterer, des Pastors und des befreundeten Rektors mit seinem Vater, und stach sie gelegentlich mit allerhand guten und schlechten Einfällen aus. Davon zeugt noch z. B. jenes eingangs erwähnte Aperçu über die römische Sprache, das er damals in sein Notizbuch schrieb, und das ich hier frei wiedergegeben habe.

Aber er hatte nicht im Mindesten die Absicht, Schullehrer zu werden, und der Rektor meinte auch, dazu eigne er sich durchaus nicht. Ihm schienen von den drei Grazien der deutschen Lebensführung, Lehrstand, Nährstand und Wehrstand, die beiden letzten entschieden verlockender. Manchmal sagte er, um seine eitle Mutter zu ärgern, mit sichtlichem Wohlgefallen, er wolle "Bauer" werden, hatte aber freilich dabei noch allerhand Hintergedanken, die aus seiner Neigung zum Glossenmachen entsprangen, und die seinen eigentlichen Lebensplan immer wieder verwischten; aber in der vergnügtesten Art, wie er zu sich selber zu sagen pflegte. Vor dem dritten Semester, nach welchem er zum erstenmal wieder auf kurze Zeit nach Hause zu kommen gedenke, brauche er überhaupt noch nicht zu wissen, was er werden wolle.

Sein Vater war ein strenger Mann und er sah dem Treiben nur deshalb ziemlich ruhig zu, weil er sich die drei vergeblichen Semester in der Tat leisten konnte und weil er fest entschlossen war, seinen Sohn dann beim Wort zu packen und ihn mit rücksichtsloser Energie vom vierten an zu einem Ziele zu zwingen. Dabei war er im Geheimen stolz auf ihn und ließ ihm viel durchgehen. Das ging oft bis zur Unhöflichkeit gegen seine Gäste. Zu denen rechneten allabendlich der Rektor und der Pastor, und als der Pastor einmal dem jungen Stürminsfeld eine längere Rede hielt vom Berufe des Menschen und von seiner eignen Lebenserfahrung im Besonderen, da fing er gegen Ende vielsagend zu gähnen an und meinte.- "Na, wenn mein Leben einmal in die Brüche geht, dann laß ich es mir von ihnen wieder zurechtpastern!" Der Vater sagte garnichts dazu, lachte vielmehr unbändig, und der Rektor meinte nur: "Sie haben einen recht flotten, Sprößling! "

Aber weil eben der Pastor schwieg und dabei mit verzeihender Güte lächelte, konnte man eigentlich darauf schließen, daß die Beiden es ihm sehr übel genommen hatten. Denn die Beiden hielten stets sehr eng zusammen, besonders gegen die "Weltmänner", zu denen sie auch ihren trefflichen Gastgeber, den Rentier Karl Dernbundt rechneten. Sie gingen immer zusammen nach Hause und blieben lange vor einer ihrer beiden Haustüren stehen, häufig die Köpfe schüttelnd. Oft fing der Pastor an, oft der Rektor. Uebrigens hieß der Pastor Dorncron, und darauf gab er sehr viel; sein Name war ihm einer der schlagendsten Beweise dafür, daß es wirklich Berufungen gab mit Fingerzeigen. Er war nur sehr ungerne Geistlicher geworden und hatte in seiner besten Zeit eine unglückliche Liebe gehabt. Der Rektor hieß Richter.

Ja, und dann kam jene Zeit, wo die Nerven keine Rolle zu spielen scheinen, weil sie nämlich die einzige spielen. Die Klausurarbeiten vor dem Maturum!

Es ist bekannt, daß Kinder - aber nur Knaben! - wenn die Eltern ihnen abends an die Stirnen fassen, ob sie Fieber haben, sich von diesem Verdacht mit allen Mitteln freizumachen versuchen. Sie springen dann herum, oder sitzen aufrecht und machen große mannhafte Augen; sie behandeln die Möglichkeit eines Krankseins mit verächtlichem Dünkel. - Gerade so machte es Augustin Dernbundt damals. Er stand nicht gerade gut in der Schule. Er hatte gebummelt und Allotria getrieben, und dabei sah er immer mit einem triumphierenden Blick in seine Studenten-Zukunft, die ihm eben deshalb imposant dünkte, weil er alle kleinlichen Berufsrücksichten, wie sie seine Mitschüler hatten, in den Wind schlug und sich ganz aufs Freibeutertum legen wollte.

Das sagte er auch Friedel Richter, des Rektors Tochter. Der Alte wußte nichts davon.

Jetzt kamen die Prüfungsarbeiten. In der Mathematik hatte er schlecht abgeschnitten, damit hatte er von vornherein gerechnet, denn er schätzte die mathematische Gelehrsamkeit gering, nannte sie eine elende Zahlenfuchserei und hätte sich überhaupt für unbegabt gehalten, wenn er darin etwas geleistet hätte. Das war der erste Tag der schwierigen Woche. Er ging hohnlachend nach Hause, als er nach Abgabe der Arbeit konstatiert hatte, daß nur eine einzige Aufgabe unter fünfen gelöst war. Er würde ja übermorgen im deutschen Aufsatz die Schlappe wieder gutmachen! Der deutsche Aufsatz wurde geschrieben, und als er wieder nach Hause kam, hatte er einen kühlen und skeptischen Blick. Es gibt eben Themen, denen ein Mensch mit gewagtem Denken nicht zuleibe kommt. Aber immerhin: er mußte ja "gut" geschrieben haben, die Resultate der letzten beiden Primanerjahre bürgten ihm dafür.

Aber dann kam ein heller Sieg...! Der Rektor hatte für die griechische Examensarbeit das Klagelied der Elektra diktiert. Holprig genug hatten diese Verse zwischen dem Gehege der Schulmeisterzähne geklungen - sie waren offenbar nicht zu diesem Zweck geschrieben, - aber sie wurden Musik in den Ohren des Hörenden. Der schwere Fluß des Tetrameters mit seiner unklar betonten letzten Silbe, die immer so klingt, wie ein Baum im Nebel aussieht, so halb gesprochen und dämmrig hingezeichne,.... diese Rhythmen verwandelten sich hinter seinem lauschenden Ohre. Es bereitete ihm eine unsägliche Lust, daß er die-se Worte, die er zum erstenmal hörte, sofort verstand, kein grammatisches Geheimnis, kein Stelldichein von Verzwicktheiten und Sprachpartikeln gab es hier: die Rede floß von kristallner Deutlichkeit aus dem Munde der antiken Vaterrächerin. - Augustin war selig. Er schrieb den ganzen Kommos in deutschen Versen nieder, die den schweren Gang der griechischen abgeworfen hatten und hie und da bis zu den leichtesten und leichtsinnigsten Rhythmen aufstiegen.

Ja, er liebte dieses Altertum, und er war so klug dabei, daß er vergessen konnte, von wem er seine Sprache gelernt hatte. Und wenn er dermaleinst als Gouverneur einer deutschen Ko-lonie in der Südsee lebte, so wollte er es nicht vergessen. Der schlanke Wuchs der Palme sollte ihn immer wieder daran erinnern, daß mit ihm das lieblichste Mädchen des Altertums verglichen worden ist, und der Flug eines fernen Steinadlers sollte ihn daran mahnen, daß der geduldigste aller Dulder sich von ihm einst den Kampfruf zum Freiermorde holte...

Den Schlußstein der Prüfungsarbeiten bildete der damals noch grassierende lateinische Aufsatz. Er grassierte auf dem dortigen Gymnasium noch in besonders schlimmer Form. Die Schul-meister können bekanntlich das Fallenstellen nicht lassen und besonders der Rektor Richter nicht. Es gab ein bestimmtes Thema, über das die Schüler ihre Gedanken auslassen sollten, aber zwischendurch, damit sich die Geistesträgen nicht einer zu bequemen Sprache bedienten, fügte der Rektor - dieser Erzpädagoge - feste Partieen ein, die von den Prüflingen wörtlich übersetzt werden mußten. In diesen lag natürlich der ganze Groll der Grammatik wie in den Schläuchen des Aeolus eingewickelt. Der Schülerjargon nannte diese pädagogischen Extravaganzen des Rektors auch sehr treffend "Fehlersäcke", oder, wie die Älteren und Bedeutenderen sagten, Korsettstangen.

Das Thema lautete: "Caesar geht über den Rubikon." (Caesar Rubiconem flumen transgreditur). Die Abiturienten sollten Betrachtungen anstellen über die Bedeutung dieses Ereignisses, sie sollten es beurteilen und darstellen, es definieren und begründen und Ansichten oberflächlicher Gegner widerlegen, und überhaupt ihre wohlgelernte Kunst probieren, die ganze Weltgeschichte von einzelnen Ereignissen abhängig zu machen. (Man bemerkt hierbei offensichtlich den Einfluß des Pastors Dorncron. Ein anderes Thema, das aber zurückgestellt wurde, lautete: "Über den Finger Gottes in der Geschichte" und betraf - Caesars Tod,)

Augustin hatte Perioden gebaut in sauberstem Ciceroinianisch, wahre Luftschlösser der Stilkunst. Sie klangen harmlos an mit einem schlichten Aussagesatz, aber dann kam durch ein Hinterpförtchen ein ganzer Schwall eingeschachtelter Redestücke, die sich wanden und banden, sich verschlangen und knechteten, die sich die Hände reichten und wieder auseinanderrissen, bis sie in einem kurzen Abwärts-Tempo zum erlösenden Punkt geführt wurden. Und er baute Schlußsequenzen melodischer Art - man könnte fast an Gounods Ave Maria denken - und jenen heimlichen ausklingenden Rhythmus der Prosa, den die Südländer trotz Sonnenhitze und Mückenstiche und dem Geschrei der Makrelenverkäufer weit über die helle Agora verstanden; und sie liefen dem Redner unter dem Podium fort, wenn sie ihn nicht hörten.

In Augustin steckte ein Politiker, darum war er so sprachgewandt. Er legte die Feder weg und ging mit Siegesbewußtsein nach Hause, eine halbe Stunde früher als der Nächste, der mit der Arbeit fertig war. Er wartete nicht auf die Andern, um mit ihnen in Gruppen stehend über Falsch und Richtig zu kalkulieren.

Es war heiß draußen, und auf einmal packte ihn die Unruhe:

"Die Korsett ... die Fehlersäcke!" flüsterte er erschrocken vor sich hin. Die hatte er ganz übersehen, hatte sie schnell zurechtübersetzt, um nur gleich wieder zu seinen freien Formen zu kommen. Er hatte mit Selbstverständlichkeit, die ihm sein junges Bewußtsein eingab, das volle Gewicht auf seine eigene Leistung gelegt, und jetzt auf einmal dachte er daran, daß seine Erzieher ja dieses Selbstbewußtsein ebenso selbstverständlich mißachteten. Wenn er grammatische Fehler in jenen Fangesätzen gemacht hätte! Mehr als drei!! Dann konnte er unter Umständen.....

Himmel ja! Er fing an zu kalkulieren: Mathematik eine Schlappe. Durch Deutsch kompensiert. Aber auch wirklich ...? Er dachte an das widerwärtige Thema. Es war ja alles ungewiß. Aber im Klageliede der Elektra hatte er eine bisher unerreichte Leistung vollendet! Der lateinische Aufsatz ...?

Aber er glaubte an das Glück, wie Caesar, und stürmte laut pfeifend die Treppe hinauf. Es war nur jener vage Zweifel, den jeder Mensch haben muß, der nicht mehr ganz Kind ist.

Als er nach Hause kam, waren die ersten Vorlesungsverzeichnisse der Universitäten, auf die er es abgesehen hatte, angekommen. Der Vater blätterte darin, die Mutter brachte eben eins vom Markte wieder, wo sie es einer lieben Freundin gezeigt hatte. Augustin wurde schon ganz als Student behandelt, und man überging jene entwicklungsgeschichtlich sicherlich bemerkenswerte Wartezeit, in der solch junge Menschen Nicht-mehr-Esel und Noch-nicht-Pferde sind, sondern nach einem schönen terminus pennalis "Maultiere". Am Abend, als man in der Laube saß, diesmal allein in der Familie, schwamm er schon auf dem Neckar und trank Fiduzit am Heidelberger Faß; dann saß er auf dem Marktplatz von Jena faul und schwänzend in der Sommerschattenkühle, und dann wieder überschlug er das Plus an Schusterrechnungen, das von dem straßenholprigen Marburg verursacht werden würde. Ein kühner Plan des Vaters verband das stillere Greifswald mit einer großen Ferienreise an die Fjorde; dagegen aber schmollte die Mutter heftig an, weil sie doch wenigstens in den ersten Ferien ihren Jungen wiederhaben wollte. Die Mutter war eine kleine dicke zärtliche Dame, die mit der Wahrheit stets in harmlosem Konflikt lag und die auf dem Wochenmarkt Flüsterkränzchen bildete, das oft bis zum Abbruch der letzten Holzbude dauerte.

