Peter Orban
Dezember

(Ein Kriminal-Roman)

 

Ort der Handlungen:
Frankfurt am Main und Itzehoe.

Zeit:
Freitag, 20. Dezember 1953 bis Sonntag, 12. Januar 1954

personae dramatis:
- Hermann Maria Wolff - ein Opfer - von anfang an
- Hannelore Maria Wolff - die Mutter von Hermann.

Die Zeitungsleute:
- Wolfgang Stein, Chefredakteur - ein Zyniker
- Robert Saalwächter, stellvertr. Chefredakteur - rechte Hand eines Zynikers
- Gustav Hinz (Politik - auf ihn fällt eine Wand, so daß ihm ein Ohr fehlt
- Heinz Falkenstein, (Lokales) - bricht sich die Hand und redet ziemlich klug daher
- Ernst Wyssmann, („Chef"der Wochenendbeilage) - faßt sein Leben irgendwie falsch an
- Gabriele Kleinschmidt, (Sekretärin) - hat einen direkten Draht zur Polizei

 

Die Polizisten:
- OttoKrammer, Kriminalobersekretär - weiß nicht genau Bescheid, ist permanent unsicher - hat es mit Guillotine
- Olaf Weichmann, Kriminalsekretär - versteht sein Metier aus dem ff, merkt schnell, daß etwas faul ist
- Helmut Dierkes,Kriminalassistent - ist ein typischer Polyp und wird ziemlich hart gerempelt
- Michael Klee, Kriminalassistent auf Probe - wird Zeuge eines versuchten Kindesmordes, an einem Kind, das bereits 14 Tage tot ist
- Friedhelm Stolze, Kriminalsekretär - leitet die Abt."Kalauer" beim ED

 

Ferner wirken mit:
Kriminaldirektoren, Feuerwehrleute, Bombenentschärfer, Redakteure, Staatsanwälte, Amtsärzte, Professoren, Graphologen, Herausgeber, Spitzel, Schreibmädchen, Angestellte, Leichenträger, Polizeiphotographen, Polizeipräsidenten, Hausfrauen und Pastorenfrauen

 

 

1

 

Es ist Freitag, der 20. Dezember 1953, es ist kurz nach 10 Uhr morgens.

In den Redaktionsräumen des "Frankfurter Tagesanzeigers" hat die Arbeit an der Wochenendausgabe noch nicht begonnen. Es sind noch längst nicht alle Redakteure im Haus, die Hektik beginnt erst am frühen Nachmittag und die Anweisung des alten Bessheimer lautet präzise: "Um elf beginnt bei mir die Presse".

Das ist Gesetz für die Redakteure.

Hermann, der Bürobote verteilt mit seinem Rollwagen die Post auf die Schreibtische und geht in das Zimmer von Wyssmann, dem "Chef" der Wochenendbeilage. Die Räume sind untereinander und zum Gang hin mit großen Scheiben versehen, so daß vom Zimmer des stellvertretenden Chefredakteurs aus alle Räume eingesehen werden können. Jeder hat so Sichtkontakt mit jedem. Insgesamt gibt es 10 derartige Zellen, die alle die gleiche Größe haben und eine elfte, die etwa doppelt so groß ist. In ihr steht Robert Saalwächter und telephoniert.

Falkenstein von der Lokalredaktion und Hinz aus der "Politik" besprechen - die Kaffeetassen auf den Knien - die gestrige Redaktionssitzung.

"Ich hab' jedenfalls keine Ahnung, was der Alte will. Wir sollen recherchieren und dann, kurz bevor das Ganze als Aufmacher kommen soll, wird alles weggepackt, einfach ins Klo, runtergespült. So!"

Er macht die Bewegung des Abziehens.

"Mensch, Heinz, mach dir nichts vor ..."

 

In diesem Moment bricht die Hölle los.

 

Es gibt einen ungeheuren Knall und einen Augenblick lang glaubt Gustav Hinz, die Zeit bleibe einfach stehen und er befinde sich inmitten einer riesigen, unglaublichen Stille, doch dann merkt er, daß alle möglichen Gegenstände auf ihn zugeschleudert werden und sogleich beginnt auch die Zeit wieder zu verstreichen.

Aus den Augenwinkeln sieht er, wie eine Wand mit großer Geschwindigkeit auf ihn niedersaust. Er wundert sich, daß sie auf ihn fällt und ihn doch nicht erreicht.

Als wäre es ein Stummfilmszenario fällt das leere Fenster über ihn. Erst jetzt nimmt er das Zerspringen von Glas und das Bersten von splittrigem Holz wahr. Das Licht geht aus und die Räume werden fahl. Eine Frau schreit in hohen, spitzen Tönen. Hinter sich hört Hinz ein gepresstes Stöhnen. Wo eben noch Heinz Falkenstein gesessen hat, befindet sich ein Querstreben der Wand, die umgestürzt ist. Falkenstein liegt am Ende des Raumes, seine Hand ist merkwürdig abgewinkelt, er blutet im Gesicht. Hinz merkt, wie seine Hände zu zittern beginnen und daß er immer noch die Kaffeetasse in der Hand hält. In ihr steht aufrecht ein langer Glassplitter, sie ist immer noch voll und nicht ein Tropfen ist auf der Untertasse. Langsam stellt er sie auf die Erde. Er erwartet jeden Moment, daß das Inferno von neuem beginnt, er zieht seinen Kopf tiefer in die Schultern. Visionen des Weltunterganges, eines neuen Krieges, von endlosem Leiden und langen Kolonnen von Kriegsgefangenen tauchen vor seinem Auge auf. Langsam erhebt er sich, will zu Falkenstein. Alles ist so unwirklich, als wäre es ein Film, der in Zeitlupe abläuft, nur die Frau, die immer noch schreit, bringt etwas Realität in das Ganze.

Vor ihm liegt ein Telefonhörer, den dazugehörigen Apparat sieht er nicht. Er erwacht aus seiner Trance, nimmt den Hörer und zieht an ihm den Rest des Telefons herbei, er wählt 01 und als sich die Zentrale meldet, brüllt er:

"Ruf' einen Krankenwagen!"

In diesem Moment merkt er, daß etwas mit ihm nicht stimmt. Der Telephonhörer, ans Ohr gepreßt, verursacht ein eigenartiges Gefühl. Er läßt ihn sinken und sieht, daß die schwarze Hörmuschel rotverschmiert ist. Vorsichtig fasst er nach seinem rechten Ohr. Es ist weg. Nein, er spürt es am Hals. Es hängt umgeklappt nach unten, nur noch an einem dünnen Streifen Haut. Ungläubig tastet er das gefühllosen Stückchen Fleisch ab und wundert sich, daß es sich so ganz fremd anfühlt.

Fassungslos sagt er:

"Mein Ohr ist ab. Ich werd' verrückt, mein Ohr ist ab!"

Jetzt fühlt er auch den Schmerz.

 

 

2

 

l0 Uhr 24. Die Gänge sind gefüllt mit Redakteuren, Druckern, Setzern, Schreibmädchen und Menschen aus anderen Etagen. Feuerwehrleute inspizieren die noch stehenden Wände; alles, was jetzt noch steht, scheint stabil zu sein. Hinz drückt vorsichtig ein Taschentuch ans Ohr. Falkenstein hat sich etwas aufgerichtet, zwei Leute knien neben ihm, sein Gesicht ist weiß und schmerzverzerrt. Seine Hand scheint am Gelenk gebrochen zu sein. Soeben wird die schreiende Frau, die jetzt nur noch wimmert, von zwei Krankenträgern auf einer Bahre davongetragen. Sie blutet aus Brust und Wange. Glassplitter. Die meisten Leute starren in das Zimmer, nein, ein Zimmer ist das nicht mehr, sie starren auf den Platz, an dem Wyssmanns Zelle sich befunden hatte. Beide Wände sind nach außen weggeklappt, nur die lange Wand, die den Gang bildet, steht noch, wenn auch schief.

Der Schreibtisch, auf dem Stapel von Papieren lagerten, ist vollkommen leer, das ganze Zimmer ist von einer Papierschicht überdeckt und in einer Ecke des Raumes liegt ein bewegungsloses menschliches Bündel: Hermann Wolff, der Bürobote.

Wernicke, ein Setzer, hat als erster nachgesehen:

"Da kann man nichts mehr machen."

Hinz und Falkenstein warten auf den nächsten Krankenwagen. Saalwächter, der stellvertretende Chefredakteur, sieht sich ein zweites Mal das Ohr von Hinz an. Dessen Anzug ist auf der rechten Seite blutüberströmt und eine dünne Blutspur verschwindet unter seinem weißen Kragen,

"Setz dich in ein Taxi und sieh zu, daß du ins Krankenhaus kommst. Die können dir das vielleicht wieder annähen. Du mußt nur schnell genug dasein, sonst ist das Gewebe beschädigt und kann sich nicht mehr miteinander verbinden."

Hinz kämpft mit sich. Er könnte den Aufmacher für diese ganze Geschichte schreiben und sieht im Geist schon den Untertitel:

"Geschrieben von dem verletzten Gustav Hinz".

Doch dann überwiegt seine Angst: wie mag er wohl ohne Ohr aussehen. Er stürzt nach draußen. Saalwächter schreit Gronemayer zu:

"Michael, du begleitest Gustav ins Krankenhaus, er soll dir genau beschreiben, was hier los war."

Zwei Schutzpolizisten stehen etwas hilflos herum, sie haben dafür gesorgt, daß Renate Penno, die verletzte Schreibkraft, abtransportiert wurde, und halten jetzt die Reste des Zimmers, in dem der Tote liegt, im Auge. Ihre Anweisung lautet:

"Paßt auf, daß keine Spuren zerstört werden, die Leute vom 1. Kommissariat kommen gleich."

Wyssmann, der vor fünf Minuten eingetroffen ist, versucht auf Anweisung Saalwächters zum dritten Mal Bessheimer in Kronberg zu erreichen. Niemand meldet sich. Er muß auf dem Weg in die Redaktion sein. Zwei Krankenpfleger erscheinen mit der nächsten Bahre: "Macht doch mal Platz hier!"

Falkenstein wird vorsichtig aufgeladen. Er flucht.

"Ruft meine Frau an, sie soll ins ... Krankenhaus kommen. Von welchem Krankenhaus kommt ihr?"

"Johannis-Hospital!"

"Sie soll ins Johannis-Hospital kommen. Scheiße!"

Saalwächter will jemanden mitfahren lassen. Kein Redakteur ist da, nur Wyssmann, doch er wird einen Deibel tun, und Wyssmann schicken.

"Ich schick dir gleich jemanden raus, Heinz!"

Stein, der Chefredakteur kommt. Er staunt wie ein Kind. Saalwächter hastet zu ihm und informiert ihn.

"Das ist ja ein Knüller! "

Nach einer Pause:

"Hermann ist tot, Gustav und Heinz im Krankenhaus . Ich will sofort von den beiden eine genaue Schilderung der Explosion. Wie ist denn das möglich?"

"Vielleicht Gas?"

"Quatsch, wir haben doch hier gar kein Gas. Und dann in Wyssmanns Zimmer . Was glaubst du? "

"Ich habe keine Erklärung dafür. Es sieht aus wie ein Sprengkörper, wie eine Bombe ."

"Eine Bombe in Wyssmanns Zimmer? Mach dich doch nicht lächerlich. Wer sollte denn diesen Idioten bombardieren?"

Er schaut hoch, ob Wyssmann das gehört hat. Wyssmann guckt ihn an, steht aber zu weit weg, er kann die Worte nicht verstanden haben .

"Wo ist der Alte? Weiß er das schon?"

Als Saalwächter verneint, fährt er fort:

"Wenn das eine Bombe war, machen wir ein Extrablatt ."

Er formuliert die Schlagzeile:

"Ist es schon wieder so weit? Anschlag auf die Pressefreiheit, irgendsowas. Halt auf jeden Fall die kleine Maschine frei ! "

In diesem Moment erscheint Kriminalobersekretär Otto Krammer von der Mordkommission des 1. Kommissariates. Er wird begleitet von Kriminalsekretär Weichmann und Kriminalassistent Dierkes. Weichmann zieht alle Blicke auf sich: er ist etwa 35 Jahre alt und unglaublich fett. Sie schauen sich eine Weile um, begutachten die Leiche und dann redet Krammer mit einem Drucker, der zeigt auf Stein und Saalwächter. Das Trio kommt auf die beiden zu.

"Ich bin Kriminalobersekretär Krammer und das sind meine beiden Kollegen Weichmann und Dierkes."

"Mein Name ist Stein, ich bin der Chefredakteur und das ist mein Stellvertreter, Herr Saalwächter. 'Ne tolle Sauerei, was?"

"War einer von ihnen hier, als es passiert ist?"

"Ja, ich. Das Dumme ist nur, ich habe telephoniert. Hier im ersten Raum. Ich stand mit dem Rücken zu den anderen Räumen. Ich habe absolut nichts mitbekommen, außer dem Knall natürlich und den Fetzen, die hier rumflogen."

"Wann ist es passiert?"

Saalwächter schaut auf seine Armbanduhr:

"Ungefähr 10 nach 10."

"Dierkes, schreib`s auf!"

Dierkes zieht ein Vokabelheft aus seiner Jackentasche und macht mit einem Bleistift, den er vorher anleckt, Notizen.

"Welche Zeugen gibt es noch? Ich habe gehört es gibt auch Verletzte?"

"Ja," sagt Saalwächter,"zwei Redakteure von uns, Heinz Falkenstein und Gustav Hinz. Sie saßen zwei Räume entfernt von der Stelle, wo die Explosion war. Ach ja, und eine Tippse, eine Schreibkraft. Sie heißt Renate ..."

"Renate Penno" ergänzt Stein.

"Ich glaube, sie ging gerade den Gang entlang."

"Wo finden wir diese Zeugen?"

"Im Krankenhaus. Falkenstein ist sicher im Johannis-Hospital. Gebrochene Hand und ein paar Schnittwunden. Hinz ist mit dem Taxi ins Krankenhaus. Wie ich den kenne, ist er zur Uniklinik gefahren, sein Ohr ist ab."

Er wendet sich an Stein:

"Ich hab Gronemayer mitgeschickt, um zu hören, ob Hinz noch mehr gesehen hat als ich. Ach ja, ich habe Heinz versprochen, auch jemand zu schicken, der nach ihm sieht. Es war nur Wyssmann da."

"Ja, ist gut. Ruf Michael an, er soll auf dem Rückweg von Hinz bei Heinz vorbeischauen. Er soll sich beeilen, wir müssen hier ´ne Zeitung machen. Um zwei ist Sitzung. Vielleicht machen wir ein Extrablatt. Hoffentlich kommt der Alte bald."

"Wo liegt die Frau?" fragt Krammer.

"Keine Ahnung."

Krammer wendet sich an Weichmann:

"Olaf, fahr du ins Johannis und quetsch diesen ... wie heißt der?"

"Falkenstein"

"... quetsch Falkenstein aus. Wenn du fertig bist, ruf hier an, wir sagen dir dann, wo die anderen beiden liegen. Sieh zu, daß du was Brauchbares findest!"

"Und du, Dierkes, rufst mir irgend einen Fachmann, der was von Sprengungen versteht und dann guck mal wo die Spurensicherung und der Doktor bleiben. Wir können hier nicht ewig ´ne Leiche rumliegen lassen."

Er wendet sich wieder an Stein:

"Also ganz offensichtlich ist hier 'ne Bombe hochgegangen. Wer ist der Tote?"

"Hermann Wolff, der Bürobote."

"Ist das sein Zimmer?"

"Nein, das ist das Zimmer von Wyssmann, Ernst Wyssmann, er bearbeitet bei uns das Wochenende, ich meine, die Wochenend-Beilage."

"Wie kommt der Bote in sein Zimmer?"

Stein guckt Saalwächter fragend an. Saalwächter überlegt:

"Ich glaube, so gegen 10 Uhr bringt Hermann die Post rum. Ja, da steht ja noch sein Wagen. Da auf dem Wagen liegt immer die Post."

Der Wagen liegt leer und zerbrochen in einer Ecke des Trümmerfeldes .

"Hat man schon seine Angehörigen verständigt?"

"Nein, ich weiß überhaupt nicht, ob er Angehörige hat. Soviel ich weiß, lebt er allein."

"Können sie das bitte überprüfen lassen?"

"Ja, ich frag gleich in der Personalabteilung."

Stein winkt einen Redakteur herbei.

Krammer ist etwas unsicher. Er hat das ungute Gefühl, diese Sache könnte eine Nummer zu groß sein für ihn. Er sieht schon, daß Leitmannn sich einschalten wird, der junge flinke Polizeipräsident und auch der Leitende Oberstaatsanwalt Kröger wird aufkreuzen. Denen fühlt er sich einfach nicht gewachsen. Er hat Angst, Fehler zu machen und deshalb versucht er krampfhaft, von anfang an so genau wie möglich zu arbeiten. Doch er merkt, wenn überhaupt, ist es diese Unsicherheit, die ihn Fehler machen lassen wird. Er versucht, sich zur Ruhe zu zwingen und die Gedanken an seine Vorgesetzten wegzupacken. Er hofft, daß ihm niemand die Unsicherheit anmerkt.

"Jetzt mal zu dem, in dessen Zimmer die Bombe hochgegangen ist."

"Wyssmann."

"Ja, Wyssmann. Können sie sich vorstellen, daß ihn jemand töten will?"

Stein und Saalwächter sehen sich an. In dem Blick, das merkt Krammer, liegt so etwas wie ein Gedanke von Lächerlichkeit, von Spott. Stein antwortet langsam und wählt seine Worte genau.

"Herr Krammer, ich glaube nicht, daß die Bombe Herrn Wyssmann gegolten hat. Sehen sie, wir haben hier einige Leute, die ganz schön hart rangehen. Unser Beruf ist manchmal ziemlich aufreibend und Informationen sind mitunter verdammt schwer zu kriegen, manche von den Jungs hier sind in ihren Methoden nicht eben zimperlich. Doch Wyssmann hat so gar nichts davon. Er stellt bei uns die Wochenendbeilage zusammen. Das bedeutet, aus dem Material, das von den einzelnen Pressebüros oder von unseren freien Mitarbeitern kommt, klebt er einen bunten Bilderbogen zusammen, damit die Leute zum Wochenende was zur Ablenkung und Information haben. Also über Renten und "wie baut man Kräuter im Garten an" oder "der Landarzt berichtet", na, solches Zeug halt. Nichts Journalistisches, er schreibt selbst nichts und er recherchiert auch nicht. Er verläßt gar nicht das Haus. Man kann sagen, daß er hier so etwas ist, wie ein Faktotum, das ... naja, das auch nicht richtig ernstgenommen wird. Die Vorstellung, daß jemand ihn auf diese Weise töten wollte, ist für mich absurd."

Krammer bekommt langsam eine Ahnung davon, was das für ein Fall werden wird. Nicht nur der Täter ist unbekannt, es ist auch noch gar nicht sicher, wer eigentlich getötet werden sollte. Tatsache ist, er hat einen Toten und drei Verletzte und einen sehr spektakulären Tathergang. Ausgerechnet eine Bombe, noch dazu in einer Zeitungsredaktion. Das wird viel Wirbel geben. Er fühlt sich unwohl. All die Leute, die hier herumstehen, gaffen und schwätzen, und er, Otto Krammer, soll das alles entwirren. Ihm ist mulmig. Schon als er die Eschersheimer runterging und die vielen Menschen sah, die vor dem Haus standen und nach oben zu den zerbrochenen Scheiben glotzten, schlug sein Herz schneller. Im Stillen hofft er, daß es doch noch eine Möglichkeit gibt, den Fall an Reit-müller abzugeben. Wieso kommt denn die Spurensicherung nicht?

"Ich möchte mit Wyssmann sprechen!"

Stein deutet auf einen älteren Mann, der gerade sehr aufgeregt auf eine Frau einredet. Krammer geht rüber zu dem Pärchen. Bevor er es erreicht, kommen die Leute von der Spurensicherung. Es sind drei Beamte und der Arzt, Dr. Schiebel. Außerdem erscheint Staatsanwalt Höllerer. Krammer biegt ab und begrüßt sie.

 

 

 

3

 

 

Weichmann haßt es, Straßenbahn zu fahren. Der vier Jahre alte Volkswagen, mit dem sie manchmal zu einem Tatort fahren, ist schon schlimm genug. Er ist viel zu klein für Weichmanns Sitzfläche und der Beifahrersitz ist schon total breitgesessen. Auch die Kollegen von der Fahrbereitschaft, die ihre dreckigen Witze über das Auto machen (wie lange die Rad-federn Weichmann wohl noch aushalten) sind nicht so schlimm wie das Spießrutenlaufen in der Straßenbahn.

Überall hört Weichmann es tuscheln und kichern. Besonders grausam findet er es, wenn junge Mädchen, etwa 13 bis 15 Jahre alt über ihn witzeln oder sogar offen lachen. Nach außen hin merkt man ihm nichts an, er wirkt wie ein besonders stoischer Dickhäuter, so als pralle alles an ihm ab. Und er ist, was die Witze anbelangt, schlagfertig genug, damit fertigzuwerden. Doch es schmerzt ihn, daß er niemals die Möglichkeit hat, einfach unbefangen jemandem gegenüberzutreten. Immer steht seine Fülle, sein fetter Leib, im wörtlichen Sinne jeder Handlung im Wege. Dabei ist er trotz seines Gewichtes unglaublich flink und ganz im Gegensatz zu seinem Äußeren - im Gesicht sieht er aus wie ein dickes Baby - verfügt er über Bärenkräfte. Eine Fähigkeit, die schon manch einer schmerzhaft unterschätzt hat.

Weichmann war nicht immer so fett. Als er mit 18 Jahren bei der Schutzpolizei anfing, lange vor dem Krieg, wog er, 1,78 groß, vierundachtzig Kilo. Und direkt nach dem Krieg, als alle Polizeibeamten aufgefordert wurden, sich wieder in ihren alten Revieren einzufinden, war er auf sechsundsiebzig Kilo abgemagert. Es gab wenig zu essen.

Doch dann, als endgültig feststand, daß sein Vater im Krieg geblieben war und er seine Mutter zu sich geholt hatte, begann er unaufhörlich zuzunehmen, und jetzt, da sie die ganze Zeit kränklich daniederlag, war sein Gewicht auf 139 Kilo angewachsen. Es gab Phasen, da aß er tagelang keinen Happen und trank nur Wasser, dann nahm er zwei oder drei Kilo ab. Doch er hielt das nicht lange durch und anschließend gab es wieder Wochen, in denen er so fressen mußte, daß die Leute in der Kantine sich gegenseitig anlächelten, wenn er den dritten Teller an seinen Platz schleppte. Weichmann weiß, es gibt Versuche ihn nur noch im Innendienst zu verwenden, weil der Kriminaldirektor der Meinung ist, er versaue allein durch sein Aussehen den Ruf der Kripo, doch er weiß auch, daß Krammer ihn so schnell nicht abgeben wird. Sie sind eingespielt und Weichmann kennt zu viele Tricks und Schliche der Polizeiarbeit, daß Krammer auf ihn verzichten könnte, zumal dessen Unsicherheit und Weichmanns Härte eine gute Kombination bilden. Weichmann kennt sich aus. Er weiß was getan werden muß und das weiß Krammer nicht immer.

Im Augenblick leidet Weichmann darunter, daß zwei Sitze vor ihm ein Mädchen sitzt, etwa 17 Jahre alt, das ab und an zu ihm rüberschielt und dann verboten lächelt. Weichmann möchte hingehen und ihr einfach in die Fresse schlagen. Wut und Traurigkeit über sein erbärmliches Aussehen wechseln sich ab. Seine Haltestelle kommt. Behende springt er vom Sitz auf und noch während der Fahrt elegant ab. Er malt sich die Gedanken des Mädchens aus:

"Donnerwetter, ist der Bursche flink. Wie man sich doch täuschen kann".

Leichtfüßig läuft er über die Straße und springt die breiten Treppen zum Hospital hinauf. Die Schwester am Empfang, eine alte Schachtel mit riesigen weißen Flügeln auf dem Kopf, schnauzt er an:

"Ich bin von der Kriminalpolizei. Hier ist heute ein Armbruch eingeliefert worden."

Er blickt auf seinen Notizblock:

"Heinz Falkenstein heißt er. Ich muß den sprechen."

Nach zwei Telephongesprächen erklärt die Schwester ihm verschüchtert, wo er Falkenstein findet. Der sitzt noch im Gipsraum und muß warten bis der Gips, der jetzt rechtwinklig seinen linken Arm umhüllt, trocknet.

"Ich heiße Weichmann und bin Kriminalsekretär bei der Mordkommission."

 

 

 

4

 

Nachdem die drei vom Erkennungsdienst ihre Arbeit beendet haben, und auch die Photos genommen sind, hat Dr. Schiebel den Leichnam flüchtig untersucht.

"Sie wissen ja, Krammer, vor der Obduktion lege ich mich nie fest, aber es sieht so aus, als sei der Mann buchstäblich von der Druckwelle getötet worden. Schock. Sowas gibt's. Er hat eine Menge Wunden, doch keine erscheint mir tödlich. Der ist erst in der letzten Stunde ausgeblutet. Genick ist auch nicht gebrochen. Das war wahrscheinlich keine Bombe mit einem Stahlmantel oder eine Handgranate. Solche Dinger reißen ja gleich riesige Fleischfetzen weg. Ich sehe auch hier ringsum keine größeren Löcher im Holz oder in der Wand. Natürlich bin ich kein Experte für Sprengsachen. Also ich tippe auf einen reinen Pulversatz. Dynamit oder irgendsowas. Das gibt eine ziemliche Druckwelle aber keine Stahlsplitter. Naja, sie werden sicher noch einen Experten holen lassen. Auf jeden Fall war der Mann gleich tot und hat äußerlich keine gravierenden Beschädigungen. Meinetwegen kann er jetzt weggeräumt werden."

"Ich will, daß der Sprengstoffexperte ihn noch sieht."

"Na gut, das ist nicht mehr mein Bier. Wenn er heute noch zu uns kommt, haben sie den Befund frühestens Montag nachmittag. Oder am heiligen Morgen."

Er kichert und packt seine Tasche zusammen.

Krammer hat gerade mit Bessheimer, dem "Alten" geredet. Der Mann ist ihm unheimlich, alt und klapprig, aber er fällt in die Kategorie der Mächtigen. Er gibt diese Zeitung heraus, darüberhinaus noch einige Zeitschriften und Bilderhefte für Kinder ("Buntes Allerlei" und "King, der Grenzreiter" lagen in seinem Büro) und man merkt förmlich, welch ein starkes Durchsetzungsvermögen dieser Mann hat.

"Passen sie auf, Mann, kriegen sie den, der diese Sauerei angestellt hat und bringen sie mir die Geschichte exclusiv, oder nur zwei Stunden, bevor die anderen sie haben und ich mache sie so populär, daß in Deutschland bald jedes Schulkind ihren Namen kennt."

Er deutet mit der rechten Hand eine Schrift in die Luft:

"Krammer steht dann in Deutschland für 'Recht und Ordnung'."

Krammer hat das Gespräch schnell in andere Bereiche gelenkt. Er weiß doch genau, wie die Pressekonferenzen laufen, wenn irgend so ein armes Schwein gefasst ist. Hellige, der Chef der Kripo, hat dann dem Täter höchstpersönlich die Handschellen angelegt "unter der bewährten Mitarbeit meiner Mordkommission" und von dieser Szene wird dann noch zwei Stunden später im Präsidium ein Photo gemacht. Dabei ist dieser Sack zu feige, im Paternoster zu fahren. Er brach das Gespräch mit Bessheimer schnell ab. Der wußte eh nichts.

Staatsanwalt Höllerer kommt auf ihn zu.

"Wir müssen auch die Öffentlichkeit warnen. Der Sprengstoff kann per Post gekommen sein, und es können noch mehr Pakete unterwegs sein. Ich werde veranlassen, daß eine Radiomeldung herausgeht, in der vor unerwarteten Paketen und Päckchen gewarnt wird. Denken sie nur an den Fall Kolacz."

Er geht auf die Suche nach einem Telephon. Krammer wundert sich, wieso ein ganz einfacher Staatsanwalt diesen Fall zugeteilt bekommen hat.

Jetzt schaut er sich nach Dierkes um. Er findet ihn bei einer Schreibkraft, eine Tasse Kaffee in der Hand. Der schäckert mal wieder. Krammer spürt, daß er Hunger hat. Seine Brote liegen noch im Präsidium. Er schaut auf die große Wanduhr und merkt erst jetzt, daß sie stehengeblieben ist. Um 10 Uhr 7. Er zieht seine Taschenuhr heraus. Es ist viertel nach eins. Nirgends brennt Licht. Ich werde alt, denkt er, ist doch klar, die Bombe hat einen Kurzschluß auf der Etage verursacht, so daß auch die elektrische Uhr stehengeblieben ist.

"Dierkes, schreib auf: die genaue Tatzeit war 10 Uhr 7. Und jetzt hol mir einen Kaffee. Mädchen, gibt es hier so etwas wie eine Kantine?"

Die Sekretärin nickt und deutet mit der Hand nach oben.

"Einen Stock höher."

Zu Dierkes sagt Krammer:

"Also hol mir einen Kaffee und ein belegtes Brot, oder ein Würstchen ... Kannst auch eine Frikadelle bringen."

Er gibt ihm ein Zweimarkstück. Sieht eigentlich ganz flott aus, die Kleine, denkt er und überlegt, was er sie wohl fragen kann, da merkt er, daß ein Mann im Tatzimmer hin und herläuft.

"Hee..." er eilt hin "...was machen sie denn da?"

"Ich guck mir das an, gestatten Schneider, vom Bombenräumkommando."

Dierkes hat also wieder Mist gebaut. Was soll er denn mit einem von den Bombenräumern. Er wollte einen Sprengstoffexperten aus den Reihen der Kripo.

"Krammer" sagt er "vom Ersten Kommissariat."

"Tach" sagt Schneider.

"Ich bin sicher, das war Dynamit. Zwei Stangen, höchstens drei. Hier ..." er holt mit einer Pinzette ein winziges Stück Papier aus einer Ecke des Raumes:

"typisches braunes Wachspapier, in das die Stangen eingerollt sind, wegen der Nässe."

Er schaut sich den Toten an und zieht, ebenfalls mit der Pinzette, winzige Fasern aus der Haut am Handrücken.

"Sehen sie, hier auch, das geht unter die Haut. Und hier ist noch dickeres braunes Papier unter dem Wachspapier. Ich kombiniere ... ich kombiniere ... die Stangen waren in braunes Packpapier eingewickelt."

Er lächelt wie ein Kind, das Detektiv spielt. Das mit dem Packpapier hat die Spurensicherung auch schon rausgefunden, das mit dem braunen Wachspapier war für Krammer neu. Dieser Typ soll ruhig noch ein bißchen Nick Knatterton spielen, denkt Krammer, er ist zwar klein und mickrig, aber er scheint sich gut auszukennen.

"Wir vermuten, daß es mit der Post gekommen ist. Was glauben sie, wie das Dynamit gezündet worden ist?"

Krammer will den Beamten auf die Probe stellen.

"Mit der Post sagen sie? Das ist gar nicht so einfach. Dynamit kann man mit einer Lunte zünden oder mit einer Sprengkapsel. Die Lunte fällt aus. In einem Päckchen Feuer zu machen, ist viel zu schwierig. Wenn man nicht richtig aufpasst, ist gar nicht genug Sauerstoff in dem Päckchen. Es kommt nur eine Sprengkapsel in Frage, dazu braucht man Strom. Also ich würde es mit einem Zünder machen, der mit dem Verpackungsband gekoppelt ist. Aber schwierig ist das schon ... Man muß eine Vorrichtung bauen, die den Zündfunken dann herstellt, wenn das Verpackungsband abgemacht wird. Also, wenn ich mir das richtig überlege, ist das was für Selbstmörder. So etwas würde selbst ich mich nicht trauen und glauben sie mir, ich bin Bastler. Sehen sie, die Schwierigkeit liegt darin, daß sie von der Batterie eine Unterbrechung zur Zündkapsel hin einbauen müssen. Und diese Unterbrechung müssen sie mit einem Faden nach außen durch das Verpackungsmaterial hindurch leiten und mit der Verpackungsschnur verbinden, damit derjenige, der die Verpackungsschnur aufreißt, die Unterbrechung aufhebt. Das ist viel zu riskant. Die Verpackungsschnur muß nur irgendwo hängenbleiben oder sie ziehen einen Knoten zu fest an und schon schliessen sie den Schalter. Nee, das ist was für Ingenieure, nicht für Mörder."

"Er hat es mit 'nem Wecker gemacht. Eine Zeitbombe. Wir haben die Reste des Weckers gefunden," sagt Krammer und freut sich über das verdutzte Gesicht des Bombenräumers.

"Das ist Quatsch" sagt dieser nach einer Weile,

"...und auf welche Uhrzeit war der Wecker eingestellt?"

"Offensichtlich auf 10 Uhr 7, da ist sie jedenfalls explodiert."

"Aber dann ist die Bombe nicht mit der Post gekommen! Sie können doch nicht jetzt, vier Tage vor Weihnachten, ein Päckchen verschicken und damit rechnen, daß es pünktlich auf die Minute um 10 Uhr 7 am 20. Dezember gerade dann explodiert, wenn es bei seinem Empfänger ankommt, aber noch nicht ausgepackt ist. Also das Risiko, daß es im Postwagen der Eisenbahn hochgeht, ist genauso groß wie das, daß es ausgepackt wird, und munter weitertickt. Die Zeitbombe kauf ich ihnen nicht ab. Jedenfalls nicht eine, die mit der Post gekommen ist. Außerdem haben die meisten Wecker, die ich kenne, eine Laufzeit von 24 Stunden. Es muß also was ganz Spezielles sein. Naja, dafür haben sie ja ihre Experten."

Krammer ist nicht mehr so sicher. Es fällt ihm auch gerade ein, daß eine Zeitbombe, die auf 10 Uhr 7 eingestellt ist, keinen Sinn macht, bei einem Redakteur, der erst um elf an seinem Arbeitsplatz sein muß.

"Aber vielleicht weiß das der Mörder nicht,"

sagt er laut. Außerdem haben wir ein verdammtes Uhrwerk gefunden, das nach Sprengstoff roch, denkt er. Dierkes kommt mit Kaffee und Würstchen.

"Butterbrote hatten `se nich."

Krammer zieht ihn von dem Tatzimmer weg, in dem immer noch der Bombenentschärfer herumhüpft.

"Warum hast du denn keinen Sprengstoffexperten von uns herkommen lassen?"

"Ich habs versucht. Doch unser Sprengstoffmann im Präsidium ist krank und da hat man mir in der Abteilung "Waffen und Gerät" die Nummer von den Bombenräumern gegeben, die hätten Experten, die sich auch mit Sprengstoffen auskennen. Der nächste Fachmann von der Kripo sitzt im LKA in Wiesbaden. Der wär doch nie vor heute nachmittag um drei hiergewesen."

"Der Bursche da glaubt nicht an eine Zeitbombe."

"Hm" sagt Dierkes.

"Meinetwegen könnt ihr ihn jetzt wegräumen!"

brüllt Krammer den beiden Angestellten der Gerichtsmedizin zu. Die beiden packen den toten Hermann in eine Holzkiste.

In diesem Moment geht auch das Licht wieder an.

 

 

5

 

"Ich wundere mich trotzdem, daß von der Staatsanwaltschaft nur so'n Pinscher da war." sagt Krammer als sie zu dritt wieder im Präsidium in einem ihrer Zimmer sitzen. Er war gerade bei Kriminalrat Hellige und hat ihm kurz Bericht erstattet.

"Gut" sagte der Leiter der Kripo, "sie bleiben an dieser Sache. Die hat Vorrang. Versauen sie bloß nicht unser Verhältnis zur Presse. Halten sie Weichmann zurück, es fehlt noch, daß er auf irgendeinem Pressephoto auftaucht. Ich schicke ihnen noch jemand zur Verstärkung. Bericht nur an mich. Ich habe mit Oberstaatsanwalt Schäfermann gesprochen. Kröger kann nicht. Schäfermann kommt nach Weihnachten vorbei und bespricht die Sache mit uns. Das wär's."

Krammer war entlassen. Er kann nicht wissen, daß sowohl Kröger als auch Schäfermann schon im Weihnachtsurlaub waren. Inoffiziell natürlich. Hellige hatte Schäfermann zu Hause angerufen.

Es ist jetzt viertel nach vier und Krammer ist müde. Er wird noch bis halb sechs im Büro bleiben.

"Denken wir mal laut über den Fall."

Das hatte er mal in einem Film gehört und sagte es immer, wenn er nicht weiterwußte. Manchmal kam bei diesem Austausch auch tatsächlich was heraus, meistens von Weichmann.

"Wir haben also einen Toten, von dem wir annehmen dürfen, daß er gar nicht ermordet werden sollte. Wir haben einen Mörder, irgendjemand muß die Bombe ja gebastelt haben, von dem wir nicht wissen, wer er ist. Wir haben eine Bombe, eingewickelt in braunes Packpapier, von der wir nur wissen, wie sie in das Zimmer von Wyssmann gekommen ist, nicht aber wie sie auf Hermanns Wagen gekommen ist. Ob sie einer dahingelegt hat, oder ob sie in der Post war. Und wir wissen nicht genau, wie sie gezündet worden ist. Wahrscheinlich mit einem Uhrwerk."

Er glaubt dem Bombenentschärfer nicht.

"Wir haben vier Zeugen, die alle einen Knall gehört haben, aber sonst nichts wissen."

Weichmann nickt.

"Was haben wir noch?"

"Wir wissen, daß sowohl Hermann als auch Wyssmann Trottel waren... sind", Weichmann kommt mit den Zeiten durcheinander, "... die umzubringen sich nicht lohnt. Wer bringt schon Trottel um."

"Wir wissen die Tatzeit", sagt Dierkes, nachdem er sein Notizbuch durchgelesen hatte:

"10 Uhr 7"

"Toll!" sagt Weichmann.

"Hat man keinen Aufkleber auf dem Packpapier gefunden, oder wenigstens beschriebenes Packpapier, oder Briefmarken oder einen Stempel oder sowas, so daß man gucken kann, ob es mit der Post gekommen ist?" fragt Weichmann.

"Die Kollegen von der Spurensicherung haben jede Menge Papierschnipsel mitgenommen. Ich hoffe, sie sitzen jetzt und kleben das Zeug zusammen. Vielleicht kommt was Brauchbares dabei heraus. Da müssen wir aber warten bis Montag. Also, was können wir heute noch machen?"

Krammer schaut Weichmann an. Weichmann überlegt lange, dann sagt er:

"Also pass auf."

Er macht eine Skizze auf ein Stück Papier: Eine Treppe, die nach oben führt und dann - auf einem langen Flur - zehn Räume, einer nach dem anderen.

"Das ist Hermanns Weg. An den Räumen 1 bis 5 war er schon vorbei, ohne daß etwas passiert ist. Die Bombe kann also nur für jemand bestimmt sein, der in einem der Räume von 6 bis 10 sitzt. Also erstens müssen wir wissen, wer da sitzt. Es kann natürlich auch sein, daß Hermann noch weitergehen mußte, in eine andere Etage oder so. Glaub ich aber nicht, der Gang ist ja hinten zu und wir sind schon in der obersten Etage."

Krammer unterbricht Weichmann:

"Dierkes, ruf sofort in der Redaktion an, sie sollen dir sagen, wer in den Räumen 6 bis 10 sitzt. Mit Adressen und Telefonnummern von zu Hause. Mach weiter, Olaf," sagt er zu Weichmann.

"Außerdem müssen wir genau wissen, welchen Weg die Post gewöhnlich nimmt. Von der Zustellung zum Verlagshaus bis in die einzelnen Etagen hinein. Es kann ja sein, daß jemand anderes noch das Paket mit dem Sprengsatz gesehen hat."

"Das machst am besten du, Olaf," sagt Krammer, doch dann entsinnt er sich der Worte von Kriminalrat Hellige, Weichmann aus dem Pressehaus rauszuhalten.

"Nein, das mache ich morgen früh selber. Ach, Mist, morgen früh arbeiten die ja nicht. Samstag ist bei denen frei, dafür müssen die am Sonntag ran. Probier doch mal, das am Telephon zu klären."

"Ich glaube wir dürfen auch Hermann noch nicht ausschließen, er kann ebenso mit der Bombe gemeint gewesen sein, wie einer der Redakteure. Wenn die ihm jemand um halb zehn untergeschoben hat, dann weiß der auch, daß Hermann um 10 Uhr 7 noch immer die Post rumbringt."

"Ja, da hast du recht." sagt Krammer nachdenklich, er hatte Hermann vollkommen ausgeklammert. Dierkes kommt triumphierend mit einem Zettel wieder.

"Die haben gerade ein Extrablatt gemacht. Hier sind die Namen."

Er schreibt sie in die Kästchen der Zeichnung von Weichmann.

" 'Feuilleton' schreibt man mit e u i", sagt Krammer, er hat auf einmal viel bessere Laune. Er freut sich darauf, daß er das Mädchen von heute mittag jetzt offiziell noch einmal vernehmen darf.

 

(bis hier korrigiert. 6. 12. 99)

6

 

Otto Krammer ist 48 Jahre alt. Er sieht jünger aus. Sein eng an den Kopf gekämmtes dunkles lockiges Haar, das graue Spitzen hat, gibt zusammen mit seiner spitzen Nase seinem Kopf ein recht hübsches Aus-sehen. Krammer findet, er sieht adelig aus. Er ist schlank und ziemlich groß. Bei seiner Aufnahme in den Polizeidienst vor dreißig Jahren, hatte er eine Größe von 1,78. Seitdem hat er sich nicht mehr gemessen. Er ist immer ordentlich gekleidet und bevor-zugt dunkle Anzüge und schwarze Schuhe, die stets peinlich sauber sind. Er entstammt einer Beamtenfamilie, sein Vater war Steuerbeamter und hatte schon dem Kaiser treu gedient. So entstand auch beim jungen Krammer der Wunsch, es dem Vater gleichzutun und in dem allgemeinen Wirrwarr und dem Elend der Inflation gelang es dem Vater, nachdem er seinen Sohn vorher der Steuerbehörde angedient hatte, (die hatten aber gerade wenig zu tun) ihn bei der Polizei unterzubekommen. Krammer hatte das Realgymnasium bis zum Einjährigen besucht und so wurde er relativ rasch in den Innendienst und dann nach einer Prüfung in die Kripo übernommen. Bei der Mordkommission landete er aushilfsweise 1935 und seitdem war er dort geblieben. Lange Zeit war er nicht zum Sekretär befördert worden. Er hatte kein Parteibuch. Erst 1937 machte seine Frau ihm klar, daß sie nicht länger gewillt sei, mitanzusehen, wie er in der gesellschaftlichen Stellung eines Kriminaloberassistenten dahindämmerte. Viele seiner jüngeren Kollegen waren schon Sekretäre und hatten ihre eigene Inspektion und er solle jetzt gefälligst in die Partei eintreten. Sie hatte nichts gegen Nazis. Er auch nicht, sie waren ihm egal. Nur einmal, als sie seinen Lieblingsautoren verbrannten, kam ihm der Gedanke, daß das, was sie machten, nicht richtig sei.

