Die drei Grundformen der Homosexualität.

Eine sexuologische Studie von Hans Blüher.

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Vorbemerkung. Unserm in den Jahrbüchern befolgten und bewährten Grundsatz gemäß bringen wir diesen Aufsatz, trotzdem der Autor sich in der Auffassung verschiedener Begriffe im Gegensatz zu den von uns vertretenen Anschauungen befindet. Können wir ihm auch nicht in allem folgen, so ist doch der Versuch, eine Brücke zu schlagen zwischen der Lehre Freuds und der von den Jahrbüchern für sexuelle Zwischenstufen repräsentierten, in hohem Maße schätzenswert, namentlich wenn er in so gedankenvoller und anregender Weise unternommen wird, wie es durch Hans Blüher geschieht.

I

Offner Brief an Sigmund Freud.

Hochverehrter Herr Professor!

Sie haben mir im Sommer dieses Jahres, als ich Ihnen das Manuskript meiner sexuologischen Erstlingsarbeit über "Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen" überreichte, die Ehre erwiesen, sich in einen Briefwechsel mit mir einzulassen, dessen Inhalt wichtige sexualtheoretische Fragen betraf. Wie sehr ich es zu schätzen weiß und mit welchem Stolz es mich erfüllte, daß Sie bei Ihrer großen Arbeitslast mich so wichtig nahmen und meine wissenschaftliche Befähigung anerkannten, habe ich schon in Privatbriefen versichert. Ich kann auch annehmen, daß es für Sie eine Freude gewesen ist, durch die Klarheit Ihrer Schriften und durch ihren eigentümlichen Menschen-Weltblick, einem Unbekannten, der über bestimmte wissenschaftliche Fragen nicht hinauskam und stecken blieb, das wegführende Licht angezündet zu haben, auch wenn ich weiß, daß diese Freude für Sie schon lange nichts Seltenes mehr ist.

Aber Sie werden sich entsinnen können, daß ich in bestimmten Punkten Ihren Darlegungen nicht Recht geben konnte, besonders, was gewisse Werturteile und Ableitungsformeln betraf. Die private Briefform eignete sich nicht mehr zur Erörterung dieser weitführenden sexuologischen Probleme und ich versprach Ihnen daher, nach reiflicher Überlegung die Debatte in der Öffentlichkeit weiter zu führen. Mit dieser Schrift habe ich mein Wort eingelöst. Ich glaube, daß das öffentliche Interesse, das diese Frage beanspruchen darf, diese Art der Erledigung rechtfertigt.

Freilich, aus der knappen Problemstellung von damals, ist ein weites Gesichtsfeld geworden. Diese Schrift enthält alles das mit, was sich im Laufe der Zeit und des Nachdenkens über diese Frage bei mir anchristallisiert hat. Daher ist nicht alles gegen Ihren Standpunkt geschrieben; ich habe vielmehr alle Punkte, in denen ich Ihr Gegner sein muß, mit ihrer Namensnennung hervorgehoben, alles andere besteht für sich

Ich glaube, daß es die glücklichste Art des Kampfes ist, wenn man von der Hochachtung des Gegners überzeugt sein kann und wenn keiner den andern im Verdacht zu haben braucht, daß er für persönliche Tendenzen kämpft außer für die der wissenschaftlichen und sittlichen Wahrheit. Wenn ich, der ich ein Vierteljahrhundert jünger bin als Sie, mir das letztere bei Ihnen verdiene, so glaube ich, wird alles in Ordnung sein.

Ich verbleibe in Hochachtung

Ihr ganz ergebener

Tempelhof-Berlin, Winter 1912. Hans Blüher.

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I. Kulturelles.

Wie mir scheint, ist die Zeit vorüber, wo die homosexuelle Frage den Homosexuellen allein gehörte und nur sie betraf. Der heutige Standpunkt unserer Sexualwissenschaft gestattet es uns nicht mehr, hier ein streng begrenztes Sondergebiet zu sehen; die Verknüpfung der standfesten Formen der Homosexualität mit der jedem Menschen begegnenden, der ganzen Kultur dauernd immanenten Nüanzierungen in dieses Gebiet ist mit der Zeit so evident geworden, daß der offenkundige Typ des Homosexuellen, wie er nun allmählich bekannt geworden ist, zurücktritt vor dem Interesse an der allgemeinen Inversionsneigung des Menschen, die uns einen viel tieferen Einblick in das Menschentum gewährt. Mit anderen Worten: das Humanitäre wird abgelöst durch das Humanistische.

Dieses Wortspiel ist nur dann nicht gewagt, wenn man bei dem Ausdrucke "humanistisch" nicht die alte Bedeutung zu sehr mitklingen läßt. Das ist so zu verstehen: als es sich noch allein darum handelte, die Sonderklasse der Homosexuellen vor gesellschaftlicher und juristischer Mißhandlung zu schützen, wurde lediglich an die Toleranz appelliert. Man verlangte ein humanitäres Empfinden Unglücklichen gegenüber. Diese erste Forderung ist im besten Gelingen und wird hoffentlich in der nächsten Legislaturperiode durchdringen; desgleichen wird gesellschaftlich eine unfrivolere Auffassung den Homosexuellen gegenüber Platz greifen. Dieser Gedankenkomplex ist ein zivilisatorischer. Ich setze ihn als selbstverständlich voraus. Eine der Art nach ganz andere lautet dagegen so: der sexuelle Boden, auf dem sich der bisher nur berücksichtigte Sondertyp des Homosexuellen als dessen höchster Punkt erhebt, ist keine Extravaganz der Natur, sondern greift in das Leben jedes Menschen ein und kann daher nicht abgesondert betrachtet werden. Die Homosexuellen sind nur Spezialfälle in der allgemeinen Inversionsneigung des Menschen – wenn auch oft recht schwierig gebaute – und diese selbst kann wegen ihres oft unmerklichen Waltens nicht "tolerant" behandelt werden. Hier kommt nicht mehr Zivilisation in Frage, sondern Kultur. Es ist eine Angelegenheit nicht mehr der Duldung (in der nach Goethes feinem Wort stets etwas Beleidigendes steckt), sondern der Anerkennung.

Das ist ein entscheidender Umschwung, der nicht allen Gesellschaftskomplexen gelingt. Der Kirche z. B. nie. Sie kommt immer nur zur Duldung der Ketzer und freien Denker und auch dies mehr erzwungen als freiwillig, aber niemals zu ihrer Anerkennung auf Grund der Tatsachen, auf denen sie beide, Ketzer und Gläubige entstanden sind. Aber es muß hier natürlich an ganz andere, wesentlich höher stehende Formationen der geistigen Struktur appelliert werden, als an die kirchliche und dergleichen. Gelingt es der Wissenschaft, die Lückenlosigkeit der Inversionsgrade nachzuweisen, so ergibt sich ethisch für den homo sapiens daraus eine Stellungnahme zu allen Etappen, sofern sich auch gleichzeitig ihre Verwendbarkeit nachweisen läßt. Hier haben dann Sentimentalitäten und Schöngeistigkeiten nichts mehr zu sagen, sondern der kategorische Imperativ des Kulturgedankens fordert die Anerkennung und Anwendung. Wer bei Kenntnis der zugrundeliegenden Tatsachen und ihrer theoretischen Ausdeutung dann diesen Schritt nicht mitmacht, der verfehlt kurzerhand den kultursittlichen Anschluß in dieser Frage.

Hemmend wirken für diese Auffassung drei ihr entgegenstehende, die hier in konkreto abgewiesen werden mögen: die propagandistischen Tendenzen innerhalb homosexueller Kreise selbst, dann ihr Gegenteil, die rein defensive Gruppe, die nur die juristischen Schwierigkeiten beseitigen will und im übrigen die Frage völlig privatisiert, drittens alles, was irgendwie heteronom in seiner Moralauffassung ist. Dies Letzte einmal zuerst! Von seiten der Sexualreformer werden gelegentlich Versuche gemacht, die maßgebenden geschichtlichen Mächte, die bisher den Ausschlag in wichtigen Fragen gegeben haben, nach ihrer Ansicht über die neuen zu fragen, und so kommt man gelegentlich immer wieder darauf, die Kirche gewissermaßen um Erlaubnis und freundliche Unterstützung zu bitten. So sehr es anzuerkennen ist, wenn auch von dieser Seite einmal ein gutes Wort gesprochen wird, so wenig wirklichen Kulturwert kann das haben. Die christliche Ethik ist, man mag es drehen und biegen, wie man will, letzten Endes doch immer heteronom. Der dehnbare Begriff "Gott", der gelegentlich ganz pantheistisch-unfruchtbar und daher harmlos aussieht, tritt im nächsten Augenblicke doch immer in seiner ganzen autoritativen Wucht und als vollgiltige Persönlichkeit auf, die befiehlt. Die "Gebote Gottes", mag das moderne Christentum sie noch so klug variieren, bleiben doch immer Gebote eines anderen, und solange der Mensch nach dieser Maxime handelt, handelt er niemals sittlich. Heteronomie und Sittlichkeit schließen einander aus. Man nenne das Folgsamkeit, Ergebenheit, Demut, aber sittlicher Wille kann das niemals sein. Dieser gehorcht nur sich selbst. Ein wirklicher Kulturwille, dessen Grundlage die Erkenntnis der Naturtatsachen ist und der aus ihrer Anerkennung neue Werte schafft, kann sich niemals darauf einlassen, alte Überlieferung a tout prix als maßgebend zu betrachten. Es gibt kein Gebot außer der Tatsache des Gebotenseins selber. Wenn sich nun das Christentum bemüht, in dieser Frage mitzureden, so ist es klar, daß es niemals über den Standpunkt der bloßen Toleranz hinauskommen kann. Es kann im besten Falle zivilisatorisch wirken, nie aber kulturell. Es ist bekannt, daß sich schon viele Pastoren über die Frage der Homosexualität geäußert haben. Ich erwähne hierfür als deutlichstes Beispiel den Aufsatz von Caspar Wirz "Der Uranismus vor Kirche und Schrift" (Jahrbuch VI für sexuelle Zwischenstufen, herausgegeben von Magnus Hirschfeld). Die ganze Hilflosigkeit dieser alten Gesinnungen geht einem da auf, wenn man diese Zeilen liest. Die ganze Lebens- und Auffassungssphäre, die das Christentum vertritt, gerät hier in Kollision mit der Moderne, und zu retten ist hier wirklich nicht mehr viel. Die neueren Apologeten des Christentums (vor allen Harnack) haben so oft seine Anpassungsfähigkeit gerühmt und sich große Mühe gegeben, zu zeigen, wie das Christentum sich jeder Situation, jedem Zeitgeist, jeder Rasse "angepaßt" hat. Es ist merkwürdig, wie man Verhaltungsformen, die man beim einzelnen Menschen schlechtweg als Charakterlosigkeit in Anrechnung bringen würde, dem Christentum als Größe auslegt. Und in der Tat ist es richtig, daß diese Religion sich überall angepaßt hat, sie verlegt ihre Heteronomie in alle Situationen und schädigt diese dadurch. Man bedenke, daß das Christentum heute die absonderliche Rolle spielt, sowohl von den besitzenden Klassen wie von der arbeitenden Bevölkerung, vom Imperialismus wie vom Sozialismus, vom Kriegsgedanken und Völkermord wie von der Friedensidee in gleicher Weise und mit gleichem Recht beschlagnahmt wird. Das Christentum hat die Tendenz, sich allem zur Verfügung zu stellen, was irgendwie Chancen auf Erfolg hat, es hat seit dem Altertum die verschiedensten und schwierigsten Schluckbewegungen gemacht, sich selbst Konzessionen auf Konzessionen auferlegt. Aber wenn ich recht sehe, so scheint es mir, als ob es augenblicklich dabei wäre, sich tötlich zu verschlucken. Und das ist ein geschichtlicher Prozeß, der durchaus regelmäßig ist und über den man nicht trauern sollte. Man sollte ihn beschleunigen Ein bestimmter Gesinnungskomplex vererbt sich eben nur für eine bestimmte Zeit, dann hört er auf, wirksam zu sein. Er paßt nicht mehr in die neuen Stellungen, und wenn man ihn unnötig am Leben erhält, bringt er durch seinen Zersetzungsprozeß nur Gefahren für die gesunde und junge Umgebungskultur. Das Wort Christi von dem neuen Wein, den man nicht in alte Schläuche füllen soll, findet nirgends eine bessere Anwendung, als bei der von seinen Jüngern gegründeten Religion.

Fernerhin bedürfen der Abweisung alle homosexuellen Fanatiker, die sich von der Propagierung der Homosexualität einen Kulturumschwung versprechen, einen Umschwung im Sinne der mannmännlichen Liebe. Diese Auffassung sieht in doppelter Hinsicht auf falsche Leitlinien. Zunächst ist die Zahl der Homosexuellen mit bewußter und voller Fixierung ans eigne Geschlecht prozentual gering und ihre Neigung ist den Normalen ganz unverständlich. Wenn diese sich nun zusammenschließen, ihr Liebesrecht geltend machen und z. B. durch Herausgabe schöngeistiger Zeitschriften den Verkehr untereinander aufrecht erhalten, so kann das nur anerkannt werden, aber doch eben nur als ein rein privates Unternehmen. Von diesem Punkte aus aber das Kulturleben umzugestalten ist ganz aussichtslos, weil eben die eigentlich kulturelle Frage nicht an der krassen Totalfixierung ans eigne Geschlecht verwurzelt ist, sondern in der allgemeinen Inversionsneigung. Also von einer Linie muß man ausgehen, nicht von einem Punkt, und wenn die Wissenschaft diese Linie nachweisen kann, so gehört das Problem eben in die universelle Sexualreform überhaupt hinein und kann sowieso, auch ohne die Mithilfe der eigentlich Homosexuellen nicht übersehen werden. Ferner liegt ein Falschblick in der Schätzung des Weibes. Naturgemäß ist das ganze Liebesmilieu der Voll-Homosexuellen ein antikes, und wollte man von hier aus den Umschwung erwarten so müßte es dieser Partei zunächst gelingen, der heutigen europäischen Kultur das Weib wieder auszureden. Das verstößt aber gegen eine wesentliche Errungenschaft. Goethe wies seinerzeit im "Winckelmann" darauf hin daß unser heutiges Verhältnis zu den Frauen bei weitem inniger geworden ist, als es in der Antike war, und er deutet dabei auf Winckelmann., der diese Änderung nicht mitgemacht hat, sondern sich ganz in der Gesellschaft liebenswürdiger Jünglinge entwickelte. Hoffnungsvoller aber ist ein anderer Standpunkt: nicht die Befreiung vom Weibe, sondern die Befreiung von der Gynäkokratie. Es stellt sich nämlich nach Aufdeckung des gesamten Inversionsgebietes heraus, daß das Weib viel weniger geliebt wird, als es sich einbildet (statistisch genommen!) und daß es daher das Liebesmonopol, das ihm soviel unbefugte Rechte in die Hände gespielt hat, faktisch garnicht besitzt.

Faßten jene Fanfarenbläser den Streitfall übertrieben offensiv, so überwiegt bei ihren Gegnern die Defensive in ihrer kurzsichtigsten Form. Es ist der übliche Toleranzstandpunkt, der mit der Behandlung der konkreten Fälle von Homosexualität die Frage für erledigt ansieht. Er macht einen prinzipiellen Unterschied zwischen Freundschaft und sexuellem Verhältnis (der ja in der Tat für das gröbere Auge der Juristik und des Gesellschaftsurteils auch besteht) und versagt daher vollständig bei verwickelteren Fällen, die die eigentlich interessanten sind. Von dieser Seite, die die völlige Unzugänglichkeit des homosexuellen Gemütslebens für den Heterosexuellen behauptet, wurde z. B. einmal angeführt, daß die homosexuelle Literatur für den Normalen nur abstoßend wirken könne. Dem ist zu erwidern, daß das Abstoßende, was homosexuelle Romane in der Tat für den Frauenliebhaber besitzen, nicht im Thema gelegen ist, sondern in dessen künstlerischer Behandlung. Dies aber trifft in gleicher Weise für den heterosexuellen Roman zu, nur daß hier der Majoritätsbeschluß des normalen Gefühls so ziemlich alles verzeiht. Die großen Weiber-Schundromane der berühmten Autoren mit den Riesenauflagen und den Riesen-Eintagsflügeln stehen ihrem künstlerischen Werte nach nicht um einen Deut höher, als die schlechten homosexuellen Romane, und umgekehrt wird ein wirkliches Kunstwerk, ganz gleichgiltig, in welcher Liebesrichtung es spielt, jeden ergreifen, der überhaupt für das Menschenleben empfänglich ist. Ich erwähne hierzu als Gegensatzpaar Rückerts "Liebesfrühling" und Hugo von Hofmannsthals "Tod des Tizian". Ferner sei auf den Roman eines unbekannten Autors "Tim" (Engelhorns Romanbibliothek) und auf den vortrefflichen Roman von Bill Forster "Anders als die Andern" (Verlag Schildberger-Berlin) hingewiesen: beide behandeln ein gleichgeschlechtliches Thema, aber in einer Weise, die jeden, der völlig zum Weibe neigt, künstlerisch befriedigt. Wenn das Allgemein-Menschliche recht getroffen wird, so gibt es keine Schranken, und die Kunst, die so wenig jemandem zu dienen hat, wie die Wissenschaft, hat auch das Recht, so frei zu sein, wie diese.

Der Abtrennungsstandpunkt hat dann noch vielfach zur Folge, daß man Kunstwerke mit wirklich tiefen psychologischen Verwicklungen leicht mißversteht und zu ihrer "Deutung" die entlegendsten und abstraktesten Beziehungen heranzieht, die von Kritik zu Kritik immer abenteuerlicher werden, während sich oft in der Tat die Lösung mit einem Schlage finden läßt, sowie man nur den Blick auf die psychosexuelle Struktur des Helden wirft. Es ist dann mitunter garnicht schwer, zu sehen, wie komplizierte Menschen an der Doppellenkung ihrer Psyche durch die hetero- und die homosexuelle Wunschrichtung, (wobei die letztere gewöhnlich verdrangt und verschüttet ist), zu leiden haben. Ich habe einmal eine solche Analyse an dem berühmten und schwierigen Hauptwerke J.P. Jakobsens, dem ewig mißverstandenen "Niels Lyhne", gemacht und ich glaube, es ist mir gelungen, die Lösung des ganzen psychologischen Problems das hierin steckt, und für das ein ganzer Wust von Gelehrsamkeit verschwendet worden ist, sehr einfach durch die Aufdeckung der bisexuellen Struktur des Helden zu geben (Veröffentlicht in Freuds Zeitschrift "Imago". (Fußnote: Verlag Hugo Heller & Co., Wien. (In Sonderdrucken zu beziehen durch meinen Verleger Bernh. Weise, Tempelhof Berlin, Berlinerstr. 15. (Niels-Lyhne und das Problem der Bisexualität). Hierzu gehörte allerdings der weite Blick für die Sexualität, wie ihn uns Freud gelehrt hat. Die verdrängte und scheinbar überwundene Homosexualität ist aber auch Homosexualität und darf keineswegs als abgetan angesehen werden. Gerade hier beginnt die eigentlich menschliche Bedeutung des Problems.

