Hans Blüher:

Die Theorie der Religionen und ihres Untergangs

 

Vorbemerkung zur Druckausgabe.

Die theologische Fakultät der Universität Berlin stellte im vergangenen Jahre eine Preisaufgabe, die folgenden Wortlaut hatte:

"Der von Schopenhauer sogenannte metaphysische
Trieb des menschlichen Geistes soll darauf untersucht
werden, ob er die Grundlage der Religion bildet, oder
selber eine Abwandlung des religiösen Triebes ist."

Diese Themastellung enthält eine auffallende Abweichung von den sonst üblichen. Gewöhnlich bezogen sich die Preisaufgaben auf ein engbegrenztes Spezialgebiet der theologischen Forschung und verlangten eine bis ins Einzelne gehende mit aller wissenschaftlichen Akribie ausgestattete Bearbeitung. So stellte man Fragen über die Akten einer antiochenischen Synode, über den Begriff ?????? in der antiken Welt und der griechischen Bibel, über die Anfänge der dogmatischen Lehre von Maria, über die Art der Frömmigkeit und der Theologie Paul Gerhardts und ähnliche mehr. Hier aber war kein enges Spezialgebiet zur Bearbeitung geboten, sondern: die Religion selber. Noch mehr: es war keine rein theologische Frage, sondern mit dem einen Worte "Schopenhauer" wurde die Philosophie mit an den Tisch geladen. Es ist kein Zweifel: man wollte Gesinnungen prüfen, man wollte Standpunkte sehen und den glänzendsten Standpunkt, den frohlockendsten, krönen. Indessen: das Wort "Preisarbeit" kommt nicht von "preisen" her.

Nun lief der theologischen Fakultät, da sie sich einmal auf philosophisches Glatteis begeben hatte, eine peinliche Unvollkommenheit, ja ein Fehler, unter: sie gab einen Wortlaut, der keinen Sinn ergibt, wenigstens keinen eindeutigen. Dieses Thema "ist kein Thema", sagt man wohl mit einer neckischen Paradoxie. Ich habe in dem kommenden Vorwort an die Fakultät das alles ausführlich klargelegt. – Freilich bin ich überzeugt, daß für den Durchschnitt der Theologen nicht der geringste Zweifel an der Eindeutigkeit der Aufgabe bestehen kann am allerwenigsten an der des Wortes "Religion". Religion klingt in Preußen immer wittenbergisch und eine andere Deutung ist eine Extravaganz. Dieses Wort war offenbar einem ganz bestimmten Horizont angepaßt, etwa dem von Pastorsöhnen oder künftigen Pfarrern, und dort war allerdings kein Zweifel möglich. Jedoch der Weltmann Schopenhauer hat auch eine gewisse belehrende Wirkung und dieser habe ich mich nicht ganz zu entziehen vermocht; ich wurde an der Eindeutigkeit der Aufgabe irre und mußte sie daher für meinen Horizont zurechtbiegen, ihr einen festen Sinn geben. Ganz bin ich damit nicht zu Rande gekommen, sie setzte zu hartnäckigen Widerstand entgegen, aber ich habe doch das Wesentliche geklärt, so daß es mir möglich war, der reizvollen Aufgabe zuleibe zu gehen und ein einheitliches festgefügtes Ganze zu liefern.

Bei dem Horizont will ich noch einen Augenblick stehen bleiben. Der Vertreter einer bestimmten Religion, also ein Geistlicher, Pfarrer, Priester, hat immer den engsten, was den Inhalt des Wortes Religion anbetrifft, der Schöngeist behauptet den weitesten zu haben und kommt zu dieser vermeintlichen Weite dadurch, daß er alle tiefer liegenden Bedürfnisse der Menschheit als Religion bezeichnet, wodurch dann verworrene Ausdrücke wie "wahre Religion", "echte Religion", "Religion in tieferer Bedeutung" zu Kurse kommen. Solche Unternehmungen der schönen Geister stammen meistens daher, daß sie die tiefer liegenden Bedürfnisse der Menschheit nicht recht selbst gefühlt haben, denn sonst würden sie naiver und kürzer reden. Der religiöse Begriffsschwulst, der das Zeitalter der jetzt herrschenden religiösen Verfallsromantik begleitet, ist eine Folge des Zusammenwirkens der engsten und der vermeintlich weitesten Horizonte, d.h. des Priesters und des Schöngeistes. Der echte, strenge, deutliche und wirklich weite Horizont aber ist kritisch und systematisch bedingt; ich habe versucht, ihn einzuhalten und – zu haben.