Er hatte "Rheinsberg" gelesen und war verzaubert von dieser Liebesgeschichte, die Tucholsky ihm da erzählt hatte. Das Buch entsprach genau seinen Phantasien, in denen sich stille Träumereien und ausgelassene Balgereien abwechselten. Seine Frau hat so gar nichts davon. Bei dem Gedanken an sie wird ihm mitunter mulmig. Sie ist auch 48, doch sie sieht älter aus. Sie sah schon immer älter aus. Sie hat keine Phantasie, keine Träume und keinen Humor. Er kann sich nicht mehr daran erinnern, ob sie das alles mal hatte, heute hat sie nur noch Ehrgeiz, denkt er. Sie kocht ihm still sein Essen und wartet geduldig, daß er nach Hause kommt. Er kann ihr in einem gewissen Sinn nur noch dankbar sein. Im Stillen aber klagt sie ihn an. Manchmal auch laut. Ab und zu schlafen sie miteinander, doch das wird seltener. Meist, wenn sie beide ein paar Gläschen getrunken hatten. Dabei sagt sie kein Wort und auch er schweigt. Der Gedanke, sie zu verlassen, kommt ihm nicht. Manchmal denkt er darüber nach, wie es wäre, wenn sie tot ist. Er fühlt sich dann schuldig. Er fühlt sich überhaupt oft schuldig. Als er das Präsidium verläßt und zu der Haltestelle am Bahnhof geht, fällt ihm ein, daß er noch kein Weihnachtsgeschenk für sie hat. Er biegt links hoch in die Friedrich-Ebert-Strasse und schaut dort in die Auslagen. Vor dem Krieg hieß diese Strasse Kaiserstrasse, 1945 wurde sie nach dem ersten Reichskanzler benannt und in letzter Zeit gibt es Bestrebungen, sie wieder in 'Kaiserstrasse' umzubenennen. Krammer ist das wurscht.

Einige Nachtlokale haben schon die Gardinen vor den Schaufenstern hochgezogen und er sieht sich die Photos der nackten Mädchen an. Als er merkt, daß er einen Steifen bekommt, geht er schnell in ein Hutgeschäft und kauft einen Schal. Blau, aus Kaschmirwolle.

 

7

 

Samstag, der 21. Dezember.

Über Nacht war Schnee gefallen. Nicht viel, aber eben soviel, daß Frankfurt richtig hübsch aussieht. Schnee hat die Eigenschaft, sogar Ruinen zu verzuckern, und die Stadt hat davon noch eine Menge. Vor dem Krieg gab es hier 175 Tausend Wohnungen, nach dem Krieg nur noch 93 Tausend. Die hektische Bautätigkeit während der letzten vier Jahre hatte die Mondlandschaft aus Kratern und Trümmern beseitigt, doch jede Strasse bewahrte noch genügend zerbombte Mahnmale an jene Zeit auf, als es noch eine Reichskriminalpolizei gab und deren oberster Chef Reinhard Heydrich hieß. Das Gebäude, in dem Krammer und all die anderen Bullen untergebracht sind, das Polizeipräsidium am Platz der Republik, 1911 erbaut, hat sich seit dieser Zeit nicht sehr verändert. Während des Krieges hatte eine Brandbombe es an einem Seitenflügel erwischt und eine kleinere Bombe hatte die Haupttreppe und mehrere Räume in den obersten Stockwerken verwüstet, doch die Schäden waren inzwischen ausgebessert worden.

Alles in allem herrscht hier jedoch immer noch der gleiche düstere Muff, der auch schon vor 20 oder 30 Jahren das Gebäude durchzog und sich wie einen unsichtbaren Schleier auf jeden Menschen legt, der mit diesem Bau in Berührung kommt. Man kann jedem, der hier arbeitet, das ansehen, denkt Krammer als er kurz nach halb acht im zweiten Stock den Gang entlanggeht.

Dunkelgrüne Kacheln, die Fenster viel zu hoch, als daß man angenehm hinaussehen könnte und weiße Fliesen auf dem Fußboden bilden eine Mischung aus Krankenhaus und Zuchthaus. Auch mir kann man das ansehen. Dieser Bau versaut mich ebenso, wie diejenigen, die unfreiwillig in ihn geschleppt werden. Er schließt seine Tür auf. Jedesmal ist er erleichtert, wenn er aus dem düsteren Flur in sein helles Zimmer kommt. Manchmal, wenn er sehr bedrückt ist und die alte Angst wieder hochkommt, hat er die Vorstellung, hinter der Tür ist es noch düsterer und in der Mitte des Raumes steht eine Guillotine. Diese Vision geht nie weiter als bis zu dieser Stelle, es ist immer nur die Angst, sie könne einfach dastehen. Er dreht das Licht an. Weichmann hat gestern nachmittag überprüft, ob irgendwo in einer Poststelle des Zeitungsgebäudes noch ein Paketabschnitt aufzufinden war und hat alle gefragt, ob ihnen ein Paket aufgefallen ist. Sie wissen noch nicht einmal, wie groß es war. Er hat herausgefunden, daß die gesamte Post, die an die Zeitung adressiert ist, in einem Sack von der Hauptpost in der Schillerstrasse direkt in den Raum geschafft wird, in dem Hermann saß. Dort sortierte er die Briefe und fuhr sie mit seinem Rollwagen in die Abteilungen. Diese Spur ist also tot. Weichmann wollte sich gestern nachmittag noch den Postbeamten vornehmen, der den Sack am Morgen fertiggemacht hatte, doch der war schon verschwunden. Krammer überlegt, was jetzt noch getan werden kann und kommt zu dem Schluß, daß sie - solange die Spurensicherung nicht mit Ergebnissen rüberkommt - den Fall tatsächlich nur von dem möglichen Opfer her aufrollen können.

Bevor Krammer gestern abend gegangen ist, hat er Dierkes den Auftrag gegeben, in Bremen anzurufen und die Einzelheiten des Falles Kolacz zu erfragen. Krammer erinnert sich nicht mehr so genau, doch er weiß, daß auch Kolacz vor zwei Jahren eine Bombe an eine Zeitungsredaktion abgeschickt hat. Der sitzt jetzt lebenslänglich. Doch wer weiß, vielleicht gibt es irgendeine Paralelle, die zu einer neuen Spur führt. Während Krammer noch einmal überlegt, ob er irgendwo etwas vergessen hat, klopft es.

"Ja"

Ein junger Bursche tritt ein.

"Guten Morgen Herr Kriminalobersekretär, ich heiße Michael Klee und bin Kriminalassistent auf Probe. Herr Kriminalrat Hellige hat mir gestern abend telephonisch mitgeteilt, daß ich mich heute morgen bei ihnen melden sollte. Ich habe mich ... ich soll ... ich bin zu ihrer Verstärkung eingeteilt."

Klee hatte diese Ansprache lange geübt und doch hat er sich verheddert. Er lächelte verlegen.

"Rührt Euch", sagt Krammer.

"Entschuldigen Sie, daß ich erst jetzt komme, doch ich war um kurz vor halb acht schon einmal hier und da war die Tür verschlossen."

Krammer seufzt. Einen Kriminalaspiranten hatten sie ihm geschickt, einen Lehrling, dem er auch noch die Schularbeiten nachsehen mußte. Nicht genug, daß man alles noch einmal nachprüfen muß, was Dierkes herausfindet. Jetzt sollten sie auch noch Windeln wechseln. Klee sieht aus, wie einer der gerade seinen ersten Anzug gekriegt hat und noch nicht recht weiß, wie man so was trägt. Aber eigentlich recht ordentlich. Ein durchschnittliches Gesicht, nichts Auffälliges, schlanke Figur, ziemlich groß und einen etwas zu langen Haarschnitt. Sein Mund steht schief, wenn er redet. Er wirkt aufgeregt.

"Mach dir mal nicht ins Hemd" sagt Krammer,

"... den 'Kriminalobersekretär' kannst du dir schenken, wir sind hier nicht so vornehm, du sagst Herr Krammer zu mir und ich sage ... wie heißt du mit Vornamen?"

"Michael"

"... ich sage Michael zu dir." Krammer wird väterlich.

"Jetzt gehst du zu Dierkes, der sitzt zwei Zimmer weiter. Da steht ein Schreibtisch für dich und dann läßt du dir erklären, woran wir gerade arbeiten. Sag ihm, um viertel vor neun ist eine Besprechung bei mir."

"Ist gut." Er macht etwas, das aussieht wie ein Diener und verläßt das Zimmer.

 

8

 

 

Mit seinen 28 Jahren hat Dierkes diverse Verlobungen hinter sich und er träumt davon, doch noch eine reiche Braut abzuschleppen, damit es ihm endlich genauso gut geht wie den Zuhältern, die er auf seinem täglichen Weg vom Präsidium nach Hause bewundert. Mit chromblitzendem Auto und verwegen angezogen (sogar mit weiß abgesteppten Schuhen hatte er neulich einen gesehen) sieht er sich im Geiste, mehrere Ringe am Finger, mit seiner Braut an Weichmann vorbeifahren. Dieser Fettsau wird er es sowieso demnächst zeigen. Dierkes ist 1,90 groß, breitschultrig, sehr stark und etwas beschränkt. Er sieht mit seinem hellen Haar blendend aus, hat jedoch einen leichten Sprachfehler: er lispelt etwas. Dierkes ist der Typ des treuherzig blickenden Tierquälers. Noch lieber aber quält er Menschen. Kurz, Dierkes ist eine Drecksau von einem Kriminalpolizisten. Er freut sich, daß jetzt jemand gefunden ist, an den er die miesen Sachen, die sie ihm immer zu tun geben, weiterreichen kann. Er hält Klee folgende Ansprache:

"Im Moment bearbeiten wir einen Mordfall in einer Zeitung. Die haben einen Laufjungen mit einer Bombe in die Luft gejagt. An dem Fall arbeiten Krammer, ich und Weichmann. Weichmann ist hier Sekretär, nimm dich vor dem in acht, der schickaniert die Menschen. Wir sind die zweite Mordkommission, zu uns gehört noch ein Obersekretär, aber der ist schon seit zwei Monaten krank. Der hat immer Rheuma. Es gibt noch eine erste Mordkommission, die leitet Reitmüller, manchmal arbeiten wir auch zusammen. Wir haben hier insgesamt 12 Leute, die wirst du schon kennenlernen. Krammer ist ganz in Ordnung, der läßt seine Leute leben, manchmal verlangt er ein bißchen viel. Aber Weichmann mußt du aus dem Weg gehen. So und jetzt kannst du uns mal ein Kaffee holen. Beeil dich, wir müssen ja gleich zur Besprechung."

Klee fährt mit dem Paternoster abwärts in das Erdgeschoß. Dort ist eine behelfsmäßige Kantine eingerichtet, die von 7 bis 18 Uhr Kaffee, Mineralwasser, Brote und Suppe verkauft.

 

10 Minuten später sitzen alle vier in Krammers Zimmer und überlegen sich die weiteren Schritte.

"Wo stehen wir?" fragt Krammer.

"Zusammen mit Hermann haben wir sieben Leute, ei-ner von denen müßte das Opfer sein." sagt Weichmann.

Krammer guckt auf seinen Zettel:

"Wyssmann, Hinz, Wenzel, Falkenstein, Renate Pen-no, Gabriele Kleinschmidt und Hermann Wolff. Wir sind zu viert, also werden wir uns die Arbeit aufteilen. Dierkes, hast du was rausgekriegt über diesen Kolacz?"

"Ja, die Kollegen in Bremen haben mir die Geschichte erzählt." Er holt einen Zettel aus seiner Jackentasche.

"Erwin von Kolacz hat im November 1951 an drei reiche Leute Sprengstoffpakete verschickt. Eines an den Chefredakteur des 'Bremer Tageblattes', einen gewissen Dr. Wolfram. Der ist dabei umgekommen. Ein Paket ist bei der Post explodiert und eines ist heilgeblieben. Die Bremer haben dann eine Sonderkommission gebildet und durch den Paketaufkleber haben sie den Kolacz gekriegt. Dabei kannte er die Leute gar nicht, die er töten wollte, er hatte sich die Adressen aus dem Telephonbuch rausgesucht. Anschließend wollte er dann die Hinterbliebenen anrufen und erpressen, es würde ihnen genauso gehen, wenn sie ihm nicht Geld geben würden."

"Was für einen Sprengstoff und welchen Zünder hat er benutzt?" fragt Weichmann.

"Das habe ich nicht gefragt."

"Du bist n' Idiot!" sagt Weichmann.

Dierkes schaut Klee an, "na, was hab ich dir gesagt", sagen seine Augen.

"Ich ruf nachher selbst in Bremen an," beendet Krammer die Situation. Er ist immer wieder überrascht, daß Weichmann zu Dierkes genau das sagt, was er selbst in dem gleichen Moment denkt. Natürlich gibt das wieder Ärger, weil er sich jetzt noch einmal die Genehmigung von Hellige holen muß, um in Bremen anzurufen. Ferngespräche muß der Chef persönlich absegnen.

"Meinst du, ob es Sinn hat, wenn wir uns Hinz, Falkenstein und die Penno noch einmal vornehmen?" fragt Krammer Weichmann, der die drei gestern schon vernommen hat.

"Nur, wenn bei den anderen absolut nichts herauskommt, ich habe natürlich nach möglichen Motiven für einen Mörder geforscht. Die beiden Männer haben sicher ´ne Menge Dreck am Stecken, doch ob das für eine Bombe reicht, bezweifel ich. Die Frau ist harmlos."

"Ich habe bei Wyssmann ein ähnliches Gefühl. Also nehmen wir uns erst einmal Wenzel, die Kleinschmidt und Hermann vor. Olaf, du und Dierkes ihr quetscht Wenzel aus, ich fahre zu dieser Kleinschmidt und du Michael guckst dich in Hermanns Wohnung um. Er hat keine Angehörige. Guck mal nach Briefen, Photos, Tagebücher, alles was ein mögliches Motiv für einen Mörder liefern könnte. Wenn du irgendetwas Verdächtiges findest, kannst du auch die Spurensicherung rufen. Sieh zu, daß du etwas Brauchbares findest."

 

9

 

Alle sind gegangen.

Krammer hat das Präsidium in Hamburg in der Leitung. Die Kollegen in Bremen haben ihm gerade durchgegeben, daß die Untersuchung des Sprengstoffes im Falle Kolacz vom Kriminaltechnischen Institut in Hamburg durchgeführt worden ist. Er wird mit dem dortigen Sachbearbeiter verbunden.

"Wuttke!"

"Ja, guten Tag, mein Name ist Krammer, ich bin Kriminalobersekretär in Frankfurt. Herr Kollege, ihr habt doch damals die Untersuchung im Fall Kolacz durchgeführt. Sagen sie mir doch bitte einmal, was hat der für einen Sprengstoff verwendet und welchen Zünder?"

"Ihr habt gerade auch so einen Fall, ich habs im Radio gehört und in der Zeitung gelesen. Könnte eine ähnliche Sache sein. Vielleicht Erpressung. Also Kolacz hat das vor zwei Jahren in seinen Sendungen mit eineinhalb Pfund Donarit gemacht, das ist so eine Sprenggelantine..." Krammer schreibt mit.

"... die hat er im Namen seines Pflegevaters bei einem befreundeten Sprengmeister gekauft. Der hat ihm das Zeug für l0 Mark das Pfund gegeben. Natürlich durfte er das nicht machen. Dafür hat man ihn auch verurteilt... und jetzt darf er nicht mehr sprengen."

"Und die Zündkonstruktion?"

"Das war was ganz Raffiniertes. Das Donarit war in einer Papprolle mit zwei Deckeln an beiden Enden und mit der Aufschrift: "Nur hier öffnen". Dieser Deckel war extra mit einem Faden gesichert und der Faden war versiegelt. Der Deckel ging nur auf, wenn man den Faden durchgeschnitten hat. Innen waren zwei Sprengzünder und eine Batterie. Die Drähte waren so angebracht, daß der Kontakt hergestellt wurde, wenn man den Deckel abhob. Aber das war eine recht unsichere Konstruktion, weil eine Ladung bereits in der Post explodierte, ohne daß der Deckel abgehoben wurde. Während die dritte Ladung überhaupt nicht hochging, obwohl der Empfänger den Deckel etwas hochgehoben hatte um in die Rolle reinzuschielen. Der hat sich nicht getraut, den Faden durchzuschneiden, weil er nicht geglaubt hat, daß die Rolle für ihn war. Sein Glück. Naja."

Insgeheim empfindet Krammer jetzt so etwas wie Hochachtung vor dem mickrigen Frankfurter Bombenräumer. Der Bursche ist gut.

"Ja, das wars auch schon. Ich danke ihnen Kollege Wuttke."

"Das kostet 'ne Mark achtzig." sagt der und hängt auf.

 

Eine halbe Stunde später steht Krammer in der Unterlindau vor dem Haus, in dem Gabriele Kleinschmidt wohnt. Im dritten Stock ist ein Schild an der Tür:

"Kleinschmidt 3 klingeln".

Er klingelt dreimal.

Schritte .

"Wer ist da?"

"Krammer, vom Präsidium" sagt er.

Er will nicht, daß das ganze Haus erfährt, daß jetzt die Mordkommission da ist. Eine Kette wird zurückgenommen.

"Kommen sie rein, Herr Kommissar. "

Er betritt einen relativ düsteren Flur, der mit dunkelbraunen Möbeln vollgestopft ist. Sie führt ihn in ein Zimmer am Ende des Ganges. Es ist ein hübsches Zimmer mit drei riesengroßen Plüschsesseln und einer ebensolchen Couch. An der Wand zwischen den beiden Fenstern steht ein Bücherregal mit sechs oder sieben Reihen Büchern und in einer Ecke des Raumes ein heller Kleiderschrank.

"Setzen sie sich bitte Herr ... ja, wie soll ich sie denn nennen? "

"Einfach Herr Krammer. "

"Ich glaube, während sie sich den Mantel ausziehen, mache ich uns schnell eine Tasse Kaffee, allerdings Muckefuck!"

Krammer mag keinen Muckefuck, er sagt:

"Das ist eine großartige Idee, Frau Kleinschmidt."

"Fräulein" sagt sie.

"... Fräulein Kleinschmidt," verbessert sich Krammer.

Sie verläßt den Raum.

Er legt seinen Mantel auf einen der Sessel und schaut sich die Bücher an. Viele Autorennamen sagen ihm nichts, dann entdeckt er eine Reihe Russen: Dostojewski, Tolstoi und Gogol sowie drei Romane von Upton Sinclair aus dem Malik Verlag. Er erinnert sich, den haben sie damals auch verbrannt. Schließlich findet er ganz unten im Regal ein dünnes Bändchen: Kurt Tucholsky "Schloß Gripsholm" aus dem Rowohlt Verlag, der Preis steht noch drin: DM 1,50. Krammer ist merkwürdig berührt - nach fast fünfundzwanzig Jahren - er blättert darin herum und sofort ist ihm der Text wieder vertraut ...

Gabriele Kleinschmidt kommt ins Zimmer, Krammer ist versunken .

"Ist das schon eine Hausdurchsuchung?" fragt sie.

Er wird wach. Er sucht nach Worten.

"Entschuldigen sie, Fräulein Kleinschmidt, ich habe nicht das Recht, in ihren Büchern zu blättern. Es war einfach nur Neugierde. Und dann ... ja, sehen sie, dieses Buch habe ich vor fünfundzwanzig Jahren von einer guten Freundin zum Geburtstag bekommen und seitdem habe ich es nicht mehr in der Hand gehabt. Lange vor dem Krieg schon ist es verschwunden und jetzt sehe ich, daß es das wieder gibt. Bitte, ich wollte hier wirklich nicht herumschnüffeln."

Krammer fühlt sich richtig elend, daß seine Absichten so mißdeutet werden. Gabriele Kleinschmidt merkt auch sofort, daß sie zu streng war. Sie lächelt und ist richtig gerührt, daß dieser Kriminalbeamte auf einmal derart menschliche Züge bekommt. Sie will ihren Angriff wieder gutmachen:

"Wissen sie was, ich schenke es ihnen!"

Jetzt ist Krammer völlig verdattert und steht auf einmal sehr linkisch da. Er weiß nicht, was er sagen soll.

"Das ist wirklich ... also ich bin ganz erschlagen ..."

"Wir sollten jetzt den Kaffee trinken!"

Es wird ein gemütlicher Vormittag. Beide haben viel zu erzählen und so ist es halb eins, bevor Krammer wieder - das Buch in der Hand - auf der Strasse steht. Auch Gaby Kleinschmidt hat keine Ahnung, wer mit der Bombe gemeint sein konnte. Sie sicher nicht. Ihre 30 Jahre sind ohne Feindschaft verlaufen, zwar hätte sie allen Grund, einen gewissen Alex umzubringen, der ihr Verlobter war und dann Knall auf Fall eine andere geheiratet hatte, doch es sieht aus, als habe die Zeit diese Wunde schon geheilt.

"Ich würde mich freuen, wenn sie mal wieder vorbeikommen. Vielleicht mal wieder Samstag auf einen Muckefuck," dabei lacht sie.

"Gerne!" sagt Krammer.

Er findet, sie sieht einfach süß aus und sein Haß auf Muckefuck hat stark nachgelassen. Er steigt pfeifend in den Mord-Volkswagen.

 

 

10

 

Michael Klee findet den Schlüssel oben auf dem Türrahmen. Seine Eltern machen es oft ebenso und deshalb hatte er, bevor er einen Schlosser oder den Haus-verwalter holen ging, nachgeschaut ob Hermann Wolff irgendwo den Schlüssel versteckt hat.

Eine Fußmatte gibt es nicht vor diesem Kellerraum, der direkt neben der Heizung liegt. Zwei Kinder haben ihm den Weg gezeigt. Er schließt auf und tritt ein. An den Wänden des Raumes ist kein Verputz, die Mauersteine sind vor langer Zeit einmal geweißt worden, jetzt aber blättert die Farbe und der Sand rieselt aus den Fugen. In dieser Zelle steht ein Bett, ein Küchentisch und ein Stuhl. An der Wand hängen an langen Nägeln einige Kleidungsstücke. Auf dem Bett liegen zwei Wolldecken und ein Kissen, keine Bettwäsche. Ein altes Radio steht auf dem Tisch, es ist mit einer langen Leitung an einem Zweifachstecker in der Fassung der Deckenlampe verbunden. Eine weitere Leitung führt von der Lampe zu einem Heizstrahler unter dem Fenster. An der Wand hängt außerdem ein weißes Küchenregal mit einigen Lebensmitteln und Tellern und darunter steht auf einem Stahlgerüst ein elektrischer Kocher mit zwei Kochplatten. Darauf stehen eine Pfanne und ein Topf. Auf dem Tisch liegt ein Stapel mit Heften. Es sind sieben Hefte 'Billy Jenkins' und drei Hefte 'Tom Prox', Wildwestgeschichten. Darunter liegen Magazine mit Photos von nackten Frauen: drei Hefte 'Gondel', zwei Hefte 'Das Wiener Magazin' und ein Heft 'Wiener Melange'. Klee blättert die Magazine durch. Ein Bild schaut er sich sehr lange an. Es ist eine nackte Frau, die mit ausgebreiteten Armen im Wasser steht. Das Bild hat den orangen Hintergrund der untergehenden Sonne und die Schambehaarung der Frau ist feuerrot. Er starrt lange in das Bild hinein. Er merkt, daß es ihn nicht einmal sexuell erregt, es fasziniert ihn nur unglaublich.

Dann sucht er weiter. In der Schublade des Küchentisches findet er eine Pralinenschachtel mit mehreren Photographien und zwei Briefen. Die Photos zeigen wohl Hermann Wolff etwa als vierzehnjährigen Jungen mit einer Frau, vielleicht seiner Mutter. Wolff sieht etwas debil aus, die Frau ist füllig und macht einen herrischen Eindruck. Die Briefe sind von 1944 und 1946. Sie sind an: "Mein lieber Hermann"und schließen mit "Deine Mutter". Im zweiten Brief ist von ihrer Krankheit die Rede, er endet mit den Worten:

"und so hoffe ich, daß Du noch einmal den weiter Weg zu deiner armen kranken Mutter findest, die in aller Sorge stets an dich denkt."

Der Brief ist in Itzehoe abgestempelt, Klee weiß nicht, wo das ist. Unter der Pralinenschachtel findet er ein Sparbuch mit 247,30 DM sowie 85 Mark in Scheinen. Außer einem Eßbesteck, zwei Schraubenziehern und einem Büchsenöffner ist nichts mehr in der Schublade. In den Kleidungsstücken an der Wand entdeckt er noch ein abgerissenes Kinobillet. Unter dem Bett liegen in einem Karton noch einige Kleidungsstücke, ziemlich viele Bilderhefte der Serie 'Sigurd', schmale Streifenhefte, die die gezeichneten Abenteuer eines Ritters enthalten, weitere acht Hefte mit nackten Frauen und drei Illustrierte 'Der Stern' vom vergangenen Jahr.

Klee hat das Gefühl, innerhalb einer halben Stunde das ganze Leben eines Menschen kennengelernt zu haben. Arme Sau, denkt er, jetzt liegst du auf dem Stahltisch im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts und ein Arzt schneidet in deinem Körper herum, während ich deine Habseligkeiten durchwühle und genau wie der Arzt in die intimsten Bereiche deines armseligen Lebens eindringe. Jetzt erst merkt Klee, daß es gar keinen Wasseranschluß in diesem Raum gibt. Woher hat denn Hermann sein Wasser bekommen? Er überlegt, ob er die Spurensicherung herholen soll, eventuell könnten ja Fingerabdrücke von fremden Personen aufzufinden sein. Dann aber entschließt er sich, das nicht zu tun. Das Geschirr ist saubergespült, die Möbel und alle anderen Gegenstände sind so abgeschabt und rauh, daß schwerlich irgendwelche Abdrücke zu finden sein werden. Auch das Radio ist blitzeblank als er das Licht schräg darüberfallen läßt.

Das Sparbuch mit dem Geld, die Pornohefte, Photos und Briefe nimmt er und steckt sie ein. Er hat gesehen, daß in den Magazinen die Kreuzworträtsel angefangen worden sind, vielleicht kann man mal eine Schriftprobe von Hermann gebrauchen. Er wundert sich, daß keine Urkunden da sind, keine Geburtsurkunde, kein Ausweis, keine Arbeitsbescheinigung. Naja, vielleicht hatte Hermann Wolff das alles bei sich. Klee hat genug von diesem Kellerraum, er schließt ab und legt den Schlüssel wieder über den Türrahmen. Parterre entdeckt er ein Klo, der Schlüssel steckt und innen ist ein Spülstein. Hier also hat Hermann sein Wasser geholt. Er entschließt sich, im Haus nach Hermann zu fragen und erfährt, daß der Hausbesitzer im zweiten Stock wohnt.

Eine ältere Frau öffnet.

"Jaja, ich hab schon gehört, daß Hermann tot ist. Mein Mann hat ihm aus reiner Barmherzigkeit den Kellerraum vermietet. Wo sollte denn der arme Bursche hin. Den wollte doch niemand haben."

"Wie meinen sie das, den wollte niemand haben?"

"Naja, er war ´son Sonderling, wie soll ich das sagen, ein bißchen beschränkt halt. Den nahm niemand ernst. Die Kinder haben sich oft über ihn lustig gemacht und ihn geärgert. Wenn er uns nicht so leid getan hätte, hätten wir ihm den Raum ja gar nicht vermietet. Dem sah man an, daß er im Leben nur Schlechtes erfahren hatte. Dabei war er ein herzensguter Mensch. Er half meinem Mann oft. Er hat ja nie viel geredet, wissen sie, aber er konnte zupacken. Oft hat er ganz alleine zwei Tonnen Koks in den Keller geschaufelt. Und er hat sich wirklich nützlich gemacht. Bei der Heizung und wenn es mal Ärger mit dem Strom gab. Da hat er sofort geholfen, davon verstand er was. Naja reden konnte man mit ihm nicht so richtig, er kapierte ja oft nicht, was man meinte. Man mußte mit ihm sprechen wie mit einem kleinen Kind, ganz laut und langsam."

Klee merkt, daß sie mit ihm genauso spricht.

"Dabei war er gar nicht dumm, nur einfach oft ... abwesend, ja richtig geistesabwesend. Und sein Gesicht hatte immer so einen gequälten Ausdruck. Ja, er tat uns einfach leid."

"Hatte er manchmal Besuch?"

"Nein, nie. Ich habe nie so etwas bemerkt. Das hätten auch andere im Haus gemerkt oder die Kinder und dann hätte ich es erfahren."

"Vielleicht mal heimlich Frauenbesuch? So daß sie es nicht gemerkt hätten?" Klee weiß im gleichen Moment, daß die Frage einfach dämlich war, wie kann sie es wissen, wenn sie es nicht gemerkt hat.

"Hermann und Frauen? Nein, das ist ganz unmöglich. Er war viel zu schüchtern, der konnte ja mir noch nicht mal in die Augen schauen, dazu war er viel zu unsicher. Nein nein, sie können mir glauben, der hatte nie Besuch."

"Was hat er für sein Zimmer bezahlt?"

Klee fällt sonst nicht mehr ein.

"Fünf Mark im Monat. Erst hat er 10 Mark gezahlt, aber dann hat mein Mann gemerkt, daß er gut mit der Heizung umgehen konnte und da hat er jeden morgen um sechs die Heizung saubergemacht und eingefeuert und dafür hat mein Mann ihm fünf Mark von der Miete erlassen."

Klee beginnt allmählich, sich in Hermanns Situation hineinzuversetzen. Er fühlt sich wie ein Mensch, dem das Leben übel mitgespielt hat, so daß er in einem Kellerloch dahinvegetiert, vom Hausbesitzer ausgenutzt wird, von den Kindern verlacht wird, auf der Arbeit als Fußabtreter der Herren Redakteure behandelt wird. Die Mutter ist krank und als krönender Abschluß wird er in die Luft gesprengt. Klee merkt, wie nah ihm das geht. Er verabschiedet sich schnell von der Alten und macht, daß er wieder auf die Strasse kommt.

 

Zwanzig Minuten später betritt er das Redaktionsgebäude des "Tagesanzeigers". Er läßt sich vom Pförtner Hermanns Raum zeigen. Der liegt unter der Treppe zu den Redaktionsräumen. Tischler laufen hin und her und schleppen Bretter die Treppe rauf. Im Postraum sieht es ähnlich armselig aus wie in Hermanns Kellerverschlag. Ein großer Tisch steht darin, ein Stuhl und an der Wand hängt ein Regal mit 16 einzelnen Fächern. Unter jedem Fach steht der Name eines Redakteurs in Bleistift auf einem schmalen Zettel geschrieben. Der Name "Stein" steht unter zwei Fächern. Auf dem Tisch liegt ein Bleistift. Klee steigt auf einen Stuhl und findet oben auf dem Regal, in das die Post sortiert wird, noch zwei Pornohefte. Die waren von unten nicht zu sehen und konnten auch nicht erreicht werden. In einer Ecke des Raumes steht eine Aktentasche, sie enthält in der Seitentasche eine Blechdose mit zwei zusammengeklappten Butterbroten. Von gestern, denkt Klee, das Brot ist von gestern. Es ist mit Rübenkraut bestrichen und die Ränder wölben sich schon leicht. Er entsinnt sich an eine Rübenkrautdose in Hermanns Wandregal. Mehr ist nicht in der Aktentasche. Anschließend fragt er den Pförtner über Hermann aus. Die Antworten sind dieselben, wie die der Hauswirtsfrau: einfältig, redet nicht viel, extrem schüchtern, aber sehr hilfsbereit und - alle machen sich über ihn lustig. Hermann war so etwas wie der Trottel vom Dienst.

Klee fährt zurück ins Präsidium.

 

 

11

 

Weichmann und Dierkes sind schon da. Klee packt seine Aktentasche aus, Dierkes stürzt sich auf die Pornos und auch Weichmann greift hinein und blättert angeregt. Klee erzählt, wo er sie gefunden hat. Er hat ein sehr ungutes Gefühl als er sieht, wie die beiden sich um Hermanns Hinterlassenschaft reißen. Ihm ist, als habe er Hermann im Tode verraten, als habe er Hermanns Andenken beschmutzt. Dierkes fängt an zu feixen, er hat gerade die Frau mit den roten Schamhaa-ren entdeckt:

"Man, hat die Titten, ich wette, darauf hat Hermann sich einen abgewichst!" er grinst dreckig um Beifall.

Klee sieht rot, er reißt Dierkes das Heft aus der Hand und brüllt ihn an:

"Du mieser Typ, das ist alles, was dieser arme Bursche besessen hat. Ich will nicht, daß du dich darüber lustig machst. Ein Toter kann sich nicht mehr über deine ekligen Sprüche wehren!"

Dierkes ist total überrascht und stottert:

"S..s..sag mal spinnst du?" langsam fängt er sich und ballt die Fäuste.

"Das zahl ich dir heim!" er will auf Klee zugehen und ihm eine knallen. Weichmann tritt dazwischen.

"Das wirst du nicht tun. Schluß jetzt."

Weichmann merkt, daß er Respekt vor Klee bekommt. "Du läßt Klee in Ruhe. Er hat vollkommen Recht, wir haben kein Recht, uns über diese Hefte lustig zu machen. Guck in deine eigene Schublade und sieh dir an, was du immer mit aufs Klo nimmst. Also, Schluß jetzt."

Dierkes schaut Klee haßerfüllt an und lispelt wütend: "Komm du mir nicht noch einmal zu nahe, Bürschchen!"

Klee weiß, daß er sich einen Feind gemacht hat. Er weiß nicht, daß er sich auch einen Freund gemacht hat. Weichmann.

Krammer kommt. Alle berichten, was sie ermittelt haben. Wenzel ist eine undurchsichtige Figur. Weichmann hat das Gefühl, daß er ziemlich viel zu verbergen hat. Aber ein Motiv für jemanden, ihn zu ermorden, ist nicht sichtbar geworden. Wenzel kann sich das einfach nicht vorstellen. Hier glaubt Weichmann ihm. Er hat sehr bereitwillig Auskünfte gegeben über sein Leben nach dem Krieg, auch über mögliche Feinde.

"Doch als ich ihn nach seiner Tätigkeit vor dem Krieg gefragt habe, hat er rumgedruckst, ich glaube hier hat er ziemlich viel Dreck am Stecken."

Dierkes sagt völlig unvermittelt:

"Ja, das glaube ich auch!"

Alle schauen ihn an.

"Vielleicht sollten wir wirklich beim Vorkriegs-Wenzel ermitteln" denkt Weichmann laut.

"Schwierig" sagt Krammer, "das machen wir, wenn wir gar nicht mehr weiterwissen. Hat der ED schon was rübergeschickt?"

Allle gucken sich an.

"Dierkes, geh rüber und frag mal, wie weit die sind." Dierkes geht betont langsam aus dem Raum.

"Wo warst du eigentlich vorher?" fragt Weichmann Klee.

"Erst war ich einen Monat beim 4.K., beim "Einbruch" und dann habe ich vier Monate im 5. K., beim "Betrug" eine Sache mit einem Amischieberring bearbeitet. Da haben sie mich hingesteckt, weil ich ganz gut Englisch kann. Letzte Woche haben wir die hochgehen lassen."

"Wie alt bist du?" fragt Krammer.

"25"

"Und weshalb bist du zur Kripo gegangen?"

".Ja, ich weiß auch nicht ... ich habe vorher schon sehr viele andere Sachen gemacht. Mein Vater war vor dem Krieg bei der Polizei und hat gesagt, das wäre eine Arbeit, die würde mir Spaß machen. Er kannte hier zwei frühere Kollegen und hat mal mit denen gesprochen ... ja, und außerdem bin ich sehr neugierig. Ich will immer wissen, was hinter einer Sache steckt."

Das war nur die halbe Wahrheit. Klee hatte 1942 von einem Freund etwa 300 Hefte der Groschenromanserie "Tom Shark" geschenkt bekommen. Zu dieser Zeit, als alles Altpapier dringend benötigt wurde, ein wahrer Schatz. Er hatte seine einsamen Abende damit verbracht, sich in die Geschichten dieses Detektives und die seines treuen Freundes Pitt Strong hineinzu-versetzen, die mit Klugheit, Ritterlichkeit und Tollkühnheit die kompliziertesten Fälle gelöst haben. Ein Teil dieser Helden ist seit dieser Zeit auf ihn übergegangen und so war das Drängen seines Vaters, doch endlich einen anständigen Beruf zu ergreifen, schon auf einen von Tom Shark bearbeiteten Boden gefallen. Außerdem hatte ihn Gisela, seine Freundin, ebenfalls bedrängt, doch endlich solide zu werden, damit sie heiraten konnten. Schließlich wollte er auch bald von zu Hause ausziehen und das konnte er nur, wenn er ein geregeltes Gehalt bezog.

Das alles sagte er nicht, teils weil er es nicht wollte, teils weil er es in dieser Form selbst wußte.

"Ich denke als Beamter ist man doch am sichersten in dieser Zeit und wenn schon Beamter, dann an einer Stelle, wo ich möglichst viel mit Menschen zu tun habe und wo es nicht so langweilig ist, wie zum Beispiel bei der Post hinter einem Schalter."

"Langweilig ist es hier gewiß nicht," sagt Weichmann, " du wirst dich schon manchmal nach einem gemütlichen Schalter sehnen, wenn du das dritte Mal in einer Nacht zu einer Leiche gerufen wirst."

"Unser Kommissariat bearbeitet Mord, Raub, Erpressung," sagt Krammer,

"außerdem alle Tötungsdelikte, wie Freitod, Selbstmord, Unfalltod und alle Leichensachen, bei denen die Todesursache ungeklärt ist. Da kommen ´ne Menge Leichen zusammen." ´

"Ich schätze, wir haben pro Jahr etwa 700 Leichen."

Klee hat das Gefühl, sie wollen ihn einschüchtern. Sie wollen ihm, dem Neuen, klarmachen, daß diese Arbeit nichts für zarte Gemüter oder idealistische und neugierige Detektive ist.

"Ja, Leichen in jeder Form", sagt Weichmann, "Wasserleichen, steifgefrorene Leichen, vergammelte Leichen, Leichen mit Maden, zerschnittene Leichen, angenagelte Leichen, Leichen ohne Kopf und ohne Beine, manchmal haben wir nur einen Kopf, manchmal nur die Beine ..."

"Angenagelte Leichen?" unterbricht Klee.

"Ja, sicher," sagt Weichmann. Er geht zu seinem Schreibtisch und wühlt in der Schublade. Er tut so als finden sie jede Woche so etwas. Tatsache ist, sie hatten im vergangenen Jahr einen ungewöhnlichen Selbstmord. Der Mann war Angehöriger, sogar so etwas wie ein Führer einer religiösen Sekte und hatte seinen Sektenbrüdern genaue Anweisungen gegeben, ihn nach seinem Selbstmord in einer bestimmten Stellung an die Wand zu nageln. Das hatten die auch getan. Klee betrachtet das Bild der Leiche. Er findet, sie sieht sehr friedlich und frisch aus. Er hatte sich auf Schlimmeres gefasst gemacht.

'"Der Mann ist ja erst nach dem Tode festgenagelt worden," sagt Klee,

"denn die Stellen, an denen die Nägel in Füße und Hände geschlagen worden sind, sind vollkommen weiß und haben nicht geblutet."

"Ja, das stimmt." sagt Krammer und denkt, vielleicht ist der Bursche ja doch brauchbar.

Dierkes kommt.

"Na?" fragt Weichmann.

"Ja," sagt Dierkes, "die haben furchtbar viele Teile zum zusammenlegen. Was sie bisher mit Sicherheit sagen können, ist, daß die Sprengladung in einem Karton war und drumherum war Packpapier mit einem Faden festgezurrt. Sie haben feine Kupferfäden von einer Litze gefunden und außerdem Teile einer Batterie und eines Uhrwerkes ... was war denn noch? Ja ... und eine zerfetzte Notopfer-Briefmarke auf dem Packpapier. Keine Teile einer Beschriftung oder eines Aufklebers. Aber sie sagen, das heißt nicht viel, weil sie sowieso nur Bruchstücke des Papiers gefunden haben. Sie sagen, die Verpackung ist in Atome zerrissen worden. Der Sprengstoff könnte Dynamit gewesen sein, aber da wollten sie erst anfragen, was das LKA sagt."

"Was ist mit Fingerabdrücken?"

"Bis jetzt keine, die Schnipsel sind dafür auch viel zu klein."

"Scheiße," sagt Weichmann, "das ist ein lausiger Fall. Ich geh jetzt nach Hause!"

Offiziell haben sie am Samstag bis zwölf Uhr Dienst, es ist jetzt viertel nach zwei. Weichmann bleibt gern länger, die Arbeit läßt ihn vergessen, daß zu Hause seine quengelige Mutter im Lehnstuhl sitzt und erwartet, daß er sich kümmert. Andererseits hat er zu Hause sein Leidenschaft. Er bastelt Lokomotiven. Eine hat er schon fertig, es ist eine sehr lange grüne Schnellzuglokomotive mit Schlepptender, das Modell S 3/6, Bauserie i der Königlich Bayrischen Staatsbahn. Und im Moment arbeitet er an einer schweren Güterzuglokomotive der Baureihe 41, die, 1936 von der Firma Schwartzkopff erstmalig geliefert, bei der Deutschen Reichsbahn eingesetzt war und die heute wieder als Universallok bei der Bundesbahn fährt. Weichmann hat das Fahrgestell so gut wie fertig, im Moment wartet der Kessel darauf, zusammengelötet zu werden. Er legt keinen Wert darauf, eine Eisenbahnlandschaft oder viele Wagen zu bauen, ihm geht es nur um die Lokomotiven und die Kohletender. Beides stellt er dann in seinem Zimmer auf die Vitrine und freut sich daran. Er ist sehr geschickt.

Alle im ersten K. wissen, wenn es irgendwo eine Leiche im Zusammenhang mit der Eisenbahn gibt, ist Weichmann interessiert. Insbesondere im Hauptbahnhof ist er gut bekannt, weil er sich keine Gelegenheit entgehen läßt, den Photographen des Erkennungsdienstes, nachdem dieser die Leiche oder die verschiedenen Teile der Leiche photographiert hat, über die Gleise zu scheuchen und wenn irgendwo eine 41ger Lok steht, ihn darauf rumklettern und von allen Seiten Photos machen läßt: Weichmann braucht Details.