Augustin trank heute Moselwein von 1811.

Dann brach die abrechnende Stunde heran. Es war ein glühend heißer Sommertag. Die Lehrer hatten sich in andeutungsloses Schweigen gehüllt. Jetzt wurden Tag für Tag die einzelnen Arbeiten durchgesprochen, jeder Lehrer in seinem Fach. Für Augustin stellte es sich heraus, daß er sich selbst zu extrem geschätzt hatte, d. h. die Schulmeister hatten für das Schlechte, das er gemacht hatte, ein gnädiges Auge und für das Ausgezeichnete ein geringschätzendes, so daß es so schien, als wollte alles auf ein blasses Genügend hinauslaufen,

In der Tat war seine Verachtung gegen die Mathematik und die Konsequenzen, die er aus seinen Lücken in diesem Fache für seine sonstige Begabung zog, in den Augen des Professors nicht ausreichend, um ihm ein genügendes Prädikat zu versagen. Er legte den weißen figurenbeschriebenen Bogen beiseite und meinte nur, er sei ja kein Held, aber es ginge doch. Der deutsche Aufsatz wurde gleichfalls mit einem braven Genügend abgetan, und für den begeisterten in Versen laufenden Klagegesang der Elektra hatte der Hellas-Pädagoge nur ein gnädiges Lächeln. Er konstatierte indessen, daß nur ein einziges Sprachversehen vorgekommen sei, das freilich ausreiche, um das Prädikat gut unmöglich zu machen.

Als aber die lateinischen Aufsätze an der Reihe waren, da kam der Rektor mit finsteren Mienen ins Klassenzimmer. Er hätte wie ein Verhängnis ausgesehen - und das tat er gern - wenn diese ehrwürdige Situation nicht durch einen argen Toilettenfehler um ihren Ernst betrogen worden wäre. Und doch war dieser Clown der Tyche heute ein Verhängnis, das Verhängnis für Augustin Dernbundt.

Der Rektor ging die einzelnen Aufsätze durch, sprach dieses, erläuterte jenes und legte besonderen Wert auf seine Fehler-säcke, die denn auch am meisten Unheil angerichtet hatten. Mit gespannten Nerven hörten die Primaner zu. Der jedesmal Betroffene war während der Zeit, als der Rektor seinen Aufsatz durchsprach, übergossen von einem tiefen Himbeerrot und blickte starr auf jeden Mundwinkelzug des Furchtbaren. Legte er dann die Arbeit mit dem Urteil "genügend" fort, so atmete der Erlöste auf und blickte stolz und mitleidig in der Klasse herum. Drei Fehler gegen die Grammatik durften nur gemacht werden, der vierte machte eine Arbeit ungenügend. Und von einem Fehler konnte unter Umständen das Bestehen des Examens abhängen.

Indessen schwirrte es in Augustin Dernbundts Kopf verzweifelt umher. Er hatte jetzt die Schliche der Fehlersäcke erkannt. Auf drei war er wirklich hineingefallen. Aber der vierte...? Was hatte er da eben gehört... ? Aus des Rektors eigenem Munde...!

Eine Revolution gegen die Grammatik! Eine Revolution gegen die ganzen Chikanen des Latein seit Sexta...! Was?: cum mit dem Indikativ...? Im vierten Fehlersack kam eine Stelle vor, wo cum mit dem Indikativ stehen soll! Das war etwas ganz Neues, das hattte er nie gehört. Abgesehen davon, daß der Charakter des Latein sich ihm in einem Augenblicke änderte, schoß es ihm wie ein verzweifelter Schrei durchs Hirn. Er blätterte hastig in seinem Notizbuch herum, dort wußte er, hatte er ein paar Glossen gemacht gerade über das arge Wörtlein "cum". Und richtig! War es denn möglich? Ja, denn die Wirklichkeit machte die Frage überflüssig. Er las, was er mit eigner Hand geschrieben hatte: "... aber in einem Falle, da war es anders; wenn es nämlich ganz schnell ging, wenn eine Tat rasch auf die andere folgte, ja, fast in ihr lag, so daß sie einander nicht entrinnen konnten: dann sprachen sie frei heraus. Wenn kommen, sehen und siegen eins war, wenn kein böser Dämon diesen Taten-Ueberschwang hindern konnte, dann hatten sie eine entschlossene Sprache. Dann steht cum mit dem Indikativ"

Er sah sich verzweifelt um; - wie konnte er das vergessen haben!

Der Rektor sah aus, wie das Verhängnis in seiner hämischsten Form. Das Verhängnis nicht als Notwendigkeit, sondern als frivole Absicht ... wieder mal ganz unhellenisch. Das schoß ihm schnell durch den Kopf, als er auf ihn hinsah.

Es sollte der letzte Geistesblitz sein, den der arme Augustin Dernbundt, jetziger Magister zu Ottenrode, auszustehen hatte.

"Ja ... es tut mir leid um Sie," begann der Rektor, "sehr leid, auch um ihres Vaters willen. Warum haben Sie so schnell abgegeben! Hätten sich ruhig noch die halbe Stunde gedulden können. - Sie haben alle vier Prüfungssätze falsch gemacht und fünfmal grob gegen die Regeln der Grammatik verstoßen. Ich kann Ihnen das Zeugnis der Reife nicht geben. Sie haben kein kompensierendes Gut in einem andern Fach. Sie müssen noch ein Jahr warten."

Die Klasse lag in bleicher Stille da. Keiner sprach ein Wort. Man haßte eigentlich den hochmütigen Dernbundt gründlich wegen seiner weisen Reden, die er oftmals hielt, und man gönnte ihm jeden kleinen Mißerfolg; aber das war doch zu viel! Sie standen nicht auf, als der Rektor die Klasse verließ. So junge Menschen sind meistens noch hochherzig.

Augustin fühlte das Mitempfinden, und das tat ihm wohl. Er merkte heute zum ersten Mal, was Mitleid ist. Es war kein Gedanke mehr, den er sich darum machte, aber ein um so tieferes Gefühl, ein Verwundern über ein ihm sonst entlegenes Stück Menschlichkeit. Sie ließen ihn wortlos durch ihre Reihen gehen, als er sinnend aufbrach. - "Soll ich dich begleiten ...?" fragte einer, der ihn früher haßte.

Die klagende Schwüle, die über diesem Tage lastete, verließ ihn das ganze Jahr hindurch nicht. Die Gefährten waren in alle Welt zerstreut. Sie jubelten Studentengrüße in die Heimat, bunte Karten trafen ein, und er mußte mit dem folgenden Jahrgange noch einmal um das ersehnte Ziel kämpfen. Aber es war nicht mehr ersehnt. Es war kaum mehr ein Ziel, nur ein Abschluß. Er war wunderlich geworden aber er sprach nicht darüber.

Natürlich brach der Vater allen Verkehr sowohl mit dem Rektor wie mit dem Pastor Dorncron ab. Er vermutete ein Komplott der beiden gegen sich, meinte, man habe seinen Sohn demütigen wollen, weil ja der Pastor immer die Demut predige. Das war gewiß übertrieben, wenigstens in der Art, wie der Alte es auffaßte, aber daß der Pastor sowohl, wie der Rektor über die Demut gesprochen hatte und über ihren erzieherischen Wert, darüber war kein Zweifel.

Der stolze Mann ging von nun an grußlos an den Beiden vorüber, und auch die freundliche Friedel, mit der er sonst gern sprach, würdigte er keines Blickes. Dem armen Kinde tat das weh, denn es wußte ja mehr, viel mehr, als er. Sie hatte das Herz seines Jungen belauscht, während er ihm seine Augen ins Hirn zu bohren suchte; - aber Herz und Hirn wurden anders. Sie kannte jeden Winkel der goldenen Zukunft, und hie und da, wo es irgend anging, hatte sie ein himmelblaues Gardinlein hingehangen oder einen Blumentopf aufgestellt. Aber verraten hatte sie nichts.

Dann ging Augustin auf drei Semester nach Berlin, wieder schweigend, wahllos und mit einem unsichren Lächeln am Munde. Der Vater ließ es geschehen. "Laß nur," meinte er zu seiner Frau, "laß ihn nur erst fort sein. Er ist verbittert. Es wird sich machen; wenn er andere Luft bekommt, kriegt er auch andere Farbe. Er hats halt nicht verwinden können, was diese Kerle ihm angetan."

Es vergingen anderthalb Jahre, ehe Augustin wiederkam. Der Vater bekam etwas Lauerndes ins Auge, wie einer, der eine große Tat und eine große Rache erwartet. Die Mutter ergraute still und sagte nichts. Und als die drei Semester um waren, die berühmten drei Semester, da kam er pünktlich wieder.

Er sah noch ganz rein aus.

Er hatte ein Gesicht bekommen, wie die heiligen George an den christlichen Domen: simpel, gutmütig, mehr Tölpel als Drachentöter. Die Mutter umhalste ihn in ihrer Kinderwiedersehenslaune und fand nicht Tränen genug vor Freude und Stolz; das war so recht nach Weiber Art. Der Vater stand abseits und brummte vor sich hin, "Augustinus...!" Er hatte den Vornamen- seines Sohnes noch nie lateinisch ausgesprochen, und jetzt ertappte er sich dabei, wie er auf dem besten Wege war, ihn mit dem Namen eines Heiligen zu beschimpfen.

Am nächsten Morgen, ziemlich in der Früh, stand Vater Dernbundt vor des Rektors Tür und klingelte. Das Dienstmädchen machte auf und wurde verlegen. Er trat nicht ein, sondern fragte nur, ob der Herr zu Hause wäre. Als der plump durch den Korridor gestampft kam, fing er grußlos an zu reden:

"Ich will einmal mit Eurer Tochter sprechen, Herr. Schickt sie mir einmal hinunter, wenn ich bitten darf. Ich tu ihr nichts. Darum bitt ich Euch nur, Herr; sonst kanns beim alten bleiben."

Der Rektor versuchte freundlich zu sein, kam damit aber nicht an, denn Vater Dernbundt ging schon wieder die Treppe hinunter.

Friedel kam hinterher und knixte zaghaft.

"Sieh mal, mein liebes Kind," meinte er, - "ich sag noch immer du zu dir, wenn du auch achtzehn Jahre alt bist - denk mal nicht dran, was passiert ist, sondern denk an deinen Liebsten, hörst du?"

Das Mädchen wurde rot und blieb stehen, folgte aber gleich wieder, als der alte Dernbundt sich nicht darum kümmerte und weiter ging.

"Versteh mich recht, liebes Kind; sieh mal, ich komme jetzt zu dir, weil ich was von dir will. Du darfst mir das nicht schwerer machen, als es so schon ist, denn es ist verzweifelt schwer für so einen alten Kragen, wie ich einer bin, du verstehst mich, liebes Kind. Ich habe eben von ihr gehört (damit meinte er seine Frau), du weißt sie klatscht auf dem Markt herum mit den Hökerweibern, und gestern hat sie's auch mir erzählt. Du mußt mir den Jungen wieder zurechtrücken, Friedel, hörst du. Das geht so nicht weiter, der versumpft und versaut und verblüht und verblödet..."

"Du mußt mir nicht böse sein, liebes Kind, wenn ich so spreche," fuhr er fort, als er ein leises Schluchzen neben sich hörte, "aber man muß immer deutlich sein, wenn man einem sagen will, was man haben möchte. Nun laß man sein, Kleine ... Er muß eine Jugendliebe haben der Junge, verstehst du, liebes Kind, das ist das rechte ... und er hats bloß vergessen, er verträumt und vertrahnt. Es braucht ja nicht gleich bittrer Ernst zu sein, das mein' ich nicht, es kann wieder vorübergehen, aber eben eine Jugendliebe muß er haben. Hörst du, liebes Kind ...?"

Und dann nach einer Pause: "Er muß wieder an die Menschen glauben lernen, und bei dir kann er gut anfangen. Sie haben ihm alles genommen, alles, diese verfl... sei mir nicht böse, liebes Kind."

Was das Vorübergehen anbelangt, so dachte Friedel darin allerdings ganz anders, wie der Fortgang der Geschichte gezeigt hat.

Das war Augustin Dernbundts Jugend. Denn damals hörte sie schon auf. Er wurde ernst und eifrig, wie die Leute sagten. Er lernte immerzu und wurde Schulmeister. Er wurde gegen seinen Willen in den Lehrstand getrieben und doch mit ihm, er mußte wollen, ob er wollte, oder nicht.