Die theologische Fakultät hat, wie sich vermuten ließ, meine Arbeit abgelehnt und zwar besonders darum, weil ich mich nicht "ans Thema" gehalten habe. Sie ist also noch immer der überzeugung, daß sie ein eindeutiges Thema gestellt hat und ich glaube nicht, daß ich sie noch vom Gegenteil überzeugen kann. Aber sie hat es doch für gut gehalten, diesen gefährlichen Weg zu verlassen: sie hat die unerledigte Aufgabe nicht wieder aufs Tapet gebracht, was an sich möglich gewesen wäre und früher schon geschehen ist, und hat es vorgezogen, zu den üblichen eng begrenzten Fachthemen zurückzukehren; – die neue Aufgabe für den Königlichen Preis bringt das Problem der Einheitlichkeit des Johannesevangeliums.

Aber die Fakultät stützt die Ablehnung auch noch auf andere Gründe, die dem universellen Charakter der Aufgabe angepaßt, mehr Geschmacksurteile als Kritiken sind. Sie geht auf meine Grundthesen gar nicht ein und bewegt sich ganz in allgemeinen Abweisungen; man verübelt es mir, daß ich über die "großen Mächte der Geschichte" aburteile, wie, als gäbe ich nicht den geringsten Grund dafür an, und – als hätte die Größe einer geschichtlichen Macht damit etwas zu tun, daß sie logisch und sittlich auf dem Holzwege ist, und als bestände für irgend jemanden die Verpflichtung, eine große machtvolle Geschichtswirkung allein deswegen zu respektieren, weil sie groß und machtvoll ist; der Alkohol und die Dummheit sind auch große geschichtliche Mächte. Man wirft mir ferner vor, (– das ist ja nur eine Variante des Vorigen –), es fehle mir das nötige Distanzgefühl den Dingen gegenüber, von denen ich rede, wie, als tränke ich gewissermaßen als inferiorer Geist mit einem summus philosophus eine unerwünschte Bruderschaft. Man sagt, ich verlöre mich nicht selten in den Ton eines bloß raisonnierenden Aufklärers; – "raisonnieren" kommt immer noch von "raison" her, aber es ist freilich bequem, statt zu widerlegen, mich der Verwandtschaft mit bedürftigen Demagogen zu zeihen. Im übrigen sei hier bemerkt, daß der Ton gewisser ethischer Traktate von theologischer und halbtheologischer Seite oft nicht minder geschmacklos und unehrerbietig ist, als der bekannte Freigeisterjargon. Ich kenne den letzteren nur zu gut und bin bewußt aus ihm herausgetreten; es ist meine Sprache, die ich rede, und diese ist ebenfalls mit gutem Bewußtsein aus dem Stile der besten deutschen Prosaiker entlehnt.

Mit alledem will ich der theologischen Fakultät jedoch keineswegs nachsagen, daß sie aus Bedürfnis gehandelt habe; ich stehe in einer rein sachlichen Auseinandersetzung mit ihr, man hat mich unsachlich behandelt, aber nicht unredlich. Ich habe dem Urteil sogar einen Teil des Mutes zu verdanken, der mich zu dem Entschluß brachte, meine Arbeit nicht untergehen zu lassen. Die Fakultät schreibt, sie enthalte "neben allerlei Torheiten auch manches Echte und Eindrucksvolle". Da es nun im Leben einzig und allein auf das Echte und Eindrucksvolle ankommt, so lohnt es sich schon, darum einige Torheiten zu machen; es gibt ja so viele Bücher, auch von Professoren geschriebene, die ohne alle Torheiten sind, in denen alles stimmt, und die doch ohne alles Echte und Eindrucksvolle sind. Der Prüfstein des Menschenwertes aber ist allein dieses, sei es in künstlerischer, denkerischer, technischer oder moralischer Beziehung, und wer sich dazu nicht versteht und darum nicht jedes Opfer bringen will, auch das der Torheit, der suche sich eine Statistenrolle, und mache dort alles "richtig". –

Ich habe der Druckausgabe meiner Preisarbeit den Titel gegeben: "Die Theorie der Religionen und ihres Untergangs". Der Leser wird sehen, wie sich dieser rechtfertigt. Das Thema "und ihres Untergangs" habe ich erweitert; im Original ist es nur angedeutet, da es dort zu weit geführt hätte. Ebenso ist die Partie über Jesus um einiges erweitert, die Sprache habe ich hie und da etwas abgekühlt, nur wenige Zeilen geändert, und im Ganzen ist alles so geblieben, wie es war.