Jetzt, im Gehen, überlegt er, wie er das Wochenende möglichst ökonomisch zwischen seiner Mutter und seiner Lokomotive aufteilen kann. Am liebsten hätte er, Tante Hilde käme wieder zu Besuch. Die lästert zwar ungeniert über seine Leibesfülle, spielt aber dann stundenlang mit seiner Mutter 66, so daß er sich ohne Schuldgefühle zurückziehen kann.

"Tschüss" sagt Weichmann.

 

 

12

 

Montag, 23. Dezember.

Klee ist sauer. Er war wie jeden Sonntag mit Gisela im Kino. Und wie jedesmal, sie sitzen immer in der letzten Reihe, versucht er, ihr an die Wäsche zu gehen. Sie kennen sich etwa ein Jahr und dieses Jahr läßt sich erzählen als die Geschichte seiner Annäherung an ihren Körper. Nachdem sie ihm gestattet hatte, sie zu küssen, vergingen etwa drei Wochen bis er ihr an die Brüste fassen durfte, allerdings nur über der Bluse. Weitere vier Wochen verbrachte er damit, ihr unter die Bluse, aber noch nicht in den Büstenhalter zu fassen. Diese Arbeit der schrittweisen Annäherung (unter ihrem Büstenhalter) an ihre Brustwarze dauerte fast drei Monate. Nach einem dreiviertel Jahr konnte er - der Büstenhalter war jetzt ausgehakt,- ihre

blanken Brüste ausgiebig streicheln, drücken und küssen. Es sind sehr große und unglaublich schöne Brüste, weiß mit violetten Nippeln und fein durchschimmernden Äderchen. Im schwummerigen Licht des Kinos oder in irgendeiner dunklen Einfahrt, auf dem Nachhauseweg strahlen sie ihm entgegen. Er träumt von diesen Brüsten. Doch das Küssen (seit einiger Zeit sogar mit eifriger Betätigung der Zunge) und das Liebkosen der Brüste befriedigt Klee auf die Dauer nicht. Seit einiger Zeit ist er dabei, ihren Unterleib zu erforschen, doch, nachdem er an ihren Beinen hoch über den Rand der Strümpfe hinaus (das war eine lange Reise) bis an das Dreieck des Schlüpfers gestoßen ist, das von den fest zusammengepreßten Beinen gebildet wird, hat er das Gefühl: er kommt nicht weiter.

Gisela ist ein sehr warmherziges, weiches Mädchen, sie sieht süß aus mit ihrem Pony, doch sie hat die feste Vorstellung. Erst in der Ehe darf man Heiligtümer preisgeben. Klee hat sich anfangs sehr gern in ihre Träumereien über die Ehe und die vielen Kinder, die sie haben will, eingelassen. Mittlerweile aber fühlt er sich dadurch bedrängt, daß sie sich jedesmal, wenn er Schmusen und Streicheln will, entzieht und ihn vertröstet:

"Laß doch bitte, ich möchte das nicht machen, bevor wir es wirklich dürfen."

"Aber wir dürfen es doch, wir sind doch beide alt genug, du quälst mich wirklich."

"Sei doch bitte vernünftig." So geht das nun schon ein Jahr. Darüber ist Klee höchst unzufrieden. Er sitzt an seinem Schreibtisch. Gerade waren sie zur Frühbesprechung im kleinen Sitzungssaal und haben sich angehört, was die Kollegen aus den anderen Kommissariaten in Arbeit haben.

Dierkes hämmert auf seiner Maschine den Bericht über die Vernehmung von Wyssmann. Klee entwirft erst einmal mit dem Bleistift seinen Bericht über die "Wohnung" des toten Hermann. Krammer und Weichmann sind sofort nach der Frühbesprechung zu einer Baustelle gefahren. Dort hat ein Bagger bei Ausgrabungsarbeiten eines im Kriege zerstörten Hauses im Keller ein Skelett gefunden. Wohl ein Opfer des Bombenangriffes.

"Schreibt man Akademiker mit ck?" fragt Dierkes.

Er ist seit Samstag auffallend nett zu Klee. Und das macht Klee mißtrauisch. Ein Wachtmeister kommt mit einem Umschlag. Es ist das Sektionsprotokoll. Professor Wittholz, der Leiter des Instituts für gerichtliche und soziale Medizin der Universität Frankfurt hat, obwohl die Umstände des Todes klar zutage liegen eine große Leichenöffnung durchgeführt. Eigentlich hätte einer der Kripo-Beamten bei der Sektion anwesend sein müssen. Da Krammer jedoch in Absprache mit Semmelrogge (dem Leiter des 1.K.) sich von der Leichenöffnung keine neuen Anhaltspunkte über die Identität des Täters versprochen hatte und er die Zeit lieber für Ermittlungen verwenden wollte, war von ihnen keiner in die Forsthausstrasse gefahren und hatten den Herren bei der Arbeit zugeschaut. Und so hatte der Professor, sein Assistenzarzt, der Sektionsgehilfe (ein Oberpräparator) sowie ein Amtsrichter und der Sektionsprotokollant in einer zweistündigen Prozedur herausgearbeitet, daß Hermann Wolff, der Bürobote des "Frankfurter Tagesanzeigers" an den Folgen eines gewaltsam herbeigeführten Unterdruckes im Lungenraum, bei dem ein großer Teil der Oberfläche der Lungenblasen geplatzt waren und dem darauffolgenden Schock gestorben war. Säuberlich waren noch 42 verschiedene Wunden an seiner Körperoberfläche aufgeführt, die zu einem Blutverlust von insgesamt etwa 2500 ccm geführt hatten. Doch Todesursache war die Embolie des Lungenraumes und der damit verbundene Schock. Dierkes gibt den Bericht, nachdem er ihn überflogen hat, weiter an Klee. Er hat nur die Hälfte verstanden. Wieso gibt es einen Unterdruck wenn eine Bombe explodiert und wieso platzen dann die Lungenblasen? Er weiß nicht, daß in der Lunge sowieso ein Unterdruck herrscht und das der Grund ist, warum lange Zeit keine Operation an der offenen Lunge möglich war, da jedesmal wenn die Lunge verletzt wird und sie dem normalen Luftdruck ausgesetzt ist, die Lungenflügel sofort in sich zusammenfallen. Daß aber bei einem noch größeren Unterdruck, der oft im Gefolge einer Explosion auftritt - weil die Explosion den normalen Luftdruck wegdrückt und ein Vakuum entstehen läßt - sich die Luftbläschen schlagartig ausdehnen (wie ein aufgeblasener Luftballon, der in einer luftleeren Raum versetzt wird) und platzen. Klee, der im Gymnasium Physik gehabt hat, reimt sich diese Zusammenhänge etwas mühsam zusammen, indem er sich erinnert, daß diese Todesart bei vielen Opfern von Luftangriffen vorgekommen ist. Insbesondere die sogenannten Luftminen waren so ausgelegt, daß sie nicht in erster Linie eine Zerstörung der Umgebung bewirkten, sondern sie töteten durch Luftdruck. Klee schüttelt sich innerlich. Er geht in den übernächsten Raum und legt den Bericht auf Krammers Schreibtisch. Dann schreibt er weiter an seinem Bericht über Hermanns Wohnung.

"Ich versteh nicht, wieso Krammer und Weichmann zusammen zu einer Trümmerleiche geholt worden sind. Die haben wir hier doch fast jede Woche. Sonst geht da immer nur einer hin, meistens ein Assistent," sagt Dierkes beim Tippen.

 

 

 

13

 

Um 9 Uhr 45 hatte der Wachhabende des 9. Polizeireviers (im Westend) die Kriminalwache des Präsidiums telephonisch über ein "Besonderes Vorkommnis" unterrichtet. Im Keller des im Kriege zerstörten Hauses "Im Trutz 41" hatte ein Bagger Leichenteile, oder besser: Skeletteile, freigelegt und jetzt sind Krammer und Weichmann damit beschäftigt, die Knochen in einen Karton zu legen. Kriminalsekretär Mölner vom Erkennungsdienst, der mit den beiden mitgefahren ist, macht mit seiner alten Leica Photos vom Trümmergrundstück und der Fundstelle. Einige Neugierige und die Bauarbeiter gaffen. Vier Schutzpolizisten und der Chef des 9. Reviers stehen herum und frieren. Auch Weichmann friert. Es ist etwa fünf Grad über Null und es geht ein kalter Wind. Ein Bauarbeiter hatte ihnen genau beschrieben, daß die Knochen gradlinig in einer Richtung lagen, also Rückgrad, Arm- und Beinknochen sowie der Schädel eine Linie bildeten. Die Knochen enthalten keine Anhaftungen von Fettgewebe und Hautteilen, etwas Haar ist in der Nähe des Schädels zu finden, ebenfalls Reste von Kleidungsstücken dazu noch ein zusammengebackenes hartes Stück von der Größe einer Männerfaust. Es sieht nach Leder aus.

"Vielleicht ist das die Brieftasche" sagt Krammer.

"Eher ein Portemonnaie, das hier sieht nach einem stählernen Verschluß aus."

Sie legen alle Teile in den Karton, den ein Bauarbeiter in einem Lebensmittelgeschäft organisiert hat. Zum Schluß nimmt Weichmann noch ein Brocken der aufgerissenen Betondecke neben der Leiche und eine Handvoll Erde und tut sie ebenfalls in den Karton. Anschließend macht er sich Notizen für den Tatbefundsbericht. Mölner ist mit den Photos fertig.

"Soll ich von dir noch ein Photo machen? Auja, du stellst dich mitten auf die Trümmer und wir nennen das Photo dann "Weichmann nach getaner Arbeit" und das hängen wir dann in das Vernehmungszimmer. Sollst mal sehen, wie schnell du dann Geständnisse kriegst." Er kichert.

"Quatsch nicht, hier mach noch ein Photo in den Kasten rein."

Mölner blitzt in den Karton. Krammer kommt.

"Ich habe gerade mit zwei Leuten aus den Häusern da drüben geredet, die sind sicher, daß der Keller dieses Hauses nicht verschüttet war. Beide sagen unabhängig voneinander, daß das Haus von einer Brandbombe getroffen wurde und langsam von oben nach unten ausgebrannt ist. Aber bis zum Keller ist das Feuer gar nicht gekommen. Im Erdgeschoß haben sogar danach noch Leute gewohnt. Das ist kein Verschütteter."

Weichmann war schon vorher davon überzeugt, daß der Tote kein Bombenopfer ist. Das war auch die Meinung des Beamten vom 9. Revier, deshalb hat er auch auf ein Verbrechen getippt und sie waren zu zweit hier. Bombenopfer liegen nicht in Hab-Acht-Stellung unter dem Kellerfußboden. Das genau haben aber die Bauarbeiter berichtet. Die Leiche liege im Mutterboden unter der Zementschicht, die - etwa 6 cm dick - den Kellerfußboden bildet.

"Also entweder liegt der Knabe schon an dieser Stelle seit das Haus gebaut worden ist oder er ist irgendwann dort eingegraben worden."

"Was denkst du, wie lange liegt er hier."

"Mindestens 10 Jahre. Schau mal, in den Knochen ist kein Mark mehr."

"Und höchstens?"

"Schwer zu sagen, ich tippe auf 60 Jahre. Älter sind die nicht. Sonst würden sie leichter zerfallen, denke ich."

Sie sind fertig. Sie lassen sich noch die Personalien des Bauführers geben und fahren anschließend mit dem Photographen des ED in die Forsthausstrasse 104 zum Institut. Dort geben sie den Karton ab.

 

 

 

14

 

 

Es ist Mittagspause, alle haben die Stullen ausgepackt und essen. Weichmann pellt ein Ei.

"Jetzt haben wir noch einen Fall, wo wir weder Täter noch Opfer kennen." sagt Klee.

"Der Knabe hat Zeit," nuschelt Weichmann mit vollem Mund,

"der hat schon einige Jahre, vielleicht Jahrzehnte auf dem Buckel, den stört das auch nicht, wenn wir ihn noch ein bißchen in seinem Karton liegen lassen. Was mir mehr Sorgen macht, das ist Hermann. Wir haben nicht die geringste Spur."

"Ja, da müssen wir wirklich mit Druck ran." Krammer hat Hellige im Genick und der den PP. Beide wollen Ergebnisse sehen und er, Krammer, soll sie bringen. Dierkes meldet sich zu Wort:

"Ich habe vorhin noch einmal mit dem Postmann telephoniert, der die Post für die Zeitung sortiert. Er sagt, er ist sich ziemlich sicher, daß am Freitag kein Päckchen für den Tagesanzeiger in der Post war. Beschwören will er das aber nicht, er sagt es waren einige Rollen da, aber das waren gerollte Zeitungen. An ein Päckchen kann er sich nicht erinnern. Er sagt, das wäre ihm sicher aufgefallen, weil die Zeitung fast nie Päckchen kriegt. Und beim Postamt gibt es keinen Paketabschnitt. Also von dort ist auch kein Paket gekommen."

Weichmann glaubt Dierkes kein Wort, nicht etwa, weil es nicht so sein könnte, wie Dierkes gesagt hat, sondern weil er einfach weiß, daß Dierkes schlampig recherchiert.

Er sagt: "Gehen wir einmal davon aus, es wäre tatsächlich so und das Päckchen ist nicht mit der Post gekommen, dann hätten wir eine weitere Spur. Wenn jemand hier das Paket auf Hermanns Wagen gelegt hat, dann ist der Täter auch hier in Frankfurt zu suchen. Wahrscheinlich in der Redaktion oder im Bekanntenkreis der Redakteure. Dann ist es möglich, daß er sich das Dynamit besorgt hat und wir müssen nur jemanden finden, der sich in der letzten Zeit hier in der Umgebung Dynamit beschafft hat."

"Und woher kriegt man Dynamit?" fragt Dierkes.

"Von Abbruchunternehmen" sagt Weichmann.

"Vom Sprengmeister" sagt Krammer.

"Von der Firma Impex" sagt Klee.

"Von Dynamit Nobel" sagt Weichmann.

"Moment", Weichmann springt auf, greift sich das Telephon und ruft die Nummer 264 an, die Abteilung "Waffen und Gerät" (Waffen und Gerümpel).

"Hee, Weichmann hier. Wenn ich jemanden mit Dynamit umbringen will, wo kriege ich das Zeug her?"

Er hört einen Moment zu, sagt:

"Du bist ein Schatz!" und hängt ein.

"Nun?"

"Ganz einfach" sagt Weichmann,

"Dynamit kriegt man 500 Meter weiter im Bahnhofsviertel."

"Mensch, toll!" Krammer springt auf.

"Dierkes, du gehst in den "Kakadu" und du, Olaf, hörst dich im Bahnhof um. Ich gehe zu den Nutten." Weichmann pellt ein neues Ei. Dann nimmt er den Salzstreuer, streut Salz auf das Ei und beißt ab:

"Und was machen wir mit ihm?" Er zeigt auf Klee.

Krammer überlegt, wem er Klee mitgeben kann und merkt, daß er ihn selbst nicht dabeihaben will, irgendwie fühlt er sich dann behindert. Er will ihn gerade Weichmann mitgeben, da fällt ihm etwas Neues ein.

"Wir müssen unbedingt mehr über Hermann wissen. Also, paß auf ... eh ... Michael, ich möchte den ganzen Lebenslauf von Hermann Wolff in ausführlicher Form; wenn es geht, mit allen Personen, die um ihn herum waren. Was mit seiner Mutter ist, wie sie in diesem Kaff ..."

"Itzehoe."

"...in Itzehoe gelebt haben. Alles. Freund und Feind. Besonders natürlich die letzten, na sagen wir, drei Jahre. Du tust einfach so, als wäre die Bombe für ihn bestimmt gewesen. Finde heraus, wer einen Grund hätte, das zu tun."

Klee ist muffig. Er wäre viel lieber mit zu den Nutten gegangen. Jetzt kann er den ganzen Nachmittag am Telephon hängen oder Fernschreiben rausgeben. Zu Krammer sagt er:

"Mach ich."

 

 

15

 

Weichmann hat Lippitz auf Anhieb entdeckt. Er lungert bei der Gepäckaufbewahrung herum und wartet, eine Zeitung in der Hand, darauf, daß jemand vorbeikommt, dem er die Brieftasche oder das Portemonnaie klauen kann. Anselm Lippitz war einmal Zauberer und gar kein schlechter. Er hatte vor dem Krieg unter dem Namen "Calini" sogar Auftritte im Dortmunder "Wintergarten". Doch er ist alt geworden; die Geschwindigkeit seiner Hände hat nachgelassen und außerdem zittern sie. Schon während des Krieges war er auf die schiefe Bahn geraten, zu einer Zeit, in der Zauberer nicht mehr gefragt waren. So brachte er sich mit Einbrüchen und Taschendiebstählen mühsam durch die Kriegsjahre. Immer in der Angst, erwischt zu werden und ins KZ zu kommen. Im September 1944 brach er eines Nachts mit einem Kollegen in eine Villa im Westend ein. Das Haus stand leer, alles war wirklich sorgfältig geplant, doch dann gab es Bombenalarm. Beide zogen sich in den Keller zurück, das Haus erhielt einen Volltreffer und stürzte zusammen. Sein Partner war sofort tot und Lippitz lag zwei Tage lang unter den Trümmern. Beide Beine waren gebrochen und er verbrachte vier Monate im Gefängnishospital. Da die Villa einem hohen Wehrmachtsoffizier gehörte, der in Riga im Einsatz war, bastelte der Staatsanwalt an einer Anklage wegen Wehrkraftzersetzung und zwar wegen "heimtückischer Zersetzung der Moral unserer kämpfenden Truppe ". Lippitz wußte, daß ihn das den Kopf kosten würde. Nur der Einzug der Amerikaner in Frankfurt am 29. März 1945 rettete ihn vor dem Schafott in Preungesheim. Er hatte Glück. Seine Anklage wegen Wehrkraftzersetzung bewirkte jetzt, daß ihn die Amerikaner als politischen Gefangenen einstuften und laufenließen. In dem Moment jedoch, als er im Mai 45 - es war ein wunderschöner Vorsommertag - durch das Gefängnistor in die Freiheit schritt, begannen seine Hände zu zittern. Bis heute. Seltsamerweise gibt es eine Gelegenheit, bei der das Zittern vollständig verschwindet. Von dem Augenblick an, in dem er ein Opfer ausgespäht hat, geht ein Ruck durch seinen Körper, er wird merklich größer und das Zittern ist wie weggeblasen. Er ist in Gefahr. Und erst wenn die Gefahr vorüber ist, wenn er die Beute hat (oder er den Versuch abbläst) setzt das Zittern wieder ein. Weichmann kennt diese Geschichte. Er mag Lippitz und hält ihn sich als seinen persönlichen Spitzel. Lippitz weiß ebenso, daß er von Weichmann im Prinzip nichts zu befürchten hat. Beide nicken sich zu. Weichmann deutet mit dem Kopf in Richtung Bahnhofsklo und geht die Treppe hinunter. Es stinkt fürchterlich. Neben der Waage steht ein Schwuler und kämmt sich im Spiegel der Meßskala.

"Verpiß dich" zischt Weichmann.

"Hee! Was fällt ihnen ein." Der Schwule ist angenehm empört.

"Wenn du nicht in einer Sekunde weg bist, hau ich dir aufs Maul ."

Der Mann mustert angewidert und ein wenig ängstlich Weichmanns Gestalt, besonders vor dem Wabbelkinn ekelt es ihn. Er will sich betont lässig umdrehen und gehen, sieht jedoch aus den Augenwinkeln, daß Weichmann ausholt, ihn zu treten. Aus dem Stand fängt der Schwule an zu rennen, stolpert auf der Treppe über Lippitz, rappelt sich wieder hoch und verschwindet keifend.

Lippitz zündet sich mit zittrigen Fingern eine Overstolz an. Weichmann raucht nicht.

"Wir haben einen Fall, bei dem Dynamit eingesetzt worden ist. Wir nehmen an, daß das Dynamit aus der Bahnhofsgegend stammt. Ich brauche von dir die Namen von Leuten, die mit sowas handeln."

"Ist das die Sache bei der Zeitung?"

"Ja"

Lippitz überlegt. Er muß immer abwägen zwischen der Loyalität seinen Kollegen gegenüber und der Gefahr, Weichmann zu verärgern. Weichmann könnte, wenn er sauer wird, dem Bahnhofsrevier einen Tip geben.

"Ich habe gehört", sagt Lippitz sehr langsam "daß im Goethe-Cafe zwei Amerikaner deutsche Waffen und Sprengstoffe aus dem Krieg angeboten haben. Es ist allerdings schon gute zwei Monate her, daß ich das gehört habe."

"Namen?" sagt Weichmann.

"Weiß ich nicht."

"Von wem hast du's gehört?"

"Naja, sie wissen doch, wie das ist, man schnappt hier und dort etwas auf."

"Namen?", sagt Weichmann.

Lippitz beißt sich auf die Lippe. Jetzt hat er Mist gebaut. Ausgerechnet Senf, der selbst nebenher mit Waffen handelt, ist sein Informant.

"Mensch, Weichmann, ich kann ihnen den Namen nicht sagen, wenn der das rauskriegt, daß ich euch das gesteckt habe, dann bin ich fertig."

"Wieso, was macht denn der?"

"In der Hauptsache beschafft er den Amis Marihuana."

"Das interessiert mich nicht, ich verspreche dir, ich lass ihn in Ruhe. Ich will nur die Information über den Sprengstoff von ihm."

Lippitz überlegt, ob Senf selbst das Dynamit verkauft haben könnte. Senf ist halt eine bekannte Adresse für Schießeisen in der Bahnhofsgegend.

"Paß auf, ich mache ihm gegenüber falsche Andeutungen, von wem ich den Tip haben könnte. Ich rede von meiner "Informantin". Da wir die Nutten sowieso vernehmen, ist das sicher glaubwürdig."

"Der Mann heißt Harald Senf." sagt Lippitz.

"Wo wohnt er? Oder wo treffe ich ihn,"

"Wo er wohnt, weiß ich nicht. Er sitzt meist in den Fischer-Stuben."

"Ist er ein Kunde bei uns."

"Wahrscheinlich hat das Rauschgift-Dezernat ihn in den Akten."

"Wen kennst du sonst noch, wer mit Schießeisen handelt?" "Ich weiß nur, wenn einer eines braucht, geht er in den "Kakadu". Der Wirt vermittelt das."

"Ja, das weiß ich auch schon."

 

16

 

Dierkes steht im Hinterzimmer des "Kakadus" und hält seine Unique in der Hand. Der Hammer ist gespannt, sie ist schußfertig. Vor ihm stehen drei Typen mit den Händen über dem Kopf an die Wand gelehnt. Dierkes tastet die drei nach Waffen ab. Einer hat einen Totschläger in der Jackentasche. Er besteht aus drei Stahlfedern, die teleskopartig auseinandergefahren werden können und am Ende befindet sich eine Stahlkugel. Alle drei haben Angst. Da Dierkes keine andere Waffe findet, befielt er:

"So, umdrehen und die Papiere!"

Die drei saßen noch vor einer Minute am Tisch und spielten "Mauscheln". Dierkes, der sie durchs Fenster hat Kartensspielen sehen, war durch die Hintertür ins Haus gelangt und hatte, seine Pistole in der Hand, die Zimmertür aufgestoßen:

"Und an die Wand ihr miesen Ratten!"

Erst seine Frage nach den Papieren läßt die drei ahnen, daß der blonde Hühne, der da vor ihnen steht, ein Bulle ist. Ihre Angst läßt nach.

"Was soll denn dieser Unsinn, warum denn gleich mit der Kanone?" fragt einer etwas verschüchtert.

"Schnauze," sagt Dierkes, "hier rede ich!'"

Er schaut sich die grau auseinandergefalteten Lappen an, die die drei ihm als Legitimation reichen. Also Ausweise haben sie. Das heißt, sie sind nirgends entsprungen. Dierkes überlegt, ob er sie ins Bahnhofsrevier schleppen soll. Wegen Glücksspiel. Aber dann fällt ihm ein, daß er Ärger mit Krammer bekommt, wenn er wegen dieser drei Pennbrüder seine eigentliche Arbeit nicht tut. Auf dem Tisch liegen etwa 50 Mark in Scheinen und Münzen. Dafür muß Dierkes etwa eine Woche arbeiten. Aber auch an das Geld kann er nicht ran. Es ist zu riskant. Da fällt ihm etwas ein.

"Du da, du setzt dich jetzt hin und schreibst in mein Notizbuch eure drei Namen und die Adressen. Dann könnt ihr abhauen."

"Und unser Geld?"

"Das Geld und die Karten bleiben erst mal hier liegen. Ihr könnt es euch vielleicht später vom Wirt wiederholen."

Er vergleicht die Ausweise mit den Namen in seinem Notizbuch.

"Haut, jetzt haut ab und schickt mir den Wirt her!"

Es reizt Dierkes immer noch, das Geld einzustecken. Doch was man auch über ihn denken mag, er ist nicht dumm. Er weiß, wie schnell er über so etwas stolpern kann, sogar ein Polizeipräsident ist vor vier Jahren über eine viel kleinere Sache gestürzt. Wenn er ein krummes Ding dreht, muß es sich lohnen oder totsicher sein. Gleichwohl: 50 Mark sind 50 Mark. Er zählt das Geld noch einmal genau: 67 Mark.

"Stecken sie es ruhig ein und wir vergessen dann die ganze Sache!"

Der Wirt ist lautlos eingetreten. Dierkes schnellt herum, er hat die Pistole immer noch in der Hand:

"Paß auf, du miese Ratte, du glaubst doch nicht, daß du mich für 67 Mark kaufen kannst?"

Und er fügt hinzu:

"Paß auf, auf Glücksspiel stehen zwei Jahre Knast. Der Paragraph 234 besagt, daß auch der, der die Einrichtungen zur Verfügung stellt, die volle Härte des Gesetzes ... eh ... trifft."

Mit Paragraphen nimmt Dierkes es nicht so genau. Doch das Gesetz gegen öffentliches Glücksspiel, der Paragraph 284 lautet tatsächlich: "Wer ohne behördliche Erlaubnis öffentlich ein Glücksspiel veranstaltet oder hält oder die Einrichtungen hierzu bereitstellt wird mit Gefangnis bis zu zwei Jahren und mit Geldstrafe oder mit Geldstrafe bestraft."

Insofern hat Dierkes erst einmal Oberwasser.

"Und jetzt hör gut zu, entweder ich nehme dich mit und du gehst zwei Jahre in den Kahn oder du beschaffst mir die Namen von denjenigen, die hier im Bahnhofsviertel in der letzten Zeit mit Dynamit gehandelt haben."

Der Wirt ist ein Meter fünfundachtzig groß und sehr muskulös. Hinter seiner Lederschürze verbirgt sich ein massiger Wanst und der ganze Mann macht den Eindruck eines Kraftpaketes. Er hat keine Angst und weiß, daß der Bulle ihm nicht viel anhaben kann. Im Gegenteil, er merkt, daß dieser allmählich Angst vor ihm bekommt. Die Fingerknöchel, die den Griff der Waffe umklammern, sind schneeweiß. Doch der Wirt will keinen Ärger, er ist - trotz oder wegen seiner Masse - Phlegmatiker.

"Warum willst du das wissen?" fragt er nach einer Weile. Dierkes, dem allmählich dämmert, daß er hier mit seiner Kraftmasche nicht landen kann, beschließt, zu überhören, daß der Wirt ihn duzt, und denkt fieberhaft nach, ob er seinem Gegenüher den Grund sagen soll. Er spürt, daß er dann sein Gesicht verliert und auf die Kooperation des Wirtes angewiesen wäre. Und Dierkes haßt es, zu kooperieren. Aber er weiß auch, daß der Wirt im Präsidium schweigen würde. Im Grunde genommen ist der nämlich gutmütig. Dierkes spürt außerdem, daß der Wirt ihn - einmal gereizt - zerquetschen könnte. Er wird vorsichtig. Als Friedensangebot läßt er erst einmal mit dem Daumen der linken Hand den Hammer seiner Pistole langsam auf den Schlagholzen vorgleiten, legt den Sicherungsflügel um und steckt die Waffe ein.

"Paß auf", sagt er "irgendjemand hat jemand anderen mit Dynamit umgebracht und ich muß herausfinden, wo das Dynamit gekauft oder geklaut worden ist. Dabei geht es uns nicht um den Händler, sondern nur um den, der es gekauft hat. Wenn du mir da einen Tip gibst, vergess ich die Sache hier."

Der Wirt überlegt, dann sagt er:

"Warte", geht zur Tür und brüllt:

"Heiner."

"Ich werde dir nicht sagen, von wem du hier im Bahnhofsviertel Dynamit kaufen kannst, aber ich werde dir einen anderen Tip geben."

Der Kellner tritt ein. Er ist hager, beinahe schon ausgehungert und hat einen schwarzen Anzug an.

"Erzähl dem Polizisten, was du mir neulich erzählt hast... über den Burschen, der von dir wissen wollte, woher man Dynamit kriegen kann."

Heiner schielt mißtrauisch zu Dierkes rüber.

"Ja, das war so ... Etwa vor zwei Monaten da kam einer hier abends rein, den ich vorher noch nie gesehen habe. Er saß bestimmt zwei Stunden an einem Tisch in der Ecke und trank mehrere Glas Limonade. Schließlich hat er mich an die Seite gezogen und hat mich gefragt ob ich wüßte, woher man Sprengstoff bekommen könnte. Er fragte mich sogar nach einem ganz bestimmten Sprengstoff ... den Namen habe ich noch nie gehört. Ich habe ihm natürlich gleich gesagt, er soll machen, daß er wegkommt, sonst hole ich die Polizei."

"Wie sah der aus?" fragt Dierkes und klappt sein Vokabelheft auf.

 

 

 

17

 

Der Heizungskeller ist riesig. Zwei überdimensional große Heizkessel stehen in einer Senke, es ist heiß. Der Raum ist gefüllt mit Heizrohren, die mit bräunlichem Isoliermaterial umwickelt sind. An manchen Stellen ist die Isolierung verrottet und das Material hängt in langen Fäden von den Rohren. Es sieht aus, als wären es pelzige Schlangen. Im Licht einer trüben Glühbirne, die etwa zwei Meter über ihnen baumelt, sieht der Keller gespenstisch aus. Bräunlich dreckiges Wasser steht in der Senke. Kohlenberge türmen sich unter dem einzigen Kellerfenster und eine Menge Gerümpel, alte Zeitungen, kaputte Möbelstücke liegen - vom Wasserdampf aufgebläht - überall herum. Der Hausbesitzer, ein etwa sechzig Jahre alter fetter Glatzkopf, jammert mit einer weinerlichen Stimme um Klee herum.

"Sie glauben gar nicht, wie schwer mir das fällt, jeden Morgen hier einzuheizen. Ich bin doch nun wahrlich nicht mehr der jüngste und mein Rheumatismus ... den habe ich mir genau in diesem Loch geholt ... und jetzt muß ich auch noch die Kohlen allein in den Keller schaufeln ..., und wofür rackert man sich hier ab? Und die Mieter, glauben sie, die danken es einem ... die Miete zahlen sie immer unpünktlicher ..."

Er hatte schon vorher eine geraume Weile über die Schlechtigkeit der Welt und über die Tatsache, daß man ihm jetzt auch noch seine kleine Hilfe - nämlich Hermann Wolff - weggenommen hat, bittere Klage geführt. Klee sagt die ganze Zeit nichts. Er ist hergekommen, um noch einmal Hermanns Habseligkeiten nach biographischen Details durchzusehen. Dabei hatte er erfahren, daß der Hausbesitzer hereits heute Morgen die Kammer Hermanns leergeräumt hatte, weil er hoffte, schnell einen "Nachmieter" zu finden. Glücklicherweise sind die Sachen noch nicht im Ofen gelandet, sondern liegen noch in einer Ecke des Heizungsraumes. Klee erkennt an dem Koffer, daß der Haufen, der da vor ihm liegt, Hermann gehört. Er macht sich noch einmal darüber her. Diesmal in der Absicht, Aufschluß zu erhalten über Hermanns Leben. Der Hausbesitzer jammert weiter, doch Klee filtert das Geplappere einfach weg, er hört gar nicht hin. Der Stapel und der Kofferinhalt sind schnell gesichtet. Einige Sachen fehlen.

"Wo ist das Radio?" unterbricht Klee den Hausbesitzer. Der ist etwas verlegen. Bei Klee wächst der Verdacht, daß der Glatzkopf nur deshalb so viel quasselt, weil er sich die Hälfte der Sachen unter den Nagel gerissen hat.

'"Und es fehlen noch andere Sachen. Wo sind die?"

"Einen Teil der Sachen habe ich erst einmal zu mir in den Keller geschafft. Ich habe mir gedacht, wenn sich Angehörige melden, dann müssen die Sachen ja noch gut erhalten sein."

"Ja, sicher" sagt Klee, "kommen sie, zeigen sie mir die Sachen."

Sie verlassen den Heizungsraum und der Hausbesitzer schließt eine Lattentür gegenüber der Waschküche auf. Da stehen auf einer Werkbank der Heizofen, das Radio, der Kocher und die Teller, Töpfe und Pfannen. Alles ist erst vor kurzem noch einmal saubergemacht worden. Der Heizofen ist noch feucht. Ohne Zweifel, der Typ wollte die Sachen in seinem Haushalt verwenden oder verscheuern.

"Es fehlen noch Illustrierte und Hefte!" sagt Klee.

"Die habe ich mit nach oben genommen."

"Holen sie sie," sagt Klee,"hat ihnen denn niemand gesagt, daß es sich bei diesen Sachen möglicherweise um Beweise in einem Mordprozeß handeln könnte?"

"Nein," sagt der Mann, "das hat mir niemand gesagt."

Mist, denkt Klee, das habe ich tatsächlich vergessen.

"Ich hole die Sachen sofort", sagt der Mann, der es jetzt mit der Angst zu tun bekommt. Er watschelt die Kellertreppe hoch. Dieser Keller ist so eine Art Reparaturecke des Hausbesitzers. Jede Menge Latten und Holzabfälle liegen hier herum. Außerdem Schrauben und etliche Werkzeuge. Auch die Sachen, die hier herumstehen, geben Klee keinen weiteren Hinweis mit dem er etwas anfangen könnte. Er hat heute schon recht viel über Hermann in Erfahrung bringen können. Am frühen Nachmittag war aus Itzehoe ein Fernschreiben folgenden Inhalts eingegangen:

 

"Betr.: Auskunft über Familienverhältnisse des Mordopfers Hermann Maria Wolff, geb. 19.6. 1921 in Itzehoe

 

Bezug: Ihre fernschriftliche Anfrage vom 20.12.1953

Az. 20 js.659/53

 

Aus den Unterlagen des hiesigen Einwohnermeldebüros sowie unseren Ermittlungen beim Bezirksschulamt, Arbeitsamt und den Unterlagen des ehem. Kreismusterungsamtes Itzehoe/Holst. hat sich über die Person des Hermann Maria Wolff folgendes Bild ergeben. Mutter: Hannelore Maria Wolff, geb. am 20.12.1888 in Eckernförde/Holstein, ging 1910 nach Itzehoe als Beiköchin in den Dienst der Familie Sterkrade, Breitenburger Strasse 4. Ab 1913 als Köchin in das Krankenhaus am Langen Peter. Am 19. Juni 1921 Geburt ihres einzigen (unehelichen) Sohnes Hermann Maria. Der Vater ist weder im Geburtsregister, noch beim Einwohnermeldeamt angegeben, ebenfalls nicht in den Taufunterlagen. Hermann Maria Wolff besuchte von 1927-1934 die Volksschule (heute Fehrs-Schule), anschließend zwei Jahre Tätigkeit bei dem Elektromeister Schilling in der Feldschmiede 32 (als Aushilfe), danach zwei Jahre Friedhofsgärtnerei und drei Jahre bei der städtischen Abfallbeseitigung. Anschließend Militärdienst bis Kriegsende bei der Heeresgruppe H in Holland.

1945 wahrscheinlich in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Am 21.12.1953 suchte KOS Mantell die Mutter des H. M. Wolff im Altersheim am Sandberg auf und überbr. ihr die Nachricht vom Tode ihres Sohnes. Die Mutter ist leidend und ihr Gedächtnis ist nach Auskunft des Anstaltsarztes stark gestört. Sie konnte sich anfangs gar nicht an ihren Sohn erinnern, nahm dann seinen Tod sehr gefasst auf. Es ist ihr auch finanziell nicht möglich die Beerdigungsformalitäten zu übernehmen oder die Leiche zu überführen. Sie erklärt sich, auf mehrmaliges Befragen ausdrücklich bereit, ihren Sohn in Frankfurt bestatten zu lassen. Sie ist bettlägerig.

Itzehoe, den 21.12.1953 gez. KK Job"

 

Klee hatte daraufhin sofort ein zweites Fernschreiben nach Itzehoe aufsetzen lassen. Ihm war folgende Idee gekommen:

"Erbitte genaueren Lebenslauf des Hermann Maria Wolff, inshesondere eine Klärung der Frage, ob Wolff mit einer der im Folgenden aufgeführten Personen Kontakt in Itzehoe hatte. Oder ob eine der Personen in Itzehoe angesiedelt war: ..."

Und dann hatte er die Namen sämtlicher Redakteure und der beiden Schreibmädchen des "Frankfurter Tagesanzeigers" absetzen lassen. Sollten die Kollegen in Itzehoe auch mal ein bißchen herumlaufen. Der Hausbesitzer kommt mit einem Packen Papier die Treppe heruntergeschnauft. Er setzt ihn auf der Werkbank ab.

"Ich kann doch wirklich nicht wissen, daß diese Sachen hier wichtig sind."

Er verfällt wieder in seinen Jammerton. Er habe es wirklich nicht leicht ... und jetzt auch noch die Polizei im Haus ... Klee hört gar nicht hin, sondern holt aus dem Heizungsraum den Koffer und packt alle Schriften hinein; er blättert einige der Westernhefte durch. Schließlich bleiben nur noch die Illustrierten übrig. Er beginnt, sie durchzusehen. Es sind drei Hefte der Illustrierten "Der Stern" vom vergangenen Jahr. Die Nummer 1, 2 und 3. Sein Auge bleibt an einem Bericht hängen, der heißt "Spur aus dem Nichts" und ist von Tilmann Beer. Als Klee zu lesen beginnt, verschwindet der Keller um ihn herum allmählich.

 

 

 

18

 

Krammer steht am Fenster. Von seinem Zimmer aus, kann er auf den Hinterhof des Präsidiums schauen. Auf der gegenüberliegenden Seite steht der Flügel mit den Haftzellen. Manchmal kann er deutlich Gesichter durch die Scheiben sehen. An der rechten Seite steht der Bunker und dahinter die schmalen Gebäude der Stallungen, in denen die Polizeipferde eingepfercht sind. Im Innenhof stehen die Fahrzeuge, zwei Kastenwagen des Überfallkommandos und drei Mercedes-Steifenwagen. Einige schwarze Volkswagen, Dienstwagen der Kripo, stehen am Rande des Parkplatzes. Krammer war gerade in der Elbestrasse und in der Moselstrasse und hat mit fünf Nutten gesprochen. Den Weg durch die Stadt zum Allerheiligentor hat er sich geschenkt. Die Nutten mögen Krammer. Er verhält sich nicht so ungehobelt und abfällig wie seine Kollegen vom 4. Kommisariat, die die Sitten zu hüten haben. Außerdem wissen sie, er will ihnen nichts. Krammer behandelt Nutten - überhaupt alle Frauen - wie ein Grandseigneur: er macht ihnen den Hof. Dierkes möchte Nutten anpissen und Weichmann läuft der Speichel aus dem Gesicht, wenn er eine sieht, doch Krammer wird zum Gentleman. Damit kriegt er alles von ihnen. Doch er macht es nicht deswegen. Im Grunde seines Herzens hat Krammer selbst sehr viele weibliche Teile in sich und er fühlt sich bei den Nutten deshalb so gut, weil er merkt, sie sind frei und sehr offen. Nicht das Sexuelle ist es, das ihn fasziniert, er fühlt mit ihnen als Frau unter Frauen. Es sind seine Schwestern und er merkt, sie verstehen ihn. Doch helfen konnten sie ihm diesmal nicht. Nein, Dynamit damit hatten sie noch nie zu tun. Gehört hatten sie alle, daß es Sprengstoffe von den Amis gibt - ebenso wie Maschinenpistolen oder Panzer (wenn man sie bezahlen kann). Aber konkrete Adressen? Er sollte es mal im "Paradiso" oder im "Palladin" versuchen. Krammer kennt diese Etablissements, sie öffnen erst abends und dann ist dort der Teufel los mit einer mörderischen Lustigkeit. Dort jemand zum Reden zu bewegen ist ein Mitternachtsjob. Beschissen! Es ist jetzt halb fünf und Krammer will nach Hause. Morgen ist Heiligabend und er hat seiner Frau versprochen, einen kleinen Weihnachtsbaum zu kaufen. Im letzten Jahr hatten sie erstmals seit zehn Jahren wieder einen Baum aufgestellt. Krammer wollte das eigentlich nicht. Für wen? Ja, wenn sie Kinder hätten. Doch dann hatte er gemerkt, daß seine Frau im Angesicht des Baumes viel von ihrer Bitternis und Härte verlor und auf einmal sehr kindlich und weich reagierte. Ja, sie verfiel sogar einmal mit glänzenden Augen in eine sehr drollige und zärtliche Kindersprache. Und auch Krammer rührte es das Herz, weil er sich im letzten Jahr erinnerte, daß Weihnachten die Zeit war, in der er als Kind im Mittelpunkt stand und seine Eltern einmal etwas machten, was sie sonst das ganze Jahr nicht taten: Sie wendeten sich ihm zu.

Beim Gedanken an den Weihnachtsbaum, den er gleich kaufen würde, hat Krammer das Gefühl von Weinen und Freude zugleich. Es ist ein schönes Gefühl.

 

Krammer hört Weichmann schon auf dem Flur traben. Weichmann hat die Angewohnheit, oft auch dann zu laufen, wenn es keinen Anlaß gibt. Es ist, als ob er dann den Kampf mit seinem Fett aufnimmt. Dabei ist es gar kein richtiges Laufen, sondern ein schnaufendes Traben und seine Massen schaukeln auf und nieder. Seine Arme bewegen sich dann in Hüfthöhe waagrecht hin und her und es könnte der Verdacht entstehen, Weichmann ist in diesem Augenblick eine Lokomotive. Aber das ist natürlich absurd. Die Tür wird aufgerissen, er stürmt herein . Jedesmal denkt Krammer, Weichmann müßte doch jetzt außer Atem sein, aber das ist nicht so.