All diese beschränkten Standpunkte, die nur den einen Vorzug haben, daß sie direkt auf e¹nen Kulminationspunkt hinsteuern, verhindern es, die eigentliche Wichtigkeit der homosexuellen Frage zur Überzeugung anderer zu machen. Denn sie ist heutzutage schlechterdings unübergehbar in praktischen Gebieten, wie in der Pädagogik, um sich vor Gewissenlosigkeiten, in wissenschaftlichen, um sich vor Lächerlichkeiten zu schützen. Von dieser letzteren möchte ich einmal ein Beispiel geben. Bekanntlich haben sich einmal zwei Professoren um das Hamletproblem gestritten: Friedrich Paulsen, der drei Aufsätze über den Pessimismus schrieb und darunter einen über Hamlet, und Hermann Türck, der in seinem Buche "Der geniale Mensch" gleichfalls Hamlet behandelt. Nun hatte Paulsen sich alle Mühe gegeben, Hamlets "Sinnlichkeit" zu beweisen, nachdem es ihm schon gelungen war, Ophelia durch feine und pikante Ausdeutungen moralisch herabzusetzen. Da er alles nur mögliche Material heranzieht, verfällt er auch darauf, die Schauspielerszene, in der Hamlet auf die Füße der jungen Schauspielerin sieht und dabei eine neckende Bemerkung macht ("Ihr seid dem Himmel um die Höhe eines Absatzes näher gerückt, seit ich Euch zuletzt sah. Gebe Gott, daß Eure Stimme nicht wie ein abgenutztes Goldstück den hellen Klang verloren haben mag.") so zu deuten, als ob der Dänenprinz sich an diesem Anblick hätte ein Lüstlein kühlen wollen. Da aber machte ihn Türck in seiner Doktorarbeit darauf aufmerksam, daß er sich gründlich versehen habe, denn in damaliger Zeit wären die Frauenrollen von Männern gespielt worden! Paulsen gesteht in seiner neuen Auflage den Irrtum ein, zieht aber die von Türck gewünschte Konsequenz nicht, und dieser spottet nun in seinem "genialen Menschen" über Paulsen: er entschuldige sich, "es sei ihm wohl ein Bedenken gekommen, da er ,auch einmal gelesen hätte, daß damals keine Frauen auftraten’, er habe es aber wieder fallen lassen: ,für die Bühne bleibe dieser junge Mann natürlich so gut eine Schauspielerin, wie der, der die Ophelia spielt. Ich übersah dabei (sagt Paulsen), daß die reisenden Schauspieler nicht im Kostüm sind und darum verfehlte ich den Sinn der Stelle’. Und wenn sich, (sagt Türck) die Schauspieler dem Prinzen in ihrem Kostüm vorgestellt hätten, würde dann Hamlet nicht gewußt haben, daß die "Schauspielerin" ein junger Mann war und würden dann seine Worte etwas anderes bedeuten, als die witzige Umschreibung der Tatsache, daß der junge Mann gewachsen sei und bald seinen Frauenrollen mit dem Eintritt des Stimmwechsels entwachsen sein werde?"– Es steckt ein göttliches Stück Einfalt in diesem Professorenstreit. Ob sie je Shakespeares Sonette mit Verständnis gelesen haben? Ob sie die ganz unumwundene Neigung Shakespeares zu Jünglingen für "geistig" und "symbolisch" gehalten haben? Und daß in Hamlet ein kräftiger Tropfen vom Wesen seines Dichtere steckt, gibt man doch überall zu! "Ich habe keine Lust am Manne und am Weibe auch keine!" sagt Hamlet ebenso offen. Die Professoren aber bemerken nicht den bisexuellen Komplex, in dem Hamlet steckt, wenn auch nicht so stark, wie sein Landsmann Niels Lyhne. Und daß er im Inzestkomplex herumwühlt und darüber nicht zur Ruhe kommen kann, darüber sehen sie auch hinweg und verunschönen den Menschen mit ihren philosophischen Verdeutelungen.

Ein anderer berühmter Gelehrter, der viel mit dem Altertum zu tun gehabt hat, war einmal naiv genug, an Magnus Hirschfeld bei Gelegenheit einer Anfrage zu schreiben, daß ihm das homosexuelle Problem ganz fern liege. Dieser Gelehrte war ein Geschichtsschreiber und hieß – Theodor Mommsen.

Es bleibt also bislang entschieden dabei, daß in gebildeten Kreisen eine fast völlige Unwissenheit über das homosexuelle Problem herrscht. Aber merkwürdigerweise habe ich auch bei Ärzten und Sexuologen ganz bestimmte und sehr verhängnisvolle Unklarheiten in der Terminologie, Definition, Ableitung und Wertbildung gefunden, die mich eben veranlaßten, in dieser Schrift eine deutliche Morphologie der Homosexualität zu versuchen, so wie ich sie im Laufe meiner Studien kennen gelernt habe. Die Verwechslung dreier Grundformen der Homosexualität scheint es mir zu sein, die diese ewigen Mißverständnisse sowohl unter Ärzten, wie unter gebildeten Laien herbeiführen Die möglichst lückenlose und strenge Ableitung dieser drei Grundformen aus ihrem psychosexuellen Stammaterial habe ich mir zur Aufgabe gesetzt und ich glaube, daß es an der Zeit ist, im Dienste der noch sehr im Argen liegenden sexuellen Diagnostik zu den Standpunkten der drei großen Sexuologen Sigm. Freud, Benedikt Friedlaender und Magnus Hirschfeld Stellung zu nehmen.

II. Die Umwandlung des Sexualitätsbegriffes.

Der Grund für alle Mißverständnisse auf sexuologischem Gebiete ist offenbar in der sich allmählich vollziehenden Umgestaltung des Begriffes "Sexualität" zu suchen. Hier stehen sich zwei Schulsprachen, ohne es zu wissen, gegenüber und verwirren die Denkbilder. Das kommt in der Geschichte der Wissenschaften öfter vor und ist immer ein Zeichen dafür, daß ein wirklicher Fortschritt einsetzt. Ich führe hier als Beispiel nur die Umwandlung des Kraftbegriffes an: früher verstand man unter Kraft dasjenige, was eine Veränderung in den Dingen der Erfahrungswelt herbeiführt (vgl. hierzu John Locke in dem Kapitel "Of power" seines "Essay") Heute verstehen wir Kraft energetisch als etwas, was bei einer Veränderung verbraucht wird. Also etwas ganz anderes! Ähnliches beim Sexualitätsbegriff. Die ältere Schule fixierte den Begriff an die unmittelbare Tätigkeit der Genitalien und nannte eine Handlung oder einen Wunsch erst dann "sexuell", wenn es auf eine lustvolle Erregung der Sexualorgane abgesehen war. Heute ist diese Fassung nicht mehr brauchbar, und wer sich auf sie versteift, wird mit den wichtigsten Fragen der Sexuologie einfach nicht mehr fertig. Ähnlich, wie man in der Astronomie mit dem ptolemäischen Systeme nichts mehr anzufangen wußte und auf das kopernikanische hingestoßen wurde: man verstand die Erde erst, als man sie als Staubkorn begriff. Und so wird man in der Sexuologie erst wesentliche Lichtblicke bekommen, wenn man die eigentlichen sexuellen Handlungen nur als Spezialfälle und zwar als sehr seltene, eines weiteren und dauernd wirksamen Betätigungsgebietes auffaßt. "Pansexualismus" ist hierfür ein leicht irre führender Ausdruck, weil derartige Wortbildungen für eine ethische Kategorie beschlagnahmt sind, so z. B. Panslavismus und Pangermanismus. Hierin steckt immer ein Imperativ, daß etwas "pan" sein soll, während Pansexualismus durchaus nicht eine sexualisierende Tendenz in sich schließt, sondern lediglich einen neuen theoretischen Standpunkt bedeutet. Es wird also besser sein, statt eine neue Pansexualistengruppe zu bilden, den Sexualitätsbegriff durch eine neue Definition neu zu erschließen und man kann dann von der Wissenschaft verlangen – genau so wie in der theoretischen Mechanik beim Kraftbegriff – daß sie ihm folgt, wenn man ihr beweisen kann, daß es ohne ihn heute nicht mehr geht.

Die wissenschaftliche Definition eines Begriffes muß alles Gefühlsmäßige bis auf einen möglichst geringen Rest auflösen und möglichst alles rational zu machen versuchen. Das dies bei der Sexualität, die das Gefühl par excellence ist, besonders schwer fällt, versteht sich von selbst, darf aber nicht zurückschrecken. – Die Sexualität zerfällt zunächst in zwei Gebiete: das autoerotische und das alloerotische Für das erste sei bemerkt, daß "auto" hier Akkusativ ist (Fußnote: Ich verdanke diese Anregung Herrn Dr. Hiller Berlin, der sie bei Gelegenheit einer wissenschaflichen Diskussion vorbrachte. Der Verf.) und zwar, wie ich noch hinzufüge, Akkusativ des Pronomens autos in seiner reflexiven Form. Man müßte also korrekter sagen: "Hautoerotismus". Es ist wichtig, dies zu bemerken, denn auf diese Weise wird der alte Irrtum vermieden, daß die solitäre Onanie Autoerotismus ist. Onanie ist aber Alloerotismus bei Ausfall der anderen Partei, also eine Hilfsaktion. Der andere wird hier vorgestellt, nimmt in der Phantasie am Sexualakt teil; der Penis behält seine aggressive Rolle (ich setze einen Mann mit männlicher Affektlage voraus) nur, wenn man so sagen darf, in der Form der Donquichoterie. Wohl aber gibt es und vielleicht gar nicht so ausnahmsweise, Onanie als reinen Autoerotismus, die sogar nicht einmal solitär zu sein braucht, auch beim reifen Geschlechtswesen, d.h. also Fälle masturbatorischer Lustbefriedigung, in denen der Penis die alte Rolle der erogenen Zone mit mangelnder Offensive aus der Kinderzeit beibehalten hat, eine Art herübergeschleppte Säuglingsonanie in intensierter Form. Und in diese kann unter Umständen die alloerotische Onanie bei langer Gewöhnung übergeführt werden, wodurch dann das ganze Liebesleben infantilisiert wird.– Autoerotisch sind ferner alle in die ersten Kinderjahre fallenden sexuellen Lustbefriedigungen, wie das rhythmische Lutschen, bestimmte Hautreize, die Anal und Defäkalerotik, die sich aber sämtlich auch bis ins reife Alter aufbewahren können. Die gebildetste Form des Autoerotismus ist der Narzissmus, in dem die Partialtriebe zurücktreten und die eigne Person in ihrer Ganzheit Objekt des Liebeswunsches wird. Bestimmte Formen des Kleidungs- und Verkleidungstriebes treten dann in den Dienst des narzistischen Autoerotismus. (Vgl. hierüber die grundlegende Arbeit von Magnus Hirschfeld: Die Transvestiten, Verlag Alfred Pulvermacher & Co., Berlin).

Doch ich möchte mich beim Autoerotismus nicht länger aufhalten und auch die Frage stehen lassen, wie weit sich Autoerotismus und Alloerotismus praktisch berühren. Ich übergehe auch die abgelegneren Spezialpraktiken, die man als Perversionen bezeichnet, da sie sich leicht aus dem ursprünglichen Schema verstehen lassen und zwar als sexuel1e Sackgassen, in die sich die Libido verirrt hat: so den Fetischismus als Ersatzbildung und Übertragung, den Exhibitionismus, den Masochismus und Sadismus als Hypertrophieen von Partialtrieben, die sich auf dem Wege zum gewollten ferner liegenden Sexualziel als Begleitreize überall finden. Ich wende mich also zur alloerotischen Sexualität.

Wenn man im Verhalten eines Menschen zu einem oder mehreren andern des eignen oder des andern Geschlechtes von allem abstrahiert, was sich als psychischer Überbau erkennen läßt (also von allen Beziehungen geistiger, kultureller, traditioneller, merkantiler Art usw.) und den reinen Trieb des Menschen zum Menschen als solchen betrachtet, so haben wir in diesem seine (alloerotische) Sexualität zutage gelegt. Dies dürfte die allgemeinste Formel sein, die man für die Sexualität finden kann, und ich will sie an zwei Beispielen erläutern:

Beispiel I. Mutter und Sohn mögen sich im alltäglichen Leben ziemlich gleichgiltig, konventionell, traditionell, familiär verhalten mit Beigabe von Pietät auf seiten des Sohnes und von Mutterliebe auf seiten der Mutter, sonst aber ohne alle irgendwie auffallende Triebäußerungen. Nun erkrankt die Mutter plötzlich auf Leben und Tod, der Sohn wird tief aufgerührt und überschüttet die Kranke mit Zärtlichkeiten und inbrünstiger Behandlung.

Diagnose: Das außerordentliche Ereignis hat gewisse psychische Hemmungen aufgehoben, die sonst üblichen Rubriken der Pietät, des Zeremoniell, der Tradition sind wirkungslos geworden, und das rein Triebhafte ist mehr zutage getreten. Dieses hat in frühester Kindheit einmal zwischen Mutter und Sohn eine viel deutlichere und intensivere Rolle gespielt, ja, im Säuglingsalter überhaupt die einzige. Es ist die alte Lustbindung zwischen Mutter und Kind mit seiner unverfälschten Triebhaftigkeit. Die Sexualität, die Mutter und Sohn heimlich bindet, ist zum Ausbruch gekommen. Ihr Betätigungsgebiet beschränkt sich auf die Betastung und enge Anschmiegung (Kontrektation) und wird nicht orgastisch (Detumeszenz).

Beispiel II. Zwei Freunde haben zusammen die Universität besucht und sich eng angeschlossen. Vertrauter geistiger Verkehr, vertrauensvolle Haltung in seelischen Angelegenheiten. Also eine ganz normale Freundschaft.– Plötzlich trifft den einen ein schweres Unglück, der andere eilt zu ihm und im Augenblicke des höchsten seelischen Schmerzes erwachen bisher unbekannte Zärtlichkeitsäußerungen, Umarmungen oder gar Küsse. (Goethe küßte Schiller beim ersten Wiedersehen nach dessen Krankheit.)

Diagnose: wie oben. Durch den heftigen psychischen Chock sind reine Triebmomente aufgeweckt worden, die sonst latent bleiben, und haben sich Befriedigung verschafft. Diese Triebmomente, die nun in ganz unverfälschter Form auftreten, sich aber sofort wieder in den gewohnten Dienst anderer, ethischer, stellen (der Treue und Hingebung) sind die Sexualität, die zwischen den beiden Freunden herrscht.

Ich habe mit Absicht zwei Fälle gewählt, die erstens durchaus normal sind und jedem Menschen ohne weiteres passieren können und die zweitens in der gewöhnlichen Meinung "asexuell" sind. Ich mache auch darauf aufmerksam, daß ich mich hier in einer Definitionsarbeit befinde, einem logischen Prozeß also, der sich weiter entwickeln muß; ich sage ausdrücklich, daß die hier zutage getretene Sexualität eben nicht das ist, was man bisher in der alten Schule als Sexualität verstand: denn die sexuellen Organe treten nicht in Tätigkeit. Aber die Sexualität ist eben, wie heute längst bewiesen ist, gar nicht an die Sexualorgane gebunden und bleibt bei ihrer Exstirpierung ja bestehen, wie uns jeder Eunuch lehrt. Die Erregung der Sexualorgane ist weiter nichts, als eine Steigerung der hier erwähnten sexuellen Triebmomente, die je nach der Veranlagung und je nach dem Falle eintritt oder nicht eintritt. Es führt also eine Entwicklungslinie bis zu diesen hin, und zwar in Stufenform. In seltenen Fällen kommt aber in der Tat diese sexuelle Maximalbetonung zum Ausdruck. Im Beispiel I würde es zum Mutterinzest führen, der recht selten ist, in Beispiel II zum homosexuellen Akt, der häufiger vorkommt, aber eben der Umstand, daß in der Tat dieses orgastische Verhalten in solchen Fällen vorkommt, beweist allein schon, daß die in den beiden Beispielen freigelegte sexuelle Triebkraft eben dem Wesen nach mit jener identisch ist. Eine geringe Variation führt den Inzestfall wie den des homosexuellen Aktes herbei: und dann waren eben die rein sexuellen Triebkomponenten so groß, daß sie alle andern ihr entgegenstehenden Mächte einfach überrannten und sich in der stärksten Form, die sie nur irgend erreichen konnten, durchsetzten. Mutterinzeste kommen in den südlichen Ländern garnicht selten vor, und man muß annehmen, daß die Mutter hier nicht etwa aus Mangel an anderen Mädchen gesucht wird, sondern wegen ihres ganz spezifischen Reizes, dessen sexuelle Komponente von der Kindheit her sich ins Mannesalter hinübergerettet hat und dabei mitgewachsen ist, statt, wie es sonst geschieht, zu verkümmern oder sich zu sublimieren; ihr wird nun, da in ihr ein ganz originales und unersetzbares Reizgut vorliegt, mit ganz besonderem und höchst eigenartigen Verlangen nachgespürt. Ein Sohn der berühmten Ninon de Lenclos verliebte sich bekanntlich heftig in seine Mutter, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte, und wurde erst durch die Eröffnung des Tatbestandes (also durch eine heftig verdrängende Erkenntnis) von der Durchführung seines orgastischen Wunsches zurückgehalten. Wie bekannt, konnte er aber diese ihm plötzlich zugemutete Verdrängung nicht ertragen und machte seinem Leben ein Ende. – Einen milderen Fall lernte ich vor kurzem bei Herrn Dr. Magnus Hirschfeld kennen: es war ein junger begabter Engländer, der seine Mutter seit den ersten Lebensjahren nicht gesehen hatte und sie nun mit Hilfe Hirschfelds wiederfand. Ich war Zeuge seiner Dankbarkeit Hirschfeld gegenüber und kann nur versichern, daß er von seiner Mutter in einer Art sprach, wie man sonst nur von einer schwärmerisch Geliebten zu sprechen pflegt. Der junge Mann glühte vor Begeisterung und lief erregt im Zimmer auf und ab.

Leichter fällt es, den Zusammenhang für das Beispiel II zu zeigen. Daß das, was man Freundschaft nennt, sehr häufig, ja fast im Leben jedes Menschen besonders in der Jugend einen schwärmerischen, verliebten und schließlich gar orgastischen Anstrich annimmt, ist jedermann bekannt. Man kann die sexuelle Grundlage der Freundschaft mit Leichtigkeit experimentell feststellen. Man nehme zwei gute Freunde, die außer ihrer guten Freundschaft keinerlei auffallende Züge von Zärtlichkeit aufweisen. Man gebe ihnen an geeignetem Orte und zu geeigneter Zeit Wein zu trinken, der bekanntlich die Wirkung hat, die Hemmungen zu lockern und den psychischen Überbau zu entwerten: der Erfolg wird sein, daß sie zärtlich werden und sich eventuell gar küssen. Dann nehme man ein anderes Paar, das sich zu küssen pflegt, aber hoch und heilig sich und Anderen versichert, keinerlei grobsexuelle Neigungen zueinander zu haben. Man gebe ihnen wieder Wein und sorge für die nötigen Bequemlichkeiten, und man kann mit ziemlicher Sicherheit erwarten, daß die sonst eingehaltene Grenze überschritten wird.

Sexualität ist also alles das, was nur Trieb ist. In unserm Falle, wo es sich um den alloerotischen Ast handelt, reiner Trieb zur Gesellung. Dieser ist, seinem Objekte und seinem Subjekte nach, unabhängig vom Geschlecht. Sehen wir uns noch einmal das feinste und kaum noch wahrnehmbare Ende dieser Triebskala an; denken wir uns einen Fall, wo das Einmischen der Sexualität in ihrem älteren Begriffsbilde geradezu komisch wirken würde, zum Beispiel den Verkehr zweier Geschäftsleute miteinander. Alles, was sie zueinander treibt, scheint lediglich ökonomisches Interesse zu sein. Aber abstrahieren wir einmal davon und bringen wir sie doch zusammen, und zwar so zusammen, daß möglichst alle sonst giltigen Interessen ausgeschaltet werden, alle praktischen, ethischen, kulturellen, traditionellen, denken wir uns z. B., daß beide sich in einer Wildnis verlaufen haben, bei schwerem Unwetter und totaler Einöde. Der Eine ruft um Hilfe und plötzlich ruft aus der Ferne auch der Andere um Hilfe. Abstrahieren wir nun auch von der "Hilfe" und beobachten wir lediglich das Zusammenkommen der Beiden: es wird aus Instinkt Formen annehmen, die keinen "Zweck" haben, sondern spontane Triebäußerungen sind: sie werden sich umarmen, sich eng Körper an Körper anschmiegen und zusammen sein wollen, nur um zusammen zu sein. Diese reine Triebform ist nun wieder die Sexualität der beiden Menschen zueinander. Wenn sie in die nächste Stadt kommen, werden sie sich voreinander schämen, geradeso, wie zwei Kinder, die im Walde waren und dort sexuelle Dinge getrieben haben. Sie werden von Geschäften sprechen und in ihrem späteren Verkehr behutsam alles vermeiden, was an den peinlichen Vorfall erinnern könnte. – Ja, was war denn hier eigentlich peinlich?