Es schien ein Verhängnis über ihm zu liegen, daß er sich dem Stande widmen mußte, der ihn um alles gebracht hat, um seine ganze Jugend... So wie das Wasser in die Täler fließen muß, wenn es nicht warm genug ist, um als Wolke zum Himmel zu steigen. Er hat sich auch nie darüber Antwort geben können, warum er Schulmeister geworden war, er konnte einfach nicht los davon und fühlte sich überall unsicher. Es muß sich ein Knoten in seinem Innern geflochten haben, den er nicht mehr lösen konnte, und er war auch nicht mehr Alexander genug, um ihn zu durchhauen.

Wenn die brave Rektorfriedel nicht gewesen wäre! Friedel, wenn das dein Vater wüßte...!

 

Jetzt bückt sie sich über den Schlafenden, der sich in schweren Zügen langsam wieder zum Bewußtsein durchringt. Ja, sie sind beide alt geworden, die guten Leute. Aber es blieb schließlich auch der Friedel nichts anderes übrig, so sehr sie sich dagegen sträubte. Sie war die bravste Lehrersfrau geworden, die man sich denken kann, und sie verstand Latein, wie Einer. Das hatte sie beim Heftekorrigieren gelernt.

Ein ganz blauer Stoß davon lag auf dem Tisch, und in dem einen steckte ein geknifftes Löschblatt: über dieses hatte er den Wutanfall bekommen, dem er erlegen war,

Jetzt schlug er die Augen auf, und Friedel hatte schon erraten, daß er vom Halbschlafe zurückkehrte, von einer tiefen Träumerei, und nicht mehr von der Ohnmacht.

"Ich habe eben was geträumt," meinte der Magister, "bloß ganz kurz ... jetzt im Augenblick..." Er schlug die Augen weiter auf. "Das ist interessant, denn es erinnert mich an meine Ju-gend..."

"Na, und was wars?"

Er richtete sich auf.

"Ich will dirs nachher erzählen. Es ist vorläufig noch ganz wirr. Aber sag mal: wie haben wir uns eigentlich kennen gelernt...?"

"Aber August! Wir waren doch Nachbarskinder!

Wir haben uns überhaupt nicht kennen gelernt."

"So, ja; das meine ich auch nicht. Ich meine, warum haben wir uns eigentlich geheiratet?"

"Na Gott..." Aber da wurde sie furchtbar verlegen.

"Nein, sag mal: wo liefst du damals hin beim Drittenfangspiel ... ganz abseits hinter die Büsche, wo's dunkel war..."

Jetzt zog sie's vor, die Sache lieber komisch zu nehmen, denn vom gesitteten Standpunkte aus war ihr Verhalten damals einfach unerhört und unqualifizierbar.

"Natürlich ja, so tief und dunkel, wie nur möglich. Du warst grade zum erstenmal von der Universität zurück und ein ganz schlapper dummer Bursch mit gemütlichen Schwimmaugen, Dein Vater war damals sehr besorgt um dich und..."

"Und?"

"... und - deine Mutter auch."

"Und du auch, nicht?"

"Nein, ich gar nicht, ich war bloß verliebt und..."

"Und ich?"

"Nein, du gar nicht, das wars ja eben; du warst kaput studiert."

"Na, und?"

 

"Wir beiden mußten uns fangen, ehe der Dritte einen von uns kriegte. So geht das Spiel, Und ich lief in die dunkelsten Büsche, weil ich nicht gefangen werden wollte, außer von dir. Und du liefst nach, und weils keiner sah packte ich den verbrüteten Herrn Studiosus an beiden Ohren, schüttelte ihn tüchtig hin und her und . . . na ja, daß andere weißt du ja."

"Nein, gerade das weiß ich nicht! der Traum macht alles verkehrt."

"Dann bin ich ein Traum, denn ich machte es auch grade umgekehrt: ich hab dich geküßt und dir gesagt, daß du ein lieber Kerl bist. Das war sehr schlimm. Aber als du mich wieder küßtest, so ganz versonnen, da kam schon der Dritte, der uns fangen sollte - ich hielt dich rasend fest - und da wurde denn die Sache öffentlich, wie man so sagt, und ist es geblieben."

"Richtig; so wars, Friedel, Du bist doch ein guter Kerl und hast mich so ziemlich wieder zurecht gerückt, so wie ich war."

Nein, das hatte sie nicht, das war eine Ueberschätzung, Aber lassen wir sie ihm!

Er sah nicht, wie sein Weib sich die Tränen wischte. Er hatte plötzlich viel mit sich zu tun. Er reckte sich aus Traum und Ohnmacht los: was er bis jetzt aus ihnen herausgesonnen, das war sein Liebesleben, das ihm auf einmal, das erste Mal im Leben, sonderbar erschien. Er träumte nämlich sonst niemals.

Er faßte sich an die Stirn und griff nach einem neuen Gedanken.

"Hol mal die Hefte dort her, Friedel ...!"

Sie ging und holte.

"Ja, hier ist das, wo das Löschblatt drin liegt. Dabei ist es passiert. - - Sieh mal nach, was ich da korrigiert habe. Mein Gott! Warum mußte das gerade dabei passieren!"

Die Schulmeisterin durchblätterte das Extemporale.

Sie hatte selber mit korrigieren helfen und kannte daher jede Zeile. Auf der dritten Seite stand ein dickes rotes Kreuz mit Wut gezeichnet.

"Hier scheint es zu sein. Sieh mal ... !" Sie reichte ihm das offne Heft hin. "Der Junge hat einen groben Schnitzer gemacht. Oder nein ...! Gott! Er hat ja Recht, Augustin! Du mußt ihm noch Genügend geben; es sind dann bloß drei Fehler. - Sieh mal, da steht doch: Cum Caesar Rubiconem flumen transiret...."

"Wie ...?"

Er lauschte. Er griff hastig nach dem Heft.

"Nein! Nein! Falsch! Ganz falsch ...! Hier steht, cum mit dem Indicativ ...!"

Er ließ das Heft sinken und geriet wieder in schweres Sinnen.

"Cum mit dem Indicativ ...?" Als er den Jungen, der so dumm war, hier den Konjunktiv zu setzen, wütend anschrie - ganz gegen seine Gewohnheit - da war ihm auf einmal blau vor den Augen geworden; er mußte sich festhalten und sank dann vor der Klasse zusammen.

"Das mußt du doch lernen, Friedel, ich habs dir schon einmal gesagt: wenn im Lateinischen eine Handlung so auf die andere folgt, daß sie fast eine ist, wenn jemand ganz kurz entschlossen ist und zugreift, dann steht: cum mit dem Indicativ!"

"Ja, und das habe ich damals getan, Augustin; denn du wolltest ja nicht über den Rubicon gehen...! damals beim Fangespiel."

Er sah sie groß an. Er stand aufrecht im Zimmer, und sein Auge war mittlerweile in ganz eigentümlicher Weise hell geworden, wie bei einem, der auf einmal das Schicksal bei seinen verstecktesten Kniffen überrascht hat.

Seine Jugend stand wieder vor ihm, und er sah wie in ein fremdes Land. Er hatte diese Jugend vergessen, wie als mußte er es tun. Er kannte nur noch sein Leben als Schulmeister, jenes langsame, klappernde, sich ewig wiederholende Ineinander aufregungsloser Dinge. Jene endlosen Tage, die mit dem Klingeln der Weckeruhr begannen und mit dem Läuten der Abendglocken endeten: dazwischen ein kaum nennenswerter, nur ermüdender Zwischenraum. Nun aber sah er sich auf einmal wieder als Gouverneur in der Südsee mit den tragischen Versen des Sophokles auf der Zunge und der übermütig reichen Nacht am Meere um sich herum. Hier jenes zögernde Dasein, das nicht so recht sicher aufzutreten vermag und von allen seinen Begebenheiten in der Sprache des Vielleicht redet - dieses Dasein hatte er erleben müssen - dort in der Ferne die sich aufbäumende überstürzende Tat mit all ihren verwegnen Eigenarten, getragen von einem Manne, der jeden Tag einmal sagt: der Würfel ist gefallen!

Er schauderte vor sich selbst. Aus dem Pionier war ein Lateinmagister geworden, der sich damit begnügen mußte, das "Cum mit dem Indicativ" zu lehren und noch dazu vergeblich. Er bekam einen tiefen Haß gegen seinen Stand, denn er wußte jetzt, daß er ihm verfallen war, wie man dem Teufel verfällt: willenlos.

"Wenn mans recht überlegt," meinte er zu seinem Weibe, "so bin ich, glaube ich, damals nur Schulmeister geworden, um nur ja recht sicher zu sein, daß mir so etwas nicht noch einmal passiert, wie damals bei der Abiturientenarbeit."

Es trat ihm auf einmal ein kalter Schweiß auf die Stirn, als er davon sprach.

"Es hat eigentlich lange gedauert, aber ich glaube, ich kanns jetzt. - Schick doch mal zu dem Jungen herüber, den ich so angeschnauzt habe, wie's ihm geht ...! Er soll sichs ja nicht zu Herzen nehmen, hörst du, Friedel. Ich glaube, es ist ein Unglück passiert; man kanns nicht wissen. Vielleicht geht es dem auch so, wie mir. Friedel, wie weit ist es denn, bis zu ihm? Bist du noch nicht da? Ich will den Jungen heimlich unter meine Obhut nehmen, und ich glaube, jetzt fang ich überhaupt erst an, einen Menschen zu erziehen."

Vierzig ganze Jahre sollte es also dauern, bis Augustin Dernbundt wieder ein gutes Wort sprach...

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DER BERGGEIST

 

EIN ABSTIEG VOM GEBIRGE

 

Nennen wir ihn, wie er sich selbst genannt hat: Theodor Wolden; wie er sonst geheißen hat, habe ich nie erfahren, und es ist auch nicht wissenswert.

Vom Kamm herab pfiff ein Wind, der Wolken trieb; in kurzen Stößen prasselte der Regen nieder und in den Teichen brodelte es von Nebel und Graupeln. Ich ging gerade den steilen Weg hinauf, der von der Schlingelbaude auf den Kamm führt, vor mir, etwa hundert Schritt, ein paar Damen, die in ihre Regenmäntel gehüllt wie die Gnomen aussahen und sich gegenseitig emporschoben, kreischend und noch übermütig. Sie waren gerade an der Stelle, wo durch Knieholz und Steingeröll der Weg zum Großen Teich abführt. Aus diesem Wege kam plötzlich ein Mann herausgetreten in wunderlicher Tracht. Er mußte aus dem Nebel-treiben der Teiche kommen, denn er sah wild und zerzaust aus. Ich hörte die Damen durch die dünne Luft deutlich lachen und fragen: "Da oben regnets wohl auch?" Der Fremde erwiderte nichts, denn er pfiff ein lautes Lied, das mir in seiner Art so unbekannt vorkam, daß es entschieden eine Phantasie gewesen sein muß, die eben erst auf seinen Lippen entstand. Er sah die ver-gnügten Damen mit einem kurzen Blick an und eilte dann mit festen raschen Schritten den Weg weiter ins Tal hinab. - Da traf er auf mich. Ich weiß es noch heute nicht, was mich dazu bewog, ihn anzusprechen und noch dazu in so gänzlich überflüssiger Weise; ich fragte ihn nämlich nach dem Wege. Da unterbrach er sein Pfeifen. "Was wollen Sie damit? -" Diese Gegenfrage war nicht minder seltsam. Was man mit einem Wege will?... Er sah mich mit großen Augen an. Er wunderte sich offenbar darüber, daß ihn jemand fragte, gerade ihn, und es schien so, als ob ihm das ganz ungewohnt vorkam. - Wen hatte ich hier angesprochen?

Es war ein auffallend großer Mensch, der hier neben und über mir stand; seine Gesichtszüge waren hart gemeißelt und paßten wie die keines Anderen in diese Berglandschaft hinein. Man hätte aus ihnen etwa lesen können, daß der ganze Mensch hier so heimisch sei, daß die Wege keine Namen zu haben brauchten, am wenigsten die schöngeistigen Zärtelnamen fremder Touristen, die sich mit ihnen an ihre weichlichen Häuslich-keiten erinnern lassen. Wie ich ihn mir deutlicher ansah, da fiel mir ein, der sieht ja ganz aus, wie Schwindts Rübezahl! Und wirklich er ging mit nackten Unterschenkeln und daran trug er ein Paar halbe Strümpfe, die locker über den Knöcheln hingen und in Sandalen staken. Sein übriger Anzug war grau und weit geschnitten; er trug einen Rucksack und in der Hand einen schweren selbstgeschnittenen Gebirgsstock; die Haare hingen ihm durchnäßt und in Strähnen um die Schläfen, einen Hut habe ich nie bei ihm sehen können.