Hans Blüher.

 

Vorwort
an die theologische Fakultät.

 

In den Zeiten der Scholastik und allen übrigen, die ihnen gleichen, stand die Philosophie im Dienste der Religion. Die Offenheit, mit der sie das tat, läßt auf ihr gutes Gewissen schließen, – die Lehre der Kirche, wie sie die besseren Geister begriffen, erschien so selbstverständlich als die höchste Weisheit, als der eigentliche Hafen alles Wissens, daß der Philosophie eine kritische Rolle in diesen letzten Dingen nicht zufallen konnte; sie steuerte fraglos und unbekümmert im Kielwasser der Religion, und man setzte bei ihr dieselben Ziele voraus, wie bei jener. Das ist in der neuen Zeit anders geworden. Die Philosophie hat hie und da eine für die Religion gefährliche Stellung eingenommen; es gibt Philosophen, die sie verneinen, oder deren System unausgesprochen eine Verneinung enthält. Das hat es auch im Altertum gegeben, und die Achtung vor jenen Philosophen-gestalten, die durch das religionsbeherrschte Mittelalter der Geringschätzung und dem Mißverstehen anheimfielen, beginnt zu steigen; es waren "Rettungen" nötig, und die sind gelungen. Man denke nur an Epikur. –

Wenn daher eine theologische Fakultät, die im engsten Zusammenhange mit der Religion steht, es unternimmt, eine Preisaufgabe zu stellen, deren Lösung in die Arbeitsphäre philosophischer Köpfe fällt, Köpfe also, denen schlechterdings Alles, auch die größten und scheinbar bewiesensten Werte, unter ihnen die Religion, auf der Grenzlinie des Zweifels steht, so kann man dahinter nur einen großen Freimut des Denkens vermuten, setzt man voraus, daß eine Arbeit ihres objektiven Gehaltes wegen und nicht aus Gründen eines theologischen Bedürfnisses (falls es noch solche gibt), das ihr Endresultat befriedigt, des Preises für würdig erachtet wird. Doch gehört der Zweifel an dieser Gesinnung nicht zu den philosophischen Ordensregeln, bleibt vielmehr der üblichen Klugheit überlassen, wo er denn auch bleiben mag. –

Arthur Schopenhauers "Welt als Wille und Vorstellung" und der dazu gehörige Komplex der übrigen, Schriften ist zum Thema gesetzt, um daran das Problem der Religionen zu messen. So kann der Sinn der Preisaufgabe ausgedrückt werden, wobei jedoch zu bemerken ist, daß in dieser Zusammenfassung eine gewisse, allerdings, wie ich gleich zeigen werde, notwendige Eigenmächtigkeit liegt. Der Wortlaut der Aufgabe ist nämlich mehrdeutig; in ihm liegen verschiedene Arten möglicher Lösungen als gewünscht verborgen, und auf diese muß ich vorher aufmerksam machen.