Die vulgäre Auffassung beantwortet die Frage, ob zwischen Menschen überhaupt noch etwas an Gegenseitigkeitsäußerungen übrig bleibt, wenn man alle üblichen Beziehungen ethischer, kultureller, merkantiler Art wegdenkt, schlankweg mit nein, und hält damit das Problem der Soziabilität des Menschen für erschöpft. Die neuere Auffassung dagegen antwortet: es bleibt noch etwas übrig, und zwar ihre Sexualität. Diese Auffassung hat ja schon von vornherein den guten alten Spruch für sich: "Ex nihilo fit nihil". Denn wie wäre es sonst möglich, daß sich überhaupt sexuelle Beziehungen zwischen Menschen entwickeln könnten, wenn diese nicht im Keime immer vorhanden wären! Zwischen jedem Raubtiermännchen und jedem Raubtierweibchen besteht immer eine sexuelle Spannung, aber zwischen Raubtiermännchen und Raubtiermännchen nicht. Deswegen interessieren sie sich auch nicht füreinander und können niemals einen Staat bilden Beim Menschen aber liegen die Verhältnisse ganz anders. Seine Sexualität trägt die doppelte Tendenz nach beiden Geschlechtern zu in sich, ganz gleichgültig, wie weit sich die eine (die homosexuelle) entwickelt. Jene letzte und äußerste Triebkomponente zwischen Mensch und Mensch überhaupt, wie ich sie eben im Beispiel der beiden Verirrten klarzulegen versuchte, verschwindet im Kulturleben natürlich völlig aus dem Bewußtsein, weil die Gewöhnung eben ihre Anwendung unmerklich macht. Sie wird überhört. Sowie aber eine Situation geschaffen wird, in der sie zu Worte kommt, vergißt sie sicher nicht, sich zu melden. Es liegt eben im Wesen des Triebes, daß er treibt.

Die Auffassung, daß die Soziabilität des Menschen auf der stets mitwirkenden gleichgeschlechtlichen Liebesrichtung beruht, wurde am ausführlichsten und, wenn ich nicht irre, zuerst von Benedikt Friedlaender (Die Renaissance des Eros Uranios, Verl. Zack, Treptow) vertreten und ich habe sie von diesem übernommen. Freud hat hier in seiner Art dieselbe Auffassung. Er sagt in seiner Abhandlung "Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia" (Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen, Band III) Seite 54: "Nach der Erreichung der heterosexuellen Objektwahl werden die homosexuellen Strebungen nicht etwa aufgehoben oder eingestellt, sondern bloß vom Sexualziel abgedrängt und neuen Verwendungen zugeführt. Sie treten nun mit Anteilen der Ichtriebe zusammen, um mit ihnen als "angelehnte" Komponenten die sozialen Triebe zu konstituieren und stellen so den Beitrag der Erotik zur Freundschaft, Kameradschaft, zum Gemeinsinn und zur allgemeinen Menschenliebe dar. Wie groß diese Beiträge aus erotiscber Quelle mit Hemmung des Se:xualzieles eigentlich sind, würde man aus den normalen sozialen Beziehungen des Menschen kaum erraten. Es gehört aber in den gleichen Zusammenhang, daß gerade manifest Homosexuelle und unter ihnen wieder solche, die der sinnlichen Betätigung widerstreben, sich durch besonders intensive Beteiligung an den allgemeinen, an den durch Sublimierung der Erotik hervorgegangenen Interessen der Menschheit auszeichnen."

Man kann übrigens dieses Verfahren des Abtragens, durch das man die reine Sexualität zutage fördert, auch auf das autoerotische Gebiet anwenden Wenn wir beim saugenden Kinde von der Nahrungsaufnahme abstrahieren, so bleibt als Rest das Wonnesaugen übrig, also seine Sexualität, die sich dann verselbständigt und als allgemeine Lutschleidenschaff der Kinder um ihrer selbst willen lange Zeit fortbesteht. Wenn man bei der Defäkation den Zweck der Darmentleerung beiseite läßt, so bleibt noch als LustNebengewinn die Reizung der Analgegend als Analerotik übrig, die gleichfalls durch Stuhlverhaltungen und andere Kinderpraktiken verselbständigt wird. Von einem sehr feinsinnigen jungen Künstler erfuhr ich, daß sich bei ihm sogar während der Nahrungsaufnahme neben dem Wohlgeschmack noch besondere deutlich spürbare sexuelle Reizungen melden, die er gleichfalls als Lust-Nebengewinn verwertet. Wenn bei der Selbstbespiegelung des Narzisstyp von dem ästhetischen Wohlgefallen an seiner Kleidung oder seiner Nacktheit abgesehen wird, so tritt ohne Weiteres das sexuelle Luststreben nach sich selbst zutage usw. usw.

Die Sexualität steht überall in Diensten und sei es noch so einfacher, ihr verwandter Bestrebungen. Sie wird daher an allen Ecken und Enden übertönt, und erst der Sexuologe findet sie wieder heraus. Es scheint hierbei eine Tendenz in der Kultur zu liegen. Ja sogar da, wo sie sich ganz unverhüllt zeigt, in ihrer unfraglichsten orgastischen Form, wird sie noch in den Dienst der Zeugung gestellt, so lange dies vor dem intellektuellen Gewissen irgend noch möglich ist. Und es gibt noch heute genug Menschen, die sich schämen, einzugestehen, daß sie orgastische Wünsche haben ohne diese Indienststellung. Es gibt nichts Verkappteres, als die Sexualität und doch hat sie ein so außerordentlich verzweigtes Strahlungsgebiet.

Um wieder auf die Definition ihres Begriffes zurückzukommen, gebe ich hier zur Übersicht ein Darstellungsschema:

 

Auch hier ist von der Einstellung der verschiedenen Perversionen abgesehen. Diese sind ein besonderes Kapitel. Das hier gegebene ist das sexuelle Rückgrat jedes Menschen; jeder geht durch diese Rubriken irgendwie hindurch, der eine schnell, der andere langsam, der eine intensiv, der andere schwach und kaum merklich. Für den Typus des normalen Menschen, d.h. für den Vertreter der Majorität, müßte gewissermaßen das Wort ,,Heterosexuell" fett gedruckt werden, um anzuzeigen, daß hier die entschiedene Häufung der sexuellen Potenz I vorliegt und daß die ganze Libido in Sturmschritten hierher eilt, – und dabei natürlich die Erinnerung an die durchflogene sexuelle Landschaft (sit venia verbo!) vergißt. Das hindert aber natürlich nicht, daß eine andere Entwicklung auf eine starke Betonung von "Homosexuell" hinausläuft bei entsprechender Verblassung der heterosexuellen Libido. Die jedem Menschen innewohnende Inversionsneigung bricht dann hier entscheidend durch.

Wichtig für die Erfassung des modernen Sexualitätsbegriffes ist die Erkenntnis der Phasenhaftigkeit der Libido in alloerotischer Form. Wer diese übersieht, wird niemals mit dem neuen und umgewandelten Begriff arbeiten können. Diese Phasen des sexuellen Ausdrucks sind ziemlich streng bestimmt und dulden nicht leicht eine Grenzüberschreitung. Da man nun gewöhnlich nur die letzte für die wirklich sexuelle hielt, nämlich die, welche die Sexualorgane in Aktion bringt, so verkannte man die Sexualität der anderen, vorbereitenden, und ersetzte sie durch allerhand erzwungene und komplizierte Begriffe. Es lassen sich im ganzen drei Phasen deutlich unterscheiden. Zunächst die erste und schwächste sie umfaßt das Gebiet der triebhaften Annäherung des Menschen zum Menschen überhaupt, abgesehen vom Geschlecht und abgesehen von der Person. Wir nennen sie einfach die soziale Phase, weil sie in der Tat mit der schlichten Gesellung vollkommen befriedigt wird und eine andere Art der Befriedigung garnicht zuläßt. Ihr Ausbleiben erweckt aber physiologisches Unbehagen; Beispiel: Robinson Crusoe. Daß der Mensch an den Menschen gekettet ist durch eine Triebkraft, abgesehen von allen speziellen Interessen, das ist die rein soziale Sexualität.

Der Mensch kann nicht allein sein. Ähnliche biologische Verhältnisse finden sich auch im Tier und Pflanzenreich, zunächst die Staatentiere, Ameisen, Bienen, Termiten, (worauf Friedlaender hinwies), dann alle Symbiosen von Tieren aus verschiedenen Klassen. Abstrahiert man hier von dem speziellen Nützlichkeitswerte dieses eigentümlichen Zusammenlebens, so bleibt als Rest der sozialsexuelle Trieb zum Zusammen-sein-wollen übrig. Auch gewisse Getreidearten (Weizen) bedürfen zu ihrem Gedeihen unbedingt des Zusammenstehens in einem Felde. Wem diese Analogien gewagt erscheinen und deshalb falsch, den erinnere ich daran, welchen erzwungenen und geradezu unfaßlichen Eindruck es für jeden Lernenden macht, wenn er hört, daß der Fall eines Apfels vom Baume die mechanische Gesetzlichkeit des Weltsystemes vollkommen in sich enthält. Hier wird die Bewegung par excellence, die als solche so überzeugend ins Auge springt, in Zusammenhang gebracht mit dem scheinbar Unbewegtesten von allem: dem Sternenhimmel. Und doch hat jener berühmte fallende Apfel im Garten Newtons diesem mit einem Schlage das Gravitationsgesetz enthüllt. Die Geschichte der theoretischen Wissenschaften ist voll von solchen Paradoxien und ein entscheidender Fortschritt in der Auffassung war bisher noch stets mit dem Gelächter der ersten Hörenden verbunden. Der Ernst kommt immer erst Jahrzehnte später.

Die Psychosexualität der Einsamkeit – übrigens eines der schwierigsten Probleme – nährt sich natürlich aus der andern Wurzel. Der aus irgend einem Grunde Einsame, sei es aus Genialität oder aus verunglücktem Sozialstreben, ist gezwungen, auf die alloerotische Form der Sexualbefriedigung mehr oder weniger zu verzichten und verstärkt daher die autoerotische Linie. Solche Menschen spüren den Wohlgefühlen in ihrem eignen Körper intensiver nach, sie schließen alle nur möglichen Lustkomplexe einheitlich zusammen, wobei sie jedes Partners entbehren können und leben dadurch in einer gesteigerten Infantilität. Ich habe diesen Zug bei verschiedenen Menschen, die zur Einsamkeit neigen oder neigen müssen, beobachtet, und ich möchte die Behauptung wagen, daß die sublimsten Geister dauernd mit umfangreichen Kinderunarten arbeiten. Der ausgesprochene Geselligkeitsmensch, der stets Hoffnung hat, seine sexuellen Wünsche an einem Partner zu befriedigen, hat das natürlich nicht nötig und bei ihm atrophieren daher die Infantilismen.

Die soziale Phase der Sexualität, die gewissermaßen den dauernd tätigen Mechanismus des sexuellen Lebens darstellt, gleicht dem Stoffwechsel, bleibt wie dieser unbewußt, und kann erst durch sublimes Denken ins Bewußtsein gehoben werden. Die zweite und dritte Phase dagegen reichen entschieden ins Bewußtsein hinein, weil es sich hier schon um eine deutliche individuelle Objektwahl handelt, um die wirkliche Liebe oder Begierde. Diese beiden Phasen sind die Kontrektation und die Detumescenz (Moll), das Liebeswerben und die sexuelle Entladung. Hier betreten wir bekanntes Gebiet; ich möchte aber hervorheben, daß diese beiden Begriffe "Kontrektation" und "Detumescenz" keine Faktoren der Sexualität bedeuten, keine Komponenten, in die man den sexuellen Trieb zerlegen könnte, wie das Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff. Sondern sie sind eben durchaus nur Phasen. Und was die Sexualität "an sich" ist, bleibt eine völlig unbeachtete Frage, bei deren Aufwerfung ich mehr Pedanterie und metaphysische Kinderbedürfnisse vermuten möchte, als ernsten wissenschaftlichen Willen. Die Kontrektation ist das Präludium der Detumescenz. Hier liegt der kulturberüchtigte Punkt des ganzen Liebesproblemes. Um diese Stelle, um jenen dunklen Zwischenakt nach dem Verklingen der Ouvertüre und dem Aufgehen des Vorhangs dreht sich die ganze Liebespoesie, alles Komische und Tragische in der Liebe, ein erheblicher Teil der Neurosenpsychologie und die ganze Verfolgungssucht Beteiligter und Unbeteiligter. – Indessen gibt es auch Fälle, in denen die Kontrektation den präludialen Charakter verliert und sich verselbständigt, und zwar nicht auf dem Wege des moralischen Imperativs, sondern genau in derselben Art, wie die soziale Phase sich selbst genügt und keinen Einbruch der zweiten und dritten duldet. Auf der heterosexuellen Linie ist dies zwar äußerst selten. Wenn der Mann das Weib liebt, wird er auf alle Fälle zum Orgasmus drängen. Aber die Liebe des Sohnes zur Mutter z. B. ist solch ein verselbständigtes Kontrektationsgebiet. Dagegen ist auf dem homosexuellen Ast die verselbständigte Kontrektation wiederum sehr häufig, die Detumescenz eine Ausnahme. Ich möchte behaupten, daß jeder tiefer angelegte Mann irgend einmal ein eigentümliche Neigung zu einem andern bekommt, bei der Freudschaft zu wenig und Liebe zu viel gesagt ist.

Der Männerheld.

Ich wende mich nun zu dem Typus Sexualmensch, auf den es in dieser Arbeit ankommt. Man denke sich also in dem obigen Schema das Wort "homosexuell" fett gedruckt, während alles übrige bestehen bleibt.

Der ersten Grundform der Homosexualität möchte ich nach Gustav Jäger den wohlgelungenen Namen "Männerheld" geben. Dem veränderten Fettdruck im Schema entspricht in der Wirklichkeit dann genau die veränderte Triebrichtung und das veränderte Sexualziel und damit ist die Veränderung vollkommen erschöpf. Es liegt keine sexuelle Sackgassenbildung vor, keine "Perversion", sondern lediglich die Inversion, die Abbiegung nach der andern Seite; auch keine Verweiblichung liegt vor, sondern die Männlichkeit in Charakter und Habitus bleibt voll erhalten. Die sexuelle Abnormität ist keine pathologische, sondern eine statistische. Die Inversion ist verträglich mit der vollen Entfaltung des Persönlichkeitsgefühls und fähig zur vollen Empfangnahme des Glückes, sei es in hedonistischer oder in tragischer Bedeutung.

Die Fähigkeit und das Bedürfnis des Menschen, sich an beide Geschlechter anzuschließen und davon eine bestimmte Art der Befriedigung zu erlangen, die absieht von allen kulturellen Ueberbauen und Werten, nennen wir seine Bisexualität. Diese geht durch alle drei Phasen der alloerotischen Sexualität, wenn auch bei den meisten Menschen nur die erste (soziale) und ein Teil der zweiten (Kontrektation in verselbständigter Form) des einen Astes benutzt wird. Die Bisexualität ist also nicht eine bestimmte Eigenschaft einiger Menschen, sondern eine prinzipielle aller. Die alloerotische Sexualität des Menschen ist bisexuell, ähnlich, wie die Elektrizität bipolar ist. Bei der überwiegenden Majorität wird nun die homosexuelle Komponente durch die heterosexuelle unterdrückt, und zwar in verschieden spätem Alter und in verschieden starker Intensität, so daß sie bei manchen Menschen kaum je zum Vorschein gekommen ist und gleich mit der Pubertät ziemlich prompt die heterosexuelle Wahl eintrat, während bei anderen langes Schwanken bis in die spätesten Jünglingsjahre besteht und dann eine nur sehr oberflächliche Verdrängung erfolgt. Meistens aber bleibt die homosexuelle Richtung in der sozialen Phase stehen und dringt nur ganz selten einmal bei gewissen überschwenglichen Stimmungen Freunden gegenüber in die zweite. Aber dieser homosexuelle Triebast tut trotzdem seine Wirkung: er ist das eigentlich einigende Band der Menschheit. Wir sind heute nach den Forschungen von Heinrich Schurtz, Otto Weininger und Benedikt Friedländer langst darüber hinaus, in der Familiengründung die Grundlage zur Staatenbildung zu sehen. Die Liebe zum andern Geschlecht führt nie über die Ehe hinaus, während gerade das Interesse des Mannes am Manne und an den Interessen des Mannes die eigentliche Sozialisierung herbeiführt. Das Weib hat den Staat nicht erfunden.

Eine weniger starke Unterdrückung der homosexuellen Triebkomponente, die dann ein deutlicheres Hervortreten der homosexuellen Kontrektation zur Folge hat, bringt schon recht schwierige psychische Konstruktionen bei Männern zustande, problematische Naturen, die heftig an den Mann gefesselt sind und doch in der begierigsten (dritten) Phase ganz zum Weibe neigen. Das andauernde Schwanken der Libido vom einen zum andern Geschlecht beim Jüngling hat oft zur Folge, daß er nicht weiß, wen er "lieber’ hat und wen er überhaupt eigentlich "liebt", weil die beiden deutlicher betonten Liebesphasen sich fortwährend durchkreuzen und er dadurch in der Wertbetonung irre wird. Die Entscheidung der endgültigen Liebeswahl vollzieht sich dann meistens im Sinne der heterosexuellen Richtung, aber manchmal auch nicht: es tritt eine Inversion ein und statt des Frauenhelden resultiert der Männerheld. Dieser also empfindet den Höhepunkt der Sexualität und überhaupt ihren ganzen Wert in der Liebe zum eignen Geschlecht, während das andere ihm genau das wird, was für den Frauenhelden der Mann ist

Es erhebt sich nun die Frage, ob diese Abweichung von der Norm wirklich nur eine Anomalie im rein statistischen Sinne ist, also lediglich eine seltenere Form des Liebeslebens, die aber an sich alle wertvollen Möglichkeiten in sich schließt, oder ob hier eine wirkliche Pathologie vorliegt. Und das ist die eigentliche Streitfrage dieser Schrift. Ich streite hier gegen die Auffassung von Freud, wie auch gegen die von Alfred Adler; dann aber kommt schließlich überhaupt der psychiatrische Standpunkt als gegnerisch in Frage.

Freud steht im Mittelpunkte. Einen vornehmeren Gegner kann man in dieser Frage nicht haben, denn Freud ist mehr, als Arzt und mit der Herausgabe seiner Zeitschrift "Imago" (Verlag Hugo Heller & Co., Wien, Leipzig) hat er sein Heraustreten aus dem engen ärztlichen Standpunkt auch äußerlich besiegelt. Er kann sich also vor dieser Frage nicht mehr mit der früher einmal gültigen Begründung zurückziehen: wenn die Inversion keine Krankheit sei, sondern für sich einen Kulturwert beanspruche, so gehe sie die Psychiater nichts mehr an. Wenn es gelingt, die alten Ansichten über Inversion als unzureichend zu beweisen, so ist damit auch schon die Aufgabe gegeben, veraltete Behandlungsarten, die auf Toleranz und Bemitleidung hinausliefen, fallen zu lassen und an ihre Stelle die prinzipielle Anwendung zu setzen.