Er mußte lange und gern in diesen Bergen sein, daß sie ihn so in seiner Kleidung umbilden konnten, und wenn es viel solche Menschen gegeben hat, so ist es wahrlich zu begreifen, daß das ängstliche Gemüt der Kinder und Frauen sich Berg- und Felsen-geister ersann.

Er hatte, wie gesagt, gepfiffen, während der Regen auf ihn niederprasselte, und sich um Menschen nicht gekümmert; offenbar maß er ihnen hier in den Bergen keine Bedeutung zu.

Als ich ihn ansprach, schien er zu überlegen, ob sich eine Plauderstunde lohne und ein Stück Weges mit mir. Er sah mich von oben bis unten erst ziemlich kritisch, dann aber mit wachsendem Wohlwollen an, denn auch meine Kleidung war weit davon entfernt, touristenhaft zu sein; und schließlich sagte er einladend: "Der Regen wird so bald nicht aufhören; ich gehe hinunter nach der Schlingelbaude. Kommen Sie mit?"

Diese Worte schienen mir folgenden Sinn zu verbergen: "Ich bin seit drei Tagen nicht unter Menschen gekommen, war immer zwischen den Felsen; länger als drei Tage halte ich es aber nicht aus, und ich will jetzt jemanden haben, mit dem ich plaudern kann. Sie scheinen mir nicht ganz so ungeeignet, wie die Andern, die ich heute getroffen habe..."

Dieses schnelle Anfreunden auf Reisen ist in den meisten Fällen höchst lästig, und wer es einmal tut, muß darauf gefaßt sein, sich die nächsten Tage mit Geschwätz und renommierenden Erzählungen ausfüllen zu lassen; man muß dann oft an sich selber telegraphieren, daß eine liebe Tante plötzlich gestorben sei, um wenigstens den Reiseweg ändern zu können. Der aber, den ich hier traf, machte mir die Entscheidung leicht. Er nahm mich einfach mit. Das dürfte wohl der am besten passende Ausdruck für die Art sein, wie er sich mir anschloß, und er schien bei mir vorauszusetzen, daß über den Zweck unseres Zusammenseins gar kein Zweifel bestehen könne, da wir doch beide ... ja was hatten wir eigentlich miteinander gemein? Ich mußte auf einmal lachen, denn mir fiel ein sonderbarer höchst unpassender Vergleich ein.

Ich kehrte also mit ihm um und wir stiegen hinab. Und dieses Hinabsteigen hatte etwas ganz Eigentümliches an sich. Sein Schritt war nicht die halb steifbeinige, halb tänzelnde Be-wegung, die Leute an sich haben, denen sonst nur das ebene Straßenpflaster zur Unterlage dient, sondern es war ein kniegebeugtes wuchtiges Schreiten, das einem inuner steilen Fußboden angemessen war. Er schritt wie der Rübezahl von Schwindt.

Ein Sonderling mußte er unbedingt sein, ein ganz aus der Menschengesellschaft Herausgefallner und Zerfallner, das sah ich ihm an. Es fragte sich für mich nur noch, welcher beiden be-rühmten Arten von Sonderlingen er angehörte, der einen, deren Anhänger nur eine Schrulle haben, einen Spleen, von dem sie nicht los kommen können, oder der andern, die - auch eine haben, nur eine so wertvolle, daß sie darunter allmählich zu großen Menschen werden. Beide werden von ihren Mitmenschen in der Jugend für verrückt gehalten, und erst später, oft nach ihrem Tode, gelingt es der einen Art, sich als führende Menschen der Menschheit zu präsentieren. Aber zum Führersein gehört ja immer, sich in der Jugend recht verirrt zu haben. - Was ich bei meinem Gefährten aufgefunden habe, ist hier getreulich wiedererzählt, und der Leser entscheide selbst, auf welche Seite er gehörte.

Der Weg ging hart und steil bergab. Er nahm ihn mit seinen grossen gebeugten Schritten, während ich springen mußte und oft über die rollenden Steine stolperte. Er sagte gar nichts, begann kein Einleitungsgespräch. Auf einmal blieb er stehen. Ich war schon weitergesprungen und mußte zwei Schritte zurück, er stand über mir und sah in die Berge.

"Merken Sie nichts ...?" fragte er mich.

"Der Regen hat nachgelasssen, aber die Teiche dampfen noch."

"Das auch, ja ... aber noch mehr."

Ein Paar Touristenweiber kamen an uns vorbeigekreischt mit einem Herrn zwischen sich. Man sah in drei blaue Mäuler, von weißen Zähnen unterbrochen, denn hier oben wachsen Hei-delbeeren in Hülle und Fülle. Wir mußten einen Augenblick lachen, aber das ging schnell vorüber.

"Bleiben Sie einmal ganz stille stehen," fuhr er fort, "zappeln Sie nicht, denken Sie nicht an Ihre nassen Hosen, die trocknen wieder, aber spannen Sie alle Sinne an, alle ... auch die heimlichsten."

Als er merkte, daß mir nichts gelingen wollte und daß ich ihn offenbar nicht verstand, gab er selbst die Erklärung. "Das Organische beginnt! Wir kommen in andere Gesellschaft. Die Luft wird hier schon schlecht und fängt an, faulig zu werden. Hier stehen wir vor der ersten Tanne. Zerzaust genug sieht sie aus. Ja, ja, es ist keine Kleinigkeit, die Nachbarin des Mineral-reiches zu sein, das hier oben gebietet! Sehen Sie: wenn ich an dieser Stelle bin, so nehme ich Abschied. Von dort oben komme ich her, und dort oben will ich immer wieder hin, wo es noch kein Lebendiges gibt, nichts Weichliches und Fauliges, das nach Schmutz duftet. Dort an den Teichrändern, da gehts noch groß her, da steht die Natur auf der Höhe. Da hat sie noch nicht die große Dummheit begangen, Organisches zu erzeugen. Ich rechne die paar hündischen Knieholzbüsche nicht mit, die zwischen den Steinen und Felsen herumkriechen. Die Natur ist hier noch rein und ohne Verfall, graniten und porphyrisch mit wenig Sand und Ackerkrume, ein Aristokrat durch und durch. Wenn hier die Sonne scheint, oder wenns regnet und schneit, hat man alles voll und ganz ohne Umschweife in Schutz und Schatten. Was mit Verwesung zu tun hat, das da unten, die Blumen, Wälder, Tiere und Menschen, ist alles verweichlicht und verlogen; es versteht nichts von der Pracht des Mineralischen. - Aber, wie gesagt, das muß man mit allen Sinnen einschlürfen, man darf keinen auslassen."

Ich sah in die Landschaft und versuchte zu verstehen, was er meinte. Drüben ragte der Koppenkegel auf, der abwechselnd in den Wolken stak und dann wieder ins Blaue ragte; an den Teichrändern kamen Nebel empor, und hoch über uns raste eine Wolkenschicht dahin, die schneller war, als die Luft, in der wir standen, und in der jetzt die Nebelfetzen sachte schwammen. Mein Gefährte sah mich zweifelnd an und merkte wohl, daß mir das Auge aufging, aber daß ich es nicht vermochte, an dieser Stelle, wo das Organische anfing, so viel zu empfinden, wie er.

 

"Mir ist es ganz unbegreiflich," begann er wieder, "wie einer die sogenannten lauschigen Waldwege lieben kann und dabei gar noch Blumen pflücken, dieses wiederwärtige Gestrüpp, das seine Verwandtschaft mit Pilzen und Schimmel doch nie ganz verleugnet."

 

"Ja, aber es hilft nichts, Sie müssen wohl oder übel nun doch da hindurch; die nächste Baude liegt schon im Grünen," meinte ich,

 

"Und darum eben nehme ich hier Abschied; sehen Sie wohl!"

 

Von unten her kam ein lauer Luftzug und brachte uns den Duft eines nassen Waldes herauf, der unter uns stand. So angenehm mir dieser Duft von jeher gewesen ist, ich konnte doch, als er uns erreicht hatte und wir ganz darin schwammen, begreifen, wie man ihn auch verabscheuen kann, und ich begann allmählich, die leidenschaftliche Hingabe, die mein Gefährte zu der steinigen Gebirgswelt empfand, zu verstehen. Freilich wußte ich damals noch nicht, welche Verknüpfung mit seinem ganzen Leben darin lag.

"Halten Sie mich nur zunächst für einen besonders abgefeimten Landschaftssybariten," kommentierte er ungefragt mein Nachdenken, "für einen Menschen, der sich an dem absurden Gedanken erfreut, daß die Bergspitzen von der Wolkenfeuchte, in der sie ab und zu stecken, den Schnupfen kriegen usw. Nebenbei aber ist es mir wirklich ganz ernst mit alledem. Wenn ich einmal gestorben bin, so vertraue ich mich ohne weiteres dem Mineralreich an; ich will nicht erst durch die Gedärme von Würmern gehen, ehe ich ihm gehöre, sondern ich werfe mich graden Wegs in seine Bahn. Ich lasse mich also verbrennen. Auf einen Schlag will ich zu Asche werden und so den Kreislauf des Lebens um eine Stufe überspringen. Dieses schnelle Zurücksin-ken ins Mineralreich ist mir bei Lebzeiten schon wirklich ein Ge-nuß, wenn ich daran denke, und deshalb fürchte ich mich auch vorm Tode nicht. Diese herrliche weiße Asche! Ich lasse mich ins Meer zerstreuen, dann bauen die Korallen ihre Paläste davon!"

Es dauerte nicht mehr lange, so standen wir vor der Baude. Er trat in den Vorraum ein, legte seinen Rucksack ab und begann mit kurzen Handgriffen eine Veränderung seiner Toilette vorzunehmen; er zog die Strümpfe hoch, ordnete seinen Anzug, strich sich den struppigen Schnauzbart und die Haare zurecht, und als er sich wieder umdrehte, sah er auf einmal ganz verändert aus. Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel, der länger dauerte, als sonst bei Männern; er sollte ihn wohl davon überzeugen, daß sein Gesichtsausdruck dem üblichen Touristentyp etwas näher gekommen sei. In der Tat sah er auf einmal ziemlich unauffällig aus und glich den Andern, die im Vorraum umherhuschten, um nach dem Wetter zu sehen. "Wir sind in der Kultur!" wandte er sich zu mir um, denn er hatte eben die Klinke ergriffen und öffnete die Tür.

Der bekannte Baudengeruch schlug uns entgegen, ein Gemisch von Kaffee, Tabak und nassem Lodenzeug. Es saßen nicht mehr viel Leute drin, die Jahreszeit war schon zu sehr vorgeschritten, und die großen Ferien vorüber. Hinter dem Schank-tisch standen zwei gelangweilte Mamsells, die die Stille nicht vertragen konnten und davon gereizt aussahen. Auf dem Tisch vor ihnen war eine Pyramide buntbeklebter Gebirgsliköre aufgebaut. In der Mitte des Saales schienen Stammgäste zu sitzen, denn sie sahen meine Gefährten alle wie bekannt an und flüsterten sich etwas zu.

"Wissen Sie, was Sie jetzt sagen?" wandte der sich zu mir.

"Nein."

"Der Berggeist!"

Ich verstand wohl, aber ich fragte trotzdem, was das zu bedeuten habe.

"Das ist mein Spitzname; sonst heiße ich, wenn Sie es wissen wollen, Theodor Wolden; aber das auch nicht immer."

Er suchte ein paar mal hin und her, ehe er den rechten Tisch fand, dann aber setzten wir uns in eine gemütliche Sopha-ecke grad unter eine riesige Spieluhr, in der guten Hoffnung, daß wir von ihr nichts zu hören bekommen würden, und bestellten jeder unsern Kaffee. Die kleine Schlesierin, die hinter der Likör-pyramide gestanden hatte, begrüßte uns halb scheu, halb vergnügt - das Vergnügte galt mir, das Scheue meinem Gefährten - und setzte die heißen Kaffeetassen vor uns.

"Nu, Martel," fing er an, "jetzt heißts stille sein, nicht? S'is aus mit dem Hin und Her den ganzen Tag. Im Gebirg wirds schon ziemlich öde."

"Nu ja, s'is halt a su!" antwortete die Kleine und lief mit dem leeren Tablett fort.

"Sehen Sie, das wollte ich bloß hören, "s'is halt a su!" Damit trösteten sich diese Schlesinger über alles hinweg und holen sich ihre Ruh. Mag sich ein Mädel beim Tanz den Rock bis an die Knie zerrissen haben, mag einem Bauer der Heuschober abbrennen, oder sein Weib im Kindbett sterben, mag er sich selber den Strick um den Hals legen, sie sagen immer: "S'is halt a su!" Ist das nicht großartig diese Weisheit? Die meisten Menschen bilden sich ein, der Augenblick, den sie eben erleben, könnte auch anders sein, als er ist, und benehmen sich dabei un-glaublich ungebildet; aber hier sind die 15jährigen schon Stoiker. Ja, wer das kann...!