Da sind es schon die ersten Worte "Der von Schopenhauer sogenannte metaphysische Trieb", die eine entschiedene Unklarheit enthalten. Sie stehen in gleichem Druck ohne Unterschied nebeneinander, so daß man in Zweifel sein kann, welche Stärke der Betonung die Worte "von Schopenhauer sogenannte" haben sollen. Ist hier eine SchopenhauerStudie gemeint, und soll der metaphysische Trieb des menschlichen Geistes nur soweit in seinem Zusammenhang mit der Grundlage der Religion untersucht werden, als er von Schopenhauer behandelt worden ist und in der Art, wie er ihn erlebte und auffaßte, – wobei man sich also die Worte "von Schopenhauer sogenannte" unterstrichen denken müßte, – oder sollen diese Worte nur schwach betont sein, – also in Klammern gesetzt, – und etwa bedeuten, daß Schopenhauer in der Geschichte der Philosophie dem metaphysischen Triebe den inhaltsvollsten Ausdruck gegeben hat und dieser daher gewissermaßen nach ihm benannt wird, nach welcher Deutung dann der metaphysische Trieb allgemeiner behandelt werden müßte. Beide Auffassungen sind möglich, und man könnte aus ihnen zwei sehr verschiedene Abhandlungen schreiben. Ein zweites und sehr schwerwiegendes Dubium bildet das Wort "Religion". Liegt in ihm ein heimlicher singularis singularitatis und ist das Christentum gemeint als die selbstverständliche Religion, die Religion par excellence, oder bleibt es dem Verfasser überlassen, sich etwa irgend eine andere auszusuchen, vielleicht die, welche er selbst bekennt? Bei der heute allgemein anerkannten Religionsfreiheit, wäre es nicht vermessen, einen solchen Liberalismus zu beanspruchen. Oder sollen die verschiedenen Religionen überhaupt nach ihrem Zusammenhang mit dem von Schopenhauer sogenannten metaphysischen Triebe untersucht werden der Reihe nach und ohne Ansehen der Person ? Ferner könnte man an einen "Inbegriff der Religion" denken, zu dem die historischen in einem Verhältnis stünden, wie die zwei Ringe Nathans des Weisen zu dem echten. Bei dieser Deutung ergibt sich dann das neue Bedenken: ist eine Beantwortung der Frage auf rein historischem Boden ohne Überschreitung des auf ihm erwachsenen Erfahrungsmaterials gewünscht, d.h. sollen die in der Geschichte vorliegenden Religionen entsprechend dem Tatbestande, den sie bieten, behandelt werden, oder soll die Verknüpfung des religiösen Phänomenes im menschlichen Geistesleben als Ganzes (rein psychologisch) mit dem metaphysischen Triebe dargestellt werden? Allen diesen Fragen, die beim genaueren Durchdenken des Themas immer eindringlicher hervortreten, die das Ganze fortwährend in ein anderes Licht rücken und die den Wunsch nach Klarheit, den jeder Verfasser hegt, immer verzweifelter erscheinen lassen, allen diesen Fragen steht im Texte nichts gegenüber, als das einzige viel und wenig sagende Wort "Religion". Die Preisaufgabe ist im höchsten Grade dunkel gestellt, (wobei ich die Schwierigkeiten, welche ihr zweiter Teil "oder selbst eine Abwandlung des religiösen Triebes ist" bietet, vorläufig unerörtert lasse) und könnte einen ebenso dunklen Kopf zur Resignation bringen.

Da blieb nichts anderes übrig, als der eigene Entschluß. Wie dieser ausgefallen ist, kann nur die Arbeit selber zeigen. Ich habe versucht, allem, was etwa in der Aufgabe mitgedacht werden könnte, gerecht zu werden, – soweit diese Gedanken mir natürlich als wertvoll erschienen, – aber ich mußte das Ganze auch in ein bestimmtes einheitliches Licht bringen, um ihm einen Charakter zu geben, denn sonst hätte ich nichts darüber schreiben können. Hinzu kam dann noch ein anderes Bedenken, ein formales. Man muß sich bei einer Preisarbeit entschieden davor hüten, aus Versehen ein Buch zu schreiben und dadurch den Typus dieser eigentümlichen Literaturgattung, die immer ein gewisses "ad hoc" an sich hat, zu vernichten. Eine Novelle ist kein kurzer Roman, und ein kleiner Aufsatz kein großer Aphorismus, und wer das eine schreibt, wenn das andere verlangt wird, beweist, daß er das andere nicht schreiben kann. Das vorliegende Thema der theologischen Fakultät macht diese Selbstbeschränkung, dieses immer wieder von Neuem sich Bewußtmachen der literarischen Gattung besonders schwer; es weist ins Allerweiteste und man könnte hier sehr treffend den parodierten Satz des Lateiners anwenden: "Difficile est librum non scribere."

 

–––––

 

 

Erstes Kapitel

 

Das Phänomen des Religiösen

 