Freud trennt die Inversion deutlich von den gewöhnlichen Perversionen ab und weist ihr eine entschieden höhere Stelle an. So schreibt er z. B. (Kl. Schriften zur Neurosenlehre II Folge, Seite 183):

"Bei ganzen Reihen von Individuen hat sich die erwähnte Entwicklung des Sexualtriebes vom Autoerotismus zur Objektliebe mit dem Ziel der Vereinigung der Genitalien nicht korrekt und nicht genug durchgreifend vollzogen, und aus diesen Entwicklungsstörungen ergeben sich zweierlei schädliche Abweichungen von der normalen, d. h. kulturförderlichen Sexualität, die sich zueinander nahezu wie positiv und negativ verhalten. Es sind dies zunächst – abgesehen von den Personen mit überstarkem und unhemmbarem Sexualtrieb überhaupt – die verschiedenen Gattungen der Perversen, bei denen eine infantile Fixierung auf ein vorläufiges Sexualziel das Primat der Fortpflanzungsfunktion aufgehalten hat, und die Homosexuellen oder Invertierten, bei denen auf noch nicht ganz aufgeklärte Weise das Sexualziel vom entgegengesetzten Geschlecht abgelenkt worden ist. Wenn die Schädlichkeit dieser beiden Arten von Entwicklungsstörung geringer ausfällt, als man hätte erwarten können, so ist diese Erleichterung gerade auf die komplexe Zusammensetzung des Sexualtriebes zurückzuführen, welche auch dann noch eine brauchbare Endgestaltung des Sexuallebens ermöglicht, wenn ein oder mehrere Komponenten des Triebes sich von der Entwicklung ausgeschlossen haben Die Konstitution der von der Inversion Betroffenen, der Homosexuellen, zeichnet sich sogar häufig durch eine besondere Eignung des Sexualtriebes zur kulturellen Sublimierung aus."

Und an einer andern Stelle derselben Schrift S. 42:

"Wir dürfen doch nicht daran vergessen, daß die uns widrigste dieser Perversionen, die sinnliche Liebe des Mannes für den Mann, bei einem uns so sehr kulturüberlegenen Volke wie den Griechen nicht nur geduldet, sondern selbst mit wichtigen sozialen Funktionen betraut war"

Dennoch aber kommt Freud nirgends mit der Frage prinzipiell zum Ende, weil er die drei Grundformen der Homosexualität nicht auseinanderhält. Er hat immer nur die eine im Kopf, und zwar die dritte. Freud kennt den Männerhelden offenbar nicht genau, und als ich ihm diesen Typ einmal mit reichlichem Material versehen vorführte, konnte er sich doch nicht zur restlosen Anerkennung desselben entschließen, weil er eben immer die psychosexuelle Konstruktion der dritten Grundform als allgemein gültig voraussetzte. Aber es ist auch recht erklärlich, daß er den Männerhelden übersieht, denn dieser geht ja nicht zum Arzt und hat auch gar keinen Grund dazu. Und letzten Endes schöpfte Freud doch trotz allen weiten Blickes, den er sonst hat, seine wesentlichen Erfahrungen aus seiner ärztlichen Praxis. Dorthin kommt aber nur der dritte Typ mit seiner neurotischen Formgebung, und der Psychotherapeut muß die Inversion erst durch das "negative" Material der neurotischen Symptome hindurch erschließen und zutage legen. Er lernt den Invertierten gewissermaßen in einer schlechten Uebersetzung kennen. Und so gesteht auch Freuds Schüler Sadger im "Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen" Band IX offen ein, daß "er sowohl, wie alle Kollegen in Wien (worunter also sicherlich Freud mitzuverstehen ist) die Homosexualität nur aus der Literatur kennten." Wer sie also aus dem Leben kennt, wird immerhin einen beachtenswerten Vorsprung haben.

Hier ist überhaupt die Stelle, wo das Arbeitsgebiet des Arztes aufhört; hier beginnt das des gebildeten Laien, der freilich eine gute sexuologische Schulung haben muß. Daher halte ich mich auch für berechtigt, mitzusprechen, und das "obwohl ich nicht Arzt bin", verwandelt sich hier (gewiß mit einiger Uebertreibung, die das grammatische Spiel bedingt) in ein "weil ich nicht Arzt bin". Es ist schon häufig genug in der Wissenschaft vorgekommen, daß beim Betreten von Grenzgebieten die eigentliche Fachwissenschaft unproduktiv wurde, während der Laie, bei genügender Bildung, dann ein entscheidendes Wort sprach. Das bessere Laientum hat entschieden etwas Konstruktives an sich, das die Wissenschaft nicht übersehen sollte

Freud schreibt (Brief an den Verfasser):

"Die theoretische Differenz zwischen uns ist wirklich nicht mehr groß. Doch meine ich, daß Sie durch die Berücksichtigung des Verhältnisses der Inversion zur Impotenz gegen das Weib zu einer Modifikation Ihrer Einschätzung der Inversion genötigt würden. Ich kann sie nicht voll normal nehmen, da sich das Stück Entwicklungshemmung in ihren Bedingungen leicht aufzeigen läßt."

Freud meint also, es gäbe eine Pathogenese der Homosexualität in unbedingter Form. Aber ich kann sie für diesen Typ, den Männerhelden, nicht annehmen, man müßte dann mit demselben Rechte sagen: es gibt auch eine Pathogenese der Heterosexualität; jedenfalls ist die Ontogenese beider völlig die gleiche. Wenn Freud meint, die Entwicklungshemmung ließe sich bei den Invertierten leicht nachweisen, so darf ich dies wohl im Sinne seiner Sexualtheorie so verstehen: daß der junge Mann mit dem nach der Pubertät einsetzenden Schwanken zwischen den beiden Geschlechtern nicht fertig wird, das normale Sexualziel Weib verfehlt und daher invertiert. Wenn es Freud nun gelingt, ein ganz bestimmtes psychisches Trauma (oder etwas ähnlich Wirkendes) nachzuweisen, das allen Invertierten in der betreffenden Zeit den beabsichtigten Weg zum Weib gesperrt hat, also ein wirkliches Hemmungsmoment in der Entwicklung, so will ich mich ohne weiteres besiegt erklären und zugeben: es gibt eine Pathogenese der Inversion. (Da ich selbst nicht invertiert bin, würde mir dies nicht im geringsten schwer fallen.) Aber einen solchen allgemein gültigen Hemmungspunkt hat man bisher, soviel ich weiß, nicht gefunden, wie ja auch Freud in der oben abgedruckten Stelle S. 183 der Neurosenlehre sagt, daß bei den Invertierten "auf noch nicht ganz aufgeklärte Weise das Sexualziel vom entgegengesetzten Geschlecht abgelenkt worden ist". Das ist also zunächst weiter nichts, als eine Definition des Wortes "Inversion" ohne jede Anwendung des Kausalsatzes, der doch zu einer Pathogenesis unbedingt erforderlich wäre. Es kann daher zunächst niemand von einer prinzipiellen Pathologie der Inversion sprechen, sondern höchstens (und dies mit Recht) von einer partiellen.

Ich möchte daher aus meiner Erfahrung in kurzen Worten die entscheidenden Tatsachen aus dem Liebesleben der Männerhelden hierher setzen, die geeignet sind, der Auflassung Freuds entgegengehalten zu werden:

1. Das "Schwanken" des Männerhelden zwischen Mann und Weib in der Pubertät ist ebenso gering wie das des fraglosen Frauenhelden und kommt praktisch überhaupt nicht in Betracht. Er greift so entschieden zum Manne, wie sein Gegentyp zum Weibe. Freilich tritt etwas später ein Pseudo-Schwanken ein, das aber rein konventionelle Ursachen hat, nämlich den sich ihm aufdrängenden Majoritätsbeschluß des heterosexuellen Milieus, der den Anschluß an das Weib fordert. Bei dieser Gelegenheit verliert er dann vorübergehend die Naivität vor sich selbst, er glaubt an die objektive Gültigkeit der Mehrheitsforderung und versucht es mit dem Weibe. Beim gesunden Männerhelden gelingt der Koitus meistens, wenn auch sine libicine, er tut es darum so leicht nicht wieder. Eine eigentliche Impotenz à tout prix liegt nicht vor. Wohl aber bei neurotischen Einschlägen.

2. Dem Männerhelden ist das Weib garnicht das Sexualziel, von dem er sich "abgelenkt" fühlt. Für ihn entbehrt das Weib jeglicher sexueller Autorität. (Der mangelnde Fortpflanzungs-"Trieb" des Männerhelden braucht nicht erwähnt zu werden, denn erstens gibt es nur einen Willen zur Fortpflanzung, nicht aber einen Trieb, und zweitens besitzen zahllose Frauenhelden diesen Willen auch nicht.)

Ich kann versichern, daß mir diese Tatsachen aus dem Leben vieler Männerhelden bekannt sind, und ich habe gefunden, daß diese ihre Entwicklung mit derselben Selbstverständlichkeit durchmachen, wie der Frauenheld die seine. – Ebenso ist es auch durchaus keine allgemeine Formel für die Inversion, wenn Alfred Adler sagt, die Homosexualität verdanke diese ihre "neurotische Abbiegung von der Norm" der Furcht vor dem Weibe (Adler: "Der nervöse Charakter" Seite 173). Dies ist sicherlich für eine bestimmte Gruppe gültig, und zwar für meine dritte Grundform, und vielleicht auch für die zweite im gewissen Sinne. Der Männerheld aber hat keine Spur von "Furcht vor dem Weibe". Das Weib ist ihm als Sexualziel genau so gleichgültig, wie dem Normalen der Mann. Das Weib fürchtet nur, wer es begehrt.

Es fehlen also die subjektiven Momente des Krankseins. Objektiv aber kann von einer durchgängigen Pathologie der Invertierten erst dann die Rede sein, wenn ein ebenfalls durchgängiges psychisches Trauma, das die Abbiegung vom "rechten Wege" verursachte– mag es spontan oder temporär gewirkt haben – nachgewiesen worden ist. Daher muß man auch mit allen Werturteilen, die sich auf das Gesamtgebiet der Inversion beziehen, vorsichtig sein. Derartige Urteile gibt es bekanntlich in der Oeffentlichkeit sehr viele, und man wird bei der näheren Untersuchung stets finden, daß, wenn sie nicht überhaupt aus der Luft gegriffen sind, sie immer nur für eine bestimmte Gruppe der Invertierten gelten.

Es gibt gewiß keine "Absichten" der Natur, aber es gibt tausendfache günstige Situationen, die gut zueinander passen und zu erwünschten Zuständen geworden sind. Der Männerheld ist kein entlegener Posten auf dem Gebiete des Sexuallebens, er liegt nicht wie ein Findlingsblock in der Ebene, sondern er hat seine Anlehnungsgebiete. Er ist nur der äußerste Inversionsgrad und hinter ihm liegen unzählige andere Grade bis zum fast völligen Verschwinden der Inversionsneigung im Frauenhelden. Und es wäre in der Tat unmöglich, daß auch nur ein solcher Mensch existierte und glücklich wäre, wenn die Dinge anders lägen. Die Tatsache aber, daß dieser Menschentyp seit Jahrtausenden nachweisbar ist und noch jetzt in genau denselben ungebrochenen Exemplaren fortbesteht, beweist genügend, daß er den Kampf ums Dasein aushalten kann. Die Tatsache ferner, daß er nicht selten in geradezu hervorragenden Exemplaren besteht, die eine hohe und bewunderte Stufe der Kultur ersteigen, weist darauf hin, daß er irgendwie eine bestimmte Daseinsaufgabe, einen Kulturzweck, mit Bewußtsein und unter Auslösung großer lebenssteigernder Glücksgefühle erfüllt. Wenn man sich vergegenwärtigt, das zwischen dem Männerhelden und dem Frauenhelden, also dem absolut Homosexuellen und dem absolut Heterosexuellen unzählige Zwischenformen existieren (die übrigens nicht zu verwechseln sind mit den bald zu erörternden Zwischenstufen zwischen Mann und Weib), so wird diese Aufgabe klar. Der Männerheld ist derjenige, der im wesentlichen nicht zwischen den Geschlechtern als Liebesobjekten schwankt, sondern fraglos zum Manne greift. Er liebt meistenteils Jünglinge. Diese schwanken, d. h. die prinzipiell bisexuelle Veranlagung kommt bei ihnen deutlich und fühlbar zum Ausdruck: sie können also sicherlich, wenn sonst die Dinge danach liegen, ihre invertierte Komponente auf den Männerhelden richten, wobei es freilich sehr zweifelhaft ist, ob ihre Inversion bis in die Detumescenz-Sphäre hineinreicht, und so entsteht ein Liebesverhältnis. Es ist nun lediglich die Frage der sexuellen Politik eines Volkes, derartige Verhältnisse anzuwenden, oder sie zu vernichten. Mit ihrer Vernichtung wird man nichts ausrichten, da man 2000 Jahre lang nichts ausgerichtet hat und da das tiefe Bedürfnis nach Freundschaft bei der Jugend unausrottbar ist; das ihm zugrunde liegende sexuelle Substrat läßt sich aber nicht in willkürliche Schranken weisen. Ich verweise hier auf die allgemein zugegebenen Schwärmereien junger Menschen für manche Lehrer. Sind diese nun Frauenhelden, so kann man in gewissem Sinne von einer unglücklichen Liebe reden, sind sie Männerhelden, so resultiert daraus das bedeutendste pädagogische Verhältnis, was überhaupt möglich ist. Musterbeispiel: Sokrates und sein Kreis. Damit ist die sexuologische Seite der Pädagogik überhaupt angeschnitten, und dies eben ist sie. Die Griechen haben bekanntlich diese Verhältnisse richtig gesehen und entsprechend angewandt. Die humanistische Erziehung der Deutschen, die vorgeblich auf der Antike beruht, hat aber das Verhältnis verkannt und hat den Männerhelden künstlich und mit mehr oder weniger starkem konventionellen Zwange an das Weib fixiert. Das ist natürlich ein Fehlgriff ersten Ranges. Es kann ja nicht mehr bezweifelt werden, daß die Sexualität auf dem Wege zur Verfeinerung die größte aufwärts treibende Kraft ist, die es gibt. Der verfeinerte Hunger, jener sonst viel gewaltigere Grundtrieb, schwingt sich nur zu den Delikatessen auf und variiert dieses Thema von den Nachtigallenzungen des Lukullus bis zu den dickleibigen Kochbüchern der Gegenwart in unendlichen Reihen. Die verfeinerte Sexualität aber hat das ganze Künstlertum des Menschen auf dem Gewissen, um nur beim allernächsten zu bleiben. Die Verfeinerung der Sexualität bei der Pädagogik liegt aber eigentlich noch viel näher, denn wenn sie auf der hohen Stufe der Liebe zum eigenen oder andern Geschlecht angekommen ist, so wird sie sich zuerst anschicken, dem geliebten Menschen etwas zu geben, wird ihre "schenkende Tugend" (Nietzsche) beweisen, ehe sie darauf verfällt, sich in Abkehr von den realen Objekten im Künstlerischen zu verlieren. Es ist ganz fraglos, daß eine Gruppe junger Menschen mehr von einem Erzieher hat, wenn sie in irgendeinem Sinne in wirklicher Liebe an ihm hängen und diese Liebe gleichfalls in einem bestimmten, sehr schwer zu beschreibenden Sinne erwidert wird, als wenn zwischen Schüler und Lehrer die "Autorität" steht, dieses Monstrum der bisherigen Pädagogik. Durch diese Tatsache erhält das Ganze einen merkwürdig höheren Stil, der natürlich mit größter Kunst von Seiten des Erziehers auf seiner Höhe gehalten werden muß.

Nun wird man im Falle der Mädchenerziehung durch einen Mann ohne weiteres zugeben, daß der Mann hier in einem verfeinerten sexuellen Verhältnis zu den Mädchen steht und ebenso umgekehrt. Der Lehrer ist heterosexuell, er hat das Geschlecht vor sich, das er begehrt, und doch sieht die Gesellschaft daran nicht das geringste Anstößige und überträgt dem Lehrer, wenn er nur sonst einwandfrei ist, diesen Vertrauensposten ohne weiteres. Ganz anders aber bei der doch viel tiefer angelegten Knabenerziehung. Selbstverständlich liegen die Verhältnisse hier genau so, und die Erziehung wird auf ihren Höhepunkt geraten, wenn der Erzieher ein Männerheld ist; und es kann kein Zweifel bestehen, daß sehr viele junge Lehrer, die aus wirklicher Lust und Liebe diesen Beruf ergreifen, dabei einer unbewußten – oder auch bewußten – Inversionsneigung folgen. Und nun geschieht das durchaus Unkonsequente und Kulturwidrige, daß die Gesellschaft diesem Typ das Vertrauen nicht schenkt, auch wenn er es sonst verdient. Damit wird die Hauptmacht alles Erziehertums im Volke einfach ausgerottet. Aber noch mehr. Durch eine merkwürdige Dialektik gilt es als vornehmer und repräsentativer, wenn der Mann verheiratet ist, und der Aufstieg in die höheren Ämter wird nicht selten von dieser Tatsache abhängig gemacht. Das Weib wird dem Manne aufgenötigt auch in Fällen, wo er es gar nicht will. Nun ist mit einiger Sicherheit darauf zu rechnen, daß diejenigen Pädagogen, denen die Ergreifung ihres Berufes ein inneres Schicksal war, eine entschieden schwächere Neigung zum Weibe haben, als zur Ehe eigentlich notwendig ist. Gerade um dieses eigentümliche, so hoch wertvolle Liebesverhältnis Ehe erfolgreich durchzuführen, gehört eine sehr entschiedene Fixierung an das Weib und noch dazu an ein Weib: während zur erfolgreichen Ausübung des Pädagogenberufes eine sexuelle Richtung erforderlich ist, die eher nach dem entgegengesetzten Ende läuft. Indessen muß zugegeben werden, daß es genug junge Erzieher gibt, die die Neigung zum Weibe und die Neigung zum Jüngling, jede in ihrer Art, in sich zu einer geschlossenen Einheit gebracht haben, so daß sie an sich höher stehen als der antike Pädagoge; das ändert aber nichts an der Tatsache, daß der deutsche Schulmann im Prinzip durch eine falsche sexuelle Ökonomie innerlich aufgerieben wird.

Dies hat sich bitter gerächt. Der Grundsatz, daß man nicht zweien Herren dienen kann – und am wenigsten, wenn der eine ein Weib ist – verträgt keine allzugroße Beeinträchtigung. An dem weltbekannten Typ des deutschen Schulmeisters bemerkt man denn auch beim deutlichen Hinsehen die sexuellen Schicksalsfäden. Man hat seine Nervosität, seine Zerstreutheit, seine Engherzigkeit, seine ganze verbogene Steifheit so häufig aus allen möglichen geistigen Motiven abzuleiten versucht – die ja natürlich auch in Betracht kommen –, indessen liegt hierin keineswegs ein erschöpfendes Verständnis. Dieses wird vielmehr erst durch die Betrachtung von der sexuologischen Seite aus geliefert. Nimmt man an, daß jemand aus zwingendem Instinkt Erzieher der Jugend wird und nicht bloß wegen der bequemen Brotversorgung, so muß auch zugegeben werden, daß dieser eine – graduell natürlich sehr verschiedene – Inversionsneigung in sich trägt, die sich eventuell bis zum Männerheldentum steigern kann. Hat er gar keine besondere, über das normale Maß hinausgehende Neigung zum eignen Geschlecht, so kann man getrost sagen: er taugt nicht zum Erziehen. Dieser Mann nun, der seine sexuelle Konstruktion unter Umständen gar nicht kennt und wie alle Naiven vom Weibe "Erlösung’` erhofft, wird nun durch allerhand konventionelle Mächte, unter denen die ewig kuppellustigen beiderseitigen Mütter die größte Rolle spielen, in die Ehe gedrängt und hat sich nun–vielleicht zum erstenmal – mit einem begehrenden Weibe auseinanderzusetzen. Die grobsexuelle Anforderung tritt an ihn heran, aber er ist ihr nicht gewachsen. Hier nun in dieser Zwangslage will ich zugeben, mag allerdings "Angst vor dem Weibe" eintreten, das nun auf einmal gar nicht mehr in der verschüchterten Gretchenrolle zu ihm kommt, sondern mit ausgiebigen und lange zurechtphantasierten Forderungen. Die Folge kann nur sein, daß seine Sexualität, die sich am inadäquaten Objekte üben soll, in die neurotische Form gerät und die Harmonie des Gemütes vernichtet.