Uns schräg gegenüber saßen einige junge Leute und wa-ren ziemlich laut. Man konnte etwa auf Bankbeamte schließen, die ihren Urlaub genommen hatten und es nun einmal mit dem Gebirge versuchten. Einige von ihnen schrieben Ansichtskarten, andere saßen vor ihrem Schoppen Bier; hin und wieder ging eine Karte herum und eine wurde unter lautem Gejohl in Bier getaucht und dann mit dem Rockärmel wieder abgewischt. Einer der jungen Leute spannte plötzlich seinen Schirm auf und behauptete, es regne, sein Nachbar verbat sich aber den Spektakel, der darüber entstand, denn er saß stumm über das Fremdenbuch gebückt, den Bleistift nur selten führend, und schien ein Gedicht auf den Rübezahl zu machen.

Ich wunderte mich, daß mein Begleiter über diese Leute keine Aeußerung tat, denn das hatte ich schon an ihm bemerkt, daß er auf Dinge achtete, die sonst übersehen werden, und über sie gern etwas sagte, was man nicht erwartete. Aber hier schwieg er, obwohl ich deutlich sah, wie er jeden einzelnen scharf ins Auge nahm. Nur als er den Rübezahldichter über das Fremden-buch gebückt betrachtete, entfuhr ihm eine Bemerkung, die ich aber nicht verstanden habe.

Die Leute vom Stammtisch benahmen sich wesentlich gesetzter. Sie hatten Reiseführer und Pläne vor sich liegen und berechneten eine Kammtour, wobei sie gelegentlich nach der Uhr sahen. Es waren ein paar kouragierte Damen darunter mit grünen Jägerhüten und Rübezahlsbart daran. Die eine versteckte sorgfältig in einen Bogen fortwährend reißendem halbnassem Zeitungs-papier ein Bündel Habmichliebpflanzen, deren Abpflücken im Riesengebirge bekanntlich forstgesetzlich verboten ist. Was sonst noch an den Tischen saß, waren ein paar Stilblüten der Nachsai-son: ein einzelner älterer Herr mit fahlem Gesicht und einer Flasche Sauerbrunnen vor sich, der das vorübergehende Postkar-tenmädchen soeben mit einer Handbewegung abwies; ein Ehe-paar aus Hirschberg mit einem siebenjährigen Mädchen, das den Zucker vom Tisch naschte, und ein flüsterndes unverlobtes Paar, das sicherlich in jedes Fremdenbuch einen anderen Namen einschrieb. - Dazwischen die gähnende Leere der Tische, die mit ih-ren ungewohnt langweiligen Flächen das Gemüt der Kellnerin-nen so merkwürdig beeinflußten.

Da hörten wir aus der Ecke den Ton einer Zither. Mein Ge-fährte horchte auf. "Das ist mein Freund Meister Tischhammel!"

Der Mann sah, als ob er kurzsichtig wäre, dicht auf seine Saiten, die er mit einem Hornringe anriß, und trat mit dem Fuße den Takt auf dem Boden. Es war ein Walzer, den er spielte.

Wolden rückte dichter zu mir heran und erzählte: "Sehen Sie, der Mann ist nämlich nicht mehr bei Verstande; es ist schade um ihn, denn er war ein kreuzbraver Kerl. Sie werden es sehen, wenn er nachher herumgeht, einsammeln. Nur in der Musik ist er daheim geblieben, das ist die einzige Welt, in der er sich noch zurechtfindet, aber alles andere ist verdorrt und verdorben an ihm. Er ist eigentlich Klavierspieler, und Sie sollen ihn mal hö-ren, wenn er da phantasiert. Dann werden seine Augen ganz hell und man denkt, er könne gleich zu einem kommen und über alles vernünftig reden. Er hat ein Unglück gehabt früher und das hat er sich zu sehr zu Herzen genommen der gute Kerl. Er hatte ein Mädchen, das er liebte, aber sie konnten sich nicht so schnell heiraten; da ist es dem frischen Kinde denn schlecht geraten, und als sie Mutter wurde, hat man sie verstoßen. Und der da hat sein ganzes Geld für sie hingegeben, ist hier auf die Berge gegangen und hat sich mit Spielen durchgeschlagen. Er schläft dort drüben im Nebenhause, sehen Sie, überm Pferdestall im Heuboden, weil er das Geld für ein Bett sparen will. Er ißt den ganzen Tag fast nichts, nur trocknes Brot und kauft sich immer gleich einen ganzen Schinken, den er neben sich im Heuboden liegen hat. Das ist sein Leben nun schon volle zehn Jahre lang, Winter und Sommer; er spart alles und gönnt sich gar keinen Luxus; er hat sogar dem Wirt hier gesagt, er solle ihm statt der Tasse Kaffee, die die Zitherspieler auf den Bauden immer umsonst kriegen, lieber einen Groschen geben. Früher ging er alle Monate einmal zu Tale nach Hirschberg zu seiner Liebsten und dem Kinde und lieferte alles ab, was er sich vom Munde gespart hatte. Und als er einmal wiederkam, lag die Kleine schon vierzehn Tage unter der Erde. Da hat ihn denn der Verstand verlassen zu seinem Heil; er soll nur einmal laut aufgeschrieen haben und dann konnte er schon den Weg zum Armenkirchhof nicht mehr finden. Jetzt bildet er sich ein, sie lebt noch, und er ginge jeden Monat hinunter zu ihr. Aber er kommt immer bloß bis Krummhübel, dann verirrt er sich und wird von den Kindern auf der Straße wieder zurückgeschickt. Auch den Sinn für die Zeit hat er ganz verloren. Obwohl das nun schon sieben Jahre so geht, bildet er sich immer noch ein, sein Liebchen wäre neunzehn, wie damals, und das Kind stände auf ihren Knien."

Das Stück war vorüber, und der Irre stand auf. Sein Gang war hastig und polternd; er lief von einem Tisch zum andern, sah die Gäste mit großen herausfordernden Augen an und hielt ihnen eine Blechschale hin. Auch zu uns kam er und grüßte, als er meinen Gefährten sah. "Nun, Meister," fragte der und legte ein Geld-stück in die Schale, "gehts wieder zu Tal am Ersten?"

"Nu ... nu ..." antwortete der Irre und wischte sich über die Augen, "mir is halt a su närrsch zu Mut, ich weeß halt salber nie. Mir kummts halt a su vor, als wenns mit mir nie recht wär, ja ... ja ... das Mädel sot immer dasselbe ... immer dasselbe. Ich weeß halt nich . . ." Dann hastete er weiter.

"Das macht die Musik!" flüsterte mein Gefährte mir zu, "er wird irre an einem Irrsinn. Aber ehe er sich hinsetzt, wirds wieder Nacht und er ist ganz glücklich . . ." Dann entfuhr ihm ein Wort, für das wohl kein Zuhörer bestimmt war, das aber dennoch einen fand. "So wie dir hätte mirs auch gehen können; na, vielleicht wirds noch."

Das machte mich stutzig, und wenn ich auch nicht ängstlich bin, so kam doch ein unheimliches Gefühl über mich. Ich hatte versprochen, ihn bis Krummhübel zu begleiten, wo ich wohnte, und ich mußte jetzt immer mehr einsehen, daß ich mich einem ganz abseitigen und vielleicht nicht ungefährlichen Menschen angeschlossen hatte. Er verglich sich mit diesem vertierten Liebhaber, der dort in der Ecke saß und seine Weisen spielte; in der Tat, wenn ich ihn heimlich ansah, so schien mir oft ein Zug in seinem Auge zu liegen, der diese Aehnlichkeit bestätigte.

"Ja, es ist schlimm hier im Schlesierlande," begann er wieder, "zu viel verkrüppelte und verrückte Menschen. Hier oben gehts noch. Aber kommen Sie mal unten in die Webertäler hinein, nach der Weistritz zu: überall rhachitische Kinder mit großen schiefen Köpfen und krummen Knochen. Sie haben allen Stolz der Rasse verloren und betteln von ihren Häusern aus die Fremden an. Denken Sie sich: bettelnde Gebirgskinder! Ja, ja, es ist schlimm. Wenn solch ein Leben aufwächst und es geht an irgend einer Ecke mal was schief, ein großes Unglück, ein Brand oder Todesfall, bumm! bricht die Tollwut aus. Bleiben sie still bei ihren Kartoffeln ihr Leben lang, dann gibts Verblödung mit großen wässrigen Kuhaugen. - Als man anfing, mich den "Berggeist" zu nennen, bekam ich den Kitzel, mich mal um all die Leute zu kümmern. Aber ich habs dann doch nicht getan und hab jeden seiner Wege gehen lassen. Im Grunde hatte ich ja auch gar keine Veranlagung dazu, der Hüter des Tales zu sein, und überdies genug mit mir selber zu tun."

 

Schon wieder solch eine verfängliche Bemerkung! Aber er hatte sie ganz gleichgiltig gesprochen.

"Ich bin übrigens höllisch geschwätzig heute," fuhr er in einer anderen Tonart fort, "aber ich glaube, das liegt mehr an Ihnen."

"Wieso an mir?"

"Sie haben so etwas Herauslockendes an sich, so etwas, wie soll ich sagen, Beichtvaterhaftes, wenns drauf ankommt."

Ich lachte über den komischen Einfall,

"Ja, ja, es gibt solche Menschen. Sie brauchen sich darauf weiter gar nichts einzubilden, so etwas haben oft die dümmsten Kerle an sich, aber es gibt tatsächlich Menschen, die zum Plau-dern und Schwätzen anreizen, und denen man manchmal dummerweise so ziemlich alles sagt. Indessen glaube ich auch, daß der Kaffee sein Teil Schuld daran trägt, der für Baudenverhält-nisse übrigens wirklich ganz appetitlich ist. - Aber sagen Sie mal, was sind Sie eigentlich?"

Diese Frage hätte sich, auf ihn bezogen, viel besser gepaßt, besonders, da sie mir so gestellt schien, als wollte er wissen, was ich wäre, wenn man von allem absieht, was ich meinem Berufe, meiner Beschäftigung und selbst meinen Ansichten nach bin. Er gab jedem, der auf Menschen achtet, ein Rätsel auf, ich aber bildete mir ein, mich so ziemlich unter der Menge verducken zu können. Er sah meine Verlegenheit und die schien ihn zu freuen.

"Ja, aber was sind Sie ...?" rächte ich mich. Ein gütiges Schicksal kam ihm zu Hilfe. Am Nebentische gabs Streit. Einer der jungen Leute, der Hauptkräher - er war offenbar der, welcher den Plan zu der gemeinsamen Riesengebirgsfahrt ausgearbeitet hatte -, stand mit hochrotem Kopf und schneeweißem hohen Stehkragen vom Sopha auf und verbat sich "dergleichen laxe Auffassungen". Was es war, konnten wir nicht mehr ergründen. Derartige Unternehmungen, so fuhr er fort, vertrügen sich auf keinen Fall mit der Standesehre, denn sie seien eine heimliche Ausnutzung des Vertrauens, das der Chef in sie setze, auch, wenn dieser keinen positiven Nachteil davon habe. Der Verkehr mit solchen Personen, die die jungen Angestellten zu Privatgeschäf-ten verleiteten, sei schon überhaupt nicht fair, und er, der Spre-cher, würde kein Bedenken tragen, so etwas geradezu dem Chef mitzuteilen, auch wenn es ein guter Freund von ihm sei. Man schwieg einen Augenblick, als der brave Streber so gesprochen hatte. Mein Gefährte flüsterte: "Der bringts mal zuwas!" Der alte grauhaarige Sauerbrunnentrinker am Nebentisch runzelte seine Hypochonderstirn, nur der Stammtisch nahm keine Notiz von der Debatte.

Mein Gefährte, der die Streitenden scharf beobachtet und jedes Wort aufgelauscht hatte, wandte sich nun wieder zu mir und sagte: "Ja, was Ihre Frage von vorhin anbelangt: ich bin ein ganz unbedeutender Mensch, und Sie dürfen von den gelegentlichen Weisheiten, die mir so hin und wieder entschlüpfen, nicht auf mein Können schließen. Dieses ist gering, fast Null." Er zuckte die Achsel und wurde bitter ernst: "Es ist nicht meine Schuld."