Ein metaphysisches System ist eine Lehre von der Bedeutung der Welt. – Um von einem Gegenstande das zu verstehen, was wir seine Bedeutung nennen, ist es nötig, ihn in eine Beziehung zu etwas zu bringen, was von ihm verschieden ist; es bedarf eines Verhältnisses, um dem Worte "Bedeutung", "Wert", einen Inhalt zu verleihen. Redet man von der Bedeutung eines Menschen, so denkt man sich stets einen zweiten Begriff hinzu, an dem man den ersten mißt; etwa das Urteil: "dieser Mensch ist ein großer Künstler", setzt den Begriff der Kunst voraus, der einen bekannten Inhalt hat; weiß der Urteilende aber nicht, was Kunst ist, so hat sein Urteil auch keinen Sinn. Sagt man: "er ist ein guter Mensch", so tritt der Begriff des Sittlichen hinzu, und auch, wenn man nur sagt: "er ist ein Schuhmacher", so wird die Bedeutung dieses Menschen durch sein Verhältnis zum allgemein bekannten Schuhmacherhandwerk erläutert, ganz abgesehen davon natürlich, ob in all diesen Werturteilen irgend eine völlige Erschöpfung liege. Und so geht es fort: von jedem einzelnen Dinge kann ein Urteil über dessen Wert oder Unwert durch sein Verhältnis zu einem andern gefällt werden. Denkt man sich nun die Totalität aller Dinge, also nicht mehr ein einzelnes, sondern die Gesamtheit aller mit ihren Zusammenhängen, und versucht deren Bedeutung zu verstehen, so ist das Aufstellen eines Verhältnisses nicht mehr möglich. Die Welt gibt alle Fragen nach ihrem Wert wie ein Echo sinnlos zurück; man kann in sie hineinrufen, was man will, die Antwort bleibt eine Frage und muß es bleiben, denn die allererste und notwendige Vorbedingung zu einem Werturteil, das Verhältnis, fehlt: es gibt zunächst nichts außer der Welt, was ein Urteil über ihre Bedeutung rechtfertigen konnte. Und doch ist die Frage eine der lautesten. Triebartig versucht der menschliche Geist, trotzdem zu einem solchen Urteil zu kommen; er setzt ein zweites Objekt außer der Welt, um die Welt oder, subsektiv geredet, sein Leben zu begreifen, ein MetaObjekt, eine Meta–Natur, eine Metaphysik; denn nur so ist der Lösung überhaupt nahe zu kommen. Nicht die Dinge können sie geben, denn sie sind ja nur Teile der Totalität, sondern das Wesen der Dinge, etwas, das nicht Ding ist, aber jedem zu Grunde liegt, das die Dinge hervorbringt vielleicht, oder nur deren andere bisher unerkannte Seite ist. Gibt es ein solches "Wesen der Welt", so ist die erste Forderung für ein Urteil über ihre Bedeutung erfüllt, das eigene Leben, ebenfalls in seiner Totalität gefaßt und nicht an flüchtigen Augenblicken gemessen, bekommt seinen unumstößlichen Sinn, den kein Schicksal ihm rauben kann, und alles Weitere findet sich.

So stellt sich das Bedürfnis nach Metaphysik gedanklich dar. – Aber ganz entsprechend der Art des Objektes, das zu erkennen, zu deuten und zu bewerten der Intellekt auf dem Wege des sonstigen Erkennens der Dinge sich anschickt, wird bei diesem Versuch auch leicht ein Einfluß auf das, was die Welt durchschauen will, also auf das erkennende Subjekt ausgeübt. Der Prozeß des eigentlichen Denkens, des logischen, wird plötzlich abgebrochen, das Suchen, Analogisieren, das ewige Hin und Her des Verstandes hört auf, und es tritt ein ganz andersartiger Zustand des Empfangens ein: das Ergriffensein von der Tatsache Welt. Schopenhauer sagt: "Den Menschen ausgenommen, wundert sich kein Wesen über sein eigenes Dasein. Das ist das Religiöse. Das Objekt sowohl als das Subjekt verliert seine strenge Begrenztheit. "Welt" und "Ich" scheinen aufzuhören, und der Rest heißt "Dasein". Dieses Erlebnis, wird es zum Enderfolge eines vorangegangenen vergeblichen Suchens nach dem Sinne der Welt, gleicht dem eines Arztes, der den frischen Leichnam eines Menschen seziert und Stück für Stück betrachtend sein Wissen vermehrt, dann aber, für einen Augenblick zurücktretend den toten Körper als ganzen sehend von ihm ergriffen stille steht.

Wenn man einen Unterschied zwischen dem metaphysischen Triebe und dem religiösen machen will, – und der Wortlaut der Preisaufgabe scheint das zu fordern, – so ist es eben der, welcher in dieser Darstellung ausgedrückt ist; beides gehört eng zusammen und steht nicht etwa im Verhältnis wie Frage und Antwort; denn das Religiöse ist keine Antwort, sondern nur eine noch verwundertere Frage. Der metaphysische Trieb liegt hart an der Grenze schärfster Gedanken, bekommt durch das Eintreten des religiösen Phänomenes den Ton des Lyrischen, ist aber der Art und der Richtung nach dasselbe.