"Und?" fragt Krammer.

"Ich habe einen Namen", sagt Weichmann,

"Harald Senf," er wählt die Nummer des Erkennungsdienst. Es meldet sich Kriminalsekretär Friedhelm Stolze, genannt "Friedel". Er ist ein Schlitzohr. "Weichmann"

"Was willst denn du?"

"Was habt ihr über Harald Senf?"

"Eine Menge. Rauschgift und Waffen. Steht auf der Fahndungsliste."

"Ach du Scheiße, ihr sucht den?"

"Ja, also eigentlich wollen wir ihn ja nur als Zeugen. Aber als er gemerkt hat, daß wir nach ihm suchen, ist er aus seiner Wohnung verschwunden. Wahrscheinlich denkt er, wir haben etwas gegen ihn. Na und weil er das denkt, denken wir, wir können ihn wegen irgendwas festnageln . Damit wir dann seine Zeugenaussage auf jeden Fall kriegen. Vielleicht ja sogar noch mehr."

"Gegen wen soll er auftreten?"

"Gegen drei Amis. Marihuana. Das ist eine große Sache."

"So'n Mist!" Weichmann haut auf Krammers Schreibtisch. "Schick mir doch mal die Akte rüher."

"Klar mach ich," sagt Stolze, "ich schreib dir ein Paket," und legt auf.

Weichmann kratzt sich mit dem Hörer hinter dem Ohr. Das macht er oft, wenn er überlegt.

"A1so ich weiß ja nicht, irgendwas an dieser ganzen Geschichte ist faul. Ich kann mir nicht helfen, irgendwas stimmt nicht. Es geht nirgends weiter. Alle Spuren sind gar keine Spuren. Wir haben kein Opfer, kein Mörder, keine Hinweise, keine Verdächtigen, keine Zeugen. Es ist so, als ob gar nichts passiert ist. So gut kann man als Mörder gar nicht sein. Aber wir haben eine Bombe und eine Leiche."

Er wendet sich an Krammer:

"Hast du was rausgekriegt?"

"Nur das Übliche. Fragen sie mal im Paradiso oder im Palladin. Ich kann genausogut im Kaufhof fragen gehen."

"Ich weiß nicht, wir machen hier irgendetwas furchtbar falsch," sagt Weichmann und legt den Hörer auf die Gabel. Die Tür geht auf und Dierkes erscheint. Er hat Heiner, den Kellner im Schlepptau.

"So, Herzchen, nun erzähl uns noch einmal, was du mir gerade erzählt hast."

Krammer haßt es, wenn Dierkes Verdächtige duzt. Bei den schweren Jungs, den notorischen Gesetzesbrechern, ist das etwas anderes. Sie erwarten das und nehmen einen Polypen, der sie siezt, nicht für voll. Es gibt schließlich so etwas wie Spielregeln in dem Spiel "Räuber und Gendarm" und ein Polizist, der Ganoven siezt, ist ein Absonderling, dem alles zuzutrauen ist. Zwischen Jäger und Gejagten herrscht - jenseits aller Feindschaft - eine Art Intimität . Doch Dierkes duzt jeden Verdächtigen, mitunter sogar Zeugen. Er versteht das Ritual nicht und versucht mit Forschheit die Regeln einfach anzuwenden ohne sie zu beherrschen. Das nervt Krammer, der manchmal zweifelt, ob Dierkes diese Arbeit je begreifen lernt. Er kennt den Kellner aus dem Kakadu vom Sehen und weiß, daß der kein Ganove im üblichen Sinne ist. Heiner sieht aus wie ein kranker Mann und Krammer geht lieber behutsam vor, er hat noch nie jemanden schickaniert.

"Also jetzt mal langsam, Dierkes" sagt er.

"Wie heißen sie?"

"Heinrich Sarnowski"

"Sie sind Kellner im Kakadu?"

"Ja"

"Also, Herr Sarnowski, Kriminalassistent Dierkes meint, sie könnten uns etwas zu erzählen haben?"

"Ja"

"Bitte, dann los."

"Ja, also vor ungefähr zwei Monaten war im Kakadu abends ein ... ein Mann. Der hat mich angesprochen, ob ich wüßte wo man Sprengstoff herbekommen kann. Also der war irgendwie komisch, so abwesend, irgendwie wirr. Und ich habe ihm gesagt, er soll machen daß er wegkommt, sonst hole ich die Polizei. Dann ist er wieder gegangen."

"Ein Deutscher?" fragt Weichmann.

"Ja"

"Können sie sich erinnern, was er gesagt hat?"

"Ja ..." Heiner runzelt die Stirn. Er sieht dabei sehr krank aus.

"Er zog mich etwas an die Seite und flüsterte "ich habe gehort, hier kann man Sprengstoff kaufen, ich brauche unbedingt zwei Pfund von dem Sprengstoff..." und dann hat er einen Namen genannt, den ich noch nie gehört habe ... also kein Dynamit."

"Nitroglyzerin?" fragt Weichmann.

"Nein"

"Donarit?" fragt Krammer.

"Ja, das kann sein, ja, ja, das ist es. Donarit. Ich habe den Namen vorher noch nie gehört."

"Das ist eine Sprenggelantine" sagt Krammer mit Wuttkes Worten.

Das Telefon klingelt. Weichmann hebt ab, es ist Klee. "Ich glaube, ich habe des Rätsels Lösung" sagt er, "unter Hermanns Sachen befinden sich drei Zeitschriften vom Januar letzten Jahres. In diesen Zeitschriften wird in Fortsetzung über diesen Erich von Kolacz berichtet, wie der eine Bombe an die Zeitungsredaktion in Bremen geschickt hat. Verschiedene Sachen sind mit Bleistift unterstrichen. Zum Beispiel wie er die Bombe gebaut hat. Außerdem habe ich im Keller des Hausbesitzers, den Hermann benutzen durfte, Packpapier und Kupferdrähte gefunden. Ich glaube, ihr solltet mal mit der Spurensicherung kommen."

"Mensch, toll", für Weichmann paßt auf einmal alles zusammen.

"Bleib da, Michael, wir kommen gleich."

Er legt den Hörer auf, rennt, die Türen auflassend, in sein Zimmer, wühlt in den Unterlagen und kommt mit dem durchlöcherten Personalausweis von Hermann zurück. Diesen hält er Heiner unter die Nase. Das Bild ist nur am Rand zerstört.

"Ist er das?"

Der Kellner blickt auf das Photo. Nach einer Pause sagt er:

"Ja, ich bin ziemlich sicher, daß er das ist."

Auch Krammer versteht sofort die Zusammenhänge. Hermann ist Täter und Opfer zugleich. Da soll ein Mensch erst einmal draufkommen. Weichmann hat schon den ED in der Leitung.

"Ist Friedel noch da?"

"Ja," sagt die Sekretärin.

"Sagen sie ihm, er kann noch nicht nach Hause, wir haben noch einen Tatort. In fünf Minuten sind wir auf dem Hof."

"Ja, ich sags ihm."

Fünf Minuten vor fünf ist immer der schönste Termin für die Spurensicherung. Nach der internen Regelung der frankfurter Kripo muß jeder Spur, die nach fünf gemeldet wird, vom Bereitschaftsdienst nachgegangen werden, während die Männer, die den regulären Dienst versehen, nach Hause gehen dürfen. Jede Spur allerdings, die vor fünf kommt, muß von der normalen Tagesbelegschaft verfolgt werden. Oft ist es so, daß der ED um fünf vor fünf den Hörer neben die Gabel legt. Heute hat es ihn allerdings erwischt. Gerade heute, wo jeder noch Weihnachtseinkäufe machen muß.

 

19

 

Weihnachten ist vorbei. Für Krammer und Klee war das Fest recht erholsam. Dierkes und Weichmann hatten beide je 24 Stunden Bereitschaft, sie hatten jeder drei Selbstmorde. Weihnachtsroutine. Eigentlich recht wenig Tote für das Fest der Liebe in diesem Jahr. Weichmann hatte noch einen Unfall, bei dem selbst ihm schauderte. Und das will etwas heißen, denn Weichmann ist nicht eben zimperlich im Umgang mit dem Tod. Aber dieser Fall war ebenso absurd wie grauslich. An der Nidda draußen in Eschersheim war eine etwa 60jährige Frau mit ihrem Schäferhund am 2. Weihnachtsfeiertag nach dem Braten spazierengegangen. Sie hatte - das berichtete ein Zeuge, der den Vorfall von seinem Fenster aus heobachtet hatte - Stöckchen geworfen und der Hund hatte die Stöckchen brav zurückgebracht. Dann war die Frau im Schnee ausgerutscht und hingefallen und in diesem Moment war der Schäferhund über sie hergefallen, hatte ihr die Kehle durchgebissen und damit begonnen, ihre Eingeweide herauszureißen. Diese hatte er dann zwei Meter weiter im Schnee verscharrt. Der Zeuge rief sofort die Polizei an und als die Streifenwagenbesatzung eintraf, saß der Hund im Schnee und blickte die Ankommenden treuherzig an. So, als ob er fand, er habe seine Sache gutgemacht. Die Schupos waren so verstört, daß sie als erstes einmal darangingen, den Hund zu erschießen. Dazu brauchten sie 21 Schuß Munition. Weichmann blieb es überlassen, die Gedärme wieder auszugraben. Aber er wußte genau, wo sie lagen, denn ein Darmstrang lag von der Frau bis zu der Stelle, an der der Rest vergraben lag, quer auf dem Schnee. Am meisten verwirrte ihn anschließend der Ehemann des Opfers. Dieser war nicht so sehr über den Tod seiner Frau schockiert, als vielmehr über die Tatsache, daß sein "guter Hasso", der immer so klug war, so etwas fertiggebracht hatte. Weichmann kannte dieses Geseire, war aber jedes Mal aufs Neue erschrocken über die Naivität von Schäferhundbesitzern. "Das hat er doch noch nie gemacht" hatte er einmal von einem Mann gehört, dessen Schäferhund ein vierjähriges Mädchen, das ebenfalls hingefallen war, in zwei Sekunden buchstäblich zerrissen hatte. Anschließend hatte ein Veterinärmediziner von der Universität ihm erklärt, daß diese Reaktion bei wolfsähnlichen Tieren, die noch nicht sehr domestiziert waren, eigentlich normal sei und in der Wildnis ihre gute Berechtigung hat. Kranke Tiere, die das Rudel behindern, werden unbarmherzig totgebissen, damit sie keine Gefahr für das Rudel darstellen oder es behindern. Nun, ein stürzender Mensch ist für einen Schäferhund ein krankes Tier und so reagiert er, wie es vernünftig ist. Für Hunde ist das okay, natürlich nicht für Polizisten.

Alles in allem aber war auch Weichmann mit dem Fest zufrieden gewesen. Er hatte mit einem Freund aus seinem Modellbauclub den Kessel für seine Lok fertiggestellt und war dann darangegangen, aus Messingblech die Teile für das Führerhaus auszuschneiden.

Heute ist Freitag, der 27. Dezember.

Ihr Fall ist so gut wie abgeschlossen. Die Spurensuche hatte ergeben, daß Hermann Maria Wolff die Bombe im Keller des Hausbesitzers angefertigt hatte. Friedel hatte den Originalkarton gefunden, in dem das Dynamit von seinem Hersteller, der "Dynamit Nobel A.G." eingepackt worden war. Ebenfalls fanden sie die Drähte und einen Teil des Weckers - die Unruhe -, der zu den Resten des Weckerwerkes, das am Tatort gefunden worden war, passte. Außerdem war da die Versicherung des Hausbesitzers, daß Hermann in seinem Keller oft gebastelt hatte (hauptsächlich kaputte Lampen und Kochplatten für den Hausbesitzer repariert).

Kurz, es gibt keinen Zweifel mehr darüber, daß Hermann die Bombe, der er zum Opfer gefallen war, selbst hergestellt hatte. Damit konnte der Fall zu den Akten gelegt werden. Dem Gesetz war genüge getan. Das Gesetz verlangt, herauszufinden, wer eine strafbare Handlung begangen hat und verlangt als Sühne die Bestrafung. Beide Ansprüche waren erfüllt. Dennoch sind die Männer des ersten Kommissariats unzufrieden. Für sie ist das Gesetz die eine Seite ihres Berufes. Es muß erfüllt werden, das ist ihr Auftrag. Doch es gibt eine andere Seite. Sie wollen wissen, warum jemand so etwas tut. In 80 Prozent aller Fälle wissen sie es vorher. Spätestens, wenn der Fall abgeschlossen ist, wissen sie auch die restlichen 20 Prozent: Geld und Liebe, bzw. kein Geld und Haß über zu wenig Liebe - Einsamkeit -, das sind die Gründe mit denen sie in ihrem Beruf konfrontiert werden. Das sind die Hintergründe, warum sie mit so vielen Leichen zu tun haben. Doch bei Hermann wissen sie gar nichts. Sie gehen nicht davon aus, daß Hermann auf eine solche Weise Selbstmord hat machen wollen. Dazu ist alles viel zu kompliziert. Hermann war ein einfacher Mensch. Warum sollte er so spektakulär aus dem Leben scheiden wollen? Außerdem deutet der Bericht im "Stern" darauf hin, daß Hermann mit der Bombe jemanden treffen wollte, denn auch dort ist gezielt getötet worden. Nur, wen wollte Hermann treffen und verdammt noch einmal warum? Die Männer sind ratlos.

Es gibt noch etwas anderes. Jeder Mord hinterläßt in ihnen das Gefühl, es ist etwas Unglaubliches geschehen, etwas, das auch ihnen passieren könnte. Und um das Unglaubliche fassbar machen zu können, müssen die Männer herausbekommen, daß es Gründe dafür gibt, Gründe, die auf sie nicht zutreffen. Dieses Gefühl ist freilich vage und nie richtig bewußt oder greifbar, gleichwohl ist es da. Und es manifestiert sich als der Zwang, um jeden Preis herauszufinden, was passiert ist und warum es passiert ist.

"Gegen Selbstmord spricht auch, daß er sich morgens noch ein Butterbrot mit Rübenkraut geschmiert hat und auch keinen Brief hinterlassen hat," sagt Klee.

"Selbstmorde ohne Abschiedsbrief haben wir oft", sagt Weichmann, "wem sollte Hermann zum Abschied schreiben, höchstens seiner Mutter und die liegt im Altersheim und versteht einen Brief sowieso nichts mehr. "

"Das war kein Selbstmord", entscheidet Krammer, "völlig untypisch. "

"Also wollte Hermann jemanden ermorden. Aber wen und warum?" fragt Weichmann .

"Was machen wir nun?" fragt Klee gleichzeitig.

"Abwarten", sagt Krammer, "das einzige, wovon ich mir jetzt noch etwas verspreche, ist dein Fernschreiben nach Itzehoe. Wenn sich da nichts ergibt, legen wir den Fall weg."

"Was ist mit dem, der ihm das Dynamit verkauft hat?" Dierkes bringt sich ins Gespräch.

"Da kannst du dich drum kümmern" sagt Weichmann, dem Dierkes doofe Fragen auf den Wecker gehen. Jeder einigermaßen fähige Polizist kann sich ausrecnen, daß die Ermittlungen nach einer Tatwaffe, die sich selbst in Luft auflöst - noch dazu wenn der Täter tot ist - eine Arbeit für jemanden ist, der Vater und Mutter erschlagen hat. Außerdem, was bringt ihnen das im Moment? Nur neue Arbeit, mit der sie eigentlich gar nichts zu tun haben. Ihr Job ist es, herauszufinden, wer jemanden ermordet hat und warum er das tut. Alles andere ist Weichmann schnurz .

"Wir können uns noch einmal die Redakteure vornehmen"

sagt Krammer etwas lustlos.

"Jetzt, da wir wissen, daß Hermann der Täter war, können wir vielleicht den einen gegen den anderen ausspielen und herumhören, gegen wen Hermann einen Rochus gehabt hat ."

Daß Krammer das überhaupt sagt, liegt an dem Hintergedanken, daß der dann ja Gaby noch einmal dienstlich aufsuchen könnte. Einfach privat hinzugehen, bereitete ihm große Schwierigkeiten seinem Gewissen und das heißt seiner Frau gegenüber.

 

Weichmann ist ebenso lustlos. Es liegt immer etwas Abgestandenes in einer zweiten Vernehmung. Doch seine Neugierde ist da. Er will auch wissen, wen Hermann gemeint hat.

"Das kriegen wir doch nie durch, zu viert nach einem Motiv zu ermitteln," sagt er.

"Dierkes und Michael können sich ja schon um den Mann im Karton kümmern", sagt Krammer,

"und nebenbei können sie uns dann doch noch ein bißchen helfen."

"Ja, so können wir es machen," sagt Weichmann, gähnt und denkt dabei an das Führerhaus seiner Lok .

 

 

 

20

 

Drei Tage später, morgen ist Sylvester.

Weichmann lacht aus vollem Halse. Sein Gesicht ist dabei so jungenhaft, daß Klee immer wieder mitlachen muß. Beide kriegen sich gar nicht mehr ein. Sie lachen schon einige Minuten und immer wieder, wenn sie nicht mehr können, wenn sie vollkommen er-schöpft sind, fängt einer nach einer kurzen Pause wieder an. Und schon zieht der zweite nach. Beide haben hochrote Köpfe und bereits ziemliche Atemnot.

 

Das Opfer ihres Gelächters ist Dierkes. Der ist jetzt schon zum zweiten Mal zur Toilette gerannt und kotzt sich die Lunge aus dem Leib.

Dierkes hat Klee gereizt und der hat sich gerächt. Als Dierkes heute morgen zum Dienst kam, ist er auf Klee zugegangen, hat ihm mit aller Kraft die flache Hand auf den Rücken geknallt und gesagt:

"Na, wie gehts denn."

Das ist Dierkes Art, die Leute zu quälen. Was also zunächst sehr freundlich und freundschaftlich aussieht, ist - durch die Wucht des Schlages - als sadistisches Vergnügen gemeint. Denn Dierkes hat Kraft. Und Klee nicht. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hat Klee geraume Zeit dagesessen. Der Schlag hat ihm sehr wehgetan, doch noch mehr tut ihm die Tatsache weh, daß er dagegen nichts tun kann. Er fühlt sich hilflos. Ausgeliefert. Schließlich war ihm eine Idee gekom-men. Vage noch, aber sie hatte Gestalt angenommen. Er überlegte lange, wie er sie Dierkes beibiegen könn-te. Dann probiert er es folgendermaßen. Zu Weichmann gewendet sagte er:

"Ich habe mal gehört, daß es sehr schwierig sei, die Eidotter von hartgekochten Eiern zu essen. Ohne Salz. Weil sie so trocken sind."

"Ja," sagt Weichmann, "das glaube ich auch."

"Glaubst du, man schafft zehn Stück in zehn Minuten? Ohne was zu trinken? " fragt er dann scheinheilig in Weichmanns Richtung.

"Keine Ahnung", sagt der.

"Was soll denn daran schwer sein", mischt Dierkes sich ein, großspurig wie immer.

"Na, ich weiß nicht, ich glaube nicht, daß du das schaffst."

"Um was wetten wir", Dierkes typischer Satz, wenn er von sich überzeugt ist.

"Wetten, Wetten . . . du mit deinen Scheiß-Wetten, probiers aus, dann weißt dus!"

Weichmann merkt, daß Klee irgend etwas vorhat. Er wird hellhörig. Genau an diesen Punkt wollte Klee Dierkes hinhaben.

"Also ich wette fünf Mark, daß du das nicht kannst!"

Dierkes stand auf .

"Gut. Aber wer verliert, muß auch noch die Eier bezahlen."

Klee wurde es ganz schön unbehaglich. Er wußte wirklich nicht genau, ob es überhaupt funktioniert. Irgendjemand, wahrscheinlich sein Großvater, hatte ihm mal vor langer Zeit - er war noch ein Kind - erzählt, das schaffe niemand. Zehn hartgekochte Eidotter auf einmal. Doch sein Herz schlug schneller. Was nun, wenn das alles nicht stimmt. Und Dierkes hinterher auch noch fünf Mark von ihm zu kriegen hätte. Allein vor Dierkes neuerlichem Triumph fürchtete Klee sich entsetzlich. Doch zurück konnte er jetzt auch nicht mehr. In der Frühstückspause hatte Klee die Eier geholt und bis zur Mittagspause waren sie von "Mücke", der Sekretärin, im Nebenzimmer mit dem Tauchsieder hartgekocht worden. Zu Beginn der Mittagspause lagen die zehn grünlich-blauen Kügelchen auf einer Untertasse. Ein kläglicher Haufen. Dierkes war siegesicher .

"Okay", Weichmann schaute auf seine Uhr.

"Es ist jetzt 1 Uhr 16. Um 1 Uhr 26 mußt du sie gegessen haben. Hau rein!"

Dierkes trank noch einen Schluck Wasser. Dann nahm er die erste Kugel, kaute kurz und schluckte sie herunter. Ebenso verfuhr er mit der zweiten und dritten. Dazu brauchte er nicht einmal dreißig Sekunden. Bei der vierten kaute er schon langsamer und sehr viel bedächtiger. Sein Mund war trocken.

Es dauerte einige Zeit bis er die Masse herunterschlucken konnte. Dann nahm er die fünfte Kugel, schob sie in den Mund und kaute. Er kaute und kaute. Als er merkte, daß sie nicht an Masse verlor und auch nicht geschmeidiger wurde, weil kein Spreichel mehr vorhanden war - seine Mundhöhle war schon von einer trockenen Schicht ausgeklebt - versuchte er, das Ei in kleinen Happen unvermischt herunterzuschlucken. Es gelang ihm auch irgendwie. Er griff zum 6. Ei. Jetzt ging nichts mehr. Er kaute etwa zwei Minuten lang darauf herum, dann versuchte er, es herunterzuwürgen, doch das fünfte war noch nicht einmal unten. Es war jetzt bereits 1 Uhr 22. Er hatte noch vier Minuten und vier Dotter. Langsam dämmerte Dierkes, daß er verlieren würde. Das machte ihn wütend und so schob er sich den siebenten in den Mund ohne daß er den sechsten schon geschluckt hätte. Er mag sich gedacht haben, wenn der Mund nur voll genug sei, werde das siebente Ei das sechste schon herunterdrücken. Doch das stimmte nicht. Im Gegenteil. Jetzt war der Mund so verklebt, daß er noch nicht einmal mehr richtig kauen konnte. Sein Gesicht verzog sich vor Unbehagen und Haß. Er schaffte es nicht. Ja, jetzt wurde es zur Gewissheit: er schaffte es nicht. Wütend spuckte er (nein, spucken konnte man das nicht nennen - es bröckelte aus seinem Mund heraus) die Masse in den Papierkorb. Er mußte mit dem Zeigefinger nachstochern und sich den Mund regelrecht auskratzen. Widerlich. Das Zeug war gar nicht mehr loszuwerden, so fest kleidete es die Mundhöhle aus. Und dann merkte er auch schon, wie seine Eingeweide zu rebellieren begannen. Sein Körper tat das einzig richtige: er lehnte sich auf. Dierkes wurde blaß und dann rannte er, so schnell er konnte, zum Klo.

Seitdem lachen Klee und Weichmann ununterbrochen. Krammer kommt. Er hat gerade Gronemeyer noch einmal vernommen. Hinz und Wenzel hatten sie am Samstag schon befragt. Falkenstein war zu Hause, seine gebrochene Hand auszukurieren. Den wollte Weichmann am Nachmittag besuchen. Jetzt fehlten nur noch die beiden Frauen. Die Penno wollte er nachmittags zu Hause vernehmen und mit Gaby hatte er sich für morgen Mittag im Cafe Schwille verabredet. (Nach Dienstschluß!) Krammer hat blendende Laune. Sie sind zwar nicht so recht weitergekommen, doch der Tag ist schön ...

Allen Redakteuren ist zu Bewußtsein gekommen, daß derjenige, den sie jahrelang als Fußabtreter benutzt haben, aus Rache einen Mord an einen von ihnen ge-plant hatte, und Krammer hat das Gefühl, jeder hat ein genügend schlechtes Gewissen, sich auszumalen, ihm könnte die Bombe gegolten haben. Doch konkreter war das bis jetzt nicht geworden. Wyssmann fehlte noch. Man hatte ihm gesagt, er sei krank geworden. Na klar, in seinem Zimmer war die Bombe ja auch hochgegangen .

"Michael, könntest du heute nachmittag diesen Wyssmann besuchen und dich noch einmal umhören. Er liegt krank zu Hause?"

"Mach ich."

Dierkes kommt zur Tür hereingewankt. Er ist immer noch leichenblaß und kann nicht richtig sprechen. Jetzt hat er auch noch Durchfall. Weichmann und Klee müssen sich krampfhaft das Lachen verbeißen. Krammer guckt ihn abfällig an und sagt:

"Wie siehst du denn aus?"

 

 

 

 

21

 

Wyssmann lebt möbiliert im Herrenzimmer eines Hauses in der Nesenstrasse. Die Wände sind mit dunklen Panelen verkleidet. Weil der Hausherr in der Normandie gefallen war, vermietet seine Witwe unter. Er liegt im Bett und wird von der Frau des Hauses mit Kamillentee traktiert. Klee hat sich einen unbequemen Stuhl an das Bett gestellt.

"Herr Wyssmann, wie sie vielleicht schon gehört haben, ist die Bombe, die in ihrem Raum explodiert ist, von Hermann Wolff selbst gelegt worden. Wir möchten jetzt von ihnen wissen, wen Hermann wohl damit töten wollte und weshalb er das wohl vorhatte?"

"Wieso wollen sie das ausgerechnet von mir wissen?" fragt er mißtrauisch.

"Natürlich fragen wir nicht nur sie. Allen Mitgliedern der Redaktion haben wir die gleiche Frage gestellt."

"Und was haben sie geantwortet?"

"Darüber möchte ich nicht sprechen. Und bitte, ich möchte die Fragen stellen."

"Ja, natürlich", Wvssmann wirkt auf einmal recht ver-schüchtert und ziemlich armselig, wie er da in seinem prallen Kissen liegt.

"Also, können sie sich denken, auf wen Hermann einen solchen Haß gehabt haben könnte?"

"Nein."

"Wie ist es mit ihnen?"

"Mit mir?"

"Ja, könnte er auf sie wütend gewesen sein. Wissen sie, manchmal gibt es ja einfach Kleinigkeiten, die aus ihrer Sicht gar nicht so böse gemeint waren. Und doch könnten sie bei jemandem irgendetwas ausgelöst haben. Noch dazu bei so einem so. . . sonderbaren Menschen wie Hermann Wolff ."

Klee wollte erst "armseligen Menschen" sagen, hat sich dann aber - er weiß auch nicht warum - anders entschieden.

Wyssmann überlegt lange, dann sagt er:

"Ich kann mir das nicht denken ."

Er macht eine Pause.

"Hermann hatte so eine komische Art, einen anzusehen. Manchmal stand er lange Zeit auf dem Flur vor meinem Zimmer und schaute zu mir herein. So unverwandt. Ja, unverwandt. Komisch, jetzt, wo sie das sagen, fällt es mir wieder ein. Er starrte mich oft an und ging dann ganz schnell weiter."

"Hat er mal was gesagt zu ihnen, als Erklärung?"

"Nein, nein wir haben nie ein Wort gesprochen, ich meine ein persönliches Wort. Er war sehr scheu und konnte sich ja auch gar nicht richtig ausdrücken. Er legte uns die Post ins Zimmer oder erledigte Besorgungen für uns und dann verschwand er immer sofort wieder."

"Seit wann kennen sie Hermann?"

"Ja, also seit er bei uns angefangen hat. Seit zwei oder drei Jahren denke ich."

"Davor haben sie ihn nie gesehen?"

"Nein, davor war ich ja gar nicht in Frankfurt."

"Wo waren sie denn davor?"

"In Essen, ich habe dort bei den "Ruhr-Nachrichten" gearbeitet."

"Glauben sie, daß er noch andere Redakteure so komisch angesehen hat?"

"Ich habe nicht darauf geachtet."

Er sagt das in einem so merkwürdigen Ton, daß Klee folgende Frage stellt:

"Was halten Sie denn von ihren Kollegen?"

"Ja ja, es sind nicht mehr die Presseleute vom alten Schlage."

"Wie meinen sie das?"

"Die Presse ist der Wahrheit verpflichtet. Sie aber lügen. Alle lügen sie. Sie können sich jede Nachricht ansehen. Keine entspricht mehr der Wahrheit. Lug und Betrug. Heute geht es ja gar nicht mehr um Nachrichten, sondern nur noch um Schlagzeilen. Sehen sie sich nur das 10 Pfennig BILD an. Die machen am konsequentesten, was unsere Herren Redakteure nur etwas versteckt genauso machen. In Wahrheit sind sie nur neidisch auf den Erfolg dieser Zeitung. Erst ein Jahr auf dem Markt und schon ein Knüller. Bei uns wird eine Nachricht nur noch danach beurteilt, ob sie eine gute Schlagzeile hergibt. Hören sie mir auf mit der Presse. Oder gar mit der Pressefreiheit. Alles Schwindel. Lug und Betrug."

Wyssmann kommt langsam in Fahrt.

"Und wer da nicht mitmachen will, wer nicht skrupellos genug ist, den lassen sie nicht mehr an die Nachrichten heran. Hören Sie mir bloß auf mit meinen Kollegen. Ich bin ein guter Reporter und habe jahrzehntelang über Politik und sogar im Feuilleton gearbeitet. Doch jetzt darf ich über den Anbau von Gartenkresse und "Wie züchte ich Topfblumen im Hinterhof" schreiben. Und weil ich davon nichts verstehe, muß ich auch das noch irgendwo klauen. Und eine Schlagzeile draus machen. Hören sie mir bloß auf mit meinen Kollegen, den Herren Redakteuren! Und dann behandeln diese Schnösel mich wie ..."

Klee will nur noch weg. Er versucht mit einer letzten Frage zu Wyssmann durchzudringen:

"Herr Wyssmann, ich muß jetzt gehen. Ich würde nur noch gerne eines von ihnen wissen. Sie sagen, ihre Kollegen lügen und betrügen und so denke ich, daß sie auch mit Hermann Wolff nicht eben zimperlich umgesprungen sind. Wenn sie sich in Hermanns Lage hineinversetzen, welcher von den Redakteuren hätte ihnen dann am meisten zugesetzt?"

"Heinz Falkenstein!"

 

 

22

 

"Waren sie schon einmal in Itzehoe, Herr Falkenstein?" fragt Weichmann.

"Das liegt doch oben in Holstein?"

"Ja"

"Nee."

Weichmann weiß nichts von Wyssmanns Verdächtigungen. Er kommt nicht so recht weiter. Falkenstein weigert sich strikt, jemanden anzugeben, auf den He-mann Wut gehabt haben könnte.

"Na klar, wir haben ihn alle behandelt wie ein Arsch. Das wäre direkt Stoff für eine Geschichte - natürlich nicht in unserem Käseblatt. "Arme Sau wird von Redakteuren gequält und rächt sich". Ich finde das rührend. Ja, ich glaube, Hermann hätte Grund genug, jeden von uns in die Luft zu sprengen. Ich nehme mich dabei überhaupt nicht aus. Im Gegenteil. Ich glaube, daß er eine besondere Wut auf mich hatte haben müssen. Aber es ist für mich eine sonderbare Vorstellung, im Zusammenhang mit Hermann überhaupt an so etwas wie Wut oder Rache zu denken. Ich kann mir das einfach nicht vorstellen. Wissen sie, manchmal haben wir ihn bewußt provoziert und haben ihm einfach sinnlose Aufträge gegehen. Wenn man ihm gesagt hätte: "Hermann, hol einen Eimer mit nassem Sand", dann hätte Hermann einen Eimer geholt. Ganz am Anfang habe ich ihn mal zum Metzger geschickt, er soll ein viertel Pfund Schlitzohren kaufen. Und Hermann ist treu und brav gelaufen. Sie hatten natürlich keine und erst an unserem Gelächter hat er gemerkt, daß wir uns einen Spaß mit ihm gemacht haben. Da ist er puterrot geworden; aber er war überhaupt nicht nachtragend. Ja, hinterher hat er mir sogar immer etwas vertraulich zugeblinzelt, so als wollte er sagen: da haben wir uns aber mal einen schönen Spaß erlaubt. Wut kannte Hermann nicht, das ist meine Meinung. Jedenfalls nicht Wut auf jemanden, der ihm irgendetwas getan hat."

"Ich verstehe das nicht" sagt Weichmann.

"Sehen sie, Hermann war der Typ eines Pechvogels. Eines sehr beschränkten Pechvogels. Das war sein ganzes Leben so, vermute ich, und da kannte er sich aus. Pech zu haben, verarscht zu werden, lächerlich gemacht zu werden, ja sogar verletzt zu werden, das alles gehörte einfach zu ihm. So was ist angeboren. Da war er zu Hause. Deswegen konnte er auch nicht wütend sein. Ich glaube, er war sogar dankbar dafür, daß man ihn in dieser Haltung bestätigte. Man konnte Hermann nicht wehtun, jedenfalls nicht mit etwas Negativem. Das tat ihm gut. Damit wurde er doch anerkannt. Ich glaube jedenfalls nicht, daß er wütend auf etwas war, oder sich rächen wollte für etwas, was man ihm angetan hat. Es klingt vielleicht absurd, aber ich glaube, er hat sich so beschränkt verhalten, damit man ihm etwas antun sollte. Das war seine Welt. Und dabei war er ganz und gar kein Dummkopf. Ich habe sogar mal gesehen, wie er Kreuzworträtsel gelöst hat. Es war halt so seine Art zu leben. Ich habe mal gehört, daß es im KZ ähnliche Dinge gegeben hat. Man hat dort einige Menschen so lange gequält, bis sie davon überzeugt waren, daß es gerade richtig ist, gequält zu werden. Das war die einzige Form der Bestätigung, die sie gekriegt haben und irgendwann haben sie es dann als richtig akzeptiert. Und dann konnten sie mit den Quälereien ganz gut leben. Natürlich ist das im KZ ´ne Ausnahmesituation. Aber ich glaube so etwas gibt es auch als Lebenseinstellung von anfang an. So eine Art Masochismus, aber kein richtiger. Sehen sie sich Wyssmann an, der ist so ein ähnlicher Typ, der macht es nur anders. Der bringt sich mit seiner nörgeligen Art auch immer in Situationen, wo ihn die anderen für einen Idioten halten. Ich glaube manchmal, er braucht das zum Leben. Dabei ist er ein ganz guter Redakteur. Na klar er ist viel intelligenter als Hermann. Aber irgendwie ist das bei ihm ähnlich. Nehmen sie zum Beispiel die Geschichte mit seiner Beförderung. Vor einem Jahr haben einige bei uns eine Gehaltserhöhung gekriegt. Nur Wyssmann nicht. Also ist er zum Alten gelaufen und hat sich beschwert. Und der hat sich mit ihm einen Jux gemacht. Wyssmann ist der einzige, der bei uns das Wochenende zusammenstellt, also der verantwortliche Redakteur, wenn man da von Verantwortung überhaupt sprechen kann, weil er sowieso nie etwas schreibt. Und so hat der Alte zu ihm gesagt: "Herr Wyssmann, mehr Geld kann ich ihnen nicht geben, aber wissen sie was, ich befördere sie trotzdem, ich mache sie zum "Chef" der Wochenendbeilage." Das ging sogar soweit, daß er an sein Zimmer ein ganz neues Türschild bekam: "Chef der Wochenendbeilage". Die ganze Redaktion hat eine Woche lang gewiehert. Alle haben ihn nur noch "Chef" genannt. Er hat das einfach nicht durchschaut, weil er es nicht durchschauen wollte. Das gehört zu ihm. Nee, das können sie vergessen, daß Hermann aus Rache über etwas, was ihm angetan worden ist, jemanden umlegen wollte. Noch dazu so theatralisch, mit einer Bombe."

"Aber Hermann war der Täter. Wir haben seine Fingerabdrücke auf dem Dynamitkarton in seinem Keller gefunden. Darüber, daß er die Bombe gebaut hat, gibt es keinen Zweifel."

"Ja, sehen sie," er legt die Hand über seinen Gipsarm, "ich sage ja nicht, daß ich glaube, er hat die Bombe nicht gebaut, oder er hätte niemanden töten können. Ich kann mir schon vorstellen, daß Hermann jemanden töten könnte, aber nicht um seinetwegen."

"Wie meinen sie das?"

"Ach, das ist jetzt nur so eine Idee. Angenommen, Hermann hätte eine Freundin ... na klar, er hatte keine ... auch das kann sich wieder niemand vorstellen ... aber nehmen wir es einmal an. Es ist ja nur ein Gedankenspiel. Und irgendjemand hätte dieser Freundin etwas getan ... ja, ich glaube, dann hätte Hermann töten können. So ungefähr. Verstehen sie jetzt, was ich meine?"

"Ja, ungefähr. Sie meinen also, Hermann als Beschützer hatte so weit gehen können?"

"Ja, als Beschützer einer sehr schwachen Person, die sich nicht selber helfen kann. Oder ..." ihm kommt noch eine Idee:

"... oder wenn jemand ein Tier quält. So etwas. Hermann als Beschützer der schwachen Kreatur. Wissen sie, er war sehr hilfsbereit!"

"Hm." sagt Weichmann.

Er findet das alles sehr weit hergeholt. Aber irgendwie bekommt er doch eine Ahnung davon, was Falkenstein meint. Er findet Falkenstein eigentlich recht sympatisch. Er macht einen intelligenten Eindruck, vielleicht ein wenig überheblich. Falkenstein ist sehr von sich überzeugt und das macht Weichmann etwas unsicher. Weichmann ist nämlich gar nicht von sich überzeugt - auch wenn man ihm das von außen nicht anmerkt.

"Ja gut," sagt er und kritzelt in sein Notizbuch:

"Hermann als Beschützer der armen Kreatur."

"Gibt es unter den anderen Redakteuren vielleicht jemanden, der Hermann näher gekannt hat?"

Fragt er, doch dann entsinnt er sich, daß er diese Frage schon einmal im Gipsraum des Krankenhauses an Falkenstein gerichtet hat. Und zum zweiten Mal beantwortet Falkenstein mit den gleichen Worten:

"Nein, ausgeschlossen! Dann hätten sich sofort die anderen über den lustig gemacht."

 

 

 

23

 

Die beiden Rotgekleideten packen ihn und zwingen ihn brutal auf die Knie. Sie beugen seinen Kopf und zwängen ihn in die Halsöffnung, dann legen sie mit einem Knall das Querbrett, das ebenfalls eine halbkreisförmige Öffnung hat, über und verriegeln es an der Seite. Krammer kann seinen Kopf jetzt nicht mehr bewegen. Vor Angst hekommt er keine Luft mehr. Die Angst schnürt ihm die Brust zusammen, um die Kehle und sogar um die Stirn fühlt er einen Ring von Angst, der sich immer enger zusammenzieht. Er kann den Kopf etwas drehen und blickt schräg nach oben. Dort, aus den Augenwinkeln sieht er die beiden Roten. Sie tragen rote Kittel, die an den Armen hochgerollt sind, doch auch die Hände und Arme sind rot. Rot von Blut. Es trieft nur so. Krammers weißer Kittel ist schon vollkommen blutbesudelt. Naß. Alles ist naß. Feist sind sie. Die beiden sehen aus wie fette alte Frauen und auf ihren Köpfen tragen sie weiße Häubchen mit einem blutroten Kreuz darauf. Ein rotes Kreuz. Sie sind vom Roten Kreuz, denkt Krammer. Aber Henkersknechte sind doch nicht vom Roten Kreuz? Die Halskrause und der Ring um die Stirn werden enger. Unerträglich. Über sich sieht er im hellen Mondlicht die Schneide blitzen. Sie funkelt in ihrer Schiene. Von ihr geht ein langer Faden nach oben. Krammer kann es genau sehen, der dicke Faden geht erst nach oben und dann über eine Rolle nach unten und dann ist er mit ihm, ja, mit mir, verbunden. Krammer sieht es genau. An meinem Gürtel, der meinen weißen Kittel zusammenhält, direkt in der Körpermitte, ist der Faden, der das Beil hält, verankert. Jetzt zieht einer der Männer eine Klemme, eine Aderpresse, aus einer Tasche und klemmt den Faden damit ein. Die Angst wird immer schlimmer. Krammer schaut atemlos zu. Jetzt zieht der Rote noch eine Klemme heraus und klemmt noch einmal, mit einer Handbreit Abstand von der anderen Klemme, den Faden ab. Grinsend, voller Hohn, holt jetzt der andere eine riesige Schere hervor. Krammer weiß es genau, es ist die Schere aus dem Struwwelpeter, die, mit der der Schneider immer die Daumen abschneidet. Riesengroß ist sie. Krammer versteckt seine beiden Hände in Panik unter seinem Leib, jeden Moment ge-wärtig, daß sie mit Gewalt hervorgezogen und die Daumen abgeschnitten werden. Doch der Henkersknecht will gar nicht an die Daumen, er setzt die Schere genau zwischen die beiden Klemmen, grinst noch einmal hämisch über sein feistes altes Frauengesicht und schneidet dann genüßlich den Faden durch. Es gibt ein häßliches knirschendes Geräusch und der Faden zerspringt.

Gott sei dank, er läßt mir die Daumen, denkt Krammer, doch im gleichen Moment hört er über sich ein kreischendes Geräusch. Die Schneide setzt sich in Bewegung. Sofort ist Krammer wieder klar, daß er sich ja auf dem Schafott befindet. Mit einem Riesensatz Angst blickt er nach oben, und sieht wie die Schneide, die mächtige Schneide, in Fahrt kommt. Kreischend und jammernd tritt sie ihre Fahrt in der Schiene an, wird schneller, immer schneller und fährt auf Krammers Hals zu. Endlos wird die Fahrt, hört überhaupt nicht auf. Krammers Kehle bekommt wieder Luft und er beginnt zu schreien. Er schreit und schreit. Immer schneller saust das Beil, immer lauter werden Krammers Schreie. Das metallene Kreischen des rasenden Beils und Krammers Stimme gehören zusammen. Es ist ein und dasselbe Geräusch. Es wird rhythmisch, ein Auf und Ab. Krammer merkt, daß sein ganzer Körper auf und abgeht, er schüttelt sich, an ihm wird gerüttelt. Hin und Her. Jetzt dringt eine Stimme durch das Schütteln.

"Otto, um Gottes willen, Otto, hör auf!"

Seine Frau brüllt fast.

"Otto, du weckst ja das ganze Haus auf!"

Sie reißt ihn an der Schulter seines Pyjamas hin und her.

"Otto, komm zu dir, hör auf zu schreien!"