Kein Wunder daher, daß der deutsche Schulmeisterstand mehr oder weniger der Neurotisierung zum Opfer gefallen ist und die bekannten scheinbar ganz unsexuellen Symptome zeigt, die ihn zur Karikatur machen und ihm und seinen Zöglingen das Leben vergällen. Hier spielt das Weib eine geradezu zerstörende Rolle, und man kann nie genug, gerade unter solchen Umständen, vor den Prätensionen warnen, mit denen es sich in bezug auf das Liebesleben zu umgeben pflegt. Es muß mit Notwendigkeit ein unschönes Lebensbild resultieren, wenn nicht alle Mächte des Gemütes so angewandt werden, wie ihre Natur es erheischt. Wenn man aber beobachtet – und das ist garnicht selten und sicherlich an jeder Schule zu finden –, daß jungverheiratete Lehrer jeden Mittwoch und Sonnabend mit ihren Jungens in den Wald oder zum Baden gehen, wenn sie dabei gar keinen Sinn für Haus und Herd entwickeln können, ja selbst nach der Geburt eines Kindes nicht ehelicher werden, und dann bei schwindender Jugendlichkeit, wenn das Weib aus äußerlichen Gründen unentbehrlicher wird, die Jugend verlassen, um immer mehr einem neurasthenischen Wesen zu verfallen, so kann man das auf keinen Fall eine gesunde sexuelle Politik nennen.

Der Männerheld als der ausgeprägteste Inversionstypus ist eine stets vorhandene und immer wiederkehrende Erscheinung im Sexualleben eines Volkes. Er leistet dauernd Kulturarbeit für die männliche Jugend und er übernimmt für sich selbst oft eine tragische Rolle, da die grobsinnlichen Früchte, die doch nun einmal jeder begehrt, ihm viel spärlicher zufallen, als dem Frauenhelden. Der Männerheld liebt das männliche Geschlecht aber nicht nur in der einzelnen Person, sondern auch in seiner Totalität. Er fördert es dauernd, ohne daß dieses etwas davon merkt, denn es ist sein Lebenselement, dafür zu arbeiten.

Ich möchte am Schluß dieses Abschnittes noch auf eine Erscheinung aufmerksam machen, die diese erste Grundform der Inversion gut erläutert. Es ist die ehemalige deutsche Wandervogelbewegung. Dieses interessante Ereignis in der deutschen Jugend, das noch heute in gewissem Sinne fortbesteht, ist bisher gänzlich mißverstanden und trivialisiert worden. Ich verweise zum genaueren Verständnis der Wandervogelbewegung auf meine Monographie "Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen", wie auch auf meine Geschichte dieser Bewegung. (Beide im Verlag Bernh. Weise, Tempelhof-Berlin 1912.) Ich kann mir hier die eingehende Schilderung ersparen und greife nur das heraus, was zum Verständnis des ihr zugrundeliegenden sexuologischen Problems wichtig ist. Im Wandervogel konnte man Folgendes beobachten: die gebildete Schuljugend wandte sich von dem Typ des deutschen Oberlehrers ab, weil er ihr nicht genügte, ebenso von der ganzen Kultur ihrer Väter, und suchte ein romantisches Wander- und Zigeunerleben in den deutschen Wäldern. Die Bewegung, von jungen Stürmern getragen, wuchs über ganz Deutschland und befreite tatsächlich, den besten Teil der Jugend von dem kleinmachenden Einfluß der Schulpädagogik. Diese Wandervogelbewegung war getragen von der sexuellen Inversion in den verschiedensten Graden vom schwächsten bis zum stärksten. Der stärkste, der Männerheld, spielte natürlich stets eine sehr ausschlaggebende Rolle; er ist ja von Natur Jugendbefreier, Jugendanführer, Schulmeister und Tyrannenfeind. Ich verdanke dem persönlichen Zusammenhang mit der Wandervogelbewegung die Kenntnis des Männerhelden und die Kenntnis des ganzen sexuellen Problemes, das dahintersteckt. Ich kann dabei nicht umhin, noch mein Verwundern darüber auszusprechen, was alles möglich ist, was alles im sexuellen Leben der Jugend steckt und was alles übersehen wird. Man kann heute getrost sagen, die bisherigen Erzieher der Jugend verstanden schlechterdings nichts von ihr. Gewundert habe ich mich oft genug über die immense animalische Wucht, zu der die Jugend noch recht oft fähig ist und die sich mit den edelsten Blüten des Gemütes sehr wohl vereinigen läßt. Ich würde unwahrhaftig sein und mich in den Ruf bringen, propagieren zu wollen, wenn ich beschönigte und verschweigen würde, daß auch die grob homosexuelle Libido in der Jugend eine recht erhebliche Rolle spielt. Ich habe Männerhelden kennen gelernt mit einer mehr lebemännischen Ader, die garnichts entbehrten und denen es nie schwer fiel, ihre sexuellen Wunsche immer wieder von neuem durchzusetzen. Man darf hier nicht von "Verführung" reden, damit würde man völlig irre gehen. Es handelt sich hier um Bedürfnisse, die auf beiden Seiten, wenn auch in verschiedener Art liegen. Eine Verführung im eigentlichen Sinne gibt es überhaupt nicht, denn niemand, der sich verführen läßt–sei es im normalen oder invertierten Verkehre –, ist dem sexuellen Akte ganz abgeneigt, und aus der Tatsache, daß der Eine stets der Passive, Widerstandleistende ist, darf man nicht folgern, daß er kein Wollender ist.

Man mag diesen Tatsachen gegenüberstehen, wie man will; gegenüberstehen muß man ihnen und darf sich nicht abkehren. Zur Askese liegt heute kein Grund mehr vor, zur Abstinenz kaum einer, wohl aber zur Beschränkung. Es ist einer der pädagogischen Grundfehler auf sexuellem Gebiet–wie auf jedem–, daß man die Begriffe der Keuschheit und Reinheit dem jungen Menschen fertig vorschreibt und diese als ganze über ihn hängt. Das ist ein kulturloses Verfahren, und hat zu nichts Gutem geführt; es wird nur zur Komödie, da man ja selbst beim Lehren dieser Begriffe von ihrer Erfüllung entfernt ist. Es nützt hier nichts, daß der Erzieher sagt, auch er sei ein Mensch, vielmehr muß man dafür sorgen, daß die Reinheit gemeinsam erarbeitet wird und jedesmal von neuem als tiefstes seelisches Bedürfnis von sich selbst gefordert. Dadurch würde ihr Begriff allerdings ein ganz anderes Gesicht bekommen und durchaus nicht mit der mechanischen Abstinenz identisch sein. Er würde vor allen Dingen so individualisiert werden, daß jeder Mensch seine eigne Form des sexuellen Obenseins von sich erzwingen müßte. Bei der außerordentlichen Vielseitigkeit des sexuellen Begehrungslebens ist es in der Jugend nicht möglich, alles über einen Kamm zu scheeren.

Manche begehren von der Pubertät an unwiderstehlich, manche wieder bleiben bis in die Mannesjahre wunschlos. – Ich muß sagen, ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß ein erwachsener Mann in sexuellen Dingen der Jugend etwas lehren und sie zum lebendigen Erfassen des Reinheitsbegriffes bringen kann, wenn er nicht sein eignes sexuelles Leben taktvoll enthüllt, und ich habe die Erfahrung gemacht, daß der Männerheld hier ausgezeichnete Dienste leisten kann. Jedenfalls ist der bisherige Erziehertyp des Schulmeisters oder gar Pastors mit seiner Autoritätsmanier hier ganz und gar und im Prinzip unbrauchbar. Wer nicht mit der Jugend mitarbeitet und dabei sich selbst entwickelt, der ist und bleibt in pädagogischen Dingen ein Scharlatan.

 

Der invertierte Weibling.

Ich komme mit diesem Abschnitt auf das verfänglichste Theorem der Sexualwissenschaft, das über die homosexuelle Frage am meisten Irrtümer zutage gefördert hat. Es gibt einen Satz, der lautet: Es ist eine weibliche Eigenschaft des Mannes, den Mann zu lieben. Das Bekenntnis zu diesem Satze hat Otto Weininger das Grab schaufeln helfen.

Die Forschungsmethode, die auf diesem Satze aufgebaut ist, heißt Zwischenstufentheorie; sie ist die populärste Auffassung der Homosexualität und überall bei Ärzten und Sexuologen verbreitet

Um sie ganz zu verstehn, muß man sich vorher darüber einigen:

1. was Zwischenstufen sind,

2. was eine Theorie ist.

Wenden wir uns zum Ersten. Hier liegt das große Arbeitsgebiet von Magnus Hirschfeld mit seinen reichen Resultaten vor, aus dem ich das Wesentliche heraushebe, nicht ohne ihm eine eigne Einkleidung zu geben.–Wenn man eine bestimmte Definition annimmt, was Mann und was Weib ist, so ergeben sich, wie immer diese Definition auch lauten möge, am realen Objekt Übergänge zwischen Mann und Weib, gewisse Eigenschaften des einen Objektes, die, der Definition gemäß, eigentlich dem andern angehören. Dies ist aber nicht allein somatisch zu verstehen, sondern es bezieht sich auch auf das Triebleben und die geistigen Eigenschaften. Einigen wir uns auf folgende Definition von "Mann" und "Weib": wir nehmen eine Dreiteilung vor und unterscheiden 1. das Somatische, 2. das Triebartige, 3. das Geistige. Ich vermeide absichtlich den Ausdruck "psychisch", weil dieser zu kompliziert ist; ich habe ihn in die beiden letzten Rubriken geteilt, wodurch das Verständnis wesentlich erleichtert wird.

Als letztes Kriterium des Männlichen in der somatischen Rubrik gilt die Produktion des Sperma, entsprechend dem des Weiblichen die Produktion des Ovulum. Über diesen beiden letzten Instanzen, die die Zugehörigkeit zum einen oder andern Geschlecht endgültig entscheiden, baut sich eine ganze Morphologie auf, die die Formengebung der verschiedenen Körperteile zum Thema hat. Nun kann der männliche Körper mit seinem letzten Kriterium, dem Sperma, unendlich im Sinne des weiblichen variieren, von dem feinsten, nur für Kenneraugen spürbaren weiblichen Einschlag, (die Plastiken der späteren griechischen Kunst sind hierfür schon ziemlich grobe Beispiele), bis zum Scheinzwittertum, wo eine bis zur äußersten Konsequenz durchgeführte peniscrotale Hypospadie weibliches Geschlecht vortäuscht. (Echtes Zwittertum ist bisher nicht erwiesen, dagegen einige Fälle neutrius generis mit ovotestis. Vgl. v. Neugebauer: Hermaphroditismus beim Menschen.) Dasselbe gilt umgekehrt vom Weibe mit feinem männlichen Einschlag im Gesicht bis zum weiblichen Scheinzwitter mit Clitorishypertrophie, Atrophie der mammae usw.

Im Triebleben männlich ist, wer angreift und seine Lust im Besiegen des Liebesobjektes findet; weiblich, wer angegriffen zu werden wünscht und dem andern zur Befriedigung dienen will. Verstärkt würde man also die sadistische Komponente des Liebeslebens dem Manne, die masochistische dem Weibe zuschreiben. Hierüber bauen sich nun wieder, analog der somatischen Rubrik, die verschiedensten männlichen und weiblichen Eigenschaften auf, die lockerer gebunden sind und leichter variieren: das Schmollen und Weinen des Weibes, seine Schüchternheit und leichte Angstproduktion und das Zürnen und Drohen des Mannes, seine Dreistigkeit und Furchtlosigkeit.

In geistiger Beziehung männlich ist, wer schöpferisch, produktiv denkt und das Gebiet des Abstrakten beherrscht, weiblich, wer empfangend, reproduktiv, angewandt und konkret denkt.

Man sieht: die beiden letzten Rubriken sind leichter variabel als die erste. Die Natur hält Mann und Weib somatisch ziemlich streng auseinander und vergreift sich nur selten, weil sie hier eine längere Übung hat, die schon bei den Tieren erfolgreich durchgeführt war. Im Seelischen, diesem so späten und reifen Produkte, tut sie das weniger, womit aber noch lange nicht gesagt sein soll, daß Mann und Weib seelisch gleichbedeutend sind. In der Tat sind sie prinzipiell hier so verschieden wie dort.

Jeder Mensch ist diesem Variationsprozeß unterlegen, und wenn auch die somatischen Eigentümlichkeiten noch so deutlich das eine Geschlecht ausdrücken, er trägt doch die Erbmasse von unendlich vielen Generationen, die aus dem andersgeschlechtlichen Elternteile stammen, mit sich herum. Der Mann, der der Mutter gleicht, bewahrt in männlicher Umdeutung (dies ist zu beachten!) weibliche Eigentümlichkeiten der Mutter in sich auf und wird dadurch jedesmal zu einem neuen Original. Ebenso trägt jeder Mensch Entwicklungsreste des anderen Geschlechtes in der Form rudimentärer Organe mit sich herum: die männlichen Brustwarzen, die männliche Scrotumnaht, die weibliche Clitoris usw. Diese Rudimente stehen an der Grenze der Funktionslosigkeit und haben diese selbst meistens erreicht. Die weibliche Clitoris hat noch die Eigenschaften eines Reflexorganes, die männlichen Brustwarzen schon nicht mehr. Dagegen beobachtet man, daß sich erloschene Reflexe mitunter beleben können; ein Empfindlichwerden der männlichen Brustwarzen kommt gar nicht selten vor. Ein merkwürdiger Fall solcher Belebung – bei der die weibliche Komponente im Manne zum Durchbruch kam – ist mir einmal begegnet. Der Mann hat bekanntlich normalerweise auch gewisse "Perioden", die der weiblichen Menstruation entsprechen, nur daß die Regelmäßigkeit geringer ist und sich keine lokalphysiologischen Begleiterscheinungen einstellen. Mir ist aber ein Fall bekannt, wo bei einem homosexuellen Liebespaar der etwas jüngere Geliebte alle vier Wochen ziemlich regelmäßig ein Wundwerden der Präputialschleimhaut mit leichten Sekretionen bekam, so daß an diesen kritischen Tagen, ganz wie bei normalen Ehen, der Verkehr unterbrochen werden mußte.

Also: der Mensch ist nach einem androgynen Schema aufgebaut. Aus dieser prinzipiellen Androgynie erklären sich die deutlich bemerkbaren Zwischenstufen als verstärkte Spezialfälle und sind daher von dieser Grundlage aus vollkommen zu verstehen.

Aber diese prinzipielle Androgynie ist durchaus verschieden von der prinzipiellen Bisexualität und hat theoretisch mit ihr garnichts zu schaffen. Sie wird aber fast überall mit ihr verwechselt! Hieraus stammt auch ein großer Teil der Irrtümer, die bisher in der theoretischen Morphologie der Inversion gemacht worden sind. Man braucht nur die unzähligen Aufsätze von Medizinern und Laien nachzulesen, und man wird in geradezu erdrückender Fülle ohne jede vorherige Sondereinteilung finden, daß die Homosexualität in naiver Selbstverständlichkeit mit Weiblichkeit zusammengebracht und "erklärt" wird.–Aus der Bisexualität hebt sich ebenso klar der Männerheld und die Frauenheldin heraus, wie die verschiedenen Zwischenstufenformen sich aus der prinzipiellen Androgynie herausheben. Aber beides sind grundverschiedene Dinge.

Es ist also falsch, zu sagen: es ist eine weibliche Eigenschaft des Mannes, den Mann zu lieben. Man muß hier einschränken und sagen: es ist eine weibliche Eigenschaft des Mannes, den Mann in passiver Form zu lieben. Wer die prinzipielle Bisexualität zugibt (und das tun heute fast alle Sexuologen), der kann nicht sagen, daß es eine weibliche Eigenschaft des Mannes sei, den Mann zu lieben, da ja die bisexuelle Veranlagung beiden Geschlechtern zukommt, und also die Liebe zum Manne kein weibliches Sexualmonopol sein kann. (Ich werde dies später an einigen praktischen Fällen erläutern.) Es ist lediglich eine Häufigkeitsschätzung, eine Üblichkeit, daß das Weib den Mann liebt’ es ist konventionell und würde z. B. in der hellenischen Antike gar nicht gelten. Der Satz ist demnach naturgesetzlich falsch.

Was ist nun eine Theorie ? Sie ist ein Standpunkt, von dem aus man etwas "erblicken’ (??????) kann; anders ausgedrückt: eine Methode, ein geistiger Kniff, um alle Erscheinungen eines bestimmtes Gebietes mittelst einer Formel zu verstehen. So sind die Kepplerschen und Kopernikanischen Gesetze vereinigt mit den mechanischen Formeln Newtons die Theorie des Sonnensystems. Nicht zu verwechseln mit der Theorie ist die Hypothese. Diese geht auf Dinge selbst. Sie ist eine "Unterstellung" von etwas Tatsächlichem, dessen Existenz noch nicht bewiesen ist. Hypothetisch sind Dinge, die zu einer Erklärung von Zusammenhängen gebraucht werden; die Hypothese steht also immer im Dienste einer Theorie und ist von ihr untrennbar. Beispiel: Als man gewisse Abweichungen in der Planetenbahn des Uranus bemerkte, die nicht mit den bisherigen Formeln erklärt werden konnten, erschloß man die Existenz eines extrauranischen Planeten, der diese Ablenkung bewirkte. Als er dann nach den Rechnungen von Leverrier und Adams zum ersten Mal von Galle in Berlin beobachtet und identifiziert wurde, hörte der hypothetische Charakter des neuen "Neptun" auf und wurde zum realen umgestempelt. (Bekanntlich kann es auch umgekehrt gehen, und die Geschichte der Wissenschaften ist voll von solchen Hypothesen, deren Gegenstand sich dann als irreal nachweisen ließ.) Aber um in der Sexuologie zu bleiben: Freud hatte die Sexualität des Kindes als notwendig zur Erklärung bestimmter neurotischer Phänomene postuliert, sie war also hypothetisch, und nachträglich gelang es ihm durch seine "Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben" den hypothetischen Charakter der infantilen Sexualität in einen realen umzuwandeln. Noch unentschieden ist z. B. die Andrin-Hypothese Hirschfelds (in seinem Buche "Naturgesetze der Liebe" Berlin, Verlag Pulvermacher), die das Vorhandensein einer Rauschsubstanz als den die Sexualität erregenden Faktor als notwendig erachtet. Von dem Augenblicke an, wo das Andrin wird beobachtet und seine chemischen Qualität bestimmt sein, wird dann gleichfalls der hypothetische Charakter durch den realen abgelöst werden, der dann wieder neue theoretische Positionen gestatten wird. Um eine Parallele aus der Erkenntnistheorie anzuführen: Theorie und Hypothese verhalten sich, wie Grund zu Ursache. Der "Grund" geht auf rein logische Verhältnisse, er begründet einen Schluß, die "Ursache" auf tatsächliche Vorgänge: sie verursacht etwas.

Nach diesem Exkurs kehren wir zu dem Versuch zurück, die Tatsache der Homosexualität an die Tatsache der androgynischen Veranlagung des Menschen zu knüpfen und die erste aus der zweiten zu verstehen. Dies ist die eigentliche Aufgabe der Zwischenstufentheorie. Ihre Formel würde also lauten: Gewisse Männer sind deswegen homosexuell, weil sie im höheren Grade weiblich sind, als der Durchschnitt der Heterosexuellen (und vice versa auf Frauen bezogen). Die Femininität des Mannes ist also demnach Ursache seiner Homosexualität. So falt die Frage zum Beispiel Weininger, der große Zwischenstufentheoretiker, und das ist auch in der Tat die einzige Formel, die hierfür möglich ist. Auch das vulgäre Urteil von Laien und Ärzten setzt stets das Teilhaben an einem höheren Zwischenstufengrade in kausalen Zusammenhang mit Homosexualität.