Was dieses Ereignis im menschlichen Intellekte so eindrucksvoll und fast erschütternd macht, ist weniger die Wichtigkeit der Frage, die ihm stets zu Grunde liegt, auch nicht die Schönheit, mit der der menschliche Geist sie zu beantworten versucht, sondern vielmehr der Angriff auf dessen Grundfunktion, die er jedesmal, wenn er vom Religiösen erfaßt wird, über sich ergehen lassen muß; dieser Angriff besteht in einem Rütteln an der Zeit und Raumvorstellung. – Wenn ein einzelner Gegenstand uns schön erscheint, und wir geraten darüber in jenen ästhetischen Zustand des Glückes, der das wahre künstlerische Genießen ausmacht, so ist es nur die sonderbare, sonst so ganz unerlaubte Art, wie dieser Gegenstand auf einmal vor uns dasteht, so losgelöst von seinen gewohnten Bezüglichkeiten, in deren Entwirrung der Verstand sich sonst mühevoll vertiefte, so an sich, durch seine "Idee" verklärt... diese sonderbare Art ist es, die uns an ihm so sehr begeistert, aber wir sehen ihn vor uns ausgedehnt und andauernd; hier jedoch, bei diesem gewaltigen Objekte Welt geschieht weit mehr: das, was am selbstverständlichsten mit den anschaulichen Dingen um uns her verknüpft ist, wodurch wir diese überhaupt erst als Dinge sehen, die Zeit und der Raum, scheinen auf einmal aus den Fugen zu gehen, und mit ihnen wir selbst. Das Religiöse schlägt so mächtig in das Gemüt des Menschen ein, rüttelt so gewaltig an den Grundfesten seines vernünftigen Wesens, daß dieser seine Persönlichkeit vergißt; er bekommt den Blick des Unendlichen und das Gefühl der Einheit mit ihm. An die Stelle der dauernd verrinnenden Zeit scheint etwas nicht Verrinnbares, aber auch nicht Dauerndes zu treten und das Hier und Dort des Raumes verliert seine Wirkung, – ein "ewiger Augenblick", sagt die Mystikerin Guyon. –

Es ist, als ob der Kosmos sich rächen wolle für das vermessene Unterfangen des Intellektes, ihn zu begreifen; so wird auch nach einer griechischen Sage mit Blindheit bestraft, wer Zeus mit Augen gesehen hat.

Es sei aber darauf hingewiesen, daß ein gleichzeitiges Aufhören der Zeit und Raumvorstellung nie stattfindet. sondern je nachdem der einzelne religiöse Mensch eine stärkere Veranlagung dazu besitzt, verliert er das eine oder das andere, und es gehört zu den verstecktesten Fragen des menschlichen Seelenlebens, den Zusammenhang zu deuten, der zwischen jenem Verlorengehen des Raumes oder der Zeit und den übrigen Eigenschaften des Einzelnen besteht. Der Intellekt hält Zeit und Raum verschieden stark fest, manche verlieren nie etwas davon und darum stehen sie auch so starkknochig auf der wohlbegründeten Erde und das Dasein erscheint ihnen nie anders, als selbstverständlich; es sind die eigentlich unreligiösen Menschen; anderen wieder erscheint das ganze Leben nur als ein Traum, weil eben ihr Intellekt fast andauernd in dem Zustande ist, die Zeit oder Raumvorstellung zu verlieren. Das Verlorengehen beider gleichzeitig würde mit dem Aufhören des Bewußtseins zusammenfallen wobei dann natürlich von einem religiösen Erleben nicht mehr die Rede sein kann. Freilich haben die Brahmanen, deren Religionssysteme sich auf diesem Gefühl der Einheit aufbauen, auch dieses letzte Ziel noch mit aufgenommen, in dem sie die eigentliche Vollendung erblicken, doch das ist dogmatisch und wird weiter unten seine Erörterung finden.