Schreit sie. Langsam rappelt Krammer sich hoch. Er ist naß vor Schweiß. Völlig durchnäßt. Er taucht aus unendlichen Tiefen langsam an die Oberfläche empor.

"Was ist denn ... Was ist denn nur passiert? Mein Gott!"

Auch seiner Frau ist der Schreck in die Glieder gefahren. Sie ist von diesem mörderischen Schreien wachgeworden, sie zittert und kann gar nichts sagen. Krammer ist jetzt wach.

"Ich habe geträumt, Hilde, das war ja so schrecklich," stößt er, immer noch atemlos, heraus. Sie guckt ihn mit Riesenaugen an, ratlos, so als ob sie sagen wollte:

"Als ob ich mit dir nicht schon genug Kummer hätte". Sofort fühlt Krammer sich wieder schuldig. Auch das noch. Jetzt auch das noch. Er versucht, sie zu beruhigen.

"Verzeih mir, daß ich dich so erschreckt habe. Es war ein entsetzlicher Traum. Man wollte mich umbringen."

"Aber am Essen kann es nicht gelegen haben," sagt seine Frau sofort,

"wir haben doch nur Brot und gar nichts Schweres gegessen. Ich bin ganz sicher, du hast alle Nachbarn im Haus aufgeweckt. Was die jetzt wieder denken? Du bist doch nicht krank? Das hast du doch früher noch nie gemacht!"

"Nein, ich bin nicht krank. Höchstens etwas überarbeitet," sagt Krammer und schaut auf seine Taschenuhr, die auf dem Nachtschränkchen liegt. Es ist fünf.

"Schlaf noch ein bißchen," sagt er und zieht sich die Decke über die Schultern. Seine Frau knipst das Licht wieder aus. Krammer liegt mit geöffneten Augen im Dunkeln und fürchtet sich, wieder einzuschlafen. Er will auch gar nicht mehr schlafen, vor allem nicht so naß, wie er ist. Kalt ist es in der Nässe. Er möchte aufstehen. Doch er traut sich nicht, weil er fürchtet, daß sie dann wieder anfangen würde, zu fragen. Sie würde auch mit aufstehen wollen. Und das will er nicht. Er wartet eine gute Viertelstunde bis ihm ihre Atemzüge verraten, daß sie wieder schläft. Langsam steht er auf, achtet darauf, nur wenige Gerausche zu machen und geht in die Küche. Erst nachdem er die Schlafzimmertür geschlossen hat, macht er Licht. Er setzt sich an den Küchentisch, stützt den Kopf in die Hände und denkt nach. Er ist noch immer vom Traum benommen und das Thema seiner Gedanken ist:

"Es ist mir alles zu viel. Ich halte das alles nicht aus."

Eine halbe Stunde grübelt Krammer nach einem Ausweg, dann setzt er den Wasserkessel auf, um sich das Rasier- und Kaffeewasser warmzumachen.

Um sieben Uhr fünfzehn betritt er das Polizeipräsidium.

Heute, Sylvester, ist Gott sei dank keine Frühbesprechung. Er nickt dem Wachtmeister im Empfang zu und trifft Weichmann auf der Treppe zum ersten Stock. Schweigend gehen sie nebeneinander in den zweiten Stock. Beide Männer respektieren sich, jeder ist so völlig anders, doch jeder weiß, daß er sich auf den anderen verlassen kann. Beide haben wenig Gemeinsamkeiten und privat haben sie kein Gesprächsthema, doch in ihrer Arbeit ergänzen sie sich vortrefflich. Der dicke Weichmann und der feingliedrige Krammer. Und beide wissen das. Besonders bei Verhören schlägt Weichmann sofort einen sehr rauhen Ton an, während Krammer vermittelt und in Aussicht stellt. Weichmann bohrt und Krammer sammelt behutsam die Späne ein. Den Vormittag verbringen sie damit, die Vernehmungen der Redakteure zu Protokoll zu bringen. Es ist dabei nichts herausgekommen, keine neue Spur ist sichtbar geworden. Im Geiste legt Krammer die Suche nach dem Motiv bereits zu den Akten. Er ist sehr unkonzentriert, weil er in Gedanken schon im "Schwille" ist.

Krammers Zimmer mißt etwa 2,80 mal 3,50 Meter. Er teilt es mit Kriminalobersekretär Horst Bayer, der zu ihrer Gruppe gehört, doch ständig krank ist. Vor dem Fenster stehen zwei Schreibtische, Rücken an Rücken gegenüber, so daß sich beide Männer (sofern anwesend) direkt anschauen. Vor den beiden Schreibtischen, ebenfalls in Längsrichtung, steht ein Schreibmaschinentisch mit einer Vorkriegsschreibmaschine. In beiden Ecken, rechts neben der Tür steht ein Stuhl. Das ist, außer dem Telefon, der Heizung unter dem Fenster (mit sieben Rippen) und den vier (verschiedenen) Stühlen mit (selbst mitgebrachten) Sitzkissen die gesamte Einrichtung des Dienstzimmers 211 der 2. Mordkommission beim 1. Kommissariat des Polizeipräsidiums zu Frankfurt am Main. An der Wand hängen noch eine große Landkarte und eine kleine Umgebungskarte von Frankfurt sowie diverse Kalender, Sprüche und Verordnungen. Irgendein Spaßvogel hat an die schon recht dreckige Tapete mit Kopierstift das Wort "Futt" geschrieben. Es gelang Krammer nicht, es auszuradieren und so hat er es dick mit einem Bleistift durchgestrichen. Mit etwas Mühe kann man es aber immer noch lesen. Krammer greift zum Telefon und wählt zwei-sechs-vier. Es meldet sich Polizeiobermeister Woehler von der Abteilung "Waffen und Gerät".

"Krammer, kann ich jetzt kommen?"

"Ja", sagt Woehler.

Einige Minuten steht Krammer mit seiner "Smith & Wesson", Modell "Army" in der Waffenkammer. Es riecht hier nach Öl. Woehler holt aus einer Schachtel einen in rotes Wachspapier gewickelten Gegenstand.

Es ist die neue Polizeipistole der Firma "Manufacture d'Armes des Pyrenees Francaises" mit der Typenbezeichnung "Unique Fr.51 Police". Sie hat das Kaliber 7.65. Seit einem halben Jahr läuft eine Umtauschaktion. Die Beamten der Kriminalpolizei können ihren Trommelrevolver, der unter einer Anzugjacke nur sehr schwer unterzubringen war, umtauschen gegen diese Selbstladepistole. Krammer erinnert sich noch daran, welche Aufregung es vor fünf Jahren gegeben hat, als die Kripo mit diesem Revolver ausgerüstet worden war. Die Amerikaner waren nämlich ursprünglich der Meinung, daß deutsche Uniformträger überhaupt nie wieder Handfeuerwaffen in die Hand bekommen dürften. Ende 1946, nachdem zwei Polizisten von bewaffnet herumziehenden Fremdarbeitern erschossen worden waren, wurde erst einmal jedem Polizeirevier ein Revolver (mit 5 Patronen) bewilligt. Und erst 1948 gab es dann auch für die Kripo Waffen, jetzt freilich verbunden mit der Dienstanweisung, daß der Revolver jederzeit "bei Ausübung des Dienstes unter dem Rock mitzuführen" sei. Krammer tut das selten. Nicht nur, weil er Waffen sowieso nicht leiden kann, sondern ganz schlicht, weil ein Kilogramm Metall, noch dazu mit einer klobigen Trommel versehen, beim Herumschleppen arg lästig ist. Krammer wiegt die neue Pistole in der Hand, sie ist wesentlich kürzer und flacher als die S & W, darüberhinaus ist sie auch noch leichter. Sie wiegt nur 750 Gramm.

Woehler will ihm die Funktion erklären, doch Krammer hat in seinem Beruf mit Waffen aller Art zu tun und kennt ihre Arbeitsweise ziemlich genau. Deshalb unterbricht er Woehler und fragt:

"Sag mir nur eines, wenn ich eine Patrone im Lauf habe und der Hammer ist nicht gespannt, wenn sie mir dann hinfällt, geht sie los?"

Woehler guckt verständnislos:

"Wie kommste denn da darauf?"

"Naja, es kommt ja immer wieder vor, daß wir im Einsatz die Waffe durchladen müssen und danach nicht immer wieder Zeit haben, die Patrone aus dem Lauf zu entfernen. Vor allem weil du dazu ja auch das Magazin rausnehmen muß. Und jetzt will ich wissen, kann dann was passieren?"

Die Wahrheit ist, Krammer hat vor dem Krieg mal miterlebt wie jemand eine durchgeladene F.N in die Hosentasche gesteckt hatte und nachdem er zwei Schritte gemacht hat, ist das Ding in der Hosen losgegangen. Der Mann hatte einen sauberen Schußkanal schräg durch den Oberschenkel mit Austrittsöffnung in der Kniekehle. Seitdem ist Krammer automatischen Pistolen gegenüber außerordentlich mißtrauisch. Doch Woehler kann ihn beruhigen. Genau wie die Smith & Wesson hat die Unique eine Ruherast, das heißt, der Hammer liegt im Ruhezustand nicht auf dem Schlagbolzen auf. Krammer unterschreibt die Empfangsquittung für die Waffe und zwei Reservemagazine (geladen mit jeweils 9 Patronen), außerdem bekommt er eine Quittung für die Abgabe seiner S & W. In den fünf Jahren, in denen er sie getragen hat, hat er - außer auf dem Schießstand - nie einen Schuß abfeuern müssen. Er hofft, daß es mit der neuen Waffe ebenso sein wird.

 

 

 

24

 

Dierkes und Klee stehen vor dem, was man in ihrem Beruf eine "Polizeileiche" nennt. Der Mann hat sich aufgehängt. Das jedenfalls behauptet seine Frau, die den Arzt geholt hat. Der Arzt wiederum hat - weil er das muß - das Präsidium verständigt und das Präsidium hat Dierkes geschickt. Weichmann hat zu ihm gesagt:

"Nimm Klee mit und zeig ihm, worauf man achten muß!"

Der Mann ist etwa 50 Jahre alt, klein und ziemlich dick. Er hat einen ordentlichen Anzug an und sieht auch sonst eher wohlhabend aus, wäre ein derartiges Attribut bei einem Körper, der an einem Seil von der Decke herunterbaumelt, nicht bereits in sich absurd. Sogar die Krawatte sitzt noch exakt in der Mitte, wenn auch eine Kragenecke bei dem Gewaltakt infolge der Verlagerung des Körpergewichtes straff nach oben geklappt ist. Der Kopf ist etwas nach links weggeknickt und sehr bleich. Unter dem Körper liegt ein Trittleiterchen mit drei Stufen, das sonst wohl eher zum Fensterputzen verwendet wird. Die Beine der Leiter sind zusammengeklappt. Der Raum ist das Wohnzimmer. Es ist groß großzügig mit altdeutschen Möbeln und orientalischen Teppichen ausgestattet. Es stinkt, den der Mann hat im Tod seine Exkremente unter sich gelassen.

Klee kann sich nicht erinnern, schon einmal ein so großes Wohnzimmer gesehen zu haben . Etwa zwei Meter neben der Leiche steht eine weitere Leiter mit 6 Sprossen und daneben liegt ein Leuchter, der sieben Arme hat und mit Kristallglas behängt ist. Der Mann hängt an einem massiven Haken in der Mitte des Raumes, an dem wohl vorher der Leuchter gehangen hat.

"Ich werde dir jetzt einmal zeigen, wie man an eine Leichenuntersuchung herangeht. " sagt Dierkes .

"Wenn ein Selbstmord vorliegt oder es jedenfalls so aussieht, dann mußt du dir erst mal die Hände oder Arme des Opfers ansehen, es kann ja sein, daß der Selbstmord nur vorgetäuscht ist, dann sind meistens Kampfspuren oder Fesselspuren an Händen oder Armen des Opfers ."

Er inspiziert die Hände und Handgelenke des Mannes, die in der Höhe seines Bauchnabels vor ihm baumeln. Die Hände sind sauber gepflegt, es sieht aus, als seien sie sogar manikürt.

"Besonders unter den Fingernägeln mußt du nachschauen, weil dort oft Haut- oder Dreckteile sind, wenn er noch um sich gekratzt hat ."

"Dann gucken wir, ob er sich überhaupt aufgehängt haben kann. Es kann nämlich sein, daß das Leiterchen viel niedriger ist als seine Füße hoch hängen. Dann kann er es so gar nicht getan haben ...Niemand kann in eine Schlinge hoch . . . eh . . . reinspringen."

Er schiebt die Trittleiter unter den Leichnam. Die Füße des Mannes hängen in Höhe der zweiten Stufe.

"Ja, so kann er es getan haben. Technisch ist das jedenfalls moglich . "

Er schmeißt die Leiter wieder hin.

"So, jetzt schneiden wir ihn ab. Guck mal nach, ob du in der Küche ein Messer finden kannst."

Klee geht in die Küche. Hier sitzt die Frau des Toten und guckt verstört zu der Tür, durch die Klee eben den Raum betreten hat. Zwei uniformierte Polizisten und ein junger Mann sitzen um sie herum. Der Mann fragt:

"Müssen wir noch hierbleiben, Frau Melzer geht es nicht gut, das können sie sich ja denken."

"Wo wollen sie denn hingehen, Frau Melzer wohnt ja hier?" antwortet Klee.

"Ich möchte sie zu ihrer Schwester bringen."

"Nein, bitte nicht zu Frieda!" sagt die Frau tonlos.

"Ich könnte sie auch solange zu mir bringen," sagt der Mann etwas unsicher, so als habe er etwas Frivoles gesagt. Klee weiß, daß der Mann mit dem Erhängten geschäftlich zu tun hatte, so etwas wie ein Partner oder Teilhaber ist und so sagt er:

"Wenn sie meinen beiden Kollegen die Adresse angeben, können sie gehen. Wir werden sie allerdings später aufsuchen."

"Ja, wir geben die Adresse an," sagt der Mann und steht auf:

"Kommen sie, Frau Melzer."

"Ihr müßt noch hierbleiben," sagt Klee zu den beiden Uniformierten, "wir brauchen gleich noch eure Aussage."

Beide blicken neidisch hinter ihm her als er mit dem Messer durch die Tür verschwindet. Andererseits, er hat sie gerade Kollegen genannt ...

Dierkes kramt gerade in der Jackentasche des Erhängten. Er hat schon die Stehleiter an die Leiche gestellt und steigt jetzt drei Sprossen hoch.

"Ich schneide ihn ab und du fängst ihn auf."

Er nimmt das Messer, das Klee ihm reicht und dann schlingt Klee seine Arme um die Hüfte des kleinen Mannes, sorgsam darauf achtend, daß er nicht mit der nassen Seite der Hose in Berührung kommt. Dierkes säbelt die Wäscheleine etwa dreißig Zentimeter ober-halb des Kopfes durch und der Mann knickt nach vorn über Klees Schulter und haut mit der Brust gegen Klees Kopf. Klee geht von dem Gewicht in die Knie. Er kann den Mann gerade eben halten und reißt ihn am Ärmel um zu verhindern, daß der Leichnam schwer auf den Boden knallt. Es bummst immer noch ganz schön laut, als der Mann schließlich auf dem Teppich landet. Dierkes guckt sich feixend von der Leiter herab Klees Kampf mit der Leiche an und sagt:

"Ganz schön schwer, der Sack, was?"

Er steigt von der Leiter und doziert weiter.

"Du mußt immer darauf achten, daß die Schlinge erhalten bleibt, manchmal ist es so, daß jemand mit einem komplizierten Seemannsknoten Selbstmord macht und dabei ist er nie zur See gefahren."

Langsam löst Dierkes die Schlinge vom Hals des Toten.

"Siehst du die Strangfurche, du mußt genau darauf achten, daß der Typ vorher nicht schon mit der Hand erwürgt worden ist und der Strick nachher bloß drumgelegt worden ist, um die Würgemale zu vertuschen. Wenn der Typ vorher schon tot gewesen ist, dann gibt es später nämlich keine unterbluteten Stellen mehr dort, wo hinterher der Strick herläuft."

"Hier, siehst du, das sind die verschobenen Stellen, wo der Strick beim Zuziehen entlanggerutscht ist."

Dierkes fährt jetzt mit beiden Händen langsam über den spärlich behaarten Schädel des Mannes.

"Jetzt taste ich nach Schlagspuren, es kann ja sein, daß er vorher niedergeschlagen worden ist und das kann man dann am Schädel fühlen."

Außerdem läßt er den Kopf der Leiche zwischen beiden Händen hin und herpendeln:

"Um zu sehen, ob das Rückgrad gebrochen ist ."

"Brechen die sich nicht immer das Genick?" fragt Klee, der sich darüber wundert, daß ihm der Anblick der Leiche und Dierkes Manipulationen an ihr, gar nicht zu schaffen machen. Er hatte schon vor dem Losfahren ein wenig Furcht. Es ist immerhin seine erste Leiche. In seinem ganzen Leben!

"Nee," sagt Dierkes, "Selbstmörder fast nie, nur wenn sie aus größerer Höhe in den Strick fallen. Dann kann manchmal sogar der ganze Kopf abreißen."

Klee wird es flau.

"Dann ist er also erstickt?" fragt er schnell, "dauert das nicht sehr lange?"

"Erstickt ist er auch nicht, na ja vielleicht zusätzlich noch." sagt Dierkes und wird wieder pädagogisch; er wird diesen Neuling, diesen grünen Jungen, schon in die Geheimnisse ihres Berufes einweihen.

"Der ist gestorben, weil ihm beide Halsschlagadern, die laufen hier seitlich," er zeigt mit beiden Händen an eine Stelle unterhalb seiner beiden Ohren,

"abgeklemmt worden sind. Das Gehirn bekommt durch diese Adern kein Blut mehr, also auch keinen Sauerstoff mehr und es tritt fast sofort Bewußtlosigkeit ein. Das geht viel schneller als das Ersticken."

"Und was machen wir jetzt mit der Leiche?"

"Die wird von uns beschlagnahmt. Alle Freitodleichen, bei denen die Todesursache nicht völlig klar ist, werden beschlagnahmt und kommen erst einmal ins Institut. Wenn unsere Vernehmungen dann abgeschlossen sind und wir den Tatbefundsbericht geschrieben haben, kann es sein, daß sie freigegeben wird. Es kann aber auch sein, daß es noch Unklarheiten gibt und dann beantragen wir oder das Gericht eine Öffnung. Es liegt also immer an unseren Ermittlungen, ob eine Leiche ohne Sektion freigegeben wird. Wenn allerdings die Leiche verbrannt werden soll, dann wird immer eine kleine Öffnung gemacht. Das wird den Angehörigen gar nicht gesagt, die merken das gar nicht. Das machen wir zur Sicherheit, denn wenn die Leiche einmal verbrannt ist, kannste kein Gift mehr nachweisen. Es ist also jetzt die Frage, ob mir Zweifel kommen. Na, was sagst du?"

"Tja, isch waaß net," sagt Klee auf Hessisch.

"Sieht alles ganz normal aus. Abschiedsbrief ist da. Die Handschriften stimmen. Es gibt keine Kampfspuren. Der Mann ist ganz friedlich hier gehangen. Wir wissen auch, daß ihm in den letzten Tagen ein Geschäft mißlungen ist, wo es um mindestens zehntausend Mark gegangen ist. Also einen Grund hatte er auch. Für mich sieht das ganz normal aus."

"Ja, wir wollen noch einmal gucken!" sagt Dierkes. Er reißt der Leiche, die noch nicht erstarrt ist, den Mund auf und sagt dann zu Klee:

"Ich stecke jetzt meinen Rüssel da rein und du drückst mit beiden Händen kräftig auf den Magen."

Er beugt sich über die Leiche und steckt seine Nase in den Mund des Mannes. Klee tritt etwas scheu an den Körper des Mannes und drückt vorsichtig auf den Magen.

"Fester!" sagt Dierkes.

Jetzt drückt Klee mit aller Wucht.

"Nee," sagt Dierkes, zieht seine Nase wieder raus,

"kein Gift!"

"Hääh?" Klee versteht nichts.

"Wenn der vorher Gift genommen hätte oder man hätte ihms gegeben, dann hätte ich das jetzt gerochen. Du hättest dann den Geruch aus dem Magen hochge-drückt."

Das stimmt nicht ganz. Dierkes hat diesen Trick von Weichmann abgeguckt. Der macht das bei jeder un-klaren Leiche, weil es in der Tat bei Giften wie Zyankali oder E 605 so ist, daß der typische Geruch nach dem Drücken wahrzunehmen ist. Allerdings muß man es vorsichtig machen, sonst versaut man sich die Riechknospen.

"In Zukunft machst du das mit der Nase und ich drücke," sagt Dierkes und hofft, daß sie demnächst eine ordentliche Giftleiche bekommen werden, die Klees Nase für die nächsten 14 Tage außer Gefecht setzen wird. Bei dem Gedanken freut er sich. Auch für Dierkes ist jetzt alles normal. Er wird später in seinem Tatbefundsbericht den Schlußsatz schreiben:

"... und so bin ich der Meinung, daß die Todesursache nicht als unnatürlich anzusehen ist, sondern daß ein selbstgewählter Freitod vorliegt."

Worauf Weichmann, der eine Woche später eine Kopie des Berichtes lesen wird, die Worte sagt:

"Quatsch mit Soße, ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich aufgehängt hat und dabei seinen Schlips umgebunden hatte."

Doch da ist die Leiche bereits unter der Erde und Weichmann wird einen Dreck tun, auf Grund dieses vagen Verdachtes eine Exhumierung zu beantragen.

 

 

 

25

 

"Das ist ja komisch," sagt Gaby, "fast so als ob die Schnur die Nabelschnur wäre. Ich habe das mal in einer Geburtshilfeabteilung gesehen, als ich im Kriege meine Krankenpflegerinnen-Ausbildung erhalten habe. Die Nabelschnur wird bei Babies auch zweimal mit einer Klemme unterbunden und dann wird sie mit einer Schere zwischen den beiden Klemmen durchgeschnitten." Krammer fühlt sich bei diesem Thema unwohl. Alles, was den weiblichen Unterkörper aus medizinischer Sicht anbelangt, bereitet ihm Unbehagen.

Als er ins Schwille kam, war er immer noch so sehr mit seinem Traum beschäftigt, daß er gleich als erstes - er weiß auch nicht warum - Gaby die Geschichte in voller Länge erzählt hat. Und Gaby hat fasziniert zugehört.

"Aber woher soll ich denn so etwas im Traum wissen, ich habe noch nie eine Geburt gesehen?"

"Träume sind Wünsche, die noch nicht in Erfüllung gegangen sind." sagt Gaby.

"Na, das will ich nicht hoffen!" sagt Krammer und denkt an die Guillotine.

"Nein, im Ernst, vielleicht wünschen sie sich ein Kind," sagt Gaby, die sich selbst sehnsüchtig ein Kind wünscht.

"Nein," sagt Krammer, "ein Kind wünsche ich mir nicht." Er stellt sich vor, wie es gewesen wäre, wenn in seinem ganzen Eheelend auch noch ein Kind herumgekrabbelt wäre.

Andererseits, seine Frau hätte dann jemanden gehabt, den sie bemuttern und dem sie ihre ganze Aufmerksamkeit hätte schenken müssen. Vielleicht wäre sie dann ihm nicht so sehr auf die Nerven gefallen. Wie dem auch sei, denkt Krammer, jetzt ist es zu spät.

"Meine Frau ist schon zu alt für Kinder. Sie ist 48." sagt er und erschrickt, weil es fast wie eine Anklage klingt, so als wolle er Gaby sagen: "Verstehst du, was ich alles durchmachen muß!" Und Gabriele Kleinschmidt hört genau hin. Sie findet Krammer immer netter. Ein netter Herr mit sehr guten Manieren, höflich und sehr gutaussehend in seinem dunklen Anzug, seinen schwarzen Schuhen und dem grauen Binder. Und einen interessanten Beruf hat der Mann. Außerdem Beamter. Hmm. Sie lächelt ihn an:

"Wer weiß, welche unterbewußten Regungen es bei ihnen geben mag. Niemand weiß das genau. Am allerwenigsten man selbst," sagt sie schelmisch und zwinkert, so, als verstünde sie eine Menge.

Krammer fühlt sich jetzt wohl - richtig entspannt. Die Kellnerin kommt mit dem Kaffee. Krammer hat noch einen Pflaumenkuchen mit Sahne bestellt. Gaby ißt nichts.

"Ich möchte sie noch einmal nach Hermann fragen. Es ist ja jetzt vollkommen geklärt, daß Herr Wolff die Bombe selbst angefertigt hat. Er wollte jemanden aus der Redaktion töten. Nur wir wissen nicht wen, und das heißt, wir wissen auch nicht, warum er das tun wollte. Natürlich möchten wir das gerne wissen, bevor wir den Fall endgültig zu den Akten legen können. Vielleicht sind ja noch andere Straftaten mit die-sem Mordversuch verbunden. Vielleicht wurde Hermann erpresst, oder irgend so etwas."

"Ja, vielleicht hat er sich einfach gewehrt. Vielleicht war es ja Notwehr!" sagt Gaby.

"Eine solche Notwehr gibt es nicht. Notwehr von langer Hand vorbereitet, heißt automatisch 'Mord"'.

"Also daß Hermann erpreßt worden ist, kann ich mir nicht vorstellen. Da müßte er ja etwas angestellt haben, weswegen er erpreßt werden könnte. Und was hätte man von ihm schon erpressen können? Der hatte doch nichts" .

"Ja," sagt Krammer, "gestern hat uns Herr Falkenstein da auf eine Spur gebracht. Er sagte, Hermann könnte nie jemanden umbringen, wegen etwas, was man ihm selbst angetan hätte. Allerdings meinte Falkenstein, Hermann könnte vielleicht jemanden töten, wenn dieser jemand einem anderen oder vielleicht einem harm-losen Tier etwas getan hätte. Hermann wäre dann sozusagen der Rächer gewesen. Sie wissen ja, so wie in diesen früheren Edelkitschromanen "Rinaldo Rinaldini, der Rächer der Unterdrückten " ."

Krammer erinnert sich auf einmal auch der Heftchenromane, die in Hermanns Kammer gefunden worden waren - da war doch auch eine Ritterserie dabei . "Können sie sich so etwas vorstellen, Fräulein Kleinschmidt?" Sie ist selbst Romantikerin und deshalb überlegt Gaby lange.

'"Dieser Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen, aber ich muß sagen, er klingt gar nicht so abwegig. Denn ich kann mir auch nicht vorstellen, daß Hermann sich an jemanden rächen könnte. Das paßt gar nicht zu ihm. Er war so scheu. So verlegen. Jedesmal wenn ich etwas zu ihm gesagt habe, konnte er mich gar nicht richtig angucken . Wenn er jedoch eine andere Person rächen wollte, wer könnte das sein. Und vor allen Dingen, wie sollte jemand von uns in der Redaktion darin verwickelt sein?"

"Ja, das ist die Frage." sagt Klee.

"Gibt es jemanden in der Redaktion, zu dem Hermann Kontakt gehabt hat?"

"Nein," sagt Gaby, "das hätten wir doch bemerkt! Niemand in der Redaktion hatte ein näheres Verhältnis zu Hermann. Außer natürlich, daß sich alle über ihn lustig gemacht haben und ihn gehänselt und verulkt haben, und zwar so, daß es manchmal richtig widerlich war."

"Wissen sie jemanden, der sich darin besonders hervorgetan hat?"

"Falkenstein! Falkenstein ist überhaupt der schlimmste von allen, er hat so eine überlegene Art. Er ist so kalt und intelligent. Und das benutzt er, um sich manchmal sehr zynisch über jemanden herzumachen und ihn richtig zu quälen. Wenn sie mich fragen: wenn Hermann jemanden töten wollte, dann Falkenstein. Ich könnte ihn manchmal selbst umbringen, wenn er so überlegen und ohne mit der Wimper zu zucken, Gemeinheiten losläßt.

Scheußlich dieser Mann, sage ich ihnen."

Bei Gaby kommt so etwas wie Wut durch.

"Der hat einfach kein Herz. Wo andere Leute ein Herz haben und Mitgefühl haben, da hat Falkenstein einfach nur ...", sie ringt nach Worten,

"... einfach nur Klugheit sitzen. Ich mag ihn nicht leiden."

Krammer hat seinen Kuchen fertig gegessen. Er bestellt noch eine zweite Tasse Kaffee. Vor heute abend fürchtet er sich etwas. Er weiß, daß seine Frau eine Flasche Wein gekauft hat. Und daß sie heute Nacht das neue Jahr feiern werden. Wahrscheinlich werden sie dann wieder miteinander schlafen. Ihm ist gar nicht wohl dahei. Viel lieber würde er ja mit Gaby ... Er seufzt und verbietet sich energisch jeden weiteren Gedanken.

Sie ist schließlich eine Zeugin, mehr nicht. Und wahrscheinlich interessiert sie sich auch gar nicht für mich, denkt er. Andererseits, schließlich kam der Vorschlag, ins Schwille zu gehen, ja von ihr. Er schaut sie an und sie schaut zurück. Er schaut länger, als er das gewöhnlich macht. Und auch sie schaut länger, als es der Anstand eigentlich zu läßt.

Kramer schaut als erster weg und rührt mit dem Löffel in seiner Tasse.

"Sie haben noch gar keinen Zucker in den Kaffee getan!" sagt Gaby.

"Ich nehme nie Zucker im Kaffee." sagt Krammer und wird fast rot.

 

 

 

26

 

Weichmann sitzt an seinem Schreibtisch und feilt.

Er hat einen Radrohling des Tenders seiner Lokomotive in der linken Hand und in der Rechten hält er eine schmale Feile. Die Radrohlinge bezieht er aus einer Eisengießerei in Fechenheim zum Selbstkostenpreis. Er kennt den Inhaber dieses kleinen Werkes gut, denn dieser hat schon Weichmanns Vater mit Gußteilen beliefert. Die Räder der Lokomotive sind mit ihren Speichen ziemlich schwer herzustellen, denn sie müssen als ganzes Stück gegossen werden und dann sind sie etwa zwei Zentimeter dick. Erst wenn etwa eineinhalb Zentimeter von ihrer Dicke auf der Drehbank abgedreht worden sind, treten die Speichen, die vorher reliefartig auf dem Stück saßen, als getrennte Speichen hervor. Nachdem sie auf die nötige Dicke zugeschnitten sind müssen sie noch von Hand nachbearbeitet werden, damit die grobkörnige Oberfläche vollends glatt wird. Und so feilt Weichmann jetzt vorsichtig zwischen den einzelnen Speichen herum. Seine dicken aber kurzen Finger arbeiten systematisch vor seinem fetten Bauch auf und ab. Direkt unter den Fingern befindet sich die etwa zehn Zentimeter weit geöffnete Schreibtischschublade. Weichmann schnauft und feilt. Dierkes, der das schon kennt, tippt.

Jedesmal, wenn Weichmann Schritte auf dem Flur hört, stoppt er und wenn die Schritte dann vorbeigehen, feilt er weiter. Diesmal werden die Schritte vor der Tür langsamer und die Klinke wird heruntergedrückt. Weichmanns Hände lassen Feile und Rad fallen, sein Bauch wölbt sich vor und die Schublade schließt sich automatisch.

Schon blättert seine linke Hand in einem Schriftstück und die rechte hat einen Bleistift gegriffen.

Krammer, der in das Zimmer tritt, sieht nur einen tippenden Dierkes und einen blätternden Weichmann.

Als Weichmann sieht, daß es Krammer ist, holt er die Feile und den Rohling wieder hervor und feilt weiter. Es hätten ja auch Hellige oder Semmelrogge sein können.

"Hier, hört mal her." sagt Krammer.

"Ich habe gerade aus Wiesbaden diesen Bericht über die Zündung der Bombe bekommen. Wir haben uns den Kopf darüber zerbrochen, was der Wecker in dem Paket zu suchen gehabt hat. Offenbar haben die Wiesbadener auch lange daran herumgerätselt, weil ja der Wecker noch nicht mal richtig funktioniert hat. Die Unruhe hat ja gefehlt."

"Was ist denn eigentlich Unruhe?" fragt Dierkes.

"Das ist das, was du im Arsch hast!" sagt Weichmann.

"Das ist der Teil in der Uhr, der hin- und herläuft und der das Ticken macht. Wenn der fehlt, dann läuft das Uhrwerk blitzschnell ab." sagt Krammer, der das schon mal selbst ausprobiert hat.

"Hör mal zu, was die schreiben," sagt Krammer und liest vor:

"Als Schlußfolgerung über die Zündung des Mechanismusses ist festzustellen, daß das Uhrwerk entweder

a) gar keine Funktion hatte und nur in das Paket gelegt worden ist um die Ermittlungen in eine falsche Richtung zu lenken. Es könnte also die Aufgabe gehabt haben, die ermittelnde Behörde glauben zu lassen, es handele sich tatsächlich um eine Zeitbombe. Während es sich in Wahrheit um eine mit dem Paketband verbundene Kontaktzündung gehandelt hat. Oder b) die Funktion hatte, eine zusätzliche Sicherheit für den Täter abzugeben. Indem er nämlich zwischen den auslösenden Kontakt und den Sprengsatz ein Weckerwerk schaltete, konnte er beim Einpacken und Verschnüren des Bombenpaketes das Risiko für sich selbst erheblich mindern. Das Risiko besteht darin, daß der Täter bei einer unbedachten Bewegung des Zuschnürens die Dynamit-Ladung selber auslöst. Hier konnte der dazwischengeschaltete Wecker eine Verzögerungszeit bieten. Wir haben mit ähnlichen Uhrwerken Versuche angestellt und herausgefunden, daß ein Uhrwerk ohne Unruhe erst nach einer Ablaufzeit von dreieinhalb Sekunden das Weckerwerk betätigt. Da das Ablaufen der Uhr außerdem mit einem lauten Geräusch verbunden ist, bietet diese Vorrichtung etwa drei Sekunden Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, falls die Zündung unbeabsichtigt ausgelöst wird. Drei Sekunden sind erfahrungsgemäß eine ausreichende Zeitspanne, entweder selber Deckung zu wählen oder das Paket als ganzes wegzuwerfen. Für die Möglichkeit b) spricht insbesondere die Tatsache, daß die Unruhe mit Bedacht entfernt worden ist. Unsere Untersuchungen haben ergeben, daß sie nicht etwa zufällig gefehlt hat (also sich unbeabsichtigt aus dem Werk gelöst haben könnte), sondern daß sie sich nur durch das Öffnen von vier Muttern an den Seitenteilen des Uhrwerkes entfernen läßt. Sie kann natürlich auch mit einiger Gewaltanwendung aus dem Werk gelöst werden, dann jedoch sind immer ihr sehr empfindlichen Achsenenden verbogen. Die vorhandene Unruhe (Beweisstück 22) ist jedoch vollkommen unbeschädigt.

Wir möchten allerdings darauf hinweisen, daß es sich bei der Möglichkeit b) nur um eine theoretische Schlußfolgerung handelt, da der letzte Beweis für diese Hypothese (nämlich die Drahtverbindungen zum Weckerwerk) durch die Explosion entweder vollständig vernichtet worden ist oder uns aus anderen Gründen (die in der Spurensicherung liegen könnten) nicht zur Untersuchung vorlagen."

"Das heißt, daß Hermann ein verdammt schlaues Bürschchen gewesen ist!" sagt Weichmann, der Bastler.

"Ich verstehe das nicht, wieso kann man mit einem Wecker ohne Unruhe etwas verzögern?" fragt Dierkes.

"Du mußt auch nicht alles verstehen. Weißt du was?" sagt Weichmann zu Krammer:

"stell dir nur Hermanns Schock vor, als er im Raum von Wyssmann auf einmal das Abschnurren des Uhrwerkes gehört haben muß."

"Ja" sagt Krammer, "warum hat er sich nicht in Deckung geworfen?"

"Der hat dreieinhalb Sekunden dagestanden und wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt."

"Das verwechselst du, die Schlange starrt das Kaninchen an!"

"Starr vor Angst. Vielleicht ist der schon vorher an seiner Angst gestorben. Nach allem, was wir von Hermann wissen, war der starr vor Angst!"

Weichmann vergißt völlig, daß er noch die Feile und das Rad in der Hand hat und merkt es erst, als die Frau aus dem Fernschreibzimmer schon mitten im Raum steht.

"Was haben sie denn da, Herr Weichmann?"

"Oh," sagt Weichmann nach einer Weile, "das sind Beweise in einem Fall, wo jemand eine neugierige Fernschreibsekretärin mit einer Feile abgemurkst hat, genauso wie damals die österreichische Kaiserin."

"Mit so einer kleinen Feile?" fragt die Frau ungläubig.

"Ja, er hat sich viel Zeit damit gelassen. Er hat sie nämlich nicht erstochen, sondern ganz langsam totgefeilt."

Seit dem Fall mit der an die Wand genagelten Leiche (deren Photos durch das ganze Haus gewandert sind), ist die Frau aus dem Fernschreibzimmer einiges von der Mordkommission gewöhnt. Sie schuddert sich innerlich und möchte mehr Einzelheiten wissen. Doch dann merkt sie an Krammers und Dierkes feixenden Gesichern, daß Weichmann sie auf den Arm genommen hat.

"Na also wissen sie! Das ist ja doch wirklich ..."

mault sie laut und verläßt das Zimmer.

Krammer überfliegt das Fernschreiben. Es ist aus Itzehoe.

"Ach nee" sagt er nach einigen Sekunden, "wißt ihr, wer von 1923 bis 1926 in Itzehoe gewohnt hat? Unser Freund Wyssmann!"

"Ach nee," sagt Weichmann, "son Zufall!"

Klee kommt in das Zimmer. Krammer gibt ihm das Fernschreiben zu lesen.

"Gratuliere Kleiner, "sagt Weichmann, "es war deine Idee, nach den Namen der Redakteure in Itzehoe zu fragen. Wysmann hat vor dreißig Jahren da gelebt."

"Das ist doch sicher ein Zufall," sagt Dierkes, "was hat denn das mit unserem Mord zu tun, daß einer, der vor dreißig Jahren irgendwo gewohnt hat, heute als Zeuge bei einer Mordsache auftaucht, wo der Täter ebenfalls da gewohnt hat. Da war doch Hermann noch gar nicht geboren."

"Irrtum," sagt Krammer, "Hermann ist 1921 geboren worden. Außerdem ist Wyssmann nicht Zeuge, sondern sollte möglicherweise das Opfer sein. Und ich würde mich nicht wundern, wenn Wyssman der Vater von Hermann ist."

"Der Vater?" Dierkes ist völlig entgeistert.

"Ja," sagt Weichmann nachdenklich, "die Möglichkeit besteht. Im ersten Fernschreiben haben die Itzehöer angegeben..."

"Es heißt Itzeho-er..." sagt Klee, "nicht mit ö, sondern mit o e."

"... also haben die Itzehoer angegeben, daß Hermanns Vater weder im Taufregister noch im Meldebüro des Rathauses genannt worden ist."

"Ihr meint wirklich, der Hermann hat seinen Vater umbringen wollen?"

Dierkes ist immer noch ganz fertig.

"Immerhin ist die Bombe in Wyssmanns Zimmer explodiert, oder?" sagt Krammer.

"Vatermord, puhh!" sagt Klee, der an seinen Vater denken muß.

"Ich denke, wir hören uns einfach mal an, was Wyssmann dazu zu sagen hat."

"Wollen wir ihn herbestellen?" fragt Klee

"Nee, da gehen wir schon lieber selber hin." sagt Weichmann.

Vatermord, das macht für Krammer und Weichmann Sinn. Das hatten sie schon einige Male, daß der Sohn oder die Tocher (meist der Sohn) den eigenen Vater umbringt. Einmal sogar hatte der Vater die Tocher umgebracht.

Vatermord, das ist für sie menschlich. Damit können sie - als Teil eines Motivs - etwas anfangen. Das Dunkel scheint sich zu lichten.

 

27

 

6. Januar 1954. Wysmann ist immer noch krank, deshalb sitzen Krammer, Weichmann und Klee um sein Bett in dem getäfelten Zimmer. Eigentlich wollten nur Krammer und Weichmann hingehen - doch Klee durfte mit, weil von ihm die Idee mit dem Fernschreiben stammt. Dierkes hatten sie zu einer Sektion geschickt. Irgendjemand von der Kripo muß ja immer dabeisein, wenn Wittholz Hände virtuos in einer Leiche verschwinden.

Krammer beginnt:

"Herr Wyssmann, waren sie schon einmal in Itzehoe?"

Wyssmann schaut Krammer ungläubig an.

"In Itzehoe? Ja, wieso kommen sie denn jetzt auf diese Frage? Ja, ja, ich war schon einmal in Itzehoe. Früher. Ich habe sogar da gearbeitet. Als Redakteur bei den "Itzehoer Nachrichten". Das ist aber lange her."

"Wann war das?" fragt Weichmann.

"Ja, warten sie, das war während der Inflation. Aber was hat denn das alles zu bedeuten?"

"Herr Wyssmann, hier stellen wir jetzt die Fragen. Überlegen sie bitte genau, wann sie in Itzehoe waren."

Nach einer Pause.

"Ja, also ich habe in Hamburg volontiert, das war 1919, da war ich 23 Jahre alt. Dann bin ich vier Jahre in Hamburg gewesen, beim "Alster-Kurier" und der hat dann während der Inflation fast alle Leute entlassen. Ja, ich glaube 1923 bin ich nach Itzehoe gegangen. Zu Ostern 1923. Und 1926 habe ich dann eine Redakteurstelle in Essen bekommen. Das war im Herbst. Also ich war etwa dreieinhalb Jahre in Itzehoe. Aber ich verstehe immer noch nicht ..."

"Hatten sie in Itzehoe eine Liebschaft, Herr Wyssmann?" Weichmann prescht vor.

"Bitte?" Wysmann wird es jetzt ungemütlich.

"Meine Herren, ich möchte jetzt wirklich wissen, was das zu bedeuten hat. Sie kommen hier zu dritt und überfallen mich mit Fragen, die ich gar nicht verstehe und jetzt fragen sie mich auch noch nach meinem Intimleben aus. Ich werde kein Wort mehr sagen, bevor sie mich nicht darauf hingewiesen haben, weswegen sie mich überhaupt verdächtigen. Ich möchte sonst vorher mit einem Anwalt sprechen."

Krammer versucht einzulenken:

"Herr Wyssmann, im Rahmen unserer Morduntersuchung gegen Hermann Wolff sind Verdachtsmomente aufgetaucht, daß Hermann Wolff sie von früher kannte. Wir ermitteln also nicht gegen sie und dieses ist auch kein Verhör, sondern nur eine Zeugenvernehmung. Als Zeuge in einer Mordsache sind sie allerdings verpflichtet, uns gegenüber wahrheitsgemäße Aussagen zu machen. Sie brauchen keinen Anwalt, weil wir sie ja gar keines Deliktes beschuldigen. Wir möchten lediglich von ihnen ein paar Fragen beantwortet haben. Das ist alles, wir tun dabei nur unsere Pflicht."