Da wußte ich, daß er ein Künstler war, und schwieg. Und er merkte, daß ich ihn verstanden hatte und hielt das Schweigen eine zeitlang inne, während dessen er durch die großen Veranda-fenster ins Freie sah. "Ich bin 34 Jahre," fuhr er gemessen fort, "und meine Zeit ist demnach vorbei. Zwischen 20 und 30 kann unsereiner was sein und was schaffen; wenns da nicht kommt, kommts nimmer. Ich bin seit zehn Jahren gewissermaßen Genie a. D. mit Erlaubnis die Uniform zu tragen. - Ich glaube, ich bin nicht faul genug gewesen, daran mags gelegen haben. Ich habe geschuftet und geschuftet, ein Buch nach dem andern geschrieben in Begeisterung dem Ruhm entgegen. Und wenn ichs am En-de durchlas, sah ich ein paar gute Gedanken darin, und alles an-dere war fade, fade, fade. Mein Zimmer hat manches nächtliche Autodafé gesehen und so bin ich in die Dreißiger geraten und merkte nun, daß ich mit jedem Buch, das in den Flammen aufging, ein Stück von meinem Leben verbrannt hatte. Da fings denn an, öde zu werden. Ja, es ist nicht leicht, immer am Ab-grunde zu laufen, oben bleiben zu wollen und unter sich den gähnenden Rachen zu sehen genannt: Trivialität. So bin ich denn Zeit meines Lebens ein unbedeutender Mensch geblieben, was mich im übrigen nicht weiter traurig macht."

"Aber Sie haben doch wenigstens standgehalten und sind sich treu geblieben," tröstete ich, denn ich wußte, daß unfähigen Künstlern so etwas gefällt.

"Ja, freilich, und das ist es ja schließlich auch, was mir noch Spaß macht; ich habe eine bestimmte originelle Art der Un-fähigkeit entdeckt und bin mir treu geblieben, ganz recht."

Am Tische der jungen Leute fing es wieder an, lebendig zu werden.

"Sehen Sie mal," fuhr er fort und wies auf die Streitenden, "diese Menschen halten sich alle für bedeutend; hören Sie bloß mal, wie der Stehkragenheld da mit seinen Komptoiridealen jongliert. Sehen Sie mal das zufriedne Gesicht des Poeten, der die Koppe wieder angedichtet hat. Wenn ich solche Leute sehe, muß ich immer an den bedauerlichen Niedergang der Völkerphantasie denken, die es nicht mehr fertig bringt, Zwitterwesen zu schaffen, oben Mensch, unten Rohrstuhl mit Schraubenwindung, Die Griechen konnten das noch mit ihren Centauren. Stimmts nicht?"

 

"Famos, ja! Es fehlt den Leuten so alles Heldenhafte, könnte man sagen."

 

"Na, mit dem "Heldenhaften" das ist so eine Sache, im Grunde fehlt das auch bei uns. Man darf das nicht so ängstlich nehmen mit dem "ringenden Künstler", der "allen Fährnissen und Anfechtungen zum Trotz den Weg des Herakles geht", wie's in Literaturgeschichten heißt. Sieht man sich die Sache näher an, so schauts viel gemächlicher aus. Wir sind einfach Menschen, die in ein falsches Element geraten sind, und nun strampeln wir uns los. Der ganze glorreiche Heldenkampf von Künstlern ist von innen gesehen nur ein Losstrampeln; wir dulden Angst und Qual, wenn wir stille halten. Es ist genau dasselbe, wie wenn Fische ans Land geworfen werden, und, jetzt zappeln sie und schlagen mit dem Schwanz. Einige erreichen das Meer wieder, das sich immer tückischer zurückzieht, und schwimmen stolz und verächtlich weiter, als ob sie nie auf dem Trocknen gelegen hätten. Die meisten aber, die schwere Ueberzahl, bleibt liegen, und ihr Strampeln wird immer matter; sie verpesten schließlich die Luft mit ihrer Verwesung. Das ist dann eben die schlechte Literatur. - Aber ich will Ihnen nicht alle Illusionen nehmen; (er tat so, als ob ich des Trostes bedürfte! der Verf.) in der Tat, das eine bleibt bestehen, wir sind reinlichere Menschen."

Er hatte das alles wirklich kühn gesprochen und auf seinen Mienen lag nicht die Spur von Schwermut, Weltverachtung oder der Bitterkeit verkommener Talente. Nichts von Bohème war an ihm. Er erfaßte alles klar, urteilte sicher und spitzig; die Erkennt-nis seiner Lage machte ihn herrisch und verwegen. Er war immer noch der alte, starkknochige Berggeist, dem man das ungebrochne Gemüt ansah; die Freude am Original leuchtete ihm aus den Augen.

Indessen war es Zeit geworden, aufzubrechen. Wir traten ins Freie. Der Regen war längst vorüber, die Wolken zogen fort und eine starke Luft lag über der Landschaft. Ich sah, woher wir gekommen waren und sah, wohin wir gehen wollten. - Das Riesengebirge entfaltet an dieser Stelle seinen ganzen tiefen Reiz. Neben uns begannen die nassen Wälder mit ihrem schweren Duft, ein Berg- und Waldland lag unter uns mit seiner versonnenen Art und seiner stillen Liebe. Dörfer und Flecken im Tal: Krummhübel, Steinseifen und der ulkige Pfaffenberg dazwischen. Aber links über uns, da erhob es sich auf einmal wie in eine ernstere Welt. Dort lagen die Teiche mit ihren großen Augen und darüber der Koppenkegel. So hebt sich kein anderes Gebirge empor, so versteht keines zu reden und zu schweigen. Es macht Menschen, die es besteigen, auf einmal still, wenn sie an eine bestimmte Stelle kommen; sie sehen mit satten Augen in die Welt und fragen nicht mehr. Es ist wie ein Mensch, der vom Geruch einer Rose berauscht wird, aber dann auf einmal sich jäh emporreckt und an den dünnen harten Duft großer Herzen denkt.

Der Berggeist stand hinter mir und sagte nichts. Aber als ich ihn ansah, wußte ich, daß ich nur ihm das alles zu verdanken hatte, was ich eben an dieser Landschaft erlebte. Seine Nähe berührte mich immer wunderbarer, ich dachte wieder daran zurück, wie er dort oben an der ersten Tanne stillgestanden war und mir schien das jetzt alles klarer zu werden, wenn ich auch den letzten Grund nicht fand. Das Gebirge war mir wie ein lebendiges Wesen geworden. Der Berggeist hatte zu mir gesprochen.

Es ging gegen Abend zu, und mein Gefährte sah nach der Uhr: "Kommen Sie hinab. In einer Stunde sind wir in Krumm-hübel."

Auf dem weiten Wiesenplan, der vor der Baude lag, standen ein paar zerzauste Tannenriesen, die alle ihre Aeste in die Richtung des Ostwindes streckten.

Wir gingen hastig an ihnen vorüber, dann umschlang uns ein enger Waldweg, der ziemlich steil bergab führte. Rechts ne-ben uns hinter einem Waldstreifen mußte es jäh aufgähnen, denn man hörte tief aus einer Schlucht das Rauschen des Gebirgs-baches. Mein Gefährte wurde schweigsamer und es schien, als läge ihm jetzt nichts mehr am Sprechen. Er hatte irgend etwas mit sich zu tun, das merkte ich ihm an; auch sein Schreiten war anders geworden, es hatte nicht mehr das Trotzhafte an sich, wie oben, sondern war, wie man es sonst fand, bedächtig geworden; er nahm auf die Steine Rücksicht, die am Wege lagen. Sein Gesichtsaus-druck wurde unsicher und fast ängstlich, wie einer, der einen tiefen Abgrund entlang schleichen muß und schwindlig ist; und doch war der Weg ganz ungefährlich.

Das ging so eine Zeit, und ich hielt das Schweigen aus, obwohl es mir nicht behagte; er schien mich nicht mehr zu beachten, lief oft schneller, oft langsamer den Weg hinab, und wie ich einmal an einer helleren Stelle in sein Gesicht sah, lag eine Falte an seinen Mundwinkeln, die verhaltenen Schmerz verriet; die Augen, die so kräftig in den tiefen Höhlen geborgen lagen, hatten einen matten Glanz bekommen; das sah absonderlich aus.

Das Geräusch des Baches kam näher, der Waldstreifen, der uns von ihm trennte, mußte dünner geworden sein; da bog der Stillgewordne plötzlich rechts ein auf einen engen Fußsteig zwischen hohen Tannen; ich folgte ihm, und bald stand er auf einer Klippe, unter sich die Tiefe und den Bach. Da blieb er ganz stille stehen und sah hinab.

"Magdalenleinklippe ...!" sagte er nach einer Weile.

"Heißt die so?"

"Nein. Sie sieht bloß so aus, wie eine Magdalenleinklippe drüben bei den Forstbauden ... sieht ganz so aus!"

Er trat wieder zurück, damit ich ihn besser verstehen könnte. "Ja, die Geschichte vom Magdalenlein," sagte er, "ist bitter ernst. Wenns die nicht gegeben hätte...!"

Er wartete eine Weile, ob ich etwas sagen würde, aber ich schwieg, weil ich mich ihm nicht aufdrängen wollte. Da erzählte er aus freien Stücken: "Es war ein Kind aus diesen Bergen, Magdalenlein, so ein hartes Schlesierkind mit braunen Augen, ein Kind, dem der Winter jedes Jahr fast bis ins Bett gekrochen kam, ein Kind, das nach Berlin gezogen kam, um was zu lernen, und dem die Großstadt ein weites Herz gegeben hatte. - Kennen Sie die vielen Kleinstädterinnen, die nach Berlin kommen und nach einem halben Jahr aus ihrem Herzen ein Variété gemacht haben...? Nun ja: grade so war Magdalenlein nicht. Ich traf sie an einem kalten Novemberabend an der Weidendammer Brücke über ihren Muff nach vorn gekrümmt. So ging sie gegen den Wind an, und ich, wie aus einer tollen Laune, sprach sie an. Ich höre die schlesische Mundart, ich frage sie, woher sie sei, und wie sie mir alles getreulich erzählt hatte, da sagte ich, daß ich ihr Vaterhaus kenne. Da sah sie mich an, die Augen standen ihr schnell voll Tränen und sie sagte: "Ach, der Wind...!" - Ich war damals noch, was man einen "ringenden Künstler" nennt, jetzt hat sichs ja ausgerungen, und da errang ich mir auch dieses einsame Bröcklein Menschenleben, das in der fremden Häuserwüste stak und darüber nicht Herr werden konnte. Denn das war das Gute an ihr, daß Berlin ihr noch eine Wüste war und nicht gleich vertraulich zu ihr gesprochen hatte. Aber sie wissen, wie schwer es ist, mit Wüsten zu ringen... Sie war im September nach Berlin gekommen und hatte sich an den grünen Stellen, vom Tiergarten her, allmählich hineingefunden, nun aber war das Grüne bald fort und ehe sie sich recht besonnen, lag gar der Winter schon auf den Steinen. So war sie einsam genug.

Sie weinte fast jeden Abend, wenn wir zusammen waren, nach ihrer Mutter, und ich mußte ihr erzählen, von welcher Seite aus ich ihr Vaterhaus gesehen hatte; und ich erzählte mehr, als ich vor der Wahrheit verantworten konnte. Aber sie war nun geborgen bei mir und begann vertraut mit der Stadt zu werden, sie sah sie zur Nacht und auch sonst zu allen Stunden, und so gab es eine sorgenlose Zeit, denn sie lernte damals noch in der Fortbildungs-schule und hatte keine Not mit Brot und Ruhe. Am Weihnachts-abend mußte ich gut herhalten, um ihr die Fröhlichkeit im Herzen nicht versiegen zu lassen. Ich putzte ihr, während sie fort war, den Baum in ihrer Dachstube und wir saßen zusammen den ganzen Abend über, tranken Tee und rauchten Zigaretten; dazu der Kuchen und die Nüsse von zu Hause.

Wie's dann wieder Frühling wurde, zog sie's doch noch einmal in die Heimat, denn Ostern sollte sie in Stellung kommen, und da fuhr sie kurz vorher ins Gebirge. Aber sie kam mit herbem Gesicht wieder. Man hatte ihr gesagt, sie sei ein dreistes Ding geworden, dem die Hoffahrt in den Kopf gestiegen set und sie sollte sich nur ja nicht zuviel einbilden. Das hatte die Mutter gesagt, und Magdalenlein war wieder gegangen.

Auch der Sommer wurde durchflattert in Berlin. Wir zogen alle Sonntage ins Grüne mit einem Päckchen Kuchen unterm Arm, und sie mit ihren hellen freien Kleidern. Und doch hatte ich jeden Abend, wenn es am schönsten werden wollte, und die märkische Landschaft mit ihrem Duft von blühenden Kiefern in all ihrer Stärke aufstieg, mit einem fremden Geist zu kämpfen, der zwischen uns trat: mit ihrer Mutter. Ich habe ihn nicht immer bezwungen.