Es ist bei alle dem keineswegs gesagt, daß dieser religiöse Zustand auf einen vorangegangenen Denkprozeß folgen muß, der sich auf die metaphysische Begründung der Welt richtete, sondern er kann das Gemüt völlig spontan überfallen, und nun umgekehrt die metaphysische Spekulation als ein Epilog und Kommentar des Religiösen hinterher, nachdem das Feld des Empirischen wieder mit Sicherheit gewonnen ist, eintreten. Große Weltblicke treten oft und wohl meistens aus Anlaß äußerer Erlebnisse und Anblicke ein, die nicht selten unwichtig und klein sind. Jakob Böhme fiel sein ganzes System beim Anblick eines zinnernen Gefäßes ein, und Platon meint, es gäbe keine platonische Philosophie, wenn es in Athen nicht so viele schöne Jünglinge gäbe. Von dem Anschauen einzelner Dinge und von dem durch sie hervorgehobenen Zustand des Schönen steigt der menschliche Geist gar leicht bis zum Religiösen empor, und man kann dieses dann sehr wohl als "Frömmigkeit" bezeichnen, wenn man sich nur von der üblichen Auslegung dieses Wortes freimacht, die es in den Bannkreis einer bestimmten dogmatischen Religion zieht und es mit Gläubigkeit identifiziert und wenn man ein Frommsein ohne allen Glauben anerkennen will. Es gleicht diese Frömmigkeit einem Liebeslied, das ursprünglich auf ein einzelnes Wesen gedichtet war und dieses verherrlichte, dann aber im Munde der Völker der Ausdruck der Liebe in Tönen wird, die Feier eines objektlosen selbstherrlichen Liebesgefühles, wobei dann für die feineren Geister auch der Grundsinn des Erotischen verloren gehen kann. Solche Zustände der Frömmigkeit finden sich oft in den entlegensten Gebieten des Geisteslebens, gerade da, wo von einem Zusammenhang mit einer bestimmten Religion keine Spur zu finden ist, und nur durch die allgemeine Kurzsichtigkeit und Horizontverengung, die durch die Herrschsucht privilegierter Spezialfälle dem freien Leben des religiösen Gemütes gegenüber eingerissen ist, wird das beste dieser Art übersehen oder nicht erkannt. So war vor einigen Jahren in einer deutschen Zeitschrift ein Gedicht ohne Nennung des Verfassers abgedruckt, das den Titel führte: "Die zeitlose Stunde "; es lautete folgendermaßen:

 

"Bist du schon einmal des Nachts gewandert

An Wäldern und schlafenden Hütten vorbei;

Weites Brachfeld rechts, auf runzlichem Weg,

Der sich zu fürchten scheint

Und sich krümmt,

Des nachts zwischen Eins und Zwei .... ?

 

Mir hat diese Stunde ihr Wörtchen gesagt,

Und es schien, sie schluchzte dazu;

Ich habe kaum zu atmen gewagt –

Alles stille, unheimliche Ruh.

 

Sie flüsterte schauerlich: Höre mich nur,

Fremdling! Was eilst du so weit . . .!

Ich bin die verlassene Stunde; hör zu:

Jetzt gibt es keine Zeit!

 

Ich schaute zwecklos zum Himmel empor

In das blauschwarze Nichts dort oben: –

Das Leben ein weit geöffnetes Tor

Und die Welt aus den Angeln gehoben.

 

Und wirklich: das Leben lag zeitlos da;

Ich erbebte in tiefstem Gebein. –

Das war das Geheimnis der lieblosen Nacht;

Man erlebt es im Walde, allein.

 

Doch geh weiter und höre nicht allzu lang,

Was diese Stunde spricht,

Sonst wird dirs für immer im Herzen bang,

Und du vergißt sie nicht.

 

Geh weiter harten Schritts, gemach,

Laß der Stunde ihr Leid. –

Bald pfeift der Star sein Weibchen wach,

Und sie ist da, die geliebte Zeit!"

 

Das ist auch Frömmigkeit, wenn ihr auch etwas fehlt, was sonst immer in ihr zu wohnen pflegt: das Innige. Aber das Prinzip ist dasselbe geblieben, die Zeitvorstellung ist gelockert; der Schluß bildet den Rückfall in die gewöhnliche Erfahrung, die dem Dichter freundlicher erscheint, als jenes unheimliche Verlorengehn ins All:

 

"Bald pfeift der Star sein Weibchen wach,

Und sie ist da, die geliebte Zeit!"