"Moment, sie sagen, daß Hermann Wolff mich von früher kannte und daß die Bombe für mich bestimmt war. Wie kommen sie denn darauf und was hat das alles mit Itzehoe zu tun?"

"Nach unseren Informationen kannten sie die Mutter von Hermann Wolff näher, ihr Name ist Hannelore Maria Wolff und die wohnte 1923 in Itzehoe in der Breiten Strasse.

"Hannelore ist Hermanns Mutter gewesen ..."stammelt Wyssmann. Er macht den Eindruck als träume er.

"Die Mutter von unserem Hermann ?

Dann ... dann ... ist Hermann das "Männlein"?"

"Welches Männlein?" fragt Klee.

"Naja, das "Männlein", ihr Kind, der Kurze, der immer in den Kohlen gespielt hat."

"Frau Wolff hatte ein Kind, als sie sie kennengelernt haben?"

Weichmann sieht seinen Vatermörder schwinden.

"Ja sicher, ich habe Hannelore kurz vor Weihnachten kennengelernt als wir die Not alleinstehender Mütter in einem Artikel beschrieben haben. Inflationsnot. Es ging ihr damals sehr schlecht. Sie arbeitete im Krankenhaus und mußte wegen des Kindes meistens Nachtschichten machen, sie konnte ihn ja tagsüber nur schlecht alleine lassen. Ja, da habe ich sie kennengelernt. Das Kind war ungefähr zwei Jahre alt. Sie hat ihn "Männlein" genannt. Männlein, wohl weil er Her-Mann hieß. "Männlein"! Ich habe mich schon damals gewundert, wieso ein so kleines Kind "Männlein" heißt."

"Und vorher hatten sie Frau Wolff mit Sicherheit nicht gekannt?" fragt Weichmann.

Noch hängt er an seinem Ödipus-Verdacht.

"Nein, ich sage ihnen doch, daß das Kind sicher schon zwei oder drei war, als ich Hannelore kennengelernt habe."

"Das heißt, sie sind nicht der Vater von Hermann?"

"Nein, nein, nein, der Vater war ein Soldat. Den hatte Hannelore im Krankenhaus kennengelernt. Er lag da, weil seine Kriegsverletzungen nicht heilen wollten. Sie hat es mir einmal erzählt. Der war aber schon verheiratet, deshalb durfte es keiner wissen, daß er das war. Der ist dann auch gestorben, lange bevor ich Hannelore kennengelernt habe. Ich habe sie wirklich erst kennengelernt, als das Kind schon mindestens zwei Jahre alt war, so glauben sie mir doch!"

Wyssmann wird ganz unruhig.

Krammer glaubt ihm. Die Geschichte klingt plausibel und sie stimmt auch mit den Daten der Meldebehörde überein.

"Hatten sie ein Verhältnis mit Frau Wolff, Herr Wyssmann?"

"Mein Gott gehört denn das hierher? Ja, wir waren befreundet."

"Intim?" fragt Weichmann.

"Ja, auch intim!" sagt Wyssmann widerwillig.

"Ich habe ihr ab und zu etwas zu essen gebracht für das Kind und sie...naja, sie wissen ja wie das so ist. Ich war allein und sie war allein mit dem Kind. Naja und da sind wir uns dann nähergekommen."

"Wie lange waren sie befreundet?"

"Bis ich Itzehoe verlassen habe."

"Also bis Herbst 1926?"

"Ja, nein, nicht ganz. Irgendwann im Sommer bevor ich nach Essen ging, hatte Hannelore einen Zusammenbruch. Etwas mit den Nerven. Sie kam in eine Pflegeanstalt und da habe ich sie noch einmal besucht. Sie war einfach mit den Nerven fertig."

"Sie meinen, Frau Wolff war geistig verwirrt?"

"Naja, geistig verwirrt will ich nicht sagen, sie hat wohl die Belastung mit dem Kind und die Nachtschichten und zu wenig Schlaf und zu essen gab es auch nicht das meiste, das hat sie wohl alles nicht vertragen."

"Wollten sie Frau Wolff heiraten ?" fragt Klee.

"Nein !" sagt Wyssmann sehr schnell:

"Ich habe ihr nie die Ehe versprochen. Das kann ich ihnen versichern. Ich war noch viel zu jung damals und mein Gehalt bei der Zeitung hätte das auch gar nicht erlaubt. Außerdem wollte ich nicht in Itzehoe bleiben, eine Familie hätte ich mir gar nicht leisten können."

"Kann es sein, daß Frau Wolff geglaubt hat, daß sie sie heiraten wollten?" hakt Klee nach.

"Das weiß ich nicht mehr. Sie hat vielleicht mal darüber gesprochen, aber ich habe ihr immer zu verstehen gegeben, daß ich als Journalist ungebunden sein muß. Ich war immer mit der Zeitung verheiratet. Die Zeitung und eine Ehefrau, das verträgt sich nicht, das war immer mein Wahlspruch. Bis heute! Nein, ich habe ihr nie die Ehe versprochen und wenn sie das doch geglaubt haben sollte, so war das vielleicht ihr Wunsch. Aber nicht meiner."

"Aber sie waren die ganze Zeit intim miteinander?"

"Ja, Herrgott noch einmal, aber ich habe ihr dafür auch genug mitgebracht. Essen und Zigaretten, sie rauchte sehr gern."

"Wie alt waren sie, als sie Frau Wolff kennengelernt haben?"

"25, nein 26 Jahre alt."

"Und sie," fragt Weichmann, "wie alt war sie?"

"Ich glaube 35."

"Dann war sie 32 Jahre alt, als Hermann geboren wurde." sagt Weichmann.

"Ja, und Hermann war 32 Jahre alt, als er starb," sagt Krammer.

"Ja, das haut hin." sagt Weichmann.

Krammer und Weichmann hatten vor einigen Jahren eine merkwürdige Beobachtung gemacht. Sie haben oft darüber gerätselt und hatten doch keine Erklärung für dieses Phänomen gefunden. Dennoch, es war sehr wirksam. Unheimlich wirksam. Es entwickelte sich bei ihnen langsam zur fixen Idee, oder zu einer Art magischem Weltbild. Sie haben in ihrem Beruf sehr viel mit Jahreszahlen und Daten zu tun. Geburtsdaten, Sterbedaten, Heiratsdaten, Altersangaben, Zahl der Kinder usw. usw. Immer wieder kommt es vor, daß auf einmal die verrücktesten Daten zueinander passten. Ein Sohn zum Beispiel wurde genau am gleichen Tag ermordet, als er 46 Jahre alt war an dem sein Vater ebenfalls im Alter von 46 Jahren im Krieg gefallen war. Oder: eine Tochter gebar genau in dem Alter ein Kind in dem ihre Mutter war als sie geboren wurde. Oder: Ein Mann brachte einen anderen Mann um als er 36 Jahre alt war. Im Alter von 36 Jahren aber war seine eigene Mutter von einem Raubmörder umgebracht worden. Sogar die Zahl der Tage stimmt in manchen Fällen. Wie gesagt, es gibt in ihrem Wust von Ermittlungsdaten kaum eine Akte in dem diese merkwürdige Übereinstimmung von Lebensdaten nicht auftaucht.

Wenn sie mal in einem Fall überhaupt nicht weiterkommen, dann sitzen sie manchmal stundenlang am Schreibtisch und vergleichen diese Daten miteinander. Oft haben sich hierbei schon sehr brauchbare Spuren ergeben. Krammer hat vor, diesen Umstand einmal systematisch zusammenzustellen um ihn als Aufsatz in der Zeitschrift "Kriminalistik" zu veröffentlichen.

(Besonders jetzt, wo sein Kollege Konrad, ebenfalls Obersekretär, seinen Aufsatz über die Identifizierung des Mannes ohne Oberkörper aus dem Main dort veröffentlich hatte. Krammer ist der Überzeugung, daß er das auch kann, was Konrad kann).

Doch er zögert deshalb noch, weil es eigentlich - streng genommen -Weichmanns Entdeckung war.

Auch in diesem Fall gibt es diese merkwürdige Übereinstimmung wieder. Hermann war 32 Jahre alt, als er starb und seine Mutter war 32 als er geboren wurde. Hätten Krammer und Weichmann genauer nachgerechnet, so hätten sie herausgefunden, daß Hermann auf den Tag genau 32 Jahre, und 183 Tage als war. Er war am 2O.O6.1921 geboren worden und an diesem Tag war seine Mutter genau 32 Jahre, und 183 Tage alt gewesen. Außerdem war Hermann genau an dem Tag gestorben, an dem seine Mutter Geburtstag hatte. Doch was hätte es schon genützt, das zu wissen.

"Wann haben sie Frau Wolff gesagt, daß sie nach Essen gehen?" fragt Klee, "war das vor ihrem Aufenthalt in der Pflegeanstalt?"

"Ja, das war vorher," sagt Wyssmann, "kurz vorher."

 

 

 

28

 

Professor Wittholz kämpft mit sich. Soll er es in Scheiben schneiden zur mikroskopischen Feinuntersuchung (das wäre die Vorschrift) oder kann er darauf verzichten? Das Gehirn liegt vor ihm und er hätte es gar zu gern in die Lernmittelsammlung seines Insituts inkorporiert. Er beschließt, diese Entscheidung noch etwas hinauszuzögern und sich erst einmal die Lunge anzuschauen. Er macht den "Kragenschnitt" von Achsel zu Achsel dicht unter den beiden Schlüsselbeinen und sodann einen zweiten Schnitt über die Mitte des Brustkorbes links am Nabel vorbei bis zu Hälfte des unteren Schambeines.

Während er halblaut mit gleichbleibend monotoner Stimme sein Lateinerkauderwelsch dem Protokolanten rübergibt, steht Dierkes gelangweilt und ein wenig fröstelnd links oben hinter dem Seziertisch. Auf dem Tisch, der etwa 2,4O Meter lang ist, liegt in der Mitte ein kümmerlicher Haufen Fleisch, der einmal ein Säugling war. Jetzt ist er zu einer Polizeileiche geworden und trägt das Aktenzeichen 76 Js. 52/54.

Reitmüller und Kruse von der 1. Mordkommission haben das Kind heute morgen, es war noch dunkel, aus der Nidda gefischt.

Nach dem ersten Augenschein des Amtsarztes und dem zur Sektion zugezogenen Pädiaters der Uniklinik handelt es sich um einen Säugling, männlich, weiß, etwa zweieinhalb Monate alt. Die Nabelschnurdurchtrennung war noch nicht restlos zugewachsen.

 

Dierkes langweilt sich immer bei Sektionen. Man muß stehen, es ist kalt hier in dem Keller und interessant ist es schon gar nicht. Alle Leichen sehen innen gleich aus. Dieser Fall ist ohne Zweifel ein Mordfall. Ein Zeuge hat berichtet, daß er - vom anderen Ufer her - einen Plumps gehört hatte. Dann war eine Gestalt, eine weibliche Gestalt, in den Büschen untergetaucht. Der Zeuge sah sie noch kurz wie sie durch ein Trümmergrundstück hindurch auf die Herborner Strasse trat und dann hinter dem nächsten Haus verschwand. Sodann hörte er eine jämmerliche Kleinkinderstimme sehr hell über die Wasseroberfläche klingen und er sah einen weißen Fleck auf der Nidda treiben. Einmal konnte er das Kind sehr genau sehen, weil eine Laterne seinen Schein just auf diese Stelle warf.

"Es hat geschwommen, nein, gepaddelt, wie ein Hund gepaddelt, den Kopf über Wasser und dabei immer wieder laut aufgeschluchzt..." sagte der Zeuge.

Die Nidda hat dann das Kind stromabwärts getrieben. Schließlich nach etwa zwei oder drei Minuten sei das Wimmern dann verstummt und der Zeuge hat aus einer Telefonzelle die Polizei verständigt.

Auf die Frage, warum er denn nicht hineingesprungen und das Kind gerettet hätte, antwortete der Zeuge, er könne nur sehr schlecht schwimmen und außerdem habe er zu viele Kleider angehabt. Bis er die ausgezogen hätte, wäre das Kind schon viel zu weit abgetrieben und außerdem, man habe heute den 6. Januar und die Nidda sei kalt. Er habe Angst vor einem Herzschlag gehabt. Reitmüller hatte das nackte Kind 7O Minuten nach dem Anruf in einem Gestrüpp am Ufer gefunden. Es hat noch gelebt. Doch in dem Moment, in dem es in wärmende Decken gehüllt wur-de und Reitmüller es an sich drückte um ihm Körperwärme zu geben, gab es einen entspannenden Ruck in dem Kind und es starb. Die Lunge, die Wittholz jetzt zusammen mit dem Herzen herauslöst, zeigt die ersten Anzeichen der typischen Blähung und auch in der Luftröhre ist Wasser vorzufinden. Doch das ist nicht die Todesursache. Wittholz vermutet starke Unterkühlung, den sog. "Kälteschock", der oft einen Herzstillstand herbeiführt.

Wie dem auch sei, Dierkes langweilt sich. Er ärgert sich vor allen Dingen maßlos, daß er hier herumstehen muß und nicht Klee.

Ihm schwant langsam, daß Klee wohl doch nicht derjenige ist, der ihm die Dreckarbeiten abnehmen wird. Die Sau macht sich bei Krammer und Weichmann beliebt. Spielt Detektiv, hat Ideen und schickt auf eigene Faust Fernschreiben los. Auf so jemanden hat Dierkes gerade gewartet. Jetzt tuschelt Wittholz eine Weile auf den Amtsrichter ein und dieser zieht seine Stirn in Falten. Nach ein paar Sätzen ist alles klar. Wittholz darf das Hirn als ganzes behalten. Er schickt den Präparator los, ein Gefäß zu holen. Nach weiteren 2O Minuten ist die Sektion beendet. Dierkes stapft nach draußen. Es ist halt Vorschrift, daß bei einer unnatürlichen Todesursache (und ein Kind ins Wasser zu werfen, zählt zweifelsohne zu den unnatürlichen Prozeduren, ein Leben zu beenden) eine Sektion durchgeführt werden muß und bei einer amtlichen Leichenöffnung hat ein Vertreter der Kripo anwesend zu sein, um ggf. auftauchende Spuren sofort weiterverfolgen zu können. Das ist der Sinn dieser Verordnung. Draußen steigt er in die 13 und fährt zum Hauptbahnhof.

 

Es ist 14 Uhr 16 als er am Bahnhofsvorplatz ankommt und Dierkes merkt sofort und instinktiv, daß hier etwas nicht stimmt. Aus der Richtung der Münchner Strasse nimmt Dierkes eine Aufregung wahr, noch bevor er etwas sehen kann. Menschen laufen durcheinander. Einige liegen sogar auf der Erde. Schreie klingen zu ihm herüber, jetzt Schüsse. Zwei, drei.

Schwer hallen die Echos der Detonationen durch die Strassenschlucht der Münchener und erst als sie in den großen Bahnhofplatz eindringen, werden sie weicher. Können sich ausbreiten und dadurch milder werden. Dierkes schaltet zuerst nicht. Er spürt Angst, dann Neugierde, dann erst fällt ihm ein, daß er ja Polizist ist. Und dann denkt er, daß jetzt seine Chance gekommen sein könnte. Er knöpft seine Jacke auf, öffnet das Lederfutteral und zieht seine Pistole hervor. Entsichern und durchladen sind eine Bewegung. Dierkes hat lange darauf geübt. Dann rennt er rüber auf die aufgeregten Menschen zu. Zwei Männer stehen hinter einem geparkten Auto und schauen ihm ängstlich entgegen.

"Polizei." sagt er: "was ist hier los?"

"Da vorne beim Gemüseladen steht ein Mann und schießt!" sagt der erste Mann.

"Zwei Schupos hat er schon umgeschossen!" sagt der zweite.

"Ja, und einen Radfahrer!" sagt der erste.

Dierkes späht über die Kühlerhaube des Opel Olympia hinweg in die Münchner hinein, die direkt vor ihm liegt. Dort sieht er mehrere Menschen, die sich krampfhaft am Boden festpressen, und bei einem Gemüsestand rechterhand ein Mann in einer Einfahrt stehen. Der redet aufgeregt auf einen zweiten ein, von dem Dierkes nur die Schulter sehen kann. Auf der Strasse liegen zwei Polizisten. Der eine mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken, der andere auf dem Bauch und sein Kopf hängt von der Bordsteinkante herab. Er bewegt sich noch und Dierkes sieht, daß er versucht sich aufzurappeln. Es sieht sehr unnatürlich aus, weil sein Oberkörper mit dem abgewinkelten Kopf und den Armen vollkommen still liegen, während sein Unterkörper mit den Beinen versucht, hochzukommen. Gerade als sein Hinterteil schon ziemlich weit hochragt und auch der Oberkörper durch diese Anstrengung schon mitgezwungen wird, fällt ein neuer Schuß aus der Einfahrt, der den Polizisten einen halben Meter zurückschleudert. Jetzt bleibt er regungslos liegen. Dierkes hat die Waffe gesehen, doch auch wenn er sie nicht gesehen hätte, er hätte sie an der Wirkung erkannt. Es ist eine Colt Automatik Kaliber O.45. Dieses Kaliber - es sind 11,5 Millimeter - kann ein Auto zum Stehen bringen, ein Polizistenkörper hat dem nichts entgegenzusetzen. Geschossen hat nicht der Mann, der redet, sondern der verborgene Andere. Dierkes weiß, er kommt auf geradem Weg nicht an den Burschen heran. Von seinem Auto bis zur Einfahrt sind es etwa 5O Meter. Und dazwischen befindet sich keine Möglichkeit für Deckung. Er könnte dicht an den Häusern entlang bis zur Einfahrt hinlaufen. Doch das ist ihm zu riskant. Im Laufen ist man immer im Nachteil.

Etwa 1O Meter oberhalb der Einfahrt beginnt die Moselstrasse, die eine Verbindung zwischen Friedrich-Ebert-Strasse und Münchner bildet. Dierkes hat eine Idee. Er robbt nach links, bis er aus der Münchner nicht mehr gesehen werden kann. Und dann läuft er so schnell er kann zur Friedrich-Ebert, biegt in diese hoch und rennt zur Moselstrasse. Er wird überraschend von oben kommen. Vorbei an gaffenden Menschen biegt er jetzt in die Moselstrasse ein. Dabei überlegt er, daß er von der Ecke Moselstrasse-/Münchner Strasse nur noch eine Schußdistanz von etwa 2O Metern bis in die Einfahrt hinein hat. Die beiden haben dann dabei keine Deckung mehr - Dier-kes aber sehr wohl.

Das sind seine Gedanken als er in wildem Lauf in die Moselstrasse einbiegt. Doch seine Gedanken werden jäh zerstört. Dierkes steht auf einmal in der Luft still, es gibt einen lauten Knall, Sterne. Und Dierkes liegt auf der Strasse.

Er kennt das Gefühl, es ist genau wie damals, als er - gerade 1O Jahre alt - vor einen Briefkasten gelaufen ist. Ebenso wie damals fehlt ihm auch jetzt wieder jener Moment, in dem er zu Boden stürzt. Die Zeit hat hier ein Loch. Es ist der Knall und dann die Erde - ohne Fall. Der Fall fehlt.

Nicht etwa, daß Dierkes das gerade denkt. Es ist einfach da. Und im gleichen Moment merkt er, was passiert ist. Er ist gegen einen der beiden Männer gelaufen. Und zwar gegen den Kleinen. Der, der keine Pistole hat. Jetzt hört Dierkes auch seine eigene Pistole. Mit einem metallisch scheppernden Geräusch rutscht sie immer noch von ihm weg über des Pflaster. Ist schon drei Meter entfernt und schliddert weiter. Dierkes kriegt es auf einmal mit der Angst. Wo ist der andere? Der mit der Pistole. Der ist stehengeblieben, zwei Meter von Dierkes entfernt und richtet jetzt eine seiner Waffen auf Dierkes. Er hat zwei Pistolen, eine links eine rechts. Die Colt Automatik, die riesenhaft in seiner Faust liegt, nähert sich Dierkes Gesicht. Dierkes sieht nur die Öffnung des Laufes und unter ihr die geriffelte Federhülse. Zwei Kreise, die sich ihm nähern, der eine offen, der andere geschlossen.

Dierkes gesamtes Universum zieht sich zusammen und verschmilzt mit diesen beiden Kreisen. Der Mann dahinter ist total verschwunden. Dierkes spürt mehr, als er sieht, wie der Mann die Faust zusammenballt und abzudrücken beginnt. Wie gebannt starrt er in die dunkle Öffnung. Jetzt hört er einen dumpfen Schlag und gleich darauf bricht der Schuß. Wahnsinn. Noch nie hat Dierkes einen so lauten Knall gehört. Und jetzt sieht er den Uniformierten. Ein Amerikaner. Von der "Military Police" mit weißem Gürtel, weißem Helm und schwarzem Gesicht. Er hat dem Mann mit voller Wucht seinen Polizeiknüppel über den Pistolenarm gedroschen. Der Lauf der Waffe ist nach oben abgelenkt worden und der Schuß ist über Dierkes Kopf hinweggegangen. Der Mann mit der Pistole hat Panik im Gesicht, er kann seinen rechten Arm nicht mehr gebrauchen, er hebt seinen linken und will den Amerikaner mit der Mauser treffen. Doch der schlägt - seelenruhig - ein zweites Mal zu. Auch der linke Arm gehorcht dem Mann jetzt nicht mehr. Dierkes muten die Bewegungen des Amerikaners an wie ein lautloser Tanz. Mit der Rückhand schlägt der Amerikaner ein drittes Mal zu. Quer über das Gesicht des Mannes. Es knirscht häßlich, der Mann fällt auf den Hinterkopf und bleibt liegen. Stumm. Die ganze Szene war wie aus einem Stummfilm. Jetzt legt der Amerikaner seine Pranke in den Nacken des zweiten, immer noch liegenden Mannes und hebt ihn mühelos hoch. Hält ihm seinen Knüppel unter das Gesicht und sagt:

"Keep cool!" Er sagt es fast liebevoll.

Der Kleine hat Tränen im Gesicht.

 

 

 

29

 

"Ain`t got no time to draw my gun." Und Klee übersetzt:

"Er hatte gar nicht die Zeit, seine Pistole zu ziehen."

"Frag ihn, ob er gar keine Angst hatte, dem Burschen einfach mit dem Gummiknüppel gegenüber zu treten?"

Reitmüller wundert sich immer noch. Mit einem weißen Holzknüppel gegen zwei Pistolen!

"Were you not afraid?"

Der Schwarze lacht und sagt:

"Ain`t got no time to be afraid."

Er weiß, er ist jetzt ein Held. Und darüber freut er sich. Er hat schon mit den Presseleuten geredet und eine Menge Photos sind von ihm gemacht worden. Er freut sich darauf, daß er jetzt allen in Brooklyn Heights die Zeitungen schicken kann und daß sie alle sehen, daß er jetzt ein Held ist.

Auch Hellige und PP Leitmann ("I am the police president") haben es ihm gesagt:

"You are a hero!"

Und Hellige hatte hinzugefügt:

"Wonderful, really wonderful, you saved the life of one of my men."

Dierkes ärgert sich fürchterlich. Er hatte nicht nur die Chance verpasst, berühmt zu werden, nein, sein eigenes Leben mußte noch gerettet werden. Noch dazu von einem Neger.

Ausgerechnet.

Außerdem hatte er sich seinen Anzug total dadurch versaut, daß er nach dem Aufprall mit dem Kleinen furchtbares Nasenbluten bekam und das Blut sich auf Anzug und Hemd verteilt hatte. Zuguterletzt - das hatten sie erst später feststellen können - hatte ihm noch jemand die Waffe geklaut.

Ausgerechnet ein Neger.

Krammer und Weichmann vernehmen den Kleinen.

Der Mann mit den Pistolen ist nicht vernehmungsfähig. Er liegt frisch operiert im Gefängnisspital. Beiderseitiger Armbruch, sowie Nasenbein- und Kieferbruch.

Vorn oben hat er vier Zähne verloren.

Sie haben zwei Tote in diesem Fall und einen Schwerverletzten. Der Polizist, den es beim Aufstehen noch einmal erwischt hatte, lebt noch, doch sein Zustand ist kritisch.

"Wir saßen in der "Fischerstube" und auf einmal kamen die beiden Polizisten herein und wollten von allen die Ausweise sehen. Und weil ich keinen hatte, haben sie gesagt, wir sollen beide mitkommen. Und als wir draußen auf der Strasse waren, hat Hans-Werner auf einmal eine Pistole gezogen und auf die beiden Polizisten geschossen. Und dann hat er einfach auf alles geschossen, was sich bewegt hat. Ich habe solche Angst gehabt. Aber er ist doch mein Freund!"

"Mal langsam" sagt Weichmann, "woher kennst du ihn?"

Der Kleine, sein Name ist Gerhard Salbei, ist 18 Jahre alt. Er ist etwas dicklich und hat glatt am Kopf anliegende Haare. Er sieht ein wenig dümmlich aus.

"Aus Magdeburg."

"Das ist in der sowjetischen Zone."

"Ja."

"Wann hast du ihn kennengelernt?"

"Vor vier Jahren, glaube ich, ja 1949."

"Wohnen deine Eltern da?"

"Meine Eltern haben da gewohnt. Sie sind tot."

"Durch den Krieg?"

"Ja, eine Bombe fiel in unseren Keller."

"Wie alt warst du da?"

"Ich weiß nicht, sieben?"

"Und bei wem hast du dann gelebt?"

"Bei Tante Hilde. Das ist eine Schwester von meiner Mutter."

"Du warst also 14 als du Hans-Werner Brühls kennengelernt hast?"

"Ja."

"So, und wie alt war er da?"

"Weiß nicht."

"Wie alt ist er jetzt?"

"28."

"Ja."

"Wie habt ihr euch kennengelernt?"

"Ich habe ihm Wein von meinem Onkel verkauft."

"Geklaut? Hast du den Wein von deinem Onkel geklaut?"

"Ja."

"Und dann?"

"Ja, Hans-Werner hat ihn mir abgekauft. Und dann hat er immer Feste gefeiert ... mit Mädchen. Und da hat er mich manchmal mitfeiern lassen. Und ich habe ihm dafür Wein gegeben."

"Und dann?"

"Ja, und dann hat mein Onkel das gemerkt. Er hat eine Weinhandlung. Und da haben sie mich dann von zu Hause rausgeschmissen. Und dann hat Hans-Wer ner für mich gesorgt."

Krammer und Weichmann blicken sich an.

"Was heißt das, gesorgt?"

"Naja, er hat mir Arbeit besorgt. Und ich durfte bei seinen Freunden wohnen und manchmal auch bei ihm."

"In Magdeburg?"

"Ja."

"Und wann seit ihr in den Westen gekommen?"

"Letzte Woche."

"Wie?"

"Schwarz über die Grenze bei Eisenach."

"Woher kommt der Schmuck?"

Sie hatten ein kleines Säckchen mit Schmuckstücken bei Brühls gefunden.

"Von einem Schmuckhändler in Magdeburg. Hans-Werner wußte, daß er vorher ein Juwelengeschäft gehabt hat. Und da hat er sich als Volkspolizist ausgegeben und dem Mann den Schmuck abgenommen."

"Mit ner Pistole?"

"Ja, mit einer Pistole."

"Also bewaffneter Raubüberfall." sagt Weichmann.

"Warst du dabei?"

"Ja" haut Salbei tonlos.

Er ist schon wieder den Tränen nahe.

"Was wolltet ihr in Frankfurt?"

"Hans-Werner wollte sich hier falsche Papiere besorgen."

"Warum? Werdet ihr gesucht?"

"Ich nicht. Aber Hans-Werner hat erzählt, daß er schon mal verhaftet worden ist im Westen. Wegen Autoraub."

"Wo?"

"In Düsseldorf."

"Weißt du wann das war?"

"Ich glaube kurz nach dem Krieg."

Krammer erinnert sich an diese Zeit. Überall in Deutschland gab es Banden, die von 1946 bis 1948 Personenwagen und Lieferwagen überfielen. Es hatte einige Tote gegeben. Manche Banden, das wußte er, hatten sich als ihnen der Boden zu heiß wurde, über die englisch-russische Grenze in die sowjetische Zone abgesetzt.

"Und hier wollte er sich Papiere beschaffen? Bei wem?"

"Ich weiß nicht. Hans-Werner hat gestern einen Mann getroffen, der ihn heute in der Fischerstube treffen wollte."

"Ist der Mann gekommen?"

"Nein."

Wahrscheinlich war es dieser Mann, der dem 15. Revier am Wiesenhüttenplatz den Tip gegeben hat, daß in der "Alten Fischerstube" zwei schwere Jungens sitzen und das 15. Revier hatte die beiden Beamten Jürgen Wernicke und Franz-Peter Johns in die Moselstrasse geschickt. Wernicke war jetzt tot und Johns Zustand war kritisch.

"Was passierte dann?"

"Die beiden Polizisten haben in der Kneipe begonnen mit einer Ausweiskontrolle. Hans-Werner hatte einen polnischen Paß, aber ich hatte keinen Ausweis und deshalb sollten wir beide mitkommen."

"Und dann seid ihr mit nach draußen gegangen?"

"Ja."

"Und dann?"

Der Kleine blickte sehr gequält:

"Ja, und dann hat Hans-Werner seine beiden Pistolen genommen und immer geschossen. Immer wieder und ich habe ihn so sehr gebeten aufzuhören. Aber er hat nicht gehört. Es war so entsetzlich. Er hat immer wieder geschossen. Sogar als der eine Polizist schon auf der Erde lag hat er noch einmal auf ihn geschossen. Ich habe solche Angst gehabt."

"Aber du hattest auch eine Pistole?"

Sie hatten auch bei dem Kleinen eine Walther gefunden.

"Ja, aber ich habe nicht geschossen."

Das stimmt, die Walther befand sich die ganze Zeit gesichert und unabgefeuert in seiner Jackentasche.

"Die Pistole hat mir Hans-Werner vor einigen Tagen gegeben, als wir über die Grenze gegangen sind. Er hat gesagt, daß sie mir noch einmal sehr helfen wird. Ein richtiger Mann muß einfach eine Waffe haben, hat er gesagt. Ich wollte sie gar nicht haben. Ich habe noch nie mit ihr geschossen"

"Ja, jetzt hilft sie dir, kriegst ein paar Jahre länger," sagt Weichmann,

"wegen Beihilfe zum Mord und unerlaubtem Waffenbesitz."

Der Kleine blickt ihn mit großen Augen an, Tränen rinnen über sein Gesicht und sein Körper zuckt vom Bauch an aufwärts in stummer Verzweiflung.

"Nun heul` man nicht," sagt Krammer, "vielleicht sieht der Richter ja ein, daß dich dein Freund dazu verleitet hat und daß du das alles gar nicht wolltest."

"Ja, bitte!" stammelt der Kleine.

 

3O

 

Es ist Abend. Michael Klee und Gisela Atlas rechnen. Sie sitzen in einer Kneipe und es ist gemütlich warm. Klee hat ein Bier bestellt und Gisela einen heißen Apfelwein.

"Dein Gehalt ist 214 Mark und 96 Pfennige und meines ist 236 Mark,"

sagt Gisela. Sie ist Angestellte bei der "Kaufmännischen Krankenkasse Halle" und bedient dort die Buchstaben A bis E.

"Das sind zusammen 45O Mark. Wenn wir für eine Wohnung 6O Mark rechnen, bleiben noch 39O Mark übrig zum Leben." sagt Klee.

"Ja und wenn wir heiraten, dann haben wir noch weniger Steuerabzüge," sagt Gisela, "das macht bestimmt noch einmal 3O Mark aus."

Unschuldig, sie sagt das sehr unschuldig, Klee wird argwöhnisch. Er fühlt sich bei der ganzen Rechnerei etwas unbeholfen. Eigentlich, denkt er, eigentlich bin ich noch viel zu jung zum Heiraten. Andererseits wenn er an Giselas Körper denkt, den sie ihm dann offenbaren wird ... ja, "offenbaren" ist das richtige Wort. Komisch, wieso ist "offenbaren" das richtige Wort?

"Und wie ich meine Eltern kenne werden sie uns zur Hochzeit bestimmt noch 6- bis 8OO Mark schenken und vielleicht noch ein paar Möbel aus dem Laden."

Giselas Vater ist Möbelhändler. Er hat einen Laden in Bornheim. Nicht besonders groß und er verdient auch nicht besonders viel - die Menschen in Bornheim schwimmen nicht gerade im Geld - aber so sechs bis sieben Schlafzimmer verkauft er schon im Monat.

Klee mag die Möbel nicht, die in dem Laden stehen. Es sind so richtige Arme-Leute-Möbel findet er und er würde sich lieber in Eiche einrichten. Mit solchen Sesseln und Schränken wie der Typ neulich, der sich aufgehängt hat. Aber mit dem Gehalt eines Kriminalassistenten wird er sich wohl nie auch nur einen dieser Sessel kaufen können. Auch als Sekretär oder gar als Kommisssar (Klee hat große Pläne) ist das Gehalt eines Polypen einfach lausig.

"Für die Küche hätte ich gern die beigen Hängeschränke und die Stühle und den Tisch, die so eine schöne Oberfläche haben, so als wären sie aus Kork." sagt Gisela.

"Ein Telefon haben wir umsonst ..." sagt Klee,"... jedenfalls wenn ich bei der Mordkommission bleibe."

"Dann kann ich dich immer anrufen und du kannst mich immer anrufen, wenn du mal Nachtdienst hast."

Klee unterschlägt, daß das Telefon, das er tatsächlich kostenlos in die Wohnung gelegt bekommt, ausschließlich dazu dient, ihn jedesmal wenn er Bereitschaftsdienst hat - und das sind sechs Tage im Monat - unbarmherzig aus dem Bett zu einer Leiche zu holen. Wüßte Gisela, wie sehr dieses Telefon von Polizistenfrauen gehaßt wird, sie würde sich gewiß nicht so naiv drauflos freuen.

"Und vielleicht bekommen wir sogar einige Möbel von meinen Großeletern. Pappi fährt am Wochenende nach Hamburg und holt einige sehr schöne Möbelstücke ab. Ich kann mich zwar nicht mehr richtig dar-an erinnern, ich habe sie nur vor dem Krieg einmal gesehen, aber ich weiß, sie sind sehr schön, und ich bin sicher, sie werden dir gefallen."

"Von deinen Großeltern?"

"Ja, Großvater ist vor einem Jahr gestorben und seitdem stehen die Möbel in Hamburg in einem Lagerhaus. Und jetzt wo wir den "Tempo" haben, will mein Vater sie abholen."

"In Hamburg sagst du?"

"Ja."

Zwei Gedanken gehen gleichzeitig durch Klees Kopf. Vielleicht sind es ja ähnliche Möbel wie die von neulich. Das wäre ein Ding. Alte deutsche - Altdeutsche - Möbel, das würde ihm die Heirat wesentlich erleichtern. Un dann: Hamburg! Das liegt doch ganz in der Nähe von Itzehoe....

"Weißt du wie lange dein Vater in Itzehoe ... ich meine in Hamburg bleiben wird ?

"Ja, er fährt am Samstag mittag los und will am Montagabend wieder hier sein."

"Scheiße! Warum erst am Montag, weißt du das?"

"Ja, weil am Sonntag das Lagerhaus nicht geöffnet hat. Und Pappi will bei dieser Gelegenheit seinen Bruder besuchen. Und so kann er den ganzen Sonntag bei Onkel Heinz und seiner Frau bleiben und am Montag morgen lädt er die Möbel auf, mittags fährt er zurück und nachts ist er wieder da. So einfach ist das. Und warum interessiert dich das so?"

"Ich habe mir gerade überlegt, ob er mich wohl mitfahren läßt?"

"Nach Hamburg? Was willst denn du in Hamburg?"

"Ich würde ja gleich weiterfahren nach Itzehoe. Unser Fall, bei dem wir im Moment nicht weiterkommen, hat seinen Anfang in Itzehoe. Und ich würde gern mal an Ort und Stelle etwas rumschnüffeln. Vor allen Dingen würde ich mir gern mal die Mutter von Hermann im Altersheim angucken. Aber wenn er erst am Montag wieder zurückkommt, geht das sowieso nicht. Naja, es war auch nur so eine Idee."

"Mein Vater würde sich bestimmt riesig freuen, wenn du mitfahren würdest. Du könntest ihm dann beim Aufladen helfen und ihr könntet euch mal so richtig kennenlernen."

Gisela war Feuer und Flamme.

"Ich kriege doch keinen Tag frei für sowas!"

"Und wenn du einfach krank bist?"

Dieser Gedanke ist für Klee unvorstellbar.

"Na klar," sagt er, "das ist der einfachste Weg, wie ich Beamter werde. Kranksein!"

"Und warum geht das nicht einfach als Dienstreise? Wenn ihr doch nicht weiterkommt. Da müßt ihr doch einfach hinfahren!"

"Als Dienstreise wäre es schon schwierig genug, wenn wir den Mörder noch nicht hätten. Aber der Fall ist so gut wie abgeschlossen. Wir haben das Opfer, wir haben den Mörder. Alles, was uns fehlt ist das Motiv. Wir wissen verdammt nochmal nicht, warum der Bursche einen anderen töten wollte. Aber um das rauszukriegen, bewilligt uns keiner eine Dienstreise."

"Ja, das ist wirklich ein Ding." sagt Gisela.

 

 

 

31

 

"Man muß es dem Chef so verkaufen als wäre da noch etwas sehr zweifelhaftes. So als bestünde ein leiser Verdacht auf eine andere, auf eine schwerwiegendere Straftat. Dann könnte er es vielleicht bewilligen."

Weichmann gefällt die Idee von Klee. Außerdem hat er den Wunsch, mitzufahren. Gerade am nächsten Wochenende - basteln hin, basteln her - ist er garantiert mit seiner Mutter alleine. Aber so eine Dienstreise ...

"Laß uns mal überlegen. Wir müssen das an Wyssmann aufhängen. Der ist sowieso nicht ganz koscher. Welchen Grund könnte Hermann gehabt haben, ihn umbringen zu wollen, welchen Grund, der für uns ausreichen würde, gegen ihn zu ermitteln. Vor allem, der eine Dienstreise rechtfertigt?"

Das Telefon klingelt.

"Ja."

sagt Weichmann in den Hörer. Obwohl Hellige ihn schon einige Male ermahnt hat, sich mit "Erstes Kommissariat" und dann mit seinem Namen zu melden, rutscht Weichmann immer wieder das "Ja" heraus. Er hat einfach eine unüberwindliche Abneigung dagegen, dem anderen (der ja immer etwas von ihm will) sich als erster zu nennen. Irgendwie fühlt er sich schutzlos. Er gibt dem anderen am Ende der Leitung etwas Intimes preis, ohne zu wissen, was er dafür zurückbekommt. Besonders bei anonymen Anrufen (und davon bekommen sie eine Menge, weil eine Menge Spinner überall Morde wittern) ärgert Weichmann sich furchtbar, wenn er seinem Gegenüber seinen Namen anvertraut hat und der kann jetzt damit Schindluder treiben.

"Hier ist Polizeiobermeister Mayer vom 8. Revier, bin ich mit der Mordkommission verbunden?"

"Ja, Weichmann hier."

"Wir haben hier eine merkwürdige Sache. Es ist wohl das beste, ihr guckt euch das mal an. In einer Wohnung im Mittelweg steht ein Blechkasten und daraus stinkts," sagt Mayer.

"Und was ist das drin?"

"Keine Ahnung," sagt Mayer, "man kann ihn nicht aufmachen, er ist von innen zugeriegelt."

"Hääh?"

"Ja, er ist von innen zugemacht, zugeschweißt oder sowas. Keine Ahnung, wir können ja nicht reingucken. Es ist ein winziges Loch in dem Kasten, da war von innen ein Korken drauf. Und als wir den rausgestoßen ... äh, reingestoßen haben, haben wir reingeleuchtet und man sieht ein Stückchen Haut, und es stinkt."

"Warum bringt ihr ihn nicht einfach her?"

Weichmann kapiert immer noch nichts.

"Dafür ist er nun wieder zu groß. Der ist ungefähr ein Meter lang."

"Moment mal, du sagst also, in einer Wohnung steht ein ein Meter langer Blechkasten, den ihr nicht öffnen könnt, weil er von innen zu ist und daraus stinkts?"

"Ja, genau so ist es!"

"Wir kommen. Welche Nummer im Mittelweg?"

"Nummer 33, 3. Stock. Und bringt eine Eisensäge mit!" sagt Mayer.

Weichmann legt auf und sagt zu Klee:

"Mach dich auf was gefaßt, jetzt wirds lecker."

Dann ruft er die Spurensicherung an und sagt der Kriminalwache Bescheid, daß sie jetzt zum Mittelweg fahren.

Im Hof des Präsidiums entscheidet sich Weichmann gleich für den Mord-Bus. Es ist ein VW-Transporter, der vor einem Jahr den Mord-Kw abgelöst hat. Weichmann erinnert sich noch, daß sie - es muß 1946 gewesen sein - mit Fahrrädern zu Tatorten geradelt sind. Erst etwas später haben sie dann die Motorspritze eines Feuerwehrwagens zu einem Mord-Last-kraftwagen umgebaut und konnten dann mit großem Geknatter zu den Schauplätzen des Geschehens gelangen. Das Ding hatte nur zwei Fehler: es sprang oft nicht an (so sah man dann mehrere Uniformierte, die sich im Hof abmühten, einen Lastwagen anzuschieben. Weichmann machte sich oft einen Höllenspaß daraus, schon bevor der Anlasser überhaupt probiert wurde, in den Bereitschaftsraum zu gröhlen: "Mord alle Mann antreten zum Schieben") und er verbrauchte etwa 5O Liter auf hundert Kilometer. Und das in einer Zeit, in der man die Autos vorzugsweise mit Holz betrieb weil jeder Liter Sprit entweder auf dem schwarzen Markt beschafft werden oder von irgendeiner anderen Behörde mühsam erkämpft oder gar gestohlen (also "organisiert") werden mußte.

Weichmann wird mit dem Transporter nicht richtig warm. Der hat zwar alle erdenklichen Schikanen, doch er ist für Weichmann viel zu eng. Was nützt einem ein eingebautes Schreibmaschinentischchen, wenn man nicht dahinter passt (und Weichmann passt nicht dahinter, soviel ist sicher).

Gegen 9 Uhr 45 erreichen Weichmann, Klee, Stolze und Kriminalassistent Rainer Jungvogel den Mittelweg. Sie stellen den VW neben das Haus Nummer 33 und gehen in den dritten Stock. Das halbe 8. Revier ist hier versammelt. Mindestens sechs Uniformierte laufen oder stehen im Flur oder in den Zimmern herum.