Dann kam der Herbst und mit ihm die Not. Magdalenlein wurde krank. Ich weiß es noch jetzt nicht, was es gewesen sein mag, immer glühendes Fieber und immer schwach und matt, dabei Schmerzen im Rücken. Jeden Tag war ich bei ihr, bis sie einschlief, ich wich kaum von ihrer Seite. Ich saß auf ihrem Bettrande und hatte den fiebernden Puls unter den Fingerspitzen und kühlte ihre Stirn, wenn es ihr besser war, las ihr etwas vor, oder brachte ihr teures Obst. Am Ersten wurde ihr gekündigt, und nun wurde die Not immer härter. Die kleine Dachstube in Berlin N. wollte bezahlt werden, das Essen durfte nicht mager sein, ein Stück Freude mußte sie hin und wieder auch haben. Ich habe fast mein ganzes Geld, das mir die paar Zeitungsartikel einbrachten, für sie hingegeben, und hätte gern gehungert, wenn ich sie hätte satt machen können. Und wir haben tapfer ausgehalten und zu Weihnachten konnten wir wieder froh sein; es ging ihr besser und sie saß verträumt zum ersten Mal außer Bett vor dem lichterglühenden Baume. Sie hatte keine Sehnsucht mehr nach Hause. Die Krankheit und meine Treue hatten ihr alles Gefühl für die Ferne und das Vergangene genommen, sie lebte ganz in den Augenblicken und war wohl glücklich dabei. Nun gings wieder bergan, die kalten hellen Wintertage taten ihr wohl, und bald konnte sie wieder eine Stellung annehmen.

Wie der Schnee wegschmolz, war alles in gutem Gange; ihr Gemüt ging wieder nach außen und in die Ferne, es wurde wieder begehrlich. Sie sann nach der Vergangenheit und nach der Zukunft, ihre Augen verloren das versunkene Wesen, das sie in den Wintertagen und unterm letzten Weihnachtsbaume gehabt hatten, und wurden wieder hell und weitgehend wie Gebirgskin-deraugen.

Da kam von Hause ein Brief. Der Vater hatte eine reiche Erbschaft gemacht. Da war es ihm in die Krone gefahren und er hatte sich eine leerstehende Schnapsbrennerei in Schmiedeberg gekauft. Die war nun schon im Betrieb und fing an zu gehen, aber es stockte hie und da, weil keiner was rechts von Geschäfts-führung verstand. Ob Magdalenlein nicht zurückkommen wolle, fragte der Brief, und helfen, blos einen Sommer über, bis alles in gutem Geleise sei und man endlich mal klipp und klar wisse, was denn eine Hypothek sei, ob wach Gutes oder Schlechtes. Außer-dem ginge es der Mutter nicht gut, das alte Leiden sei wieder da und sie sehne sich nach ihrem einzigen Kinde. - Die Mutter, die Mutter! Da stand der Geist wieder neben mir, gegen den ich immer zu ringen hatte! Ich glaubte ihn im Winter totgeschlagen zu haben mit meinen Pulsfühlen am Bette und meinem fröhlichen Hunger. Aber Magdalenlein sagte mit Tränen in den Augen: "Verzeih mir...!"' und ich durfte ihr nicht sagen: "Geh nicht zur Mutter!" Hätt ichs ihr nur gesagt, hätt ich nur...!

Magdalenlein ging.

Die Briefe, die ich von ihr bekam, klangen matt. Sie sprachen nicht. Sie waren nicht Magdalenleins Briefe, die sonst so hell schreiben konnte. Ich verstand das erst nicht; sie hatte sich so nach ihrer Heimat gesehnt, ohne mir's zu sagen, aber bald wußte ich's: Großstadt, du hast gesiegt! - Die Heimat war ihr zur Wüste geworden. Sie bat mich, doch schnell einmal zu kommen, es ginge über ihre Kraft. Und ich kam, mein Redakteur gab mir 5 Tage Urlaub, und ich besuchte Magdalenleins Eltern. Es waren brave liebe plumpe Leute, die sich eifrig bedankten für alles, was ich um Magdalenlein getan, - sie wußten kaum die Hälfte! - Dann ging ich abends mit ihr allein die Waldwege entlang, und da erzählte sie mir unter Schluchzen, daß es alles aus wäre. Kein Mensch verstünde sie hier, sie würde verhöhnt wegen ihrer Großfahrt, fast nenne man sie eine Dirne, die sich nachts auf den Straßen von Berlin herumgetrieben habe; nichts sei ihr die Heimat mehr, alles leer und öde, keinen Menschen habe sie, der zu ihr wie ein Freund rede. Berlin! Berlin! klang es immer wieder aus ihrer schluchzenden Stimme.

Es war ein ernster Fall, und Magdalenlein mußte unbedingt zurück. Ich fragte sie, wie es denn zu machen sei, aber sie schüttelte den Kopf und meinte, es sei keine Hoffnung; ihre Eltern ließen sie nicht mehr fort: sie wollten ihr Kind nicht ganz verderben lassen. Wenn sie gehen wolle, möge sie's tun, aber dann sei es auch für immer. Und Magdalenlein hatte doch kein Geld, und ich hatte auch nicht genug, sie zu unterhalten Mit einem Bruche war's also nichts.

Da faßte ich einen andern Plan. Die Mutter liebte ihr Kind mit Affenliebe, aufdringlich und anspruchsvoll; dabei war sie stets, wenn ihr was nicht paßte, zu jeder Schmähung bereit. Mutterliebe ist überhaupt kein so heilig Ding. Ich habe heiligere kennen gelernt damals in Berlin N. - Wie ich am Abend mit den Alten zu Tisch saß, erzählte ich viel von dem großen Berlin, und die Beiden hörten gespannt zu. Magdalenlein saß still in der Ecke und spielte mit der Katze. Ich erzählte von den großen Kaufhäu-sern, wo so viele Mädchen vom Lande seien, die alle nicht mehr von Berlin lassen wollten, wenn sie einmal da gewesen. Das wollten die Alten nicht gutheißen und meinten, es sei dummes Zeug, zu Hause sei's immer am besten, und da gäb's auch genug zu tun. Da log ich ihnen ein Stücklein vor, so recht plump und dreist wie ein Krämer, ein Stück, das genau auf den Fall Mag-dalenlein paßte; ich meinte: ich hätte da ein junges Mädchen gekannt, das stand am Kaffeschanktisch und bediente die Kunden. Sie war aus Ponmmern, von da oben, wo die tiefen Wälder sind, und eines Tages war sie fort, auf Besuch bei ihren Eltern für einen Monat. Wie ich nun nach einem halben Jahr einmal wieder dort war, fragte ich nach der Kleinen. Da sagte ihre Kollegin zu mir: "Wissen Sie denn nicht...?" Ich fragte verwundert: "Was denn?" - "Die Kleine ist tot." - "Was? Tot?" - "Ja, sie hat sich das Leben genommen, weil man sie nicht mehr fort ließ; aus Gram nach der Großstadt." - So log ich, und die Alten waren ganz aufgeregt über mein Märchen. Die Mutter schlug sich immer zu den Magen und kam nicht zu Worte, obwohl sie was sagen wollte. "Nu, da sull aber glei - nee da sull aber glei..." weiter kam sie nicht. Magdalenlein aber hatte die Katze sein gelassen und war ohne ein Wort hinausgegangen. Mir ist's noch so, als hätte sie sich umgedreht und mich angesehen. Ich dachte zu mir: da hast du ein gutes Stücklein erfunden, und die Alten haben jetzt Respekt; jetzt werden sie Magdalenlein nicht mehr halten, wenn sie fort will!

Ich blieb noch zwei Tage dort. Magdalenlein war immer stiller geworden, und ich meinte nun, sie solle nun weiter sehen, ich hätte die Alten schon auf den richtigen Weg gebracht. Dann schieden wir.

Aber die Briefe, die nun kamen, klangen nicht hoffnungsvoll; sie klangen aber auch nicht verzweifelt, sie klangen: ganz anders. Es war, als ob ein fremder Mensch mit mir spräche, so ein fertiger, abgeschlossener; sie schrieb manchmal "Lieber Freund!" als Ueberschrift. Dem Winter zu wurden die Briefe immer seltener, ich wartete mit steigender Ungeduld, daß sie wiederkäme. Sie aber schrieb: "ach laß nur; die Mutter will es nicht". Und dann blieb es wieder still. Der Winter kam herauf, und ich mußte an mich halten in all' dem Jammer. Am heiligen Abend ging ich allein durch die schmutzigen glänzenden Straßen von Berlin und ich sah zu dem Fenster hinauf wo wir voriges Jahr unterm Weihnachtsbaum geduckt gesessen hatten. Es war alles finster oben. - Am nächsten Morgen lag ein langer Brief von ihr da, der wieder ganz in der alten Stimme klang: sie beklagte leidenschaftlich ihr Mißgeschick und schluckte an ihrem Weh. Es war nicht mit anzuhören, was das Kind da litt. Aber es war keine Aussicht auf Linderung.

Da kam ein kurzer Brief.- Ach komm doch schnell! Magdalenlein". Nur diese Worte und sonst nichts. Noch am selben Tage saß ich auf der Bahn nach Hirschberg. Ich fuhr bis Schmiedeberg und mußte von dort zu Fuß auf die Forstbauden hinauf. Es lag hoher Schnee im Gebirge, und es war ein starrer kalter Nachmittag, als ich ankam, so ein Tag, an dem man glaubt, die Welt sei aus Glas und müßte bei jedem Hauch in Scherben springen. Dabei Totenstille und kein Windzug. Ich arbeitete mich mühevoll durch knietiefen Schnee über die Felder weg, bis ich an den Waldweg kam, der über die Tannenbaude nach den Forst-bauden führt. Ich wollte noch in der frühen Dunkelheit dort sein. Kaum einem Menschen bin ich begegnet, nur einem, der am Waldrande stand in Hemdsärmeln und der die bitterkalte Stille mit harten Flüchen unterbrach. Als mir ein Holzfäller begegnete, rief er nur im Vorbeigehen zu. "Der da oben hat die Schimpf-wut!", und wie ich dicht an ihn herankam, hörte ich ihn deutlich fluchen aus voller Kehle zu den Häusern im Tal hinunter.

Er schien jeden anzuschelten, der in seine Nähe kam und blickte mich mit stieren Augen an, die aber garnicht böse aussahen, und fragte mich laut und vorwurfsvoll: wozu denn eigentlich die Welt da sei! - Das konnte ich ihm nun im Augenblicke auch nicht sagen.

Ich ging hastig vorüber und hörte noch lange das Schelten des Wahnsinnigen durch den lautlosen Wald. Ich stieg und stieg, die Tannenbaude lag verschneit und unwirtlich da, der Weg ging an einem Bach entlang aufwärts, und der Bach verlor sich oft in Schluchten und wurde dann tosender und verworrener. Es dunkelte schnell, ich mußte vorwärts, der Weg war kaum recht ausgetreten und jeder Schritt war schwer.

Wie ich in die Nähe der Forstbauden komme, ist die Nacht ganz herab, obwohl es erst sieben Uhr abends sein mochte. Rechts und links über mir erhoben sich zwei weiße Flächen, die mir ins Unendliche zu weisen schienen, schneebedeckt, und die Tannen hörten auf. Es war stockdunkel und ich allein mit dieser riesigen Landschaft. Ich habe sie nie wieder vergessen können, diese Flächenpracht von Schnee und Sternenhimmel. Und als ich mir gerade vornahm, sie nicht zu vergessen, da kam ein langer schwerer Schrei, wie wenn einer stürbe, zu mir herüber. Ich raste aufwärts. Wie ich vor Magdalenleins Haus komme, finde ich die Tür offen. Drinnen brannte Licht, ein kleiner Hund riß an der Kette und bellte; der große war mit unterwegs auf Suche, denn es hatte ein Unglück gegeben.

Und als man Magdalenlein fand, war sie starr und kalt. Sie hat halt alles so bitter ernst genommen und auch mein Märlein, das ich damals der Mutter erzählte. Das junge Herz ließ sich nicht biegen, da ists denn gebrochen.

Ich weiß nicht mehr, was ich in jener Nacht noch tat, ob ich die Alten überhaupt angesprochen habe. Wir legten Magda-lenlein in ihr Bett und wuschen ihr das Blut und die Nässe aus dem Gesicht. Dann bin ich wieder hinausgelaufen, ich glaube, denselben Weg zurück. Ich kam noch an einer Klippe vorbei, die lag am andern Ufer und ich sah sie jetzt im Mondenschein. Von der konnte man tief unter sich den Bach sehen, grad so, wie hier. An der Stelle muß es gewesen sein. -"

Er hatte geendet. Wir schwiegen lange Zeit und hörten dem Dröhnen des Wassers zu. Dann traten wir von der Klippe zurück und gingen langsam wieder auf unsern alten Weg. - "Es ist spät geworden unterdessen;" bemerkte er, "kommen Sie!"