Dieser Versuch, durch die prinzipielle Androgynie des Menschen dessen Homosexualität im einzelnen zu erklären, muß nun, um den Namen einer Theorie zu verdienen, folgender Probe standhalten die schwächeren und kaum merkbaren Grade der Androgynie müßten einen leichten Inversionseinschlag zur Folge haben und dieser müßte sich mit zunehmender Androgynie entsprechend verstärken. Sehen wir uns nun die Wirklichkeit an, so finden wir, wenn auch nicht auf den ersten Blick, so doch auf den zweiten, daß hiervon gar keine Rede ist. Vielmehr finden wir das bunteste Durcheinander und keine Spur von Regelmäßigkeit und dem so beliebten "Parallelismus".– Beispiel Es gibt einen bestimmten Männertyp, der entschieden weibische Züge trägt und der in der überkultivierten Gesellschaft eine bekannte Figur ist, der sogenannte "Dandy". Dieser Dandy ist gewöhnlich heterosexuell, ein Blick in das Verkehrsleben leichtdegenerierter Gesellschaftskomplexe zeigt uns übergenug solcher verweiblichten Männertypen, die nicht daran denken, homosexuell zu sein. Aber freilich gibt es auch homosexuelle Dandys. Dies möge als schwächster Grad des Feminismus hingenommen werden. Sehen wir uns nun einmal die beiden charakteristischen Vertreter des stärksten an: den Scheinzwitter und den Transvestiten. Franz v. Neugebauer schreibt über den Hermaphroditen in seinem Standardwork "Hermaphroditismus beim Menschen" Seite 56:

"Ebenso wie die sekundären Geschlechtscharaktere ist auch das psychische und sexuelle Empfinden ein den Geschlechtsdrüsen bald homologes, ihnen entsprechendes, oder ein ihnen nicht entsprechendes, heterologes." Und Seite 63:

"Sehr wichtig ist die Verschiedenheit des Sexualempfindens bei Scheinzwittern. Die vita sexualis ist zuweilen ganz normal, oft garnicht vorhanden, wenig ausgesprochen, oder pervers, also homosexuell. Ja, es gibt Scheinzwitter, welche mit beiden Geschlechtern sexuell verkehren, viele, bei denen der Geschlechtsdrang anfangs ein männlicher war, dann in den weiblichen umschlug und umgekehrt."

Was Neugebauer hier unter "männlichem" und "weiblichem" Geschlechtsdrang versteht und ebenso oben unter ein den Geschlechtsdrüsen "homologes" und "heterologes" Empfinden, geht nicht hervor, aber sicherlich hat er den rein konventionellen Sinn von "männlich", d. h. "so wie die Männer meistens lieben" mit dem korrekt sexuologischen, wie er oben definiert wurde, verwechselt. Davon abgesehen aber bemerkt man an dieser äußersten Grenze des Zwischenstufenreiches ein völliges Durcheinander der Sexualrichtung. In demselben Sinne belehren uns Hirschfelds "Transvestiten" (Berlin 1912), deren in die Augen springende Weiblichkeit, die ihnen das Lebensschicksal bedeutet, durchaus keinen notwendigen Zusammenhang mit Homosexualität aufweist. Wenn ein Buch die alte, viel zu früh (übrigens auch von mir) belächelte "Redensart" von der weiblichen Seele im männlichen Körper zum Lichte vollster und tragischer Wirklichkeit emporhebt, so ist es dieses Aber $trotzdem läßt sich aus dieser Weiblichkeit der Seele absolut nichts von Homosexualität ableiten, sondern eben nur von Weiblichkeit im Affektleben, d. h. von Passivität. Diese Menschen drängen innerlich zur Weiblichkeit und sehnen sich danach, Weib zu werden. Aber sie invertieren deshalb nicht, und wenn sie homosexuell sind, so sind sie es außerdem noch, aber nicht deswegen. Besonders lehrreich ist hierfür der Fall XII. Hier kommt der betreffende Transvestit auf den Gedanken, daß es für seine passive Affektlage, die immer wieder wünscht, bezwungen zu werden, eigentlich angemessener sei, sich nicht vom schwächeren Geschlechte bezwingen zu lassen, sondern vom stärkeren, dem diese Rolle auf den Leib gesch rieben ist. Er versucht daher, seine angeborene Heterosexualität zu überwinden und arrangiert Homosexualität. Aber der Versuch mißingt, und er muß wieder zum Weibe zurückkehren.

Man sieht: die Androgynie des Menschen und seine Bisexualität gehen durchaus nicht parallel. Es sind nicht nur zwei ganz verschiedene Theoreme, sondern auch zwei ganz verschiedene Tatsachen, deren Verschiedenheit sich oft in einem Individuum recht empfindlich bemerkbar machen kann. Wenn also jemand homosexuell ist, so ist er es immer auf Grund der prinzipiellen Bisexualität, die bei ihm in der homosexuellen Richtung ausgeschlagen ist, ganz gleichgültig, ob daneben seine prinzipielle Androgynie, an der er ebenfalls Teil hat, ihm stark die Merkmale des anderen Geschlechtes- aufdrängt, oder nicht.

Diese Einsicht ist auch Hirschfeld längst gekommen, der mit Recht nicht mehr von einer Zwischenstufentheorie spricht, sondern lediglich von einem "Einteilungsprinzip" der Zwischenstufen, und das ist ein vollkommen richtiger Gebrauch, denn die Zwischenstufen existieren und auch homosexuelle Zwischenstufen existieren Für diesen invertierten Weibling (resp. Männling) ist nun die theoretische Formel mit Leichtigkeit zu finden: er ist weiter nichts als eine Vergesellschaftung von Homosexualität mit starkem Einschlag ins andere Geschlecht. Dieses Wort "Vergesellschaftung" halte ich für überaus treffend. Ich fand es selbständig, aber es steht bereits bei Hirschfeld in seinen "Transvestiten"; ihm gebührt also die Priorität.

Ich möchte an dem oben erwähnten Fall XII aus den "Transvestiten" nicht vorübergehen, ohne nicht seine vielleicht prinzipielle Bedeutung für die Konstruktion des invertierten Weiblings auszunützen. Wir haben hier einen Fall vor uns, bei dem ein Mann ein völlig weibliches Affektleben hat, eine wirkliche ª weibliche Seele" und daher gern von einem Geschlechte geliebt sein möchte, das gewöhnlich die Frauen liebt und das auch imstande ist, seine passive, succumbierende Art der Lustempfindung und aller daran anschließenden Glücksgefühle durch stärkere Aktivität besser zu befriedigen. Aber der Arme ist leider unverbesserlich heterosexuell, und der geringe Rest seines homosexuellen Empfindens, den seine prinzipielle Bisexualität ihm anbieten kann, bekommt es nicht fertig, bis in die Detumescenzphase hineinzudringen. Dies wäre zweifellos ein Glück für ihn. Aber er ist wohl nicht mehr jung genug, seine Richtungsschwankungen nicht mehr genügend stark, und so miß lingt es ihm.

Einem Andern aber mag es gelingen, und es ist sehr wohl denkbar, daß Jemand, der ein passives Affektleben hat, dem also die Eroberung des Weibes stets fehlgehen wird, noch zur rechten Zeit–also während der Pubertät–den deutlich vorhandenen heterosexuellen Triebast zurückdrängt und den homosexuellen verstärkt. Er arrangiert sich also ein invertiertes Liebesmilieu, da dieses für ihn allein tauglich ist. In diesem Falle wäre also die Femininität tatsächlich die Ursache der Homosexualität, aber man darf nicht übersehen, daß hier etwas ganz anderes vorliegt, als eine theoretische Zusammengehörigkeit. Hier liegt zwischen Femininund Homosexuellsein eine Zeit und ein mehr oder weniger bewußter Willensakt, der die feste Inversion erst hervorruft Dieses Hervorrufen geschieht freilich nicht aus dem Nichts, sondern aus dem psychosexuellen Triebfond, den jeder Mensch in sich trägt und der bei jedem Menschen bisexuell ist.

Unser Affektleben und unsere Sexualrichtung ist in der Tat viel labiler, als es sich derjenige vorstellen kann, der diese Labilität nie hat benutzen brauchen. Ein unumstößlich Heterosexueller kann es garnicht begreifen, daß er sich anders hätte entwickeln können, als zum Frauenhelden. Er kennt die Fähigkeiten nicht, die die sexuelle Not schafft und kennt nicht die Anpassungsfähigkeit des Triebes. Und bekanntlich ist der sexuelle Trieb ganz erheblich viel anpassungsfähiger als der Nahrungstrieb, der nur sehr wenig Herabsetzung und Normverschiebung verträgt; eine Kuh verhungert lieber, als daß sie Fische frißt, aber jeder italienische Hirt, der den Sommer über einsam in den Bergen wohnen muß, nimmt mit einer Ziege vorlieb. Und so ist es einem Weibling, der an sich vielleicht lieber zum Weibe gehen würde, in der Pubertätszeit auch wohl möglich, sich auf den homosexuellen Zweig zu drängen, wenn nicht gerade eine übermäßige heterosexuelle Prädestination vorliegt. Aber es ist ein Experiment, und ein Weibling, der einen homosexuellen Überschuß von Geburt an mitbekommen hat, fährt jedenfalls besser. Denn wenn das Experiment mißlingt, so bewahrt ihn nur die Resignation vor einer schweren Sexualneurose. Doch damit ist schon das Thema der dritten Grundform der Homosexualität angeschnitten.

Es kann aber natürlich auch Weiblichkeit arrangiert werden, und zwar durch einen psychologischen Prozeß, der in Worte gefaßt etwa so lauten würde: "Ich liebe Männer, bin also (!) ein halbes Weib; ich bin nicht lasterhaft, sondern meine angeborene Weiblichkeit zwingt mich, Männer zu lieben. Daher ist es ganz meiner Natur angemessen, wenn ich noch andere weibliche Züge markiere." Typen, die diesen Entschluß dann ausführen, findet man häufig genug. Man nennt sie mit einer verächtlichen Bezeichnung "Tanten"; sie haben etwas entschieden Posiertes an sich, und ich möchte an alle Sexuologen, die früher einmal oder auch jetzt noch die Zwischenstufentheorie vertreten, die Gewissensfrage richten, ob sie nicht vielleicht in sehr vielen Fällen vergeblich "weibliche" Züge an Männern einfach mit weichlichen und dekadenten männlichen Zügen verwechselt haben. Die Morphologie des Weibes ist doch durchaus keine verblaßte Morphologie des Mannes, und ein weiblicher Halsansatz ist himmelweit unterschieden und steht an Schönheitswert unendlich viel höher als ein schlaffer männlicher. Ich glaube, hier hat doch die Pose die Wissenschaft manchmal recht sehr überrumpelt. Diese Arrangeure benutzen ihre Weiblichkeit zur Entschuldigung ihrer Homosexualität. Die Weiblichkeit ist für sie keine Schande, und auch das haben sie von den Frauen gelernt, die einen gewissen männlichen Einschlag sogar als ehrend betrachten. Der Männerheld würde das niemals tun Er falt es als eine schwere Beleidigung auf, wenn man ihn einen Weibling nennt. Ich erinnere daran, daß die ehemalige Sezession des wissenschaftlichhumanitären Komitees, die unter Benedikt Friedländer seinerzeit stattfand und sich zu einem "Bunde für männliche Kultur" zusammentat’ neben der Verwerfung der Zwischenstufentheorie gerade auf diesem Affekt beruhte.

Es ist zweifellos, daß der inversierte Weibling eine bei weitem schwierigere Rolle in seiner Umgebungskultur &U spielen hat, als der Männerheld. Er trägt ja nicht nur seine Inversion, sondern auch seine weibliche Affektlage mit sich herum. Es ist daher verständlich, wenn dieser Typ häufiger zerbricht, in seinem Charakter aufgerieben wird und auf den Beschauer einen entschieden maroden Eindruck macht. Die Krankheit besteht aber weder in ihrer Triebrichtung noch in ihrer Trieblage, sondern sie ist nur das Produkt eines vergeblicher Kampfes beider gegen eine stärkere Umgebungskultur. Anderseits aber haben sie auch im Falle des erfolgreiche Widerstandes und der Rettung der Persönlichkeit die Genugtuung, zu den interessantesten Menschen zu ge hören. Eine solche Zusammenstellung hat, wenn Charakter und Selbstbewußtsein es erlauben, etwas entschiede Faszinierendes an sich, etwas, das jedem Menschen in seinen Resultaten fremd ist und doch eben vertraut in seinen Wurzeln, denn aus dem Stoffe der Bisexualität und der Androgynie sind wir ja alle gebaut.

Wenn man den Wert’ den dieser Typ in sein ethischen Vollendung für die allgemeine :Kultur des Menschen hat, in einer Formel ausdrücken will, so kann man sagen: daß er die sexuelle Vermittlungsaktion zwischen den beiden Geschlechtern übernimm Der Mann, der den Ma an in weiblicher Art liebt, ha Gefühle des Weibes, aber er hat die sexuelle Offenheit des Mannes, und so wird er zum Kommentator des Weiblichen. Er hilft, den Todkampf der beiden Geschlechter, die gegenseitige Aufreibung des Vollmannes und des Vollweibes im Belehrungskriege gegeneinander durch seine Existenz mildern.

Die latente Inversion.

Diese dritte Grundform ist entschieden die geheimnisvollste. Sie unterscheidet sich von den beiden ersten dadurch, daß hier die Inversion nicht manifest ist, sondern im Unterbewußtsein lebt, dieses wesentlich ausfüllt, und in entscheidenden Momenten an die Oberfläche kommt. Wir haben hier ein eigentümliches psychopathlogisches Gebilde vor uns, aber die Pathologie liegt wiederum nicht in der Triebrichtung selbst, sondern allein in der Tatsache, daß diese eine Lage einnimmt, mit der der naive Mensch nicht rechnen kann und die ihn daher dauernd falsch lenkt. Wir haben hier Menschen vor uns, bei denen Bewußtsein und unterbewußtes Triebleben auseinandergehen und die Persönlichkeit zerspalten.

Da es sich hier um eine latente Sexualrichtung handelt, die sich oft nur in sehr versteckter und scheinbar geradezu antisexueller Form ans Tageslicht drängt, fällt eine wissenschaftliche Gruppierung besonders schwer, und ich will alle Vorsichtsmaßregeln gebrauchen, um nicht voreilig zu sein. Sicherlich aber liegt in allen Fällen, die dieser Rubrik angehören, eine Entwicklungshemmung vor; die sexuelle Gradlinigkeit ist verwischt. Anzeichen hiervon finden sich schon beim invertierten Weibling, der seine Inversion verstärkt, weil er sich zur Besiegung des Weibes nicht männlich genug fühlt. Aber die Inversion bleibt doch hier immer manifest und mit dem Bewußtsein verträglich, während sie in der jetzt vorliegenden Gruppe verdrängt wird.– Wir befinden uns also hier auf dem eigentlichen Arbeitsgebiete Freuds und benutzen seine Terminologie.

Es scheint mir vorteilhaft, das psychische Grundphänomen der Verdrängung, ähnlich wie die Sexualität in Phasen zu zerlegen und zwar in zwei. Die erste könnte man wohl die automatische nennen und darunter jene spontanen Verdrängungsschübe verstehen, die in die Kindheit bei beiden Geschlechtern und in die Pubertät beim Weibe fallen. Also z. B. das Aufrichten der Inzestschranke in der Kindheit und die plötzliche Passivisierung des Trieblebens beim Mädchen, in der Freud mit so außerordentlichem Feinsinn die eigentliche Weibwerdung des weiblichen Menschen erkannt hat. Diese Art der Verdrängung hat physiologisch Ähnlichkeit mit den Reflexen und sie bildet vielleicht eine EntwicklungsZwischenphase zwischen der bewußten Ablehnung und den fertigen, automatischen Reflexbewegungen. Soviel ich orientiert bin, hat man den psychischen Mechanismus dieser Veränderungschübe noch nicht begriffen; wir müssen uns also damit begnügen, sie rein physiologisch hinzunehmen, und wenn durchaus etwas kritisiert werden soll, so kann man sich den Vorgang teleologisch zurechtlegen und z.B. sagen: die Natur bezweckt mit der Aufrichtung der Inzestschranke die Verhinderung der Engzucht und damit der Degeneration der Rasse. Das ist ja freilich ein circulus vitiosus, der wissenschaftlich keinen Wert hat und der garnichts erklärt. – Diese Verdrängung macht jeder durch, und sie gelingt dem Gesunden ohne weiteres. Die Triebreste werden sublimiert und dienstbar gemacht, können also keinen Schaden mehr anrichten. Aber es gibt unter gewissen Umständen Reste, die diesem Sublimierungsprozeß trotzen, gewissermaßen unverdaut im Unbewußten liegen bleiben und in das Leben des Individuums Zwänge hineinlengen, die, um es poetisch auszudrücken, sein Schicksal werden. Und das "Schicksal" in uns ist bekanntlich das, was man nicht weiß.–Ich werde noch Fälle anführen, wo die invertierte Sexualrichtung aus dem Inzestkomplex (also Fixierung des Mannes an den Vater oder älteren Bruder) diese Schicksalsrolle übernimmt.

An der zweiten Phase der Verdrängung hat das Bewußtsein Anteil. Hier werden gewisse Komplexe durch das Kommando der Umgebungskultur, das der Betroffene mit Schrecken vernimmt, zum Rückzug aus dem Bewußtsein gezwungen und ins Unbewußte verstoßen Wir können diesen Vorgang etwa in die Worte fassen: "Um Gottes willen! Ich bin anders, als die Andern; nun schnell fort damit und ins rechte Fahrwasser!. Diese Verdrängung ist nicht 30 streng an ein bestimmtes Lebensalter gebunden.–Es ist selbstverständlich, daß bei den Menschen mit stark invertierter Sexualrichtung diese Verdrängung eine ganz erhebliche Rolle spielt, da sie heute noch fast von der gesamten Umgebungskultur gefordert wird. – Der Verdränger in diesem Sinne der zweiten Phase hat also schon geliebt und hat in diese Liebe seine ganze Persönlichkeit hineingelegt: er gibt aber dann von einem bestimmten Augenblicke an den sexuellen Anteil plötzlich auf, löst sein Ich von der Inversionsneigung (im religiösen Jargon: "er rettet seine Seele") und versucht es auf die heterosexuelle Seite zu bringen, was nicht immer gelingt. Und in diesem Mißlingen liegt unser Problem.

Für diejenigen, die in die Terminologie Freuds nicht eingeweiht sind, sei hier bemerkt, daß die Verdrängung etwas anderes ist, als die Beherrschung. Wenn Jemand einen Trieb verdrängt, so stößt er ihn kritiklos ins Unbewußte und fragt nicht danach, ob er dies vertragen kann oder nicht; es kommt häufig genug vor, daß die Stärke des Triebes dem psychischen Kommando kein schwerwiegendes Veto entgegensetzt, und dann glückt die Verdrängung ohne Schaden für die Einheit der Person; aber sie ist doch immer ein Risiko, denn Niemand ist in der Kritik der Stärke seiner Triebe unbesonnener als der Betroffene’ und es ist daher pädagogisch stets besser, dem Menschen von Jugend an eine andere Verhaltungsform anzugewöhnen, eben die Beherrschung. Das ist ein Kennenlernen des Triebes, ein Wägen und Vergleichen mit anderen, auf deren Kosten seine Befriedigung eventuell abgelehnt werden muß. Es kann Jemand in der Jugend bei sich beide Richtungen des sexuellen Triebes finden, die heterosexuelle und die homosexuelle, und sich nun für sein praktisches Leben die Fragen vorlegen: mit welchen willst du arbeiten ? Etwa mit beiden? Und wenn dies nicht geht, welches ist für Dich der entscheidende? Auf welcher Seite liegen die Gemütswerte? – Ist dann die Frage nach jahrelangem Probieren einigermaßen sicher beantwortet, so kann die eine Richtung abgewiesen werden unter Anwendung sittlicher Beherrschungskräfte, und wenn die Natur des Betreffenden nur einigermaBen gut ist, so kann solch eine Entscheidung vollkommen gelingen, und er läuft keinerlei Gefahr, später an den abgewiesenen Komplexen zu erkranken. Mir sind solche Fälle bekannt, und einer in unbedingter Deutlichkeit.