"Latscht uns doch nicht alle Spuren kaputt, ihr Krüppel!" schnauzt Stolze einen Wachtmeister an. Dann staunt er nur noch.

Mitten in dem Raum, der die direkte Verlängerung des Flures bildet, steht auf einer säuberlich ausgebreiteten Wolldecke eine Blechkiste. Da sie ziemlich allein in der Mitte des Raumes steht, sieht sie sehr monumental aus. Wie ein Denkmalsockel, auf den man vergessen hat, ein Denkmal zu stellen. Auch die Inschrift fehlt. Es ist einfach eine Kiste aus Metall. Die Gardinen am Fenster sind aufgezogen und die Kiste steht im Wintersonnenlicht. Sie ist etwa einen Meter lang und bestimmt 9O Zentimeter hoch. Auch Weichmann und Klee kriegen im ersten Moment keinen Ton raus. Sowas hat noch keiner der beiden je in einem Zimmer gesehen.

Stolze, der professionelle Spaßvogel, fasst sich als erster. Er sagt:

"Heiliges Blechle!"

Weichmann tritt auf Mayer zu und fragt:

"Wer hat euch gerufen "!

"Die Eigentümerin. Sie hat das Zimmer an einen Wachmann vermietet. Der Mann heißt Egon Schiele. Er ist seit vorgestern nachmittag nicht mehr gesehen worden und seine Firma hat heute hier angerufen, ob er krank sei, weil er schon zwei Nächte nicht zur Arbeit gekommen ist. Ja und weil das Zimmer von innen verschlossen war, hat die Frau uns angerufen."

"Wo ist die Frau?"

"Im Nebenzimmer."

"Gut, soll da bleiben."

Dann tritt Weichmann an den Kasten heran, sieht das Loch und winkt einen der Uniformierten zu sich heran.

"Lampe." sagt er.

Er leuchtet in das Loch und bemüht sich, seine Nase mit dem rechten Auge zwischen das Loch und die Lampe zu bringen. Er sieht ein abgerundetes Etwas. Es könnte ein Stück Haut sein, genausogut aber auch eine Wohnzimmerlampe oder ein aufgeblasener Pariser, denkt Weichmann. Aus dem Loch stinkt es fürchterlich nach Krankenhaus. Karbol oder sowas, denkt er.

"Das Ding ist nicht aus Blech sondern aus Zink", sagt er laut. Dann schaut er nach, ob es irgendwo eine Einstiegsöffnung gibt. Es gibt keine. Der ganze Kasten sitzt in einem Stück auf einer Bodenplatte, die ebenfalls aus Zink ist und die einen etwa 25 Millimeter hohen Rand hat. Prinzip Käseglocke, denkt Weichmann, nur riecht es hier anders. Dann sieht sich Weichmann im Zimmer um. An den Wänden stehen ein Kleiderschrank und ein Bett, ebenfalls ein Tisch mit zwei Stühlen. Auf dem Bett liegt eine Hose, säuberlich Bügelfalte auf Bügelfalte. Auch sonst ist das Zimmer peinlich aufgeräumt, alles ist sauber, kein Staub, nichts liegt herum. An der Wand hängt ein Bild (Schafe) und ein Kalender. Das Kalenderblatt zeigt Sonntag, den 5. Januar 1954. Neben dem Kasten, zum Fenster hin, liegen auf der Erde ein etwa 1,5O Meter langer Gummischlauch sowie zwei Flaschen mit unbekanntem Inhalt. Deren Inhalt stinkt genauso wie die Kiste.

Weichmann sagt zu Stolze:

"Ich denke, bevor wir ihn öffnen, machst du noch ein paar Photos."

Jungvogel steckt sein Blitzgerät auf die Leica und schießt dann in langsamer Folge, immer wieder Birnen auswechselnd, mehrere Blitze von allen Seiten auf den Kasten und das Zimmer ab. Zum Schluß steigt er noch auf einen Stuhl und knipst von oben.

"Ready,"

sagt er dann forsch, es klingt aus seinem Mund wie "Rettich" ohne "ch"

"So," sagt Stolze zu ihm, "jetzt gehst du zum Bus und holst die Blechschere. Geh langsam los und komm schnell wieder!"

Er zündet sich eine Zigarette an und öffnet den Schrank. Einige Zeit wühlt er vorsichtig darin herum. Weichmann findet inzwischen hinter der Tür eine Aktentasche, er öffnet sie ebenfalls sehr vorsichtig - immer darauf achtend, auf den metallnen Beschlägen keine Fingerabdrücke zu verwischen. In der Tasche findet er die Konstruktionspläne für die Kiste. Sie sind fachmännisch angefertigt und er erkennt sofort das Verschlußsystem des Kastens. Am Bodenstück und an den Seitenwänden sind innen eine Reihe von Blechschlaufen angebracht. Durch die Schlaufen könnte man Keile oder eine Stange stecken und dann ist die Kiste zu (und sie ist zu, die Polizisten hatten vorher schon probiert, sie von der Bodenplatte abzuheben).

Aber man kann das nur von innen machen. Und das bedeutet, kombiniert Weichmann, jemand sitzt drin!

"Michael, miß mal den Kasten aus und schreib die Maße auf!"

Die Kiste ist 1OO Zentimeter lang, 85 hoch und 65 breit.

Jungvogel kommt mit der Schere.

"Na, dann schneid mal schön!" sagt Stolze

und Jungvogel steht etwas linkisch mit der großen Schere vor dem Kaste, er weiß nicht so recht wie er es anstellen soll. Er will gerade die Schere (irgendwie) an der Seite ansetzen, da sagt Weichmann:

"Halt! Nicht an der Seite. Da fällt uns doch alles entgegen!"

Er nimmt Jungvogel die Schere aus der Hand, und rammt dann die spitze Seite der aufgeklappten Schere von oben in das Zinkblech. Dann beginnt er, von dieser Öffnung ausgehend, sich durch das Blech zu knabbern. Es scheint recht leicht zu gehen. Nach etwa einer Minute hat er einen langen Schlitz, der die ganze obere Seite in Längsrichtung öffnet, geschnitten. Er gibt die Schere an Jungvogel zurück und sagt:

"So, jetzt kannste weitermachen."

Jungvorgel braucht noch etwa 1O Minuten (während derer er ins Schwitzen gerät, es ist nämlich sauschwer) bis er die Querseite und die andere Längsseite soweit ausgeschnitten hat, daß sie die gesamte Blechlasche nach oben weg und dann nach hinten runterbiegen können. Je mehr geschnitten wurde, desto mehr hat sich der Raum mit einem süßlich betäubenden Geruch gefüllt.

"Das ist Chloroform!"

sagt Klee, der das noch sehr genau von seiner Mandeloperation kennt.

Jungvorgel guckt als erster in den Kasten. Er verzieht das Gesicht bei dem Anblick. In dem Kasten sitzt über Eck ein Mann, den Oberkörper nach unten gebeugt. Er ist unbekleidet und ganz offensichtlich tot. Man sieht es daran, daß die Haut an Schulter und Rücken grauweiß ist, eine merkwürdig fahle Farbe, wie sie sonst bei Leichen nicht üblich ist. In dem Kasten liegen außerdem ein Hemd, ein Schlüpfer, ein Teller, zwei Flaschen (eine leere, eine halbvolle) und der gesamte Boden des Kastens ist mit zellstoffartigen Wattebäuschen bedeckt. Auch im Teller liegen mehrere Wattebäusche, die ursprünglich wohl mit der Flüssigkeit getränkt waren. Weichmann schaut sich das eine Weile an, dann sagt er zu Mayer:

"Ruf die Gerichtsmedizin an, sie sollen einen Doktor schicken und die Jungs mit der Holzkiste. Wir haben jemand zum Zerlegen."

Zu Klee sagt er:

"Ich wette, daß ist ein Sexueller!"

Klee versteht nicht.

Weichmann erklärt es ihm:

"Es kommt relativ häufig vor, daß manche Leute nur unter bestimmten Umständen einen hoch kriegen oder onanieren können (dabei macht er die entsprechende Bewegung mit der Hand). Manche müssen sich selber fesseln, so daß es schmerzt, und erst dann können sie. Sowas wie hier ist mir allerdings neu. Aber ich wette, das ist ein Sexueller. Ja und manchmal gibt es dabei auch Unfälle."

"So, wie der, den wir neulich hatten," mischt sich Stolze ein, "der hat sogar seine eigenen Tatortphotos gemacht."

"Ja," Weichmann wendet sich Klee zu,

"der Bursche hat sein Fahrrad an einen Baum gelehnt, dann hat er sich auf das Fahrrad gestellt, eine Schlinge um seinen Hals gelegt, das andere Ende war um einen Ast geknotet und dann hat er onaniert. Vorher hat er noch eine Kamera auf ein Stativ gestellt und mit einem langen Selbstauslöser davon ein Photo gemacht. Ja und dann hat er wohl zu viel geschaukelt, da ist dann nämlich das Fahrrad umgefallen. Na und den Rest kannst du dir denken."

Klee wird schlecht.

Und dabei hat er noch nicht einmal richtig in den Kasten geguckt.

 

32

 

Donnerstag.

"Egon aus der Kiste" ist immer noch Gesprächsthema Nummer 1 im Präsidium. Heute sind der Obduktionsbefund und das Gutachten des psychologischen Graphologen gekommen. Der Tod ist, so sagt es das Protokoll:

"wie aus der flüssigen Beschaffenheit des Blutes, der wässrigen Durchtränkung des Gehirns, der Blutfülle aller inneren Organe klar ersichtlich..." durch Ersticken eingetreten.

Am Geschlechtsteil fanden sich Reste von ausgetretenem Sperma, was einerseits Weichmanns These, der Mann sei ein "Sexueller", rechtgeben könnte, andererseits auch eine normale Ejakulation im Todeskampf gewesen sein könnte. Sogar beides zusammen ist möglich: daß der Mann sich ganz bewußt an den Rand des Todes gebracht hat, um überhaupt zu einem Orgasmus zu kommen und dann nicht mehr den Absprung schaffte. Im nachhinein ist das nicht mehr festzustellen. Weichmann, der das Endprotokoll verfasst, will jedoch die Meinung aller Beteiligten hören, bevor er etwas Abschließendes hinschreibt. So einen Fall hatten sie eben noch nie und Weichmann ist etwas unsicher, ob es ein Selbstmord oder ein Unfall ist.

In dem Zimmer sind anwesend: Weichmann, Krammer, Dierkes, Klee und Stolze.

"Also ich fasse mal zusammen," sagt Weichmann.

"Bisher haben wir rausgekriegt, daß der Mann sexuell relativ normal war, d.h. er hatte auch Verhältnisse mit Frauen. Er war bei der Werkspolizei der VDO und seine Kollegen bezeichnen ihn als unauffällig. Manche nennen ihn auch einen "Spinner". Ziemlich zurückgezogen war er und von den anderen abgekapselt. Nur wenn er besoffen war, explodierte er ab und zu. Es steht noch ein Verfahren aus wegen einer Schlägerei, die er im letzten Juni gehabt hat. Im Suff soll er wirklich ein ziemlich übler Bursche gewesen sein. Er war 26 Jahre alt, zur Mutter hatte er ein sehr schlechtes Verhältnis. Wir haben in dem Schrank außer den Zeichnungen von dem Kasten, den er sich von den Betriebsschlossern bei der VDO bauen lassen hat ... fragt mich nicht, wie er den aus dem Werk rausgekriegt hat ... äh... also da haben wir noch Blätter gefunden mit der Überschrift "Forschungsprotokoll" und "Arbeitskalender". Es sieht so aus, als sei unser Freund eine Forschernatur gewesen. Vor ein paar Jahren hat er schon einmal zu Versuchszwecken Rattengift gefressen. Das hat uns einer seiner Saufkumpane erzählt, daraufhin sind ihm die Haare ausgegangen und er hat sich voller Stolz mit Glatze photographieren lassen."

Weichmann reicht die Bilder herum, sie zeigen einen grinsenden Glatzkopf.

"Ich habe daraufhin ein graphologisch-psychologisches Gutachten erstellen lassen. Ich lese vor:

"Schiele scheint von guter Intelligenz gewesen zu sein, ohne dabei jedoch viel zu leisten. Er war nicht in der Lage, seine Intelligenz zu entfalten. Seine große Pedanterie legte ihm starke Hemmungen auf. Durch das Abreißen von Ideengängen kam Verworrenheit in sein Leben. Er hatte ein stark betontes Innenleben bei ebenso betonter äußerer Kälte und Störungen in der Kontaktspähre. In seinem Gesamtablauf war er wohl äußerst schwerfällig, dabei nach außen hin recht bescheiden. In seinem Charakterbild drückt sich Sprunghaftigkeit und vollkommene Unzuverlässigkeit des psychischen Dynamismus aus"...was immer das heißen mag..." Im übrigen scheint er zwiespältig und langsam gewesen zu sein mit einer Tendenz zur Explosion; ein stark verschlossener, auf sich selbst ..."

"Ja," sagt Stolze, "verschlossen war er dann ja wirklich, total verrammelt!" und dabei denkt er an die Verriegelung am unteren Kastenrand.

"...ein stark verschlossener, auf sich selbst abgekapselter Mensch mit sehr weichem Intimleben. Hierdurch hatte er große Schwierigkeiten, sich nach außen hin mitzuteilen. Ferner drücken sich im Schriftbild Spuren seelischer Natur aus, die auf ein besonderes Erleben schließen lassen."

"So, jetzt seid ihr dran!" endet Weichmann.

"Was war denn in den Flaschen?"

"Eine Mischung aus Chloroform und Tetrachlorkohlenstoff, das ist ein Betäubungsmittel. Das eine lähmt die Nerven, das andere ist in großen Dosen ein Zellgift. Und beide narkotisieren."

"Und was ist mit dem Gummischlauch, der im Zimmer lag?" fragt Klee.

"Keine Ahnung."

"Vielleicht hat er den als Atemschlauch verwendet, vielleicht hat er ihn durch das Loch nach außen gesteckt,"

Krammer muß auf einmal an seinen Traum denken.

"Ja, das ist möglich," sagt Weichmann, "soviel ich weiß, ist das Schlauchende nicht auf Speichelspuren hin untersucht worden."

Gerichtsmediziner untersuchen natürlich nicht alles. Weil jede Körperflüssigkeit mit Hilfe anderer Testverfahren festgestellt werden muß, untersuchen die Doktoren natürlich nur das, was von ihnen erfragt wird. Und wenn jemand wissen will, ob an einem Schlauchende Reste von Speichel, Schweiß, Sperma, Blut oder Sauerkraut mit Eisbein anhaften, dann muß er gefälligst danach fragen. Es sei denn, die Reste sind klar (und d.h. mit bloßem Auge) ersichtlich und der untersuchende Arzt oder Chemiker hat gerade keine anderen Sorgen, dann kann es sein, daß er einen Sauerkrautfaden auch als einen solchen heraustestet. Das aber war nicht geschehen, es hatte aber auch niemand danach gefragt und außerdem gabe es keinen Sauerkrautfaden. Also was?

"Ist es denn eigentlich sicher, daß es ein Selbstmord war und kein Mord, vielleicht mal was ganz Raffiniertes?" fragt Dierkes, der überall erst mal einen Mord wittert (deshalb ist er bei der Mordkommission).

"Nein," sagt Weichmann, "im Gegensatz zu deinem letzten Selbstmord, ist das hier mit Sicherheit kein Mord. Es sei denn du zeigst mir, wie sich jemand in einem von innen verschlossenen Zimmer und einem von innen verschlossenen Metallkasten mit einem nur von innen hereingedrückten Korken ermorden lassen kann."

"Es kann natürlich ein Unfall sein," sagt Krammer, "aber es ist sicherlich kein Mord."

"Also ich versteh nicht, wieso der sich in einen Metallkasten setzen mußte, und dann mit Wattebäuschen und Betäubungsmittel herumfuhrwerken und mit einem Schlauch, um sich ...äh...sexuell zu..."

Klee findet nicht die richtigen Worte. Alle schweigen.

Wie sollen sie, die schon so viel derartiges erlebt haben, es aber ebensowenig verstehen, dem Jüngsten, der eine Erklärung haben will, so etwas Peinliches klar machen. Stolze reagiert, wie er immer reagiert: mit einem Witz.

"Vielleicht hamse ihn früher beim Doktorspielen gestört."

Keiner lacht.

"Ja," sagt Weichmann nach einiger Zeit, "das versteh ich auch nicht."

"Für einen Selbstmord hat das ganze viel zu viel Brimborium. Und für einen Unfall ist das ganze viel zu einfach. Der war doch nicht doof, der hat doch den Kasten genauso konstruiert, daß er luftdicht abgeschlossen war. Unten und genauso oben. Und der Korken hatte das ganze noch abgerundet. Das hat er doch gewußt. Und trotzdem ist er erstickt."

"Vielleicht hat er mit dem Tod gespielt. Das hatten wir doch auch schon," sagt Stolze, "er saß in dem Kasten und machte einen Wettlauf mit der Luft, die immer knapper wurde und mit dem Betäubungsmittel, das ihn immer mehr einschläferte. Wißt ihr, so wie bei der Chloroform-Narkose, wenn man zählen muß."

Weichmann war mit Chloroform der Blinddarm her-ausoperiert worden. Tropfenweise auf die Maske über der Nase. Und so ergänzt er:

"Das Zählen wird immer langsamer und dann, zack, biste weg. Und diesen Moment abzupassen, kurz bevor du weg bist, den Korken raus und dann den Rüssel in das Loch gesteckt zum atmen. Und dann dabei noch einen Orgasmus haben. Ja, so könnte es gewesen sein. Und dann hat er es nicht mehr geschafft."

"Hm," sagt Krammer, "das werden wir nie erfahren, ob das so gewesen ist."

Er hat ein ganz komisches Gefühl bei dieser Kastengeschichte.

Irgendwie erinnert ihn dieser verdammte Kasten immer an seinen Traum. Und Krammer ist davon überzeugt, daß Schiele noch mehr davon gehabt hat, als den einfachen Sexualkitzel.

Und, was solls.

"Aber es könnte so gewesen sein!"

sagt Weichmann und später, nachdem alle den Raum verlassen haben, diktiert er sich selbst laut den Schlußsatz seines Ermittlungsberichtes:

"Aus dem Tatort- und Obduktionsbefund, den Ermittlungen und schließlich aus der graphologischen Beurteilung dürfte als klar erwiesen angesehen werden, daß Schiele einem Unfallgeschehen zum Opfer gefallen war."

"Ja," so könnte es gewesen sein,"

sagt er laut und weiß, es könnte auch ganz anders gewesen sein. Was weiß denn ich, was in der Seele eines Abartigen vor sich geht, denkt Weichmann und ihm fällt dabei der Bursche ein, den die Kollegen vom Einbruch vor einem guten halben Jahr angeschleppt hatten. Die hatten doch bei jemandem, der eines Einbruches verdächtig war, bei der Hausdurchsuchung einen Kranhaken sowie eine Menge von Bohrern, Schrauben und besonders großen Schraubenmuttern gefunden. Der Mann war dreißig Jahre alt, vollkommen unauffällig, hatte einen geregelten Beruf und ihm dienten all diese Gegenstände (die besonders blankgewienert waren) als Fetische zur sexuellen Befriedigung. Der Mann hatte eine ganz besonders große Schraube zu seiner "Lieblings-Schraube" erkoren, sie mit einer bunten Schleife versehen und nahm sie oft mit ins Bett. An ihr nahm er - nach eigenem Geständnis - alle vierzehn Tage "beischlafähnliche Handlungen" vor, wobei er jedesmal zu einem Samenerguß kam.

Diese Leute haben ja alle eine Schraube locker, denkt Weichmann, zieht seinen Radrohling, den er schon einige Tage vernachlässigt hat, aus der Schublade und beginnt zu feilen.

 

 

33

 

 

Klee weiß einen Moment lang nicht, für welchen Ausgang er sich entscheiden soll. Er hat die Schalterhalle des Itzehoer Bahnhofs mit sechs Schritten durchquert und geht jetzt kurzentschlossen durch die linke Tür. Danach steht er auf dem Bahnhofsvorplatz. Es wird gerade hell und er fühlt sich einsam. Weiß, alles ist weiß. Wohin das Auge blickt, liegen niedrige weiße Häuschen. Die Strasse ist nur daran zu erkennen, daß eine einsame in den Schnee gedrückte Auto-spur von links kommend im rechten Winkel geradewegs vom Bahnhof wegführt.

Im Hintergrund, von einem Baum etwas verdeckt, steht ein wuchtiger Kirchturm. Der Turm sieht aus wie meine Mutter denkt Klee und muß darüber lachen. Er hat einen massigen Leib und darüber eine schmaler werdende Kuppel - ganz wie der Kopf, der viel zu klein ist für den Körper. Hübsch sieht er aus der Kirchturm aus der Ferne in der Schneelandschaft, in der gerade der Tag beginnt.

Klee stapft über die Strasse, hält sich links, denn dort soll nach einigen Metern das Hotel "Post" auftauchen.

"Sie können wählen", hatte der Schalterbeamte gesagt, "das Bahnhofshotel hat Zimmer für 4 bis 6 Mark, das Hotel "Stadt Hamburg" hat welche für 4 Mark und im Hotel "Post" kostet ein Zimmer drei Mark fünfzig."

Da gabs für Klee nichts zu wählen.

Da ist es. Ein alter Kasten. Hat höchstens zehn Zimmer, denkt Klee und tritt sich in dem kleinen Vorraum den Schnee von Schuhen und Hose ab. Ein kleine schrumpeliges Männchen, das ganz fürchterlich norddeutsch redet, verkauft ihm für DM 3,8O ein Zimmer für einen Tag.

"Eigentlich dürfen sie ja erst um 12 Uhr auf das Zimmer aber ich will mal ein Auge zudrücken, sie sind ja sowieso unser einziger Gast."

"Ich muß noch gar nicht aufs Zimmer, ich habe vorher noch etwas zu tun. Ich muß nämlich zur Kaiserstrasse. Können sie mir sagen wie ich da hinkomme?"

"Na klar," sagt der Mann

und dann erklärt er Klee sehr norddeutsch und sehr umständlich wie er die Kaiserstrasse finden kann.

Nachdem Klee seine Tasche nun doch in dem winzigen Zimmer abgestellt hat, geht er - es ist jetzt kurz vor 1O - los. Nach ein paar Schritten beginnen die Glocken des Kirchturmes zu läuten. Es ist ein sehr angenehmer Dreiklang. Viele Menschen sind jetzt auf der Strasse. Der Gottesdienst beginnt in wenigen Minuten.

Klee bekommt nach einigen Minuten nasse Füsse. Er hatte natürlich nicht damit gerechnet, daß hier im Norden der Schnee viel höher liegt und auch viel länger liegen bleibt als in Frankfurt. Andererseits, genützt hätte ihm dieses Wissen auch nicht viel, denn er besitzt nur Halbschuhe und außerdem einen Paar Skischuhen keine Winterschuhe.

Er flucht und geht weiter durch die Berliner Strasse, dann in die Große Paaschburg und schließlich (nach weiteren acht Minuten) biegt er links in die Kaiserstrasse ein. Die beginnt hier mit der Nummer 116 und Klee muß zur Nummer 1.

"Scheiße!"sagt er und in genau diesem Moment beginnt es wieder zu schneien.

Dabei hatte es sich alles so gut angelassen. Giselas Vater ist ein witziger Bursche. Er war vor dem Krieg in Frankfurt ein bekannter Radsportler und kennt wirklich Gott und die Welt. Die ganze Fahrt über hat er Geschichten erzählt, richtig froh, jemanden gefunden zu haben, der sie alle noch nicht kennt und Klee hat mit Staunen zugehört. Der Mann ist wirklich sympathisch, denkt Klee, und hat es nicht verdient, im finsteren Bornheim Möbel zu verkaufen. Doch Heinrich Atlas ist ganz offensichtlich sehr mit seinem Beruf zufrieden und diese Zufriedenheit macht ihn gelassen und humorvoll.

Zwischendurch erkundigt er sich ganz beiläufig nach den Dienstgraden der Kripo und fragt - ebenso beiläufig - wann Klee denn frühestens Kommissar werden könne und was man als Kommissar so verdiene.

Klee hatte ihm nämlich vorher erklärt, ein Kommissar das sei ungefähr so wie ein Offizier bei der Wehrmacht - diese Weisheit wiederum hatte Klee schon als Vierzehnjähriger von John King beigebracht bekommen. Aber ansonsten verlief die Fahrt sehr lustig. Zweimal hatte Herr Atlas angefangen zu singen, doch als er merkte, daß Klee zu befangen war, mitzusingen, hörte er auf und erzählte wieder Geschichten. Sie fuhren von zwei Uhr nachmittags bis etwas elf Uhr nachts. Zuerst über die Autobahn Frankfurt, Kassel, bis diese kurz nach Göttingen bei Nörten aufhörte. Dann ging es auf der Bundesstrasse 3 über Hannover nach Hamburg, wo sie etwas nach 9 Stunden Fahrt durchgefroren (der "Tempo" machte im Schnitt 6O) in Hamburg-Harburg anlangten.

Klee war fix und fertig und taute erst wieder auf als er die Nichte von Giselas Vater kennenlernte. Ohne Zweifel, sie ist ein bildhübsches Mädchen. Allerdings fühlte Klee schnell die irritierten Blicke von Heinrich Atlas auf seinem Rücken als er anfing, sich für die Tochter des Hausherrn zu interessieren. Er bekam ein Feldbett und schlief bis um 7 Uhr 3O, um 8 Uhr 26 stieg er in den Zug und um 9 Uhr 31 stand er auf dem Bahnsteig zwei des Itzehoer Bahnhofes.

Jetzt ist es 1O Uhr 24 und Klee betritt das rötlich-gelbe Backsteingebäude Kaiserstrasse 1 in dem die Bezirkskriminalpolizeistelle Itzehoe, zuständig für die Kreise Dittmarschen, Steinburg und Pinneberg, untergebracht ist.

Zwei Kripobeamte haben heute - es ist Sonntag, der 12. Januar - Kriminalwache. Es sind Kriminalobersekretär Josef Stach und Kriminalassistent Horst Wahrnat. Stach ist klein und dick, hat eine Halbglatze, während Wahrnat groß, stämmig und gutmütig aussieht.

Pat und Patterchon.

Klee stellt sich vor.

Stach guckt Wahrnat von der Seite an und sagt voller Neid:

"In Frankfurt beschäftigen sie Kinder bei der Kripo."

Klee wird sofort sauer.

"Und du bist sogar bei der Mordkommission?"

fragt er, es soll väterlich klingen. In Itzehoe gibt es natürlich keine ständige Mordkommission. Sie wird im Bedarfsfall aus den einzelnen Kommissariaten zusammengesammelt. Doch wann gibt es hier schon mal einen Mord.

Stach ist ganz einfach auf die frankfurter Morde und auf die Großstadt (in der so viel aufregendes passiert) neidisch.

Klee, der sonst eher schüchtern ist, beschließt, Stach, der fast doppelt so alt ist wie er, ebenfalls zu duzen.

"Ja, ich bin bei der Mordkommission, das kommt daher, die nehmen bei uns nur junge Leute. Je jünger, desto besser, verstehst du. Mein Chef, der Oberkommissar Krammer, der ist selber erst 27, der sagt immer, in meine Mordkommission kommt keiner über 3O. Die alten Knacker versauen uns mit ihrer Lahmarschigkeit immer die ganzen Fälle. Ja, so ist das bei uns in Frankfurt ..."

und dabei zwinkert er Wahrnat zu, so als wollte er damit sagen: "Gell, wir Jungen verstehen uns." Klee ist selbst überrascht über seine Tollkühnheit.

Wahrnat feixt innerlich, denn er kann seinen Kollegen absolut nicht leiden und freut sich, daß dieser junge Typ Stach gerade eins drübergegeben hat. Nach außen hin bleibt er allerdings unbeteiligt und murmelt etwas, das wie "soso" klingt, denn schließlich muß er mit Stach leben.

Stach ist rot geworden und zwar bis fünf Zentimeter oberhalb seiner Stirn. Er ist ein sehr aggressiver Mensch und wäre Klee jetzt ein Verdächtiger dann hätte Stach mit dem Lineal zugelangt. Das macht er gern - und zwar mit der Breitseite über die Nase. So aber reißt er sich zusammen, räuspert sich mehrmals und versucht die Beleidigung irgendwie runterzukriegen.

"Was willst du?"

fragt er barsch, denn er hat von seinem Chef die Anweisung erhalten, den Kollegen aus Frankfurt nach Kräften zu unterstützen.

"Punkt eins," sagt Klee, "ich will mit den Nachbarn reden in dem Haus, in dem Wolff von 1921 bis 1925 gewohnt hat. Punkt zwei: ich will seine Mutter im Krankenhaus besuchen und befragen. Punkt drei: ich will wissen, ob ihr in den Akten irgendetwas aus dieser Zeit oder später über Frau Wolff, ihren Sohn Hermann Maria oder einen gewissen Ernst Wyssmann habt. Ich weiß zwar, daß ihr nichts in den Strafakten habt, deshalb müssen wir nachsehen, ob es Kleinigkeiten gegeben hat, eine Verwarnung, ein Eingreifen, die Eintragung eines Schutzpolizisten ins Wachbuch oder so etwas. Kurz, ich will wissen, ob sich damals irgendetwas Außergewöhnliches ereignet hat, was nicht zu einer Strafsache geworden sein muß."

"In welchen Jahren soll das passiert sein," fragt Stach ungläubig. Ihm hat - obwohl er immer noch sehr wütend ist - die Rede von Klein gerade sehr imponiert und einen Moment lang fühlte er sich tatsächlich zum alten Eisen gehörig. Er kann nicht wissen, daß Klee die Rede auf dem Weg vom Bahnhof hierher lange geübt hat.

"Zwischen 1921 und 1926, ich würde aber gerne bis 193O nachsehen."

"Hee," sagt Stach, "das ist über dreißig Jahre her, aus dieser Zeit sind die Akten alle längst vernichtet."

Er triumphiert.

"Die Wachbücher haben wir noch, ich habe sie vor ein paar Wochen noch im Keller gesehen" sagt Wahrnat.

"Na wunderbar," sagt Klee, "gehen wir doch gleich mal nachsehen."

Zusammen mit Wahrnat steigt er über eine Metalltreppe in ein modrig riechendes Kellergewölbe. Die Wachbücher liegen in einem Stahlregal, Feuchtigkeit hat auf ihnen Stockflecken wachsen lassen. Es sind Bücher, etwa vier Zentimeter dick, wie sie von vielen Firmen für die doppelte Buchführung verwendet werden. Klee greift sich eines heraus. Es wiegt mindestens 1O Kilogramm. Er schläge es auf, es ist von 1929.

"Erstes Halbjahr" steht in dieser geradlinigen deutschen Schrift, bei der Klee oft Mühe hat, sie zu entziffern. In diesem Buch hat der Wachhabende jedesmal wenn ein Beamter der Schutzpolizei von seiner Runde wiedergekommen war, eine kurze Notiz gemacht. Sehr knapp mit Angabe von Person und Adresse.

Die erste Eintragung vom 1. Januar 1929 lautet:

"Hindenburgstr. 4, Schöller, betrunkener Ruhestörer nach Hause gebr."

Die nächste:

"Holzkamp, Betrunkene Frau aus dem Schnee aufgelesen und nach Hause gebr. Wäre sonst erfroren. Zwei Finger waren schon abgestorben."

Und so ging es weiter. Tag für Tag waren je nach Vorkommnissen entweder eine Seite (sonntags) oder auch drei Seiten (meist Sonnabends) mit Notizen gefüllt.

"Pro Jahr zwei Bücher, das macht von 1921 bis 193O zwanzig Bücher. Jedes Buch hat fast tausend Seiten, also müssen wir 2O.OOO Seiten durchblättern." sagt Wahrnat.

"Ja," sagt Klee, "das schaffen wir nicht. Wir müssen es eingrenzen. Moment mal, Wyssmann war in Itzehoe von 1923 bis 1926. Ich schlage vor, wir nehmen uns nur diese Zeit vor."

"Und nach was sollen wir gucken?"

Klee sieht sich noch einmal die Seiten des Buches an.

"Ganz einfach, wir gehen einfach nach den Adressen. Frau Wolff hat in dieser Zeit gewohnt in der Breiten Strasse Nr. 6 und Wyssmann in der Feldschmiede 18. Wir schauen nur die Spalten mit den Strassen durch. Das müßte, wenn wir uns etwas beeilen, etwa in vier Stunden zu schaffen sein. Hilfst du mir mit ?"

"Na klar," sagt Wahrnat und es klingt wie "No chlor."

"Stach kann den Laden hier schon allein schmeißen."

Und so wuchtet nach einigem Suchen jeder zwei Bände ins Erdgeschoß. Wahrnat 1923 und Klee 1924.

 

 

 

34

 

Dierkes hat heute ebenfalls Bereitschaftsdienst. Zusammen mit Kaiser aus dem Sittenkommissariat und mit Häberle vom 1. K. der Spezialabteilung (Vergehen mit politischem Einschlag, Buchstabe A bis K) sitzt er im Erdgeschoß des Präsidiums in der Kriminalwache.

Hungerland ist unterwegs. Sonntags sitzen immer vier Mann ihre 12 stündige Bereitschaft ab. Von morgens halb acht bis abends halb acht, und von abends halb acht bis morgens halb acht. Öde ist es, öde und langweilig. Hungerland hat einen Schrebergarteneinbruch. Es gibt nicht Berauschenderes als einen Schrebergarten-Einbruch, denkt Dierkes, der selbst schon im 3. Kommissariat (einfache Diebstähle, Hehlerei und Jagdvergehen) Dienst gemacht hat. Allein das Protokoll darüber treibt einem die Tränen in die Augen: "Entwendete Gegenstände: 1 Spaten, 1 Gießkanne, 2 Pfund Tulpenzwiebeln, 2 Gläser Stachelbeerkompott" und in dem Stil geht es weiter. Und man kann sicher sein, daß die Kleingärtnerfamilie mehr Geschrei um den geklauten Kompott macht als eine andere Familie um ihren gerade totgefahrenen Ernährer.

Gewöhnlich wird sonntags zu viert Doppelkopf gespielt; sobald einer weg muß, gehen sie zu Skat über und dann, wenn noch einer weg muß, öden sie sich an. Weil Häberle keinen Skat kann öden sie sich heute bereits zu dritt an. Ab und zu blättert Dierkes in der Zeitschrift "Ö T V Presse" mit ihrer Sonderabteilung

"Polizeidienst", die irgendein Kommunist hier hingelegt hat. Gerade liest er, was bei der Eröffnung des BKA in Wiesbaden (am 2. Oktober 1953) vom Bundesminister des Inneren Dr. h.c. Lehr gesagt worden ist: "Das Bundeskriminalamt hat nach dem Gesetz vom 8. März 1951 nur geringe Exekutivbefugnisse; der Schwerpunkt seiner Aufgaben liegt in der Herbeiführung einer engen kriminalpolizeilichen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern, in der Nachrichtensammlung und -auswertung und in dem Unterhalten von nachrichten- und erkennungsdienstlichen sowie kriminaltechnischen Einrichtungen. Die Exekutivbefugnisse des Bundeskriminalamtes sind im föderalistischen Aufbau der Bundesrepublik ein besonderes staatsrechtliches Problem. Bereits das Reichskriminalpolizeigesetz vom 21. Juli 1922, das nie realisiert worden ist, hatte zu Erörterungen darüber geführt, ob in kriminalpolizeilischen Angele-genheiten eine Reichsexekutive neben der Länderexekutive zulässig und zweckmäßig sei. Bei den Beratungen eines Gesetzes über die Einrichtung eines Bundeskriminalamtes sind die gleichen Erwägungen angestellt worden. Verfassungsrechtliche und praktische Erwägungen haben den Gesetzgeber veranlaßt, sich für eine beschränkte Bundesexekutive, wie sie nunmehr in Paragraph 4 des Gesetzes vom 8. März 1951 vorliegt, zu entscheiden."

Was die nur immer mit der "Exekutive" haben, denkt Dierkes, und bei ihm schwingt immer "Todesstrafe" dabei mit. Aber die ist doch abgeschafft. In einem der Blätter ist sogar ein Photo von PP Leitmann (wie er gerade einen Vortrag hält). Dierkes ist fest davon überzeugt, daß eines Tages auch ein Photo von ihm durch die Weltpresse gehen wird. Nicht nur in so einem Gewerkschafts-Käseblatt. Vor zwei Jahren als Krammer und Reitmüller die beiden schweren Jungen Maiss und Maikranz aus Frankreich abgeholt haben, waren ihre Photos in sehr vielen Zeitungen, sogar in Illustrierten. Und sogar der Bimbo, dem er - Dierkes - zum Ruhm verholfen hat, war zumindest in den frankfurter Tageszeitungen abgebildet.

Dierkes seufzt und kramt in Gedanken nach einer Schlagzeile, in der er gerne einmal wäre, als das Telefon klingelt.

"Polizeipräsidium, Kriminalwache, Dierkes."

sagt er - es muß ja schließlich nicht jeder wissen, daß er erst Kriminalassistent ist.

"Hier ist das 8. Revier im Oberweg. Wir haben einen Selbstmord könnt ihr kommen?"

"Nee," sagt Dierkes, "wir können nicht, wir müssen."

"Habt ihr bei euch einen Kommissar Krammer?"

"Ja, haben wir, der hat heute frei!"

"Vielleicht benachrichtigen sie ihn trotzdem," sagt der Revierbeamte, der sich nicht traut, Dierkes zu duzen,

"das Opfer hat nämlich einen verschlossenen Brief hinterlassen auf dem steht: "Zu Händen Herrn Kriminalkommisssar Krammer"."

"Krammer ist kein Kommissar!"

sagt Dierkes, dessen Gehäßigkeit sich jetzt mit Neugierde legiert, "wer hat sich denn umgebracht?"

"Der Täter heißt Ernst Wyssmann,"

sagt der Beamte, dem nicht auffällt, daß die Bezeichnung Täter und Opfer sich hier verwischen.

"Er wohnt in der Nesenstrasse 11."

"Ja, ich kenne den Mann," sagt Dierkes, "ist er tot?"

"Ja", sagt der Revierbeamte, "Mausetot."

"Ich komme," sagt Dierkes, drückt die Gabel mit dem Zeigefinger runter und wählt Krammers Nummer, die er auswendig weiß. Sie ist aber auch leicht zu merken: 59 59 5.

Krammer ist nicht da, jedenfalls geht er nicht ans Telefon.

Bei einem normalen Selbstmord wäre Dierkes allein zum Tatort gefahren. Doch so, immerhin ist der Tote in einen anderen Fall verwickelt, ist es Dierkes zu riskant, allein zu operieren. Er fürchtet sich vor Weichmanns Kritik. Also ruft er den an. Weichmann verspricht, sofort zu kommen und seine Freude darüber, von zu Hause wegzukommen, mischt sich mit Nachdenklichkeit über die Entwicklung des Falles.

Als beide Beamte etwa eine halbe Stunde später in der Nesenstrasse ankommen, bietet sich ihnen ein grausliges Bild.

Wyssmann hat sich mit einer Parabellumpistole in den Mund geschossen. Da er besonders gründlich sein wollte und auf jeden Fall tot, hat er seinen Mund vorher mit Wasser gefüllt. Eine derartige Anordnung hat die Wirkung einer Handgranate.

 

 

35

 

Es ist ungefähr viertel nach zwei und Klee hat sich bis zum 26. Februar 1925 vorgearbeitet. Weder hat er eine Eintragung über die Breite Strasse Nr. 6 noch über die Feldschmiede 18 gefunden. Auch Wahrnats Suche war bisher vergeblich. Er hat das zweite Halbjahr 1925 und ist gerade im Dezember, da stutzt er.

"Hee, hier hör mal, am 2O. Dezember ist eine Eintragung. "Breite Strasse Nr. 6. Verdächtiger Gasgeruch in der zweiten Etage. Konnte geklärt werden". Das ist alles. Wohnte dein Typ in der zweiten Etage?"

"Keine Ahnung."

sagt Klee und fasst noch mal nach:

"Wann war das?"

"Am 2O. Dezember 1925."

"Merkwürdig!"

"Was ist merkwürdig?"

"Daß ausgerechnet am 2O. Dezember ein verdächtiger Gasgeruch polizeilich registriert wird. Am 2O. Dezember dieses Jahres ... nee... letzten Jahres ist Hermann gestorben."

"Das ist doch ein Zufall."

"Glaubst du?"

Klee ist sich nicht sicher. Er hat immer noch die Bemerkung Weichmanns ihm Ohr an dem Tag als sie Wyssmann verhört haben. Weichmann hatte gesagt: "Das haut hin" als es irgendwelche Daten betraf. Er hatte es so gesagt, als gäbe es einen Plan, der sich erfüllt, und als habe dieser geheime Plan etwas mit Daten und Jahreszahlen zu tun. Und jetzt taucht wieder eine merkwürdige Übereinstimmung von solchen Daten auf. War es nicht auch so, daß Hermanns Mutter am 2O. Dezember Geburtstag hatte?

Das war schon alles sehr merkwürdig.

Und die Zeit verrann.

"Ich würde ja ganz gerne jetzt zu diesem Haus gehen und die Nachbarn mal befragen. Vielleicht wissen die mehr über die Familie Wolff."

"Heute, nach dreißig Jahren," zweifelt Wahrnat.

"Versuch macht klug!" sagt Klee.

"Geh ruhig," sagt Wahrnat, "ich guck mir die Dinger hier weiter durch."

Klee und Wahrnat haben sich von Anfang an gemocht. Wahrnat hat schon sehr imponiert, wie Klee mit Stach umgegangen ist und ein bißchen beneidet er Klee darum. Das wünscht er sich auch, Stach ab und zu eins auf die Nase zu geben. Auch ihr duzen hatte sich ganz selbstverständlich von anfang an ergeben, keiner von beiden hatte darüber nachgedacht.

"Du wirst schon laufen müssen. Mit dem Fahrrad bei dem Schnee zu fahren, wäre Dummheit. Und unser Dienstwagen ist gerade unterwegs."

Er erklärt ihm den Weg und Klee macht sich auf die Socken (die zehn Minuten später schon wieder klitschnaß sind).

Breite Strasse Nummer 6 ist ein zweistöckiges Eckgebäude. Mit seinen breiten Fensterfronten und etwas Schnörkel hier und da sieht es ziemlich klassizistisch aus. An der Ecke des Hauses zur Breitenburger Strasse hin ist ein Wappen in den Stuck eingelassen, darunter stehen die Worte: "Audaces fortuna adiuvant" und um die Ecke herum ist das Baujahr des Hauses festgehalten: "Erbaut 1663. Umgebaut 1898".