Wir sahen bald die Lichter von Krummhübel auftauchen, und er sah hastig nach der Uhr. "Mein Zug nach Berlin fährt gleicht" sagte er kurz und beschleunigte seine Schritte. -

Was ich nun noch an ihm erlebte, war unbedeutend und flach. Er benahm sich ganz wie ein gewöhnlicher Mensch, ja, wie ein recht gewöhnlicher. Seine Sprache, die mir oben eine gewisse Würde gehabt zu haben schien und sich jedem seiner Gedan-ken gut anpaßte, wurde nachlässig; er berlinerte sogar manchmal. Sein Gang wurde fast flegelig, so daß die Leute auf der Straße uns nachsahen; Mädchen, die vorüber kamen, zischte er an, so daß sie scheu auswichen. Als wir auf dem Bahnhof ankamen, drängte er sich ungeniert durch die Personen durch, die da standen, hastete an die Kasse, um sich sein Billet vierter Klasse zu lösen und schimpfte über den Beamten, der ihn seiner Ansicht nach nicht schnell genug bediente. Mich behandelte er kaum noch als seinen Gefährten, noch weniger als einen, dem er soeben noch sein wichtigstes Geheimnis anvertraut hatte. Aber ich hatte auch schon aufgehört, ihm etwas übel zu nehmen, und stand nur dabei und sah ihn an mir seine Züge einprägend.

"Wann sehen wir uns mal wieder in Berlin?" fragte ich.

"Ach wissen Sie, lassen wir das! Es ist ja ganz zwecklos!" war die Antwort. Dagegen war nun nichts einzuwenden, ich hätte es denn mit einer Berufung auf meinen Wert machen müssen, indessen war anzunehmen, daß er in dieser Verfassung kein Ver-ständnis dafür haben würde. Ich schien ihm jetzt tatsächlich läs-tig geworden zu sein, wohl, weil er merken mußte, daß ich sein ganzes Geheimnis mit dem Verfall des Organischen erraten hatte; ich kannte jetzt den Sinn seiner Worte, als er sagte: "Spannen Sie alle Sinne an, alle ... auch die heimlichsten!" Der Berggeist fühlte sich entdeckt.

"Ich muß schnell noch mal in den Wartesaal an den Schanktisch, dort muß etwas für mich liegen!" bedeutete er mir noch und eilte dort hin. Ich folgte ihm, und er ließ sich vom Kell-ner ein kleines Paket aushändigen, das er mit sichtlichem Mißmut in Empfang nahm! Es stand der Name einer Zeitungsfirma darauf und es war also offenbar ein zurückgesandtes Manuskript. - Da pfiff der Zug. "Adieu, Adieu!" sagte er und drängte sich wieder durch die Menge, die sich am Eingang staute. Ich sah ihn noch in seinen Wagen einsteigen, aber er drehte sich nicht mehr um, und da blieb nur nichts anderes übrig, als zu gehen.

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Ich war seit Wochen wieder in Berlin, und als die erste Ruhe eingetreten war, entschloß ich mich, die Spur meines Freundes weiter zu verfolgen, um mehr von ihm zu erfahren. Ich war zwar verschmäht von ihm, aber der Eindruck, den er auf mich gemacht hatte, war zu groß, als daß ich so ohne Weiteres auf ihn verzichten konnte.

Ich hatte damals, als er mich auf dem Bahnhof Krumm-hübel so achtungslos verlassen hatte, mir schnell den Namen und die Adresse der Redaktion aufgeschrieben, die auf dem zurückgeschickten Paket vorgedruckt war. Mit der mußte er ja in Ver-bindung stehen und an sie knüpfte ich meine Hoffnung, etwas von ihm zu erfahren. Zunächst bestellte ich mir beim Buchhänd-ler einige Exemplare jener Zeitschrift, um zu sehen, in welcher Gesellschaft er sich befände. Es war eine kleine durchaus überflüssige Wochenschrift, wie sie gleich Pilzen aus der Erde schießen und die sehr großspurig auftreten, ohne einen Hauch eigner Produktion zu verraten. Ich blätterte nach hinten weiter und las den Reklameteil; dort fand ich, wie erwartet, große ganzseitige Anzeigen von berühmten kaufmännischen Häusern; einer der Herausgeber der Zeitschrift war also Mitwisser irgend welcher unsauberer Triks oder diskreter Familienaffären jener Fir-men und rettete diese durch die Entgegennahme teurer Annoncen vor seiner eignen Indiskretion.

In solcher Gesellschaft also befand sich mein Freund The-odor Wolden, dessen Namen ich übrigens unter keinem der abgedruckten Artikel fand. Diese beschäftigten sich mit Modefragen, Politik und Kunst natürlich, hin und wieder kam eine nervöse Novelle, in der das Pikanteste pikant umgangen war, dann zusammenfassenden Wochenklatsch usw. Aber ich entschloß mich trotzdem, auf die Redaktion zu gehen und mich zu erkundigen. Diese lag ziemlich weit im Osten in einer Gegend, von deren Existenz und Charakter ich erst damals etwas erfuhr. Es war eine kleine niedrige Stube, nur spärlich von oben durch den Hof beleuchtet. Ein dicker Literat saß an einem überladenen Tisch und erhob sich ein Stück, als er mich eintreten sah. Auch die Schreibmaschine stand einen Augenblick still, und das blasse Mädchen sah sich nach mir um; dann rasselte es weiter.

"Sie wünschen, mein Herr?" fragte der Redakteur verbindlich.

Ich stellte mich vor, worauf auch er seinen Namen unverständlich zwischen den Zähnen hervorstieß, und brachte meine Erkundigungen an.

"Ja, gewiß kenne ich Herrn Theodor Wolden, alias Fritz Bernstein, alias Georg Georgi; sehr gut sogar; er war früher einmal einer unserer tüchtigsten Mitarbeiter, hat indessen in letzter Zeit mit seinen Leistungen sichtlich nachgelassen, so daß wir uns etwas von ihm zurückgezogen haben. Offen gestanden und unter Diskretion, es wäre uns lieb, wenn wir unsere Beziehungen ganz abbrechen könnten, indessen, das würde ihn in schwere materielle Sorgen bringen, und wir pflegen unsere Mitarbeiter nicht so ohne weiteres auf die Straße zu setzen, und wollen abwarten, bis er wo anders eine sichere Unterkunft hat."

"In welcher Art war Herr Wolden an Ihrer Zeitschrift tä-tig?"

"Er bearbeitete die Wochenrevue; seine kunstkritischen Versuche haben wir im allgemeinen abgelehnt, da sie den An-sprüchen unserer Zeitschrift nicht gewachsen waren. Er war dann naturgemäß immer sehr gekränkt, aber, was hilfts! Unsere Zeit-schrift muß trotz ihres billigen Preises, (er nannte ihn mir) sich stets auf der Höhe halten und die geistigen Bedürfnisse des Publi-kums, das heutzutage doch schon ziemlich viel verlangt, wirklich decken. Und da versagte Herr Wolden nur leider zu oft."

Also der Berggeist war nun doch herabgestiegen! Er verkehrte mit solchen Menschen! Ja, er klammerte sich an sie mit aller Macht, die die Not im Menschen erzeugt.

"Darf ich fragen, ob Herr Wolden sich sonstwie literarisch betätigt hat?"

"Ja, er hat einen Gedichtband herausgegeben; das ist, so viel ich weiß, sein einziges Werk. Aber Sie werden es schwerlich noch im Buchhandel bekommen, es erschien vor etwa fünf Jahren."

"So ist es ausverkauft!"

"Nein," antwortete er mit einem bedauernden Lächeln, "das nicht, aber die Papiermühle hat sich wohl darüber hergemacht."

"So."

"Aber wenn Sie sich dafür interessieren..." und dabei stand er auf und ging an ein hinter ihm stehendes Bücherregal; "ich glaube, ich habe das Ding noch da, das er mir damals dediziert hat, um sich bei uns zu empfehlen. Warten Sie einen Au-genblick!"

Er suchte eine zeitlang in den meisten sehr dünnen Bänd-chen herum, die dort in Reih und Glied geordnet standen, und brachte schließlich eins von ihnen zum Vorschein, pustete den Staub ab und überreichte es mir mit den Worten: "Unverbrannte Gedichte von Theodor Wolden!"

"Wenn ich mir gestatten darf," fügte er verbindlich hinzu, "es Ihnen zu leihen, so tue ich es gern, und ich hoffe, daß Sie Ihr geschätztes Interesse an unserer Zeitschrift auch weiterhin aufrecht erhalten werden."

Es blieb mir nichts anderes übrig; ich mußte die Gefällig-keit des Schmutzfinken annehmen und dankte ihm dafür, versprach, den Gedichtband in der folgenden Woche zurückzuschicken und empfahl mich.

Erst der nächste Abend brachte mir die nötige Ruhe, um mich wirklich in das Werkchen, das ich da in der Hand hatte, zu vertiefen.

Er hatte mir an jenem Tage, als wir zusammen in der Schlingelbaude saßen, von sich gesagt: "Ich bin ein ganz unbedeutender Mensch", und ich hatte damals nicht viel Wert auf dieses Urteil gelegt, da es ja sicherlich falsch sein mußte und irgend ein anderer Sinn hinter ihm steckte. Aber als ich diese Gedichte las, bekam diese Selbstbeurteilung Wert. Wirklich: es war kaum etwas Nennenswertes darunter; er war in der Tat ein unbedeutender Mensch, und hatte das in aller Offenheit und mit voller Ueberzeugung geäußert. Die Gedichte, die fast alle ziemlich kurz waren, trugen an einer Stelle, gewöhnlich am Schluß, irgend ei-nen allerdings eigenartigen Gedanken, wie es ja seine Art war, in kurzen geistreichen Sätzen das Leben aphoristisch zu betrachten, aber was zu diesem Gedanken hinführte, war so offensichtlich gemacht, so poesielos hinzugedacht, wie nur möglich, es war trivial und ohne Reiz. Die ganz kurzen Vierzeiler waren ihm noch am besten gelungen. Wunderbarerweise aber fehlte gänzlich die Liebeslyrik. Ich blätterte nach vorwärts und rückwärts das Büch-lein durch, und mit jedem Gedicht, das ich las, sank der Wert im-mer tiefer. Allerdings wuchs auch das Verwundern darüber, daß er so offen seine Bedeutungslosigkeit erkannt hatte.

 

Nur an einer Stelle machte ich Halt. Es war ein Gedicht ohne Überschrift, und in diesen Zeilen merkte ich das Aufkeimen der Poesie. Ich erkannte jenen Winterabend vor den Forstbauden wieder, und ich hörte den fernen Todesruf. Ungenannt sah ich auftauchen, was ihm am Tiefsten ins Herz gegangen war:

Magdalenlein.

Das Gedicht lautete:

 

Die Wolke stürzte schneegefüllt zu Tal;

Die Alm wird weiß, der Himmel fahl.

Die Tanne muß die Zweige fruchtlos neigen,

Die Welt wird kalt; die Menschen schweigen,

Und Krähen schwärmen in der Luft.

 

Im Tal rinnt Blut. Ein Sterbender ruft.

Ein Hirsch brach ein und schreit und schreit

Und schweißt. Verdächtige Einsamkeit!

Nur größer wird ihm Not und Harm,

Und größer wird der Krähenschwarm

 

Ein Wandrer hat's im Tal gehört,

Ihn hat das Brüllen aufgestört.

Der Winter brach ihm in's Gemüt

Wie Krähenpack um Leichen zieht.

Dann kam, was aller Jammerbilder Schuld:

Das große Dulden und die Ungeduld.

 

Also ein einziges Mal war er Dichter gewesen und ein einziges Mal hatte er geliebt, und damit war sein Leben erschöpft. -

Ich habe ihn nie wiedergesehen und ihn auch nicht mehr gesucht. Aber ich habe ihn auch nie vergessen können; das Bild des Berggeistes blieb unverlöschlich. Wie er dort oben sich ins Mineralische verstieg, um frei zu sein vor dem Mächten seiner Sinne wie er triumphieren wollte über alles, was der Verwesung anheimfällt, gleich Magdalenlein, nur, um sich zu retten! Denn wenn er herabkam vom Gebirge, dann wußte er ja:

 

Dann kam was aller Jammerbilder Schuld:

Das große Dulden und die Ungeduld.

 

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Dieses Buch wurde in der Saekulum-Antiqua von G. Reichardt in Groitzsch i. S. gedruckt.