Diese dauernde Begabung mit Bewußtsein, die zur Beherrschung und Regulierung führt, steht also der Verdrängung entgegen und macht sie überflüssig. Die Verdrängung ist einer von den berühmten "kurzen Prozessen, die das Kind mit dem Bade ausschütten. Bekanntlich besteht die von Freud und seinen Schülern angewandte Psychoanalyse von Neurotikern gerade in einem Überführen von Verdrängung in Beherrschung: d.h die seiner Zeit verdrängten Komplexe des Kranken, die er selbst nicht mehr kennt, werden unter schweren Widerständen ins Bewußtsein gehoben; dieses kann sich ihrer bemächtigen, und nun, wenn das verdrängte Material tatsächlich nicht zu gebrauchen ist und es den Widerspruch des Kranken erregt, hat dieser die Fähigkeit, es zu beherrschen. Die Persönlichkeit wird wieder hergestellt und kommt von ihrem unbekannten Fatum frei.

Nach diesem Exkurs kehren wir zu den beiden Verdrängungsphasen zurück. Setzen wir voraus, daß in beiden Fällen invertiertes Material verdrängt wird, so entstehen zwei Typen latent Invertierter. Von diesen glaube ich den ersten ziemlich genau zu kennen; für den zweiten finde ich bislang noch keine einheitliche Definition und will ihn nur aus der Literatur zitieren. Der erste Fall ist der bekannte Typ des Sittlichkeitsfanatikers, ein negativer Männerheld, man könnte etwa sagen, ein Männer-Feigling. Ich habe ihn in meiner oben erwähnten Monographie "Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen" ausführlich geschildert und das nötige Material dazu angeführt. Ich glaube wohl,, daß die deutsche Wandervogelbewegung die beste Fundquelle für diese Menschenart gewesen ist, aber er kommt überall vor, wo junge Leute mit idealem Aufschwung zusammen sind, so besonders auch in den religiös angehauchten Jünglingsvereinen. Nicht finden wird man ihn voraussichtlich in Jünglingsklubs, die künstlerischen Neigungen folgen, da hier die moralistische Tendenz zurücktritt. Der psychische Mechanismus ist folgender: Junge Menschen leben von früh auf und bis zu Beginn des Mannesalters harmlos untereinander mit mehr oder weniger starker bewußt erotischer Bindung. Sie wandern und singen miteinander; einige von ihnen zeichnen sich durch eine angeborene Führerrolle aus. Sie haben das Zeug zum Männerhelden. Die ganze Grundstimmung ist zweifellos invertiert. Das Weib ist für sie völlig gleichgültig; sie erkennen eigentlich nur dessen Unentbehrlichkeit zur Fortpflanzung des Menschengeschlechtes rückhaltslos an. Dieses harmlos hingenommene Leben, das auch selbst bei sexuellen Exzessen nichts von seiner Harmlosigkeit verliert, wird nun auf einmal durch einen starken Ansturm von außen unterbrochen. Die Männerhelden werden älter und müssen sich, besonders von verwandtschaftlichen Mächten gedrängt, darüber klar werden, daß sie anders sind, als die Andern, daß sie nicht zum Weibe neigen und an den Mann fixiert sind. Jetzt bekommt alles eine kritische Spitze. Die Umgebungskultur verwirft diese Fixierung, und hier liegt der Wendepunkt. Entweder, das Bewußtsein wird mit der einmal erkannten invertierten Richtung fertig, es erträgt sie, bejaht sie und nötigt ihr eine Kultur auf; oder: es schreckt vor ihr zurück und macht einen ungeheuren Verdrängungs-Anlauf. Ich habe beide Vorgänge an genügend vielen Beispielen studieren können; im ersten Falle resultierte der Männerheld auf Lebenszeit, der zweite Fall entwickelte sich anders. Er will die Verdrängung um jeden Preis, er will es nicht wahr haben, daß er einer invertierten Triebrichtung unterliegt und drängt sich mit Gewalt zum Weibe durch, nicht ohne vorher den Versuch zu machen, die alten naiv-erotischen Beziehungen zu den jüngeren Kameraden in einen mehr sachlichen Ton zu bringen und die Bestrebung für die Jugend überhaupt als lediglich von idealen Erwägungen abhängig darzustellen. In jener Zeit, als die deutsche Wandervogelbewegung von einem großen Verdrängungskampfe erzitterte, schossen die "Ideale" wie Pilze aus dem Boden und wurden mit aller Heftigkeit betont; sie waren nichts, als die Petrefakte alter Triebregungen der irre gewordenen Männerhelden, die jetzt Anschluß an das Weib suchten. Die innigeren Beziehungen zum eignen Geschlechte werden nun immer mehr als "Jugenddummheiten" betrachtet, während sie früher den ganzen psychischen Inhalt ausmachten, ja, es kommt soweit, daß die Freundschaft als ein "Gespenst" verlacht wird, (ein Gespenst, vor dem sich die Verdränger allerdings sehr fürchteten); der Weg zum Weibe wird mit immergrößerem Ernste beschritten. Ich kann nachweisen, daß das Mädchenwandern im Wandervogel, das während der ersten Vorpostengefechte des großen Verdrängungskampfes aufkam, zuerst häufig gerade von stark Invertierten befürwortet wurde. – Soweit geht es einigermaßen, der geborene Männerheld glaubt wirklich, durch ein sexuelles Scheingefecht "normal" zu werden, und einige siegreiche Erfahrungen mit dem Weibe scheinen ihm hierfür den Freibrief zu geben. Aber da stehen auf einmal die entschlossenen Männerhelden auf und sagen: "Die ganze Jugendbewegung beruht auf der Inversion!" Andere, die die Inversion nur von früher her kennen, stimmen ein und sagen, man müsse sie kultivieren. Und mit diesem Augenblicke bricht eine fanatische Verfolgungswut von seiten der Verdränger aus, die vorgeblich den Weg zum Weibe schon gefunden haben. Alles, was irgendwie invertiert ist, wird mit wahrer Gier aus dem Bundesleben verbannt. Versammlungen mit extravaganter Verfolgungsstimmung tagen, und Schande und Verbrechen wird auf alle die herabbeschworen, die Liebe zum eignen Geschlecht haben. Jede feinste Regung, die man früher zollfrei passieren ließ, wird grob sexualisiert und an den Pranger gestellt –Da haben wir den Sittlichkeitsfanatiker.

Es ist ja kein Zweifel: dieser Typ war Jahre lang auf dem besten Wege (wie er meinte), sich von der Inversion loszureißen, die Verdrängung war halb und halb gelungen: da auf einmal werden sie wieder durch junge Stürmer an die verdrängten Triebregungen erinnert; diese brechen spontan aus dem Unbewußten hervor, aber nun nicht mehr als Lust, sondern als Angst. Diese Art von Angst, die man dem Typ vom Gesicht ablesen konnte, ist weiter nichts als umgesetzte Sexualität. Von ihr können sie sich nur befreien, indem sie sich zusammenscharen und laut die sexuelle Reinheit proklamieren; damit können sie die Angst bei sich übertönen und kommen sich selbst nun als Helden und völlig gesunde Menschen vor. Natürlich ist es nichts damit, denn am andern Tage kommt der Katzenjammer unweigerlich nach. Nebenbei werden sie durchweg Neurastheniker.

Ich will nicht vergessen, zu bemerken, daß es natürlich denselben Vorgang auch auf dem heterosexuellen Gebiet gibt. Die Verdrängung heterosexuellen Materials und sein ungewolltes AnsLichtziehen wirkt genau 80. Wir können daher von jedem Menschen, der in einer bestimmten Form der Begeisterung von sexueller Reinheit spricht–man muß sie natürlich gesehen haben, um sie zu kennen, aber man hört und sieht sie alle Tage– mit Sicherheit annehmen, daß er selbst durchaus nicht rein ist, sondern gerade heftiger, als seine zu belehrenden Zuhörer an verdrängten sexuellen Komplexen zu leiden hat. Warum regt er sich auch sonst so auf? Der Sittlichkeitsfanatiker tut weiter nichts, als daß er Mitkämpfer für seinen eigenen Kampf sucht, der ihm zu schwer geworden ist. Er muß es sich immer wieder von der jubelnden Menge sagen lassen, daß die "Sittlichkeit" (d. h. der Verdrängungsbefehl) schließlich doch durchdringen werde. Ein Mensch, der mit seinem sexuellen Leben in Frieden ist, der es kennt und ordnen kann, regt sich nicht darüber auf, am wenigsten in der Öffentlichkeit. Er weiß, daß die Sexualität, wenn richtig angewandt, nur Segen bringen kann, und hat wenig Sinn für das meistenteils so wie so schon minderwertige Menschenmaterial, das an ihr zugrunde geht.

Ich hatte in meiner Monographie: "Die deutsche Wandervogelbewegung als Phänomen" (Verlag B. Weise. Tempelhof-Berlin 1912.) den Typ des Sittlichkeitsfanatikers auf invertierter Grundlage dem Typ des Männerhelden entgegengestellt und ihn als den "Verfolgungstyp" bezeichnet; den ganzen Vorgang, dersich seinerzeit im Wandervogel en masse abspielte, nannte ich die ,neurotische Erkrankung der Wandervogelbewegung. Damit wollte ich sagen, daß gerade diejenigen, die sich für "gesund" hielten und dies mit Begeisterung proklamierten, die Kranken waren, die Psychoneurotiker, und die verfehmten Männerhelden die Gesunden. Freud äußerte sich in dem Sinne, daß er die Bezeichnung "Neurotiker" für diesen Verfolgungstyp nicht für korrekt hielte.

Die entsprechenden Neurotiker sind die "Verfolgten", die Paranoiker. Von dieser Seite her würden Sie eine Unterstützung Ihrer Ansicht von der Bedeutsamkeit der Homosexualität finden, wenn Sie in einer kleinen Arbeit, die ich Ihnen einschicke, die Herleitung der Paranoia aus der Homosexualität in Kenntnis nehmen würden." (Brief an den Verf.)

Die genannte Arbeit ist der berühmte "Fall Schreber", auf den ich noch weiter unten genauer zu sprechen kommen werde. Nach Freuds Auffassung verhalte sich der eigentliche Verfolgungsneurotiker (Paranoiker) so, daß er eine ehemalige Neigung zu einem Wesen des gleichen Geschlechts (das natürlich schon im infantilen Stadium durch den Vater vertreten sein muß) durch einen Protest in Haff umwandelt und nun diese ªmit negativem Vorzeichen versehene Libido" von außen kommen (Projektion) und sich von einem bestimmten Vertreter getragen gegen ihn, den nunmehr "Verfolgten. wenden läßt. Ich wandte damals ein, daß ich doch wohl Recht hatte, meinen Verfolgungstyp "Neurotiker" zu nennen und ihm neben diesen Paranoiker als Pendant zu stellen, weil ja alle Affekte in Gegensatzpaaren auftreten, von denen immer der eine aktiv, der andere passiv sei, (Sadismus-Masochismus, Voyeur-Exhibitionist usw.). Heute aber möchte ich doch lieber die Waffen strecken und mich Freuds besserer Einsicht fügen. Ich hatte mich damals von einem schönen Wort verführen ]lassen, denn ich sah eins nicht und verwechselte etwas der Verfolgungswahn Schrebers ist in der Tat ein neurotisches Symptom und trägt das Charakteristische davon an sich: daß es selbst nicht direkt sexuell ist, sondern gerade das "Negativ" der betreffenden Perversion. Das Verfolgen des Sittlichkeitsfanatikers aber ist noch kein neurotisches Symptom, sondern nichts weiter, als ein verbreiterter Verdrängungsvorgang.– Es handelt sich ja hier, wie gesagt nur um eine terminologische Streiffrage, die allerdings bei der Neurosenlehre sehr genau genommen werden muß, nicht aber um ein Verkennen des Pathologischen in diesem Vorgang selbst (dies hat mir Freud auch nicht vorhalten wollen) Ich hatte mit Recht die Verfolgung der Männerhelden durch jene Verdränger eine Verlegung des inneren Kriegsschauplatzes nach außen genannt. Der "Verfolger" in meinem Sinne verfolgt nach außen genau dasselbe bei andern, was er nach innen bei sich selbst verfolgt. Aber gerade diese Verfolgung ist noch kein neurotisches Symptom, und wenn sie trotzdem Neurotiker waren, so muß man sie wegen des dauernd bei ihnen vorliegenden aktuellen Materials Neurastheniker nennen mit Einschlägen in die Angstneurose. Für diese Aktualität habe ich noch vor kurzem ein halb Jahr nach Abfassung der Monographie deutlicheres Material durch einen Arzt bekommen, dem einer der hervorsiechendeten Verfolgerin vertraulichen Stunden seinen Kampf zwischen homosexuellem und heterosexuellem Empfinden (das letztere war wohl nur konventionell) mitgeteilt hatte, ein Kampf, der mit der Verunglückung nach beiden Seiten geendet hat.

Diese Form der latenten Inversion, die den Sittlichkeitsfanatiker schafft und von einer bestimmten Art der Verdrängung herstammt, ist ziemlich häufig und ist auch nicht schwer zu durchschauen. Anders steht es mit Fällen, in denen die Verdrängung den automatischen Charakter gehabt hat, wobei starke Reste infantilen Materials unerledigt übrig blieben. Hier kommt die Inversion nur in verstecktester Form zum Vorschein. Als Beispiel sei hier zunächst der obenerwähnte Fall Schreber angeführt. Der Senatspräsident Dr. Schreber erkrankte an einer Dementia paranoides und veröffentlichte nach seiner Entlassung aus der Anstalt seine "Denkwürdigkeiten", durch die aber noch durchaus paranoider Geist weht. Aber dieser Geist nimmt einen hohen Flug, und wir haben hier die Bekenntnisse eines genial veranlagten Menschen vor uns, von dem man in einer anderen Neurose oder bei relativer Gesundheit viel hätte erwarten können; leider aber konnte ihm nur dieses Schicksal die Zunge lösen. Der paranoide Wahn Schrebers gruppiert sich um zwei Grundthemen: um den Gedanken, daß ihm eine Welterlöserrolle beschieden sei, die demnächst in Erfüllung gehen müsse und dem Gedanken der Verwandlung in ein Weib, gleichfalls zu kosmischen Zwecken. Freud hat im dritten Bande des "Jahrbuchs für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen" (Verl. DeutickeWien) diesen Fall nach den "Denkwürdigkeiten" analysiert. Der eigentümliche Wunsch der "Verwandlung in ein Weib" deutet schon ohne weiteres auf eine zugrundeliegende feminin-invertierte Phantasie, die aber ganz und gar nicht aus dem Bewußtsein stammt und von diesem nach dem üblichen Zensur-Schema, das man aus der Traumdeutung kennt, als zu Welterlösungszwecken erforderlich hingestellt wird. Dr. Schreber war ein verheirateter angesehener Mann im hohen Staatsdienst, dem jede homosexuelle Regung fern stand und der überhaupt in sexueller Beziehung ein durchaus einwandfreies Leben geführt hat. Die femininhomosexuelle Regung ist indessen nicht abzuleugnen, kommt sie doch bis zu der Steigerung, daß der Patient behauptet, er müsse – immer zu Welterlösungszwecken!–von einem andern geschlechtlich mißbraucht werden und dieser andere kann natürlich nur ein Mann sein und letzten Endes und im letzten Stadium–Gott selbst. Ursprünglich war es aber, wie Freud nachweist, sicherlich der ehemalige Arzt Schrebers’ dem er seinerzeit sehr zugetan war und dessen Verhältnis zu ihm sich dann von seiner Seite aus plötzlich grob sexualisiert hatte; letzten Endes aber rührt diese Inversionsneigung vom eignen Vater her. Die Inversion schafft sich hier (im Unbewußten!) immer neue Objekte bei steter Steigerung der Libido, während das Bewußtsein nach dem Weibe strebt Freud gibt dann noch einen besonderen psychischen Mechanismus der Paranoia überhaupt an, der diese Neurose in einen prinzipiellen kausalen Zusammenhang zur latenten Inversion bringt, und seine Auffassung hat sich auch später, besonders durch die Forschungen seines Schülers Ferenzi noch an anderen Fällen bestätigt.

Es liegen bei dieser Form der latenten Inversion entschieden Entwicklungshemmungen vor, und zwar ein Stehenbleiben in der Narzißphase einerseits (die Steigerung des Persönlichkeitswertes bis zum Welterlöser) und andrerseits bei der Inversionsphase selbst, wobei sich hiernoch eine weibliche Affektlage einwischt. Und hier liegt die entscheidende Stelle für die latente Inversion: das Bewußtsein schreitet in der Richtung auf das Weib fort, aber die unbewußten Wunschstrebungen bleiben am Manne hängen und beeinträchtigen die heterosexuelle Komponente. Der Patient weiß in seinen gesunden Tagen nichts davon, daß er im Grunde invertiert ist. Freud schreibt hierüber (Seite 53–54): "Untersuchungen der letzten Zeit haben uns auf ein Stadium der Entwicklungsgeschichte der Libido aufmerksam gemacht, welches auf dem Wege vom Autoerotismus zur Objektliebe durchschritten wird. Man hat es als Narzissismus bezeichnet; ich ziehe den vielleicht minder korrekten, aber kürzeren und weniger übelklingenden Namen Narzißmus vor. Es besteht darin, daß das in der Entwicklung begriffene Individuum, welches seine autoerotisch arbeitenden Sexualtriebe zu einer Einheit zusammenfalt, um ein Liebesobjekt zu gewinnen, zunächst sich selbst, seinen eignen Körper zum Liebesobjekt nimmt, ehe es von diesem zur Objektwahl einer fremden Person übergeht. Eine solche zwischen Autoerotismus und Objektwahl vermittelnde Phase ist vielleicht normalerweise unerläßlich; es scheint, daß viele Personen ungewöhnlich lange in ihr aufgehalten werden, und daß von diesem Zustande viel für spätere Entwicklungsstufen erübrigt. An diesem zum Liebesobjekt genommenen Selbst können bereits die Genitalien die :Hauptsache sein. Der weitere Weg führt zur Wahl eines Objektes mit ähnlichen Genitalien, also über die homosexuelle Objektwahl zur Heterosexualität. Wir nehmen an, daß diespäter manifest Homosexuellen sich von derAnforderung der den eignen gleichen Genitalien beim Objekt nie frei gemacht haben, wobei den kindlichen Sexualtheorien, die beiden Geschlechtern zunächst die gleichen Genitalien zuschreiben, ein erheblicher Einfluß zukommt."

Diesen letzten verallgemeinernden Satz mochte ich in eben seiner allgemeinen Bedeutung nicht zugeben. Es ist ja selbstverständlich richtig und einfach ein analytisches Urteil (im kantischen Sinne), daß bei den Homosexuellen die Tatsache des Vorhandenseins der Sexualorgane des eignen Geschlechtes conditio sine qua non für die Objektwahl ist, aber von einem "Nicht-freimachen-können" hiervon und zwar mit der Bedeutung eines pathogenen Momentes kann doch nur dann die Rede sein, wenn das Frei-sein-wollen das sexuelle Thema des Bewußtseins ist. Für den Fall Schreber trifft das ohne weiteres zu, und überhaupt für die ganze Gruppe der latent Invertierten, für den Männerhelden und auch für den invertierten Weibling aber ganz gewiß nicht. Hier besteht die sexuelle Autorität des Weibes nicht, hier gibt es kein "Freimachen", und das Haften am eignen Geschlecht als Sexualobjekt ist kein pathologisches Moment, sondern eben der einzig normale Vorgang. Der Weg führt ohne Hemmung vom Autoerotismus über den Narzißmus zum invertierten Alloerotismus.