Unten im Haus ist ein Textilgeschäft. Klee geht durch die Eingangstür und betritt einen dunklen fensterlosen Flur, in dem geradlinig eine ziemlich lange Treppe in den ersten Stock führt. Parterre sind keine Wohnungen. Klee geht die lange Treppe nach oben. Erst im ersten Stock findet er den Lichtschalter. Durch die Flurbeleuchtung, die er einschaltet, wird die Dämmerung ein klein wenig aufgehellt. An der Tür im ersten Stock steht ein Messingschild "Pastor Heine".

Er klingelt.

Nach einer Weile Schritte, die Kette wird weggenommen und eine etwa 45 Jahre alte Frau blickt ihn fragend an. Sie hat weißgrau dauergewellte Haare und eine riesengroße Brosche auf der beigen Rüschenbluse. Ihr Gesicht drückt Kälte aus.

"Ja bitte?"

"Entschuldigen sie die Störung, ich bin von der Kriminalpolizei und führe Ermittlungen durch. Hier in diesem Haus hat vor dreißig Jahren eine Frau Wolff gewohnt und ich möchte gerne wissen, ob sie wissen, wer hier in dem Haus so lange wohnt, daß er Frau Wolff noch gekannt haben könnte." Klee kommt sich bei diesem Spruch furchtbar doof vor.

"Ich wohne erst seit 1945 hier, eine Frau Wolff kenne ich nicht. Und ich glaube kaum, daß die Leute hier in diesem Haus schon seit dreißig Jahre hier wohnen. Das sind doch alles Personen aus dem Osten, die sind erst nach dem Krieg hergekommen."

Klee hat das Gefühl, die Frau hätte am liebsten "Pollaken" gesagt.

"Über uns wohnt neuerdings sogar ein Kübelschwenker", sagt die Frau angewidert.

Klee guckt etwas hilflos.

"Was ist ein Kübelschwenker?" fragt er.

"Sie wissen nicht, was ein Kübelschwenker ist, wo kommen sie denn her?" fragt die Frau mißtrauisch.

"Aus Frankfurt."

"Und sie sind von der Polizei?"

"Ja."

"Ich möchte ihren Ausweis sehen."

Klee zeigt ihn ihr. Sie schaut ihn lange an.

"Man kann ja nicht vorsichtig genug sein. Wo sich hier so viel Gesindel herumtreibt. Und überhaupt heute am Sonntag, müssen sie denn da arbeiten ? Bei meinem verstorbenen Mann war das etwas ganz anderes. Pastoren haben ja am Sonntag ihren wichtigsten Tag. Aber Polizisten?"

"Sie wollten mir gerade erklären, was ein Kübelschwenker ist." sagt Klee.

"Ja, das sind die Männer, die unsere ... Exkremente abholen."

Klee staunt. Nach einigem Nachfragen erfährt er, daß ein großer Teil der Toiletten Itzehoes noch nicht an die Kanalisation angeschlossen ist. Stattdessen stehen in den Klos stählerne Kübel und über sie wird die Klobrille heruntergeklappt. Jede Woche einmal kommt ein Pferdefuhrwerk und bringt neue Kübel. "Kübelschwenker", so heißt der Mann, der jeweils den Austausch vornimmt. Auf den vollen Kübel schraubt er einen stählernen Deckel und dann lädt er ihn in einer schwenkenden Bewegung auf die Schulter und trägt den Kübel zu seinem Wagen. Dort hat er etwa 1OO weitere (leere und volle) Kübel versammelt. Das ist das Berufsbild des "Kübelschwenkers" - Scheißeimerleute wäre die treffendere Bezeichnung.

"Und sie glauben, daß von all den Leuten, die heute hier im Haus wohnen, keiner schon 1925 hier gewohnt hat?"

"Nein", sagt die Frau, "ich weiß es. Alle Parteien, die hier wohnen, sind erst kurz nach dem Krieg hier eingezogen."

"Was ist mit dem Kleidergeschäft im Parterre?"

"Das gehört dem Hausbesitzer. Aber der wohnt nicht hier. Der wohnt an der Stör, etwa hundert Meter von hier."

"Hat der sein Geschäft schon seit 1925 hier?"

"Ich glaube ja, das hat vorher schon seinem Vater gehört."

"Geben sie mir doch bitte seine Adresse."

Zwanzig Minuten später sitzt Klee dem Besitzer des Textilgeschäftes "Klingemeier" gegenüber. Der ist etwa 45 Jahre alt, hat einen leichten Bauchansatz und Lachfalten im Gesicht.

"Tja, über die Frau Wolff hätte ihnen mein Vater sicher viel mehr erzählen können. Die wohnt schon lange nicht mehr in unserem Haus. Lange vor dem Krieg ist sie schon ausgezogen. Ich glaube irgendwo in die Kleine Paaschburg. Aber genau weiß ich das nicht. Aber leider ist mein alter Herr im letzten Jahr gestorben."

Klee hatte schon beim Eintritt den Trauerstreifen am Jackett gesehen.

"Mein Beileid," sagt er.

"Danke", sagt Klingemeier.

"Erinnern sie sich noch an Frau Wolff?"

"Ja sicher, wir haben ja damals eine ganze Weile selbst in dem Haus gewohnt. Direkt überm Geschäft. Frau Wolff hat in der zweiten Etage gewohnt. Zusammen mit der Familie Klinge und der Familie Mayer. Stellen sie sich vor, erst zieht eine Familie Klinge ein und dann eine Familie Mayer. Na und wir heißen Klingemeier."

Er lacht und sein Gesicht ist jetzt vollständig mit Lachfalten bedeckt.

"Allerdings die Familie Mayer schrieb sich mit a y , während wir uns mit e i schreiben. Und dann wohnte da noch die Frau Panier. Ich war damals noch ein Kind. Aber die Frau Panier, das weiß ich noch wie heute, die lief immer über den Flur zum Klo und hatte den ganzen Arm voll von Klopapierkügelchen. Wissen sie, die Frau war unwahrscheinlich fett und deshalb rollte sie das Klopapier immer zu Kügelchen. Als Kind hat mich das sehr beschäftigt. Weshalb sie immer Kügelchen aus Klopapier auf ihrem Arm an die Brust drückte. Ich weiß eigentlich bis heute nicht, warum sie das machte ..."

Er wird ganz nachdenklich.

"Und Frau Wolff mit ihrem Sohn Hermann?"

unterbricht Klee bevor der Mann vollends in die Welt seiner Kindheit abdriftet.

"Ja, die wohnte im zweiten Stock im zweiten Zimmer links. Ganz links wohnte die Panier mit ihrem Sohn, der war bei der Polizei und ist im Krieg gefallen.

Frau Wolff wohnte in dem langen Zimmer mit der Loggia. Ich war noch ziemlich klein als Frau Wolff eingezogen ist. Ich kann mich auch an das Kind erinnern. Hermann heißt er, sagen sie. Komisch an den Namen kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß nur, daß er oft in seinem Kinderwagen unten im Flur bei uns stand. Ich glaube, Frau Wolff ließ ihn da stehen, wenn sie noch etwas einkaufen ging. Er lag dann da und schrie, daß es nur so durch das Treppenhaus hallte. Ja, jetzt erinnere ich mich, und naß war er immer bis oben hin und gestunken hat er. Vollgeschissen. Mein Vater hat dann immer gesagt

"Da liegt schon wieder das Fleisch im eigenen Saft! Ja, Fleisch im eigenen Saft hat er immer dazu gesagt. Frau Wolff hat sich aber immer sehr rührend um das Kind gesorgt. Es waren ja wohl schwere Zeiten damals. Nichts zu essen und Arbeitslosigkeit und so. War sie nicht Krankenschwester? Manchmal hatte sie so ein kleines weißes Häubchen auf. Ja, mehr fällt mir dazu auch nicht ein. Ich war ja damals noch ein Kind."

"Wissen sie ob Frau Wolff einen Freund hatte?"

"Nein, keine Ahnung."

"Von 1923 bis 1926 soll sie einen gehabt haben, der ist sicher auch zu Besuch gekommen."

"1923 war ich 9 Jahre alt. Nein, ich kann mich nicht erinnern. Haben sie denn schon mit Frau Wolff selber gesprochen?"

"Nein, das werde ich noch tun. Aber das könnte schwierig werden, weil sie nicht richtig ansprechbar sein soll. Aber noch etwas anderes: Wir haben heute eine alte Eintragung ins Wachbuch gefunden. Ende 1925 ist der Polizist benachrichtigt worden, daß in der zweiten Etage ein verdächtiger Gasgeruch bemerkt worden ist. Wissen sie darüber etwas?"

"Polizei war im Haus. Gasgeruch? Hm."

Er überlegt lange.

"Alle Zimmer hatten Gasanschluß, damals haben die Mieter alle mit Gas gekocht. Genauso wie heute. Es sind immer noch die alten Leitungen. Ich muß sie demnächst erneuern lassen. Aber ein Gasgeruch im Haus? Nein," sagt er, "ich kann mich nicht erinnern."

Nach einer Pause.

"Doch mir fällt noch etwas ein. Ich glaube Frau Wolff hat irgendwann einmal einen Anfall gekriegt und dann ist sie von zwei Sanitätern abgeholt worden, ich weiß noch, wie alle Mieter da im Flur rumstanden und sich das mit angeguckt haben. Sie ist dann wohl in die Irrenanstalt gekommen. Aber wann und wie lange ... denn sie ist danach wieder dagewesen ... weiß ich nicht."

"Wissen sie noch etwas über Hermann Wolff. Seine Mutter hat ihn übrigens immer "Männlein" genannt."

"Ja, genau!" sagt Klingemeier, "Männlein, das war sein Name. Als er älter war hat er immer auf der Strasse gespielt wenn seine Mutter nicht da war. Mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Und wenn er dann zum Essen raufkommen sollte, dann hat sie immer aus dem Fenster gerufen. So etwa:

"Määääään - lein". Ja, mehr weiß ich nicht, beim besten Willen nicht."

"Und wohnt hier in Itzehoe heute noch jemand, der die Familie Wolff in dieser Zeit gekannt haben könnte. Zum Beispiel die Familie Klinge oder Mayer?"

"Nein" sagt Klingemeier jr., "zu diesen Familien haben wir den Kontakt vollkommen verloren. Die sind auch schon lange vor dem Krieg ausgezogen. Wissen sie, es waren ja nur Ein-Zimmer-Wohnungen. Die meisten Mieter sind während der Hitlerzeit, als es uns wieder besser ging, in größere Wohnungen umgezogen. Nein, wo die jetzt wohnen, weiß ich auch nicht."

"Macht nichts", sagt Klee, "das kann ich rauskriegen."

Er verabschiedet sich und geht den Weg über die Störbrücke zurück auf die Breite Strase. Der Schnee ist nicht mehr so hoch weil die Fußgänger schon einen Pfad in ihn hineingetreten haben und so bleiben seine Strümpfe fast trocken.

Kinder spielen in der Breitenburger Strasse. Zwei bauen einen Schneemann. Zwei andere Kinder haben vor sich einen großen Berg mit Schneebällen aufgetürmt aus dem sie abwechselnd je einen Ball greifen und auf die andere Strassenseite werfen. Dort versucht ein Kind in Trainingsanzug, Bommelmütze und Turnschuhen Schnee zu schaufeln. Mit jedem Schneeball brüllen die beiden Kinder Schimpfwörter rüber:

"Pollakenpack!" ruft das erste Kind.

"Affendreck!" ruft das zweite.

"Wurstpisse!" ruft das erste.

"Deine Mutter ist eine tintenlose Emma!" ruft das zweite.

"Und dein Vater ist ein Kübelschwenker!" ruft das erste.

Klee überlegt, ob "tintenlose Emma" auch eine Itzehoer Spezialität ist oder ob es einfach "tittenlose Emma" heißt.

Klee sieht, wie das Kind auf der anderen Seite ver-sucht, den Schneebällen auszuweichen und dabei doch weiterzuschaufeln.

Es beißt sich mit den unteren Zähnen auf die Lippe.

Dann tönt eine Frauenstimme von oben aus der Dachkammer auf ostpreußisch:

"Jünter, sofort kummste ruff, was jehn denn dich de fremden Jöhren an!"

Das Kind hört auf zu schaufeln und geht in den Hauseingang.

 

 

36

 

Krammer könnte hopsen. Er fühlt sich als habe er den Kontakt mit der Erde irgendwie verloren. Es kostet ihn geradezu Anstrengungen, auf den Bürgersteigplatten nicht so zu hinkeln, wie er es wohl das letzte Mal vor 4O Jahren gemacht hat. Ab und zu überspringt er zwei Platten und bemüht sich dabei, die Linien zwischen ihnen nicht zu berühren. Gäbe es jemanden, der jetzt Krammers Gedanken lesen könnte, er würde sehr schicksalshafte, sehr magische Dinge in seinem Kopf vorfinden. Krammer blickt sich etwas verlegen um, ob auch niemand diesen erwachsenen Mann mit grauem Anzug und Wintermantel mit Schal auf dem Grüneburgweg beim Springen zusieht. In seinem Kopf geht jetzt die Textzeile "Liebling, du bist mein Augenstern" mit der anderen "Liebling, du bist verrückt mein Kind" auf und ab.

Jawohl, er, Kriminalobersekretär Otto Krammer, verheiratet seit 21 Jahren, ist verliebt.

Verliebt, verliebt.

Ein Gefühl, das er schon seit Jahrzehnten nicht mehr kennt und er könnte singen und hopsen.

Jawohl meine Herren, ich war gerade mit einem bezaubernden Mädchen im Cafe Schwille. Jawohl, ich gestehe, es hat mir großen Spaß gemacht. Jawohl, ich weiß, es ist nicht sehr nett meiner Frau gegenüber, die jetzt ahnungslos bei ihrer Mutter in Höchst sitzt. Aber das ist mir egal, überhaupt ist mir alles egal. Scheißegal.

Ich habe es genau gespürt, Gaby hat im Cafe ihr Knie sehr energisch gegen meins gedrückt und als ich mein Knie - weil ich es genau wissen wollte - etwas von ihrem weggerückt habe, hat sie es eine Minute später wieder an meins herangedrückt. Jawohl, ich habe es genau gespürt. Ganz genau.

Und zum Abschied hat sie lange meine Hand gehalten und micht ganz schnell auf die Wange geküßt und dann hat sie gesagt:

"Es war ein wunderschöner Nachmittag und ich hoffe, wir sehen uns bald wieder."

Sie hofft, sie sieht mich bald wieder!

Und wieder überspringt Krammer zwei Kästchen.

Nach etwa zwanzig Minuten Fußmarsch schließt er die Eingangstür zu seiner zweieinhalb Zimmer-Wohnung auf und betritt die Diele. Wie wird es jetzt weitergehen, fragt er. In Gedanken überlegt er sich schon den nächsten Schritt. Alle 14 Tage besucht seine Frau ihre Mutter, dann muß sie nach Höchst fahren. Sie macht das immer schon morgens, weil die Mutter darauf besteht, ihre Tochter zu bekochen. Sie hat ja sonst niemanden, für den sie kochen kann. Und heute war Krammer schon um 12 Uhr spazierengegangen (das hatte er sich jedenfalls eingeredet) und wie es der Zufall wollte, führte ihn sein Spaziergang in die Unterlindau. Er ist dann mindestens dreimal an dem besagten Haus vorbeigegangen bis er sich endlich ein Herz gefasst hat und die Treppe hochgestiegen ist. Oben angekommen, hat er sich noch einmal inbrünstig gewünscht, Gabriele Kleinschmidt möge doch lieber nicht zu Hause sein. Doch noch bevor er klingeln konnte, hatte sie die Tür geöffnet, weil sie einen kleinen Tannenbaum, aus dem schon die Nadeln rieselten, in den Hof bringen wollte.

Das war ihm schon sehr peinlich.

Nun, Gabriele hatte sich sehr gefreut und ihre Freude hatte sofort Krammers Verlegenheit weggewischt. Ja, und dann hatten sie einen sehr angenehmen Nachmittag mit Kaffee, Kuchen und Kniedrücken.

Krammer setzt sich in seinen bequemen Sessel, legt die Beine auf die Fußwippe und schließt die Augen.

Ja, wie soll es jetzt weitergehen.

Jetzt, sagt sich Krammer, und steht mit einem Ruck auf, jetzt hole ich mir erst mal eine Flasche Bier. Er greift sich eine leere Flasche, die neben dem Küchenschrank steht, zieht noch einmal den Mantel an und verläßt die Wohnung um zur nächsten Kneipe zu gehen.

Während er unterwegs ist, klingelt noch einmal sein Telefon. Weichmann kriegt immer noch keinen Anschluß.

 

 

37

 

Klee ist ziemlich groggy wieder zur Kaiserstrasse zurückgekommen. Es ist fünf Uhr vorbei und draußen ist es bereits dunkel. Wahrnat hat in den Wachbüchern keine Eintragungen mehr gefunden und ihm tut der Rücken und das Handgelenk weh vom vielen Bücken und Blättern.

Klee hat keine Lust mehr. Die lange Autofahrt gestern, heute sehr früh aufgestanden, in die Eisenbahn und dann dreimal den langen Weg durch halb Itzehoe mit Schnee in den Schuhen.

Irgendetwas macht sich auch in seinem Hals und in seiner Nase bemerkbar.

Und doch will er noch etwas erledigen:

"Wo ist denn dieses Altersheim?"

"In der Fehrs-Strasse, gleich hier um die Ecke." sagt Stach, "zu Fuß höchstens drei Minuten."

Klee weiß, ihm bleibt nur noch der heutige Abend. Morgen, Montag, muß er um spätestens 11 Uhr wieder in Harburg sein. Da er nicht sicher ist, wann die Alten in diesem Heim schlafen gehen, kann er seinen Besuch auch nicht in die Abendstunden legen. Und ihm ist, als wäre jetzt schon abend.

Wahrnat sagt:

"Ich würde gern mitkommen."

"Na klar,"

sagt Klee und freut sich, daß Wahrnat das sagt. Klee fühlt sich nämlich ziemlich allein hier im Norden, im tiefen Schnee.

Das St. Jürgenstift, das sie eine gute Viertelstunde später betreten, ist ein langgestrecktes zweistöckiges Gebäude in der Fehrstrasse Nr. 6. Es wird von katholischen Ordensschwestern betreut.

Eine davon steht direkt hinter der Eingangstür in dem hell erleuchteten Flur und sieht so aus, als stünde sie dort Wache. Sie ist noch sehr jung und sieht in ihrer schwarzen Tracht mit dem weißen Rüschenhäubchen unglaublich unschuldig aus. Sie hat eine so reine Haut, als habe man ihr stundenlang das ganze Gesicht mit dem Waschlappen geschrubbt. Sauber und unschuldig, denkt Klee, und hat auf einmal das Gefühl, als würde er gleich rot werden. Wohl weil ich nicht so unschuldig bin, denkt er und sieht Giselas Brüste vor sich.

Schnell packt er alle unkeuschen Gedanken wieder weg und fragt die Schönheit:

"Entschuldigen sie, Schwester, wir hätten gern Frau Wolff gesprochen. Es ist noch einmal wegen ihres Sohnes, wir sind von der Kriminalpolizei."

Die Schwester blickt Klee an, dann schaut sie sehr schnell auf den Boden und sagt:

"Da müssen sie Schwester Tathysia fragen, sie ist im ersten Stock und beaufsichtigt die Essensausgabe."

"Wird denn schon gegessen?" fragt Klee, "wir wollen wirklich nicht stören."

"Im Winter essen wir immer um halb sechs,"

sagt die Unschuld und blickt einmal ganz schnell auf, direkt in Klees Gesicht. Es ist ein sehr intensiver Blick und Klee spürt die Augen direkt bis ins Herz, nein, bis in den Bauch gehen. Doch bevor er ihn festhalten kann, sind die Augen schon wieder auf die Erde gerichtet. Klee ist richtig erschrocken von diesem Blick.

"Die Küche ist im ersten Stock direkt gegenüber der Treppe," sagt die Schwester, sehr leise.

"Ja, dann ... vielen Dank," beinahe hätte er gestottert, dann dreht er sich um und geht schnell die Treppe hinauf.

"Ich wußte gar nicht, daß Nonnen so hübsch sind,"

sagt Wahrnat, der sich beeilen muß, da er ja nicht so laut sprechen kann.

"Ja, das wußte ich auch nicht,"

Klee ist sehr in Gedanken, weil ihm der Blick immer noch zusetzt.

Schwester Tathysia ist eine Seele. Sie ist etwas 45 Jahre alt und drückt alle Demut der Welt in ihrer zarten Gestalt aus. Ihr ganzes Glück liegt im Leiden, und nähme man ihr das Leiden sie wäre sehr unglücklich. Nachdem die Männer ihr erklärt haben, worum es geht, sagt sie:

"Der Arzt hat gesagt, Frau Wolff ist nur sehr gering belastbar, ich möchte sie daher bitten, sie zu schonen."

"Sicher," sagt Klee, "kann ich vorher den Arzt sprechen?"

"Er ist nicht hier, er kommt nur, wenn er gerufen wird."

"Aber Frau Wolff ist ansprechbar?"

"Ja, wenn man etwas geduldig mit ihr ist, kann man sich mit ihr gut unterhalten."

Sie betreten das Zimmer am Ende des Flures in der ersten Etage. Es ist ziemlich düster. Neben dem Bett brennt eine Tischlampe mit einem braunen Pergamentschirm. Zwei Betten stehen in diesem Raum rechts und links vom Fenster an der Wand. Ein riesiger schwarzbrauner Schrank mit gedrechselten Säulen und ein kleiner Tisch komplettieren die Einrichtung. Gegenüber dem Schrank in der anderen Zimmerecke befindet sich ein Spülstein mit Spiegel. Ein Bett ist leer und in dem anderen liegt eine etwa siebzig Jahre alte Frau, den Oberkörper mit mehreren Kissen hochgebockt. Vor ihr sitzt auf einem Stuhl ein etwa ebenso alter Mann, mit einem Teller in der einen, einen Löffel in der anderen Hand, der sie gerade füttert.

"Soooo, Opa Wagner,"

schreit Schwester Tathysia als sie sieht, daß der Teller fast leer ist, "jetzt holen wir uns unser eigenes Essen und lassen uns schön allein. Wir müssen mit Oma Wolff reden."

Bei der Schreierei ist Frau Wolff so zusammengezuckt, daß ihr ein Brocken Speise aus dem offenen Mund auf das Nachthemd fällt.

"Opa Wagner" steht auf und sagt:

"Gibt es denn jetzt essen?"

Er hat keine Zähne im Mund. Und als Tathysia nickt, schlurft er glücklich davon.

"Na, hats denn geschmeckt,"

fragt Tathysia wieder mit ihrer Normalstimme und nimmt den Essenbrocken mit ihrer Hand auf, steckt ihn der Frau wieder in den Mund, dann wischt sie mit dem Handrücken über das Nachthemd, den Fleck verteilend, und strahlt dazu.

Oma Wolff sagt:

"Nein!"

"Das ist aber gar nicht schön", sagt Tathysia, "diese beiden Herren sind von der Polizei. Sie möchten mit ihnen reden."

Die Frau blickt auf. Ihr runzliges Gesicht hat gleichzeitig etwas abgehärmtes und etwas hilfloses. Sie hat eine kräftige Figur, die eine gewisse Härte ausdrückt und feine Gliedmaßen, die die ganze Zerbrechlichkeit dieses Menschen offenbaren. Ihre silbrigen Haare, die ungepflegt sind, trägt sie unter einem hauchdünnen Haarnetz. Über dem Bett hängt ein großes Holzkreuz und darauf, festgenagelt, Jesus von Nazareth.

"Ist es wegen Hermann?" fragt sie, "ist ihm etwas passiert?"

Klee und Wahrnat schauen sich an. Die Frau hat noch gar nicht zur Kenntnis genommen, daß ihr Sohn tot ist. Für sie lebt er immer noch.

"Aber Oma Wolff", sagt Tathysia, "ihr Hermann ist doch schon zu seinem Herrn, zu unserem Vater gegangen. Er ist doch jetzt im Himmel. Das hat doch der nette Herr, der neulich hier war, ihnen schon erzählt. Er ist jetzt dort oben und blickt auf uns herunter."

Dabei deutet sie mit dem Zeigefinger an die Zimmerdecke und bekreuzigt sich dann.

Frau Wolff blickt ebenfalls nach oben.

"Nein!" sagt sie dann.

"Nein, mein Hermann ist nicht im Himmel. Ich habe ihn gerettet."

Tathysia schaut Klee an mit einem Blick, der sagen will: "Ja, es ist schwer, aber man muß Geduld haben".

Die Tür geht auf und eine andere Schwester kommt aufgeregt herein:

"Schwester Tathysia, entschuldigen sie, sie müssen schnell kommen, Opa Wagner hat einen Anfall, er sagt immer nur, daß er noch mehr essen will und dabei haut er immer auf die Töpfe. Zwei hat er schon umgeworfen. Er ist gar nicht zu beruhigen."

"Aber so geben sie ihm doch noch mehr!"

"Aber das tun wir doch die ganze Zeit. Er haut trotzdem wie wild um sich."

In der Ferne hört man Tumult.

"Ja, meine Herren, es tut mir leid, ich muß mal nach dem Rechten sehen. Ich komme gleich wieder."

Beide verschwinden.

Klee setzt sich auf den Stuhl, auf dem vorher der aufsässige Opa Wagner gesessen hat und überlegt sich, was er Frau Wolff fragen kann. Sie sieht ihn nicht an.

Langsam beginnt Klee zu sprechen.

"Frau Wolff, es tut mir leid, daß ich sie noch einmal belästigen muß, aber es ist uns noch einiges unklar. Ihr Sohn ist tot. Er ist verunglückt, als er eine Bombe gelegt hat. Verstehen sie, er wollte jemanden umbrin-gen. Und zwar wollte er Ernst Wyssmann töten. Sie kennen doch Ernst Wyssmann?"

Er macht eine Pause, um zu sehen, wie seine Worte bei Frau Wolff ankommen. Sie zeigt keine Reaktion und hält die Augen geschlossen.

"Frau Wolff, kennen sie Ernst Wyssmann?"

Langsam öffnet Maria Wolff die Augen und sagt dann:

"Ja, ich kenne Ernst Wysmann. Wir sind verlobt. Wir sind schon lange verlobt."

Klee ist verwirrt. Die Frau spinnt. Und ich fahre nach Itzehoe, denkt er verbittert.

"Aber Frau Wolff, Herr Wyssmann war doch schon fast dreißig Jahre nicht mehr hier."

"Wir sind verlobt. Er will mich heiraten. Das hat er gesagt."

Ihre Stimme wird lauter.

"Genau so hat er es gesagt, Mariechen, hat er gesagt, ich komme bald wieder und dann heiraten wir, das hat er gesagt."

"Aber das ist dreißig Jahre her!"

"Er hat es gesagt."

"Und da haben sie all die Jahre gewartet?"

"Und er hat gesagt, das Männlein stört ihn jetzt auch nicht mehr. Das Männlein kann jetzt bei uns bleiben. Das macht nichts. Das macht ihm gar nichts aus. Das hat er gesagt."

"Aber er ist dreißig Jahre lang nicht gekommen."

"Er kommt. Er hat gesagt, sobald er genug Geld verdient, kommt er und holt mich und das Männlein. Es macht ihm gar nichts mehr aus."

Klee merkt, an dieser Stelle kommt er nicht weiter.

"Frau Wolff, was ist mit dem Gas passiert damals? In der Breiten Strasse?"

"Das Gas! Nichts ist passiert mit dem Gas. Gar nichts ist passiert mit dem Gas."

Ihre Stimme wird schneller und leiser.

"Denken sie nach, Frau Wolff, was ist mit dem Gas passiert?"

"Das Gas!" sagt sie.

Ihre Augen richten sich nach innen. Ihre Stimme wird noch leiser, behutsamer, zerbrechlicher.

"Das Gas." flüstert sie noch einmal.

Klee hat das Gefühl im Zimmer wird es auf einmal viel dunkler.

"Da ist es. Da ist der Ofen. Er steht da."

Dabei deutet sie auf den Spülstein. Langsam schlägt sie die Decke von ihrem Bett zu Klees Seite hin weg und richtet ihre Augen auf den Spülstein. Ihre Beine, die in gräulich-braunen Stützstrümpfen stecken, schwingen aus dem Bett. Sie erhebt sich und geht ganz langsam auf das Spülbecken zu. Beide Männer halten den Atem an.

"Männlein," sagt die Frau, "Männlein, es geht nicht anders, ich muß es tun. Er will mich nur haben ohne dich. Du darfst nicht mehr bei mir sein. Weine nicht, es geht ganz schnell vorbei."

Ihre Stimme wird unsagbar traurig, Tränen laufen über ihr Gesicht.

"Männlein, es geht nicht anders, weine doch nicht so. Bitte weine doch nicht so. Bitte, bitte, weine doch nicht so. Es geht doch nicht anders."

Tränen rinnen ihr jetzt in langen Bächen über ihr Gesicht.

Verteilen sich in die Falten hinein.

Klee und Wahrnat sind so sehr von den Gefühlen der Frau überwältigt, daß sie kein Wort herausbekommen. Die Frau auch nicht zurückhalten können. Sie halten immer noch den Atem an. Die Frau hat jetzt den Spülstein erreicht. Am Ausflußrohr des Wasserhahnes ist eine etwa 2O Zentimeter lange rote Gummiverlängerung angebracht, an deren Ende ein ziemlich breites Metall befestigt ist. Damit kann man das Wasser mit einem Umschalter wie aus einer Gießkanne breit gestreut laufen lassen. Mit einem Ruck zieht die Frau den Gießkannenaufsatz vom Gummischlauch. Beide Männer verstehen sofort, die Frau hat in ihrer Phantasie jetzt den Gasschlauch vom Ofen abgezogen. Jetzt dreht sie ganz langsam den Wasser-hahn auf. Langsam läuft das Wasser aus dem mit dem Gummischlauch verlängerten Hahn. Sie nimmt den Schlauch in die Hand und läßt das Ende wild hin und herschlagen, dabei macht sie mit ihrem Mund Töne, die die Männer sofort identifizieren. Es ist das Geräusch, das entsteht, wenn Gas unter hohem Druck einen Gummischlauch zum Tanzen bringt. Es ist ein unheimliches Geräusch.

"Das Gas! Jetzt kommt das Gas. Bitte weine doch nicht, Männlein. Bitte weine doch nicht so sehr!"

Die Frau fleht und blickt dabei in Richtung auf ihr Bett.

Offensichtlich liegt dort Hermann Wolff.

"Bitte, bitte, weine doch nicht so, es geht doch nicht anders. Er will mich nur heiraten ohne Kind. Versteh mich doch. Er will doch nicht, daß du da bist. Ich kann doch nichts dafür. Bitte, ich kann doch nichts dafür!"

Sie ist in die Nähe der Tür getreten, etwa zwei Meter vom Wasserhahn entfernt, so als wäre sie gar nicht mehr im Raum. Langsam holen Klee und Wahrnat wieder Atem. Sie sehen die große Frau, die da sehr klein an der Tür steht. Beinahe nur noch ein Schatten in dem trüben Licht des Zimmers. Der Kopf ist in die Schultern gedrückt.

Alt, krank, traurig und mutlos.

Beide Männer fassen sich wieder. Klee spürt aber genau, daß noch eine ziemliche Spannung in der Luft liegt, irgendwie ist das noch nicht fertig. Es ist so ... beklemmend. Es ist, als ob ein sehr hoher Luftdruck auf dem Zimmer lastet. Klee kriegt auch gar nicht richtig Luft. Er will gerade etwas sagen, da zerreißt ein unglaublicher Schrei die Spannung des Raumes.

"Neeeiiinn !" brüllt die Frau so laut, wie Klee noch niemanden hat schreien hören. Und noch einmal:

"Nein!" schrill und ohrenbetäubend. Dann stürzt die Frau zum Wasserhahn, dreht ihn zu, hastet zum Bett und schreit:

"Männlein !"

Sie packt das Kissen und schlägt mit beiden Händen rechts und links auf der oberen Hälfte herum.

"Männlein! Männlein! Männlein!" mal stammelnd mal schreiend.

"Männlein, du darfst nicht weggehen! Komm wieder! Männlein, komm wieder ! Bitte, komm wieder."

Die beiden ersten Schreie haben die Spannung aus der Luft genommen, Klee kann wieder atmen. In tiefen Zügen atmet er, fast als ginge es um sein Leben. Hätte er auch nur ein Auge für seine Umgebung gehabt, so hätte er gesehen, daß Wahrnat ebenso mit dem Atem gerungen hat und jetzt mit der Frau, ja, fast mit Hermann um sein Leben atmet.

"Männlein, komm doch bitte wieder !" Sie wirft sich auf das Kissen, so als versuche sie mit ihrem ganzen Körper dem Körper des Kindes Leben abzugeben.

Jetzt weint und schluchzt sie nur noch und zwischen den Tränen, dem Schleim und der Speichelflüssigkeit, die in dicken Bächen aus Augen, Nase und Mund quellen, hören die Männer immer wieder:

"Komm doch bitte !"

Erst jetzt bemerken die beiden Polizisten, daß Schwester Tathysia in das Zimmer getreten ist und vor der offenen Tür eine Menge Neugieriger stehen und gaffen. Keiner sagt ein Wort. Schließlich geht Tathysia auf die Frau, die auf dem Bett über dem Kissen liegt, zu, streichelt ihr sanft über den Hinterkopf und den Rücken und sagt mit einer sehr zärtlichen Stimme:

"Ist ja gut, Oma Wolff, ist ja gut."

Langsam verebbt das Schluchzen. Tatysia streichelt weiter.

Beide Männer stehen noch wie angewurzelt. Keiner hat auch nur die Chance einer Idee gehabt, zu verhindern, was sich gerade ereignet hat. Aber irgendwie sind sie jetzt beide sehr erleichtert und befreit. Und als Frau Wolff mit einer sehr klaren Stimme aus dem Kissen die Worte spricht:

"Männlein lebt, er lebt!"

muß Klee fast lachen.

Tathysia sagt:

"Ich hole einen Arzt!"

"Nein", sagt Oma Wolff und richtet sich etwas aus dem Kissen auf,

"Ich brauche keinen Arzt, es geht mir gut. Jetzt, wo ich weiß, daß Männlein lebt, geht es mir gut."

"Aber er ist wirklich tot",

sagt Tathysia, unerbittlich an der Wahrheit festhaltend.

"Ja, aber erst heute,"

Oma Wolff wischt sich mit dem Ärmel ihres Nachthemdes die Flüssigkeiten aus dem Gesicht,

"erst heute ist er gestorben, nicht schon damals."

Klee macht die Tür von innen zu, so daß die Neugierigen nichts mehr zu sehen haben.

"Er wollt Ernst umbringen, nicht wahr?" fragt Frau Wolff,

"und dabei ist er selber gestorben?"

"Ja", sagt Klee.

"Vielleicht wollte er sich rächen, für das, was Ernst mir angetan hat. Er war immer ein guter Junge. Er war wirklich immer ein guter Junge. Er hat mir immer geholfen. Immer!"

"Das klingt so, als wünschten sie sich, daß Herrn Wyssmann etwas passiert", sagt Wahrnat, der damit das erste Mal in das Gespräch eingreift.

"Meine Herren, meine Herren, ich kann es jetzt wirklich nicht mehr zulassen, daß sich Frau Wolff noch einmal aufregt. Sie sehen doch selbst, wie sie das alles mitnimmt."

Tathysia wird jetzt energisch. Wahrnat beißt sich auf die Unterlippe.

"Ja," sagt Klee, "ich bin auch jetzt fertig. Nur eine Frage habe ich noch an Frau Wolff. Sagen sie mir bitte, wann haben sie ihren Sohn Hermann das letzte Mal gesehen?"

"Das war kurz vor dem Krieg. Ein paar Tage vor dem Krieg ist Hermann Soldat geworden. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen."

Wahrnat und Klee stapfen durch den Schnee zurück zur Diensstelle. Es muß geschneit haben während sie im Altersheim waren, denn es sind keine Trampelpfade mehr vorhanden. Es ist eine ganz klare Luft, die Strassenlaternen, die im Abstand von hundert Meern über der Strasse aufgehängt sind, schaukeln leicht hin und her und beide Polizisten spüren die weiße Schönheit des Abends. Klee hat das Gefühl, als ob die kalte Abendluft in seinen Ohren singt. Er fühlt sich nicht mehr müde, auch die beginnende Erkältung ist wie weggeblasen.

"Das Stück, das die Frau da aufgeführt hat, glaubst du, daß das auch in Wahrheit so war. Ich meine früher. Daß die Frau wirklich versucht hat, ihr Kind umzubringen?" fragt Wahrnat nach langem Schweigen.

"Ja, das glaube ich!"

sagt Klee mit Bestimmtheit, und er fährt fort:

"Vielleicht ist es so, daß sie es all die Jahre mit sich herumgetragen hat und heute abend hat sie sich davon befreit."

"Und der Typ hat ihr dafür die Ehe versprochen? Das ist ja Anstiftung zum Mord!"

"Nein," sagt Klee, "das glaube ich nicht. Ich glaube nicht, daß er sie angestiftet hat. Der hat sicher nur gesagt, daß er sie nicht heiraten wird, weil ihm das Kind, noch dazu von einem fremden Mann, zuviel ist. Na und da hat sie es halt loswerden wollen."

"Und weshalb hat Hermann jetzt diesen Mann umbringen wollen?"

"Tja," sagt Klee, "wenn ich das wüßte. Was hat Frau Wolff dazu gesagt, die kennt doch ihren Sohn am besten. Sie hat gesagt, vielleicht wollte er sich rächen für das, was Wyssmann ihr angetan hat."

Klee muß auf einmal auch an des Protokoll Weichmanns von der Vernehmung Falkensteins denken. Hatte Weichmann da nicht hingeschrieben: "Hermann als Beschützer der armen Kreatur".

"Eigentlich hätte er doch viel mehr Grund gehabt, seine Mutter umzubringen, nachdem sie ihn mit Gas umbringen wollte."

"Ja, aber wer versteht schon, was im Kopf eines kleinen Kindes vor sich geht. Der war ja noch zu klein als das alles passierte. Vielleicht hat er es falsch verstanden. Vielleicht aber auch nicht. Denn sieh mal, eigentlich war ja Wyssmann der Grund, warum seine Mutter ihn umbringen wollte. So gesehen hätte es nicht den falschen getroffen."

 

 

38

 

Es ist zwanzig nach sieben. Während Klee und Wahrnat in Itzehoe gerade wieder die Kriminalpolizeistelle betreten, kommt Krammer entlich in der Nesenstrasse an.

Die Leiche ist schon weggebracht, nur die Teile des Gehirns, die sich von der Wucht der Explosion in die Stoffpanele der Wand und in den Teppich gedrückt haben, geben zusammen mit dem Wasser, mit dem sie entfernt werden sollten, als feuchte grünliche Flecken Zeugnis darüber, daß sich hier etwas Tragisches ereignet hat.

Krammer kennt die Farbe und kann sie sehr genau von weggewaschenen Blutflecken unterscheiden.

Weichmann gibt ihm wortlos den geöffneten Brief, den er mehrere Male gelesen.

Der Brief ist mit der Schreibmaschine geschrieben und lautet folgendermaßen:

"Frankfurt am Main, den 12. Januar 1954

Sehr geehrter Herr Kommissar!

Ich habe über unser letztes Gespräch sehr lange nachdenken müssen und es sind mir sehr viele Erinnerungen von damals wieder erschienen. Ich habe sie angelogen als ich ihnen sagte, daß ich Frau Wolff nicht die Ehe versprochen haben. Nein, eigentlich habe ich mich selbst angelogen, oder besser, ich war nach all diesen langen Jahren selbst fest davon überzeugt, daß ich es nicht getan hätte. Ich habe mit dieser Lüge wohl einfach mein Leben besser führen können. Die Wahrheit ist jedoch, daß ich Maria Wolff sehr wohl die Ehe versprochen haben.

Allerdings habe ich das erst getan als ich gemerkt habe, daß Maria mir zuliebe sogar ihr Kind umbringen wollte. Ja, sie hat das versucht, weil sie wohl gedacht hat, ohne Kind würde ich sie eher heiraten. Danach war sie nervlich so heruntergekommen, daß sie, wie ich ihnen gesagt habe, in eine Nervenheilanstalt kam. Ich habe sie dort oft besucht und bei dieser Gelegenheit habe ich ihr auch versprochen, sie zu heiraten, wenn ich etwas mehr Geld verdienen würde.

Heute sehe ich erst das Ausmaß meiner damaligen Handlung. Ich habe nicht nur das Leben von Frau Wolff zerstört, sondern (wenn auch indirekt) den Tod ihres Sohnes auf dem Gewissen. Herrmann Wolff wollte sich ganz gewiß für das, was ich seiner Mutter angetan habe, rächen. Das ist einfach zuviel. Es ist mehr als ich ertragen kann. Auch abgesehen davon, sehe ich meine Kollegen, die sich über mich lustig machen, sehe ich meine Arbeit, die mir nicht die geringste Freude bereitet und sehe, daß ich in meinem Alter weder Freunde habe, noch die Möglichkeit, daß das alles einmal anders werden könnte. Ich habe mich deshalb entschlossen, mein Leben zu beenden.

Ich wollte allerdings keine Lüge mit hinüber nehmen und deshalb schreibe ich ihnen diese Zeilen und auch, da ich sonst niemanden habe, dem ich etwas schreiben könnte.

Leben sie wohl.

Ihr Ernst Wysmann"

 

Krammer muß schlucken. Selbstmörder haben sie jeden Tag. Selbstmörder mit Abschiedsbriefen ebenfalls. Aber ein Selbstmord, bei dem der Abschiedsbrief an ihn persönlich adressiert ist, das ist ihm zu dicht.

Das geht ihm nahe.

"Ich habe es trotzdem geprüft," sagt Weichmann, "der Brief ist auf dieser Maschine hier geschrieben und die Unterschrift stimmt."

Weichmann, der merkt, wie Krammer zumute ist, läßt die Routine heraushängen, weil er sich denkt, daß Krammer dann nicht mehr so betroffen ist.

"Ja, ist gut Olaf," sagt Krammer gedankenverloren.

Ohne nach links oder rechts zu gucken, geht er aus dem Haus, tritt in die klare, kalte Nacht hinaus. Er merkt nicht, daß über ihm ein selten sternklarer Himmel ist. Es funkelt nur so.

Beinahe wäre er vor den Briefkasten an der Ecke Nesenstrasse-Wolfsgangstrasse gelaufen.

Er zögert eine Sekunde, dann biegt er links in die Wolfsgangstrasse ein und geht Richtung Unterlindau.