Die Formen der verschiedenen unbewußten Fixierungen ans eigne Geschlecht sind sehr verschieden und treten in der psychoanalytischen Literatur sehr zahlreich auf. Fast immer spricht der Familienkomplex das stärkste Wort, d. h, wir haben es mit infantilen Menschen zu tun, deren entscheidendes Erlebnis der Vater oder der ältere Bruder war. Aber auch ein Steckenbleiben in invertierten Pubertätserlebnissen kommt vor, und hierher gehört auch zum Teil der unter den Männerhelden erwähnte Fall des jungen Schullehrers, der sich beim Beginn seiner Karriere verheiratet, ohne zu wissen, daß er ans männliche Geschlecht fixiert ist und daß eben diese Tatsache seine Berufswahl bestimmt hat.–Einen besonders interessanten Fall, den ich nicht übergehen möchte, hat der Freudschüler C. G. Jung in seiner kleinen und geistvollen Schrift "Die Bedeutung des Vaters für das Schicksal des Einzelnen " (Deuticke Wien 1909) veröffentlicht. Man sieht hier die Vaterund Bruderfixierung, die den hetero sexuellen Triebast fast ganz verkümmern läßt, mit aller Deutlichkeit am Werke. Jung schreibt (S. S): "(Zweiter Fall.) 34 jähriger Mann von kleiner Statur und klugem, gutmütigem Gesichtsausdruck. Er ist leicht verlegen, errötet öfters. Patient kommt zur Behandlung wegen "Nervosität. Er sei sehr reizbar, leicht ermüdbar, habe nervöse Magenstörungen, oft tief verstimmt, so daß er schon öfters an Selbstmord gedacht habe. Bevor der Mann in meine Behandlung trat, hat er mir ein umfängliches Schriftstück, eine Autobiographie, oder vielmehr seine eigene Krankengeschichte zugesendet, um mich auf seinen Besuch vorzubereiten. Seine Geschichte hub folgendermaßen an: "Mein Vater war ein sehr großer und starker Mann." Dieser Satz rief meine Neugier wach; ich schlug eine Seite um, und da stand auch schon: "Als ich 15 Jahre alt war, nahm ein großer l9jähriger Bursche mich mit in den Wald und verging sich sittlich an mir.’

Die vielen Lücken der Krankengeschichte veranlaßten mich, eine genauere Anamnese von dem Manne zu erheben, die zu folgenden bemerkenswerten Ergebnissen führte:

Patient ist der jüngste von 3 Brüdern. Der Vater, ein großer, rothaariger Mann, war ein ehemaliger Soldat der päpstlichen Schweizergarde, später war er Polizist geworden. Er war ein strenger, bärbeißiger Militär, seine Söhne erzog er mit militärischem Drill; er kommandierte, rief sie nicht beim Namen, sondern pfiff den Jungen. Seine Jugend hatte er in Rom verlebt und von den Stürmen jener Zeit zeugte eine Lues, an deren Folgen er noch in vorgerücktem Alter laborierte. Auch wußte er von seinen damaligen Abenteuern zu erzählen. Sein ältester Sohn (beträchtlich älter als Patient) glich ihm völlig, er war groß, stark und hatte rötliches Haar. Die Mutter war eine kränkliche, früh gealterte Frau, erschöpft und lebensmatt und starb mit 40 Jahren, als Patient 8 Jahre alt war. Patient bewahrt seiner Mutter ein zärtliches und schönes Andenken.

Als Patient in die Schule kam, war er immer der Prügeljunge und immer der Gegenstand des Spottes seitens der Mitschüler. Patient meint, sein andersartiger Dialekt trage die Schuld daran. Später kam er in die Lehre zu einem strengen und bösen Meister, bei dem er mehr als 2 Jahre unter den kärglichsten Umständen aushielt, was ihm keiner der anderen Lehrjungen nachmachte, denn alle liefen sie vorher davon Mit 15 Jahren passierte das obenerwähnte Attentat, an das sich noch einige kleinere homosexuelle Extravaganzen schlossen. Dann verschlug ihn das Schicksal nach Frankreich. Dort machte er die Bekanntschaft eines Südfranzosen, eines großen Renommisten und Sexualhelden. Der schleppte ihn ins Bordell, wohin Patient widerwillig ging, bloß weil er sich vor dem anderen genierte. Er war dort auch impotent. Später kam er nach Paris, wo sein ältester Bruder (das Abbild des Vaters) Malermeister war und ein liederliches Leben führte. Dort blieb Patient lange bei schlechtem Lohne und half mitleidig seiner Schwägerin. Der Bruder schleppte ihn oft ins Bordell und immer war Patient impotent. Einmal verlangte der Bruder von ihm, er solle ihm sein Erbteil, 6000 Franken geben. Patient beniet sich vorher mit dem zweiten Bruder, der ebenfalls in Paris war. Der riet ihm dringend ab, dem Bruder das Geld zu geben, weil er es doch nur verlottere Darauf ging Patient hin und gab dem Bruder sein Erbe und der verjubelte es binnen kurzem. Und der zweite Bruder, der abgeraten hatte, fiel dabei auch noch mit 500 Fr. herein. Auf meine erstaunte Zwischenhage, warum er denn dem Bruder das Geld so leichten Herzens ohne Garantie gegeben habe, meinte er: Er habe es eben verlangt, das Geld reue ihn nicht im geringsten; er würde ihm noch einmal 6000 Franke D geben, wenn er sie hätte. Der älteste Bruder kam ganz herunter, und seine Frau ließ sich von ihm scheiden. Patient ging wieder in die Schweiz zurück und war 1 Jahr ohne regelmäßigen Verdienst und oft ]litt er Hunger. In dieser Zeit lernte er eine Familie kennen, in der er viel verkehrte. Der Mann war ein verschrobener Sektierer und Heuchler und vernachlässigte die Familie. Die Frau war ältlich, krank und schwach und zu alledem in der Hoffnung. Es waren 6 Kinder da und es herrschte große Armut. Zu dieser Frau falte Patient eine warme Zuneigung und teilte mit ihr das wenige, das er besaß. Die Frau klagte ihm ihr Leid und sagte ihm, daß sie im Wochenbett sterben werde. Da versprach er ihr, (er, der gar nichts besaß), die Kinder zu sich zu nehmen und zu erziehen. Die Frau starb richtig im Wochenbett. Das Waisenamt mischte sich jetzt aber drein und ließ dem Patienten nur 1 Kind. Er hatte nun ein Kind, aber keine Familie, und konnte natürlich das Kind allein nicht aufziehen. Er kam daher auf den Gedanken, zu heiraten. Da er sich aber bis dahin überhaupt noch nie in ein Mädchen verliebt hatte, so war er in großer Verlegenheit. Da fiel ihm ein, daß sein älterer Bruder sich von seiner Frau geschieden hatte, und er beschloß, sie zu heiraten. Er schrieb der Frau nach Paris seine Absicht. Sie war zwar 17 Jahre älter als er, aber dem Plane nicht abgeneigt. Sie lud ihn ein, zur Besprechung der Sache nach Paris zu kommen. Am Abend vor der Abreise aber wollte es das Schicksal, daß er sich einen großen eisernen Nagel durch den Fuß trat, so daß er nicht reisen konnte. Nach einiger Zeit, als die Wunde geheilt war, reiste er doch, und fand, daß er sich seine Schwägerin und jetzige Braut doch jünger und schöner vorgestellt hatte, als sie in Wirklichkeit war. Die Hochzeit fand statt und ein Vierteljahr später der erste Koitus auf Initiative der Frau. Er selber trug kein Verlangen danach. Sie erzogen nun zusammen das Kind, er auf schweizerisch, sie auf pariserisch, da sie eine Französin war. Als das Kind 9 Jahre alt war, lief es einem Velofahrer ins Rad und wurde getötet. Da wurde es dem Patienten sehr einsam und sonderbar zu Hause. Er schlug seiner Frau vor, sie wollten eine junge Magd ins Haus nehmen, worauf sie in wilde Eifersucht ausbrach. Da zum erstenmal in seinem Leben verliebte er sich in ein junges Mädchen und zugleich setzte die Neurose ein mit tiefer Depression und nervöser Erschöpfung, denn sein Leben zu Hause war mittlerweile zur Hölle gediehen.

Mein Vorschlag, sich von der Frau zu trennen, wurde rundweg abgelehnt mit der Begründung, das könne er nicht auf sich nehmen, daß die alte Frau wegen ihm noch unglücklich würde. Er zieht also offenbar vor, sich noch weiter quälen zu lassen, denn die Erinnerung an seine Jugend scheint ihm lieber zu sein, als alle Freuden der Gegenwart."

Soweit Jung. In einer Epikrise führt er noch an, daß das ganze Leben des Patienten beherrscht sei von der dominierenden masochistisch-homosexuellen Einstellung zum Vater. In der Sprache dieser Abhandlung würde die Diagnose etwa lauten: das infantile Dauer-Trauma, das im Verhalten des robusten Vaters und älteren Bruders lag, hat seine androgyne Veranlagung nach der weiblichen Seite hin beeinflußt, indem es sein Affektleben passivisierte und ihm die männliche Einstellung, die ihm seinem Geschlechte nach zukam, verdarb; ferner wurde seine Bisexualität nach der invertierten Richtung hin beeinflußt, während gleichzeitig eine automatische Verdrängung dieser verstärkten homosexuellen Komponente . . (wahrscheinlich erleichtert durch die weibliche Affektlage) eintrat; der Erfolg war daher eine starke latente Inversion, die den Weg zum Weibe, der im Bewußtsein als maßgebend galt, unmöglich machte oder doch nur ganz mühsame und kümmerliche Resultate ermöglichte.

Hier stehen wir vor der He ilungs f rage. Die Antwort liegt auf der Hand: man kann nur Krankheiten heilen, Triebe aber nur beherrschen. Die Krankheit aber ist immer nur das neurotische Symptom, nicht aber der verdrängte Trieb, und die Psychoanalyse hat sehr wohl die Möglichkeit, nach Abtragung der psychischen Überlagerungen in den Grundtrieb einzudringen und diesen dann dem Patienten zur Beherrschung in die Hand zu geben. Aber es ist unsinnig, den Trieb selbst vernichten zu wollen. E nihilo fit nihil et nulla res in nihil permutari potest. Wenn der Invertierte an seinem Triebe leidet, so liegt das allein an dessen momentaner Unverträglichkeit mit der Umgebungskultur, und die einzige Therapie, die bei manifester Inversion möglich ist, besteht in der Stärkung des Persönlichkeitsgefühles.–Auf einen Fall möchte ich hier noch hinweisen, den ein Freudschüler vor kurzem in einer Versammlung vortrug, den ich aber nicht aktenmäßig genau bekommen konnte; ich zitiere daher nach dem Gedächtnis und hebe nur das Bemerkenswerte hervor: Ein junger Mann, nennen wir ihn L. W. will sich verloben, und im Augenblicke, wo er dies den Eltern mitteilt, bricht Homosexualität aus, die ihm bisher unbekannt war. Darauf natürlich auch neurotische Komplikationen. Die Analyse ergab eine starke infantile Inzestbindung an die Mutter; dieser war im ersten Verdrängungsstadium als Überkompensation ein starker Anschloß an den Vater gefolgt, der das Urbild latenter Inversionsphantasien abgab. Die bewußte Libido hatte sich auf das Weib gerichtet; als aber die Braut {die offenbar deutlicher dem Mutter-Typ entsprach, als alle früheren Mädchen) Sexualobjekt werden sollte, geriet Patient in den alten infantilen Inzestkomplex hinein’ dem als Überkompensation nun gleichfalls die Inversion folgte, die sich jetzt natürlich auf andere männliche Objekte richtete und die auch die dritte, die Detumescenzphase, erreichte. Auch in einem solchen Falle verspricht die Psychotherapie natürlich Heilung. Ich habe diese psychiatrischen Dinge nicht deshalb hier angeführt, um auch hierüber &U reden. Mein Hauptaugenmerk liegt nicht auf therapeutischem Gebiet, sondern auf kulturellem. Ich habe versucht, bei jeder der Grundformen der Inversion die Frage zu beantworten: in welchem Sinne kann das AllgemeinMenschliche durch die Anerkennung (nicht Toleranz) der Inversionsneigung wachsen? Man sieht nun an dieser dritten Grundform, daß ihre Träger eine durchaus fallende Tendenz haben. Die latente Inversion, die sicherlich verbreiteter ist, als man ahnt, muß also, das fordert die Kultur (und nicht das Heilungsbedürfnis des Einzelnen) durch therapeutische Eingriffe zunächst in eine manifeste verwandelt werden, die dann, je nach der Stärke und ihrer Lage zwischen den Gemütswerten, kultiviert oder beherrscht oder verabschiedet werden kann.

Aber es eröffnen sich noch weitere für die Kultur wertvolle Gesichtspunkte, die hier nicht auf Konstruktives, sondern auf Prophylaktisches weisen. Wir haben nämlich aus dem Fall Schreber sowohl, wie aus dem letzt’ genannten Fall L. W. gesehen, daß Homosexualität ausbrechen kann, und zwar in einem Sinne, der die Kulturfähigkeit des Betroffenen zerstört, weil sie dessen Persönlichkeit spaltet. Bekanntlich hat die frühere rein humanitäre Periode der homosexuellen Frage die Toleranz dadurch zu fördern versucht, daß sie sich auf den Standpunkt stellte, Homosexualität sei nicht Laster, sondern eine angeborene Triebrichtung. Und dies stimmt auch völlig für den Männerhelden und den invertierten Weibling. Für unsere dritte Grundform aber bedarf der Standpunkt einer Korrektur. Man kann nämlich heute nicht mehr sagen, die Homosexualität oder die Heterosexualität seien angeboren, sondern vielmehr nur: die Bisexualität ist angeboren, und zwar bei jedem Individuum mit Prävalenz einer der beiden Richtungen.

Dies hindert also nicht, daß die nicht-prävalente Richtung unter bestimmten anormalen Verhältnissen eine derartige Verstärkung erlangt, daß sie allein im Vordergrunde steht. So referierte vor kurzem Herr Dr. W. Hammer, nach eignen Erfahrungen als Arzt, daß überall, wo zwangsweise viele Personen des gleichen Geschlechtes längere Zeit zusammen sein müssen, zahlreiche Ausbrüche von Homosexualität bei sonst ganz als heterosexuell bekannten Menschen stattfanden. Spezialfälle, bei denen gerade 50 Proz. invertierte und 50 Proz. heterosexuelle Triebrichtung in Frage kommen, ergeben dann, wenn nach außen gerichtet, den vollpotenten Bisexuellen, nach innen (bei Neutralisierung der beiden Richtungen und Regression in ein infantiles Stadium) den Narziß. Die sexuelle Kultur eines Individuums besteht nun darin, daß diejenige Triebrichtung, auf der die Gemütswerte liegen, im gesamten Umfange der drei sexuellen Phasen ausgebaut wird, während der anderen Richtung die Detumescenz und die präludiale Kontrektation versagt werden. Dieses Versagen tritt dann entweder im Sinne der automatischen oder der bewußten Verdrängung ein

Die überwiegende Mehrzahl des Volkes empfindet nun die heterosexuelle Triebrichtung als den Grundpfeiler ihrer Gemütswerte und dementsprechend dann die Detumescenzpartie der homosexuellen als Abirrung. Umgekehrt gilt dasselbe: der Invertierte empfindet den sexuellen Verkehr mit dem Weibe als Abirrung. (Ich betone dies ausdrücklich und versichere, daß ich diese Tatsache aus Erfahrung an Männerhelden kenne.) Man kann also für den Frauenhelden den heterosexuellen, für den Männerhelden den invertierten Sexualverkehr für den normalen und zuträglichen ansehen. In beiden Fällen liegen die perversen Regungen der Kindheit im Unbewußten und sind gut verdrängt, ohne Gefahr, wiederzukehren. Auf ihnen ruht der Verdrängungsbefehl der selbstbewußten Persönlichkeit und des Kulturgedankens als Hemmung.–Wie aber nun, wenn auf einmal diese Hemmung gelöst wird? Wir wissen, daß dies z. B. der Alkohol kann, und daß oft die absonderlichsten Fälle von gelegentlicher Homosexualität bei sonst bewiesenen Heterosexuellen vorkommen. An dieser Tatsache darf mau nicht mit dem leichtfertigen Ausdruck "Pseudohomosexualität" vorüber. In der Natur gibt es kein ??????? und wenn sie einen homosexuellen Akt produziert, so hat sie stets ihre guten Gründe dazu. Hebt nun der Alkohol gelegentlich beim Einzelnen den Persönlichkeitswert, den Kulturwert, auf und mit ihm die sexuellen Hemmungen, so kann dieser Prozeß sich auch auf ein ganzes Volk ausdehnen,, und schlechte Rassenmischung, Verelendung, Engzucht, Völlerei, Nichtstun und alle anderen Momente eines sinkenden Volkswesen können hier dieselbe Rolle spielen. Mit einem Wort: Es gibt Homosexualität nach Übersättigung am Weibe. Diese Ansicht wurde vor einigen Jahren noch verlacht und ich muß mich hier zu den Mitschuldigen rechnen. Es ist aber nach den Aufschlüssen, die uns die Psychoanalyse gegeben hat, durchaus wahrscheinlich und auch theoretisch sonnenklar, daß die typische Wüstlingsfigur nach völliger Ausgenießung des Weibes und nach Aufhebung aller kulturellen Hemmungen eine Regression in der Libido machen kann und nun auch auf den Gedanken kommt, Knaben zu mißbrauchen. Er tut dann weiter nichts, als was Schreber in seiner Krankheit tut, wenn er eine alte feminin-homosexuelle Wunschphantasie aufgreift und verstärkt. Er tut weiter nichts, als was dem Normalen oft genug im Traume passiert: daß alte invertierte Regungen der Kindheit, die bewußtseinsunfähig geworden sind, wieder erstehen, nur mit dem Unterschied, daß der normale Träumer darauf meistens mit Angst reagiert, während der Lüstling neue Lust hinzuproduziert. Er tut dies aus Prinzip und im Überschwang seiner Kulturlosigkeit.

Und damit haben wir die Lustpsychologie des römischen Kaisertums und seiner Kultur. Hier entstand der päderastische Einbruch einfach durch das Aufheben der Hemmungen’ und er ist in der Tat als ein Dekadencesymptom zu bezeichnen. Die hellenische Inversion dagegen, die ihre reifste Frucht zur Zeit der höchsten Entfaltung der Volkskraft trug, ist hiervon psychologisch und sexuologisch ganz und gar verschieden. Diese ist naturwüchsig und sie wächst mit wachsendem Volkstum, sie ist n icht aus der Versenkung des Unbewußten durch eine Aufhebung der Hemmungen emporgestiegen. Wir haben hier zwei ganz verschiedene Kulturen vor uns, die man nie mehr miteinander verwechseln darf. Und das gilt auch selbstverständlich für jedes andere Volk, das irgendwie mit der Inversion in einen Kultur-Konflikt kommt. So auch für das deutsche. Die Inversion, wie sie z. B. in der deutschen Wandervogelbewegung zutage trat, gehörte in die erste Rubrik: sie war kulturtragend und naturwüchsig. Die der üblichen Großstadt-Dekadence, die man bisher in der Öffentlichkeit nur kannte, in die zweite, die ihr Musterbeispiel in der kaiserlichen Römerkultur findet.

– Ende.–