Das ganze Stück erinnert stark an eine selten gekannte Notiz Friedrich Nietzsches aus der Zeit der "fröhlichen Wissenschaft", die abgedruckt ist im Nachlaßbande XII unter Nummer 501; sie lautet : "Es gibt einen Teil der Nacht, von welchem ein Einsiedler sagen wird: "Horch ! jetzt hört die Zeit auf !" Bei allen Nachtwachen, insbesondere, wenn man sich auf ungewöhnlichen nächtlichen Fahrten und Wanderungen befindet, hat man in Bezug auf diesen Teil der Nacht die Stunden von Eins bis Drei ! ein wunderliches, erstauntes Gefühl, eine Art von "viel zu kurz !" oder "viel zu lang!", kurz den Eindruck einer Zeit–Anomalie. Sollten wir es in jenen Stunden, als ausnahmsweise Wachende, abzubüßen haben, daß wir für gewöhnlich um jene Zeit uns in dem Zeit–Chaos der Traumwelt befinden? Genug, Nachts von Eins bis Drei haben wir "keine Uhr im Kopfe." .... Man darf nicht daran Anstoß nehmen, daß diese Worte hier so kühl und beobachtend klingen ohne alle Bezüglichkeit auf das Erleben des Weltganzen; solche Attacken, auf die Zeitempfindung bleiben trotz alledem typisch für den religiösen Zustand, ganz gleichgültig, ob es im einzelnen Falle dazu kommt oder nicht, und es steht außer Zweifel, daß solche Ereignisse im Geistesleben zu allen Zeiten alle Völker ins Innerste erschüttert haben. Die meisten Menschen erleben sie hin und wieder, gehen an ihnen vorbei, andere können sie nicht vergessen, sie werden entscheidend für ihr ganzes Leben: das sind die großen religiösen Charaktere, denen das Wunder Dasein immer wieder zu schaffen macht, und unter ihnen besonders hervorragend die Religionsgründer. Das affektartige Erleben des Weltganzen brachte sie zu einer besonders ausdrucksvollen Art, dieses wichtige, auch sonst viel durchlebte Phänomen, anderen, die ungenialer waren, mitzuteilen. Sie treffen mit einer originellen Auslegung eine gerade vorhandene Zeitstimmung, befriedigen eine bestimmte Sehnsucht; sie halten das Erlebte für eine Erkenntnis, eine Erleuchtung, und es ist noch nie schwer gefallen, Gläubige zu finden, die davon zu überzeugen waren, daß es sich hier um eine wichtige Offenbarung handele.

Aber freilich: das Religiöse ist niemals Erkenntnis von Etwas. Es ist Erleben derselben empirischen Außenwelt durch ein über sie hinausstrebendes Temperament. Es steht in gar keinem Verhältnis zur Wissenschaft. Diese kann ihm weder etwas anhaben, noch kann es seinerseits das Wissen von den Dingen der Erfahrungswelt beeinflussen. Es gibt nur den religiösen Genies die Möglichkeit, so wie ein Dichter die reale Welt verklärt, von ihrer Bedeutung in tiefster Weise zu reden. –

Wenn wir für dieses religiöse Phänomen des menschlichen Geistes, wie ich es soeben darzustellen versucht habe, ein möglichst adäquates Abbild unter den Religionen finden wollen, so bietet sich als erste die brahmanische dar. Ihr ist es am besten gelungen, diese Grundlage der religiösen Gemütsart in einem System zu verwerten und die gesamte Dogmatik darauf zu erbauen. Die brahmanischen Inder lehren in dem Schriftenkomplex des Veda, die Einheit des âtman mit dem Brahman. Atman ist das subjektive Prinzip, das Selbst, die Seele des Einzelnen, kurz das, was am Menschen geistig empfängt. Dieses Ich soll sich von der Reflexion, dem Nachdenken über die Zusammenhänge der empirischen Welt durch innere Beschaulichkeit (Meditation) zu der einzig wahren Wissenschaft erheben, welche in der Einsicht besteht, daß alle Dinge der Welt nur ein Ausdruck des brahman sind, des objektiven Prinzips, daß ihre Vielheit Irrtum ist, ihre Relationen zueinander Wahn, und daß brahman, als das Wesen der Dinge, nur allein existiert, daß auch das beschauende âtman, das Selbst, nichts anderes ist, als brahman. Ist diese Erkenntnis erreicht, so hat die empirische Außenwelt, das samsara, für den Brahmanwisser keine Bedeutung mehr. Auch seine Taten haben keinen Wert, weder die guten, noch die bösen; er ist erlöst vom Strudel des irdischen Seins und ein Heiliger geworden. – Auch das natürlich ist eine Lehre von der Bedeutung der Welt, wenn man von ihr sagt, sie habe keine Bedeutung, und dabei an etwas anderes, mit ihr Zusammenhängendes, denkt.

Es wird sofort klar, daß das Alles nichts anderes ist, als die genaue Systematisierung des religiösen Erlebnisses; eine besondere und sehr naheliegende Auslegung im Sinne eines Dogmas. In der Religion des Veda wird es zu einem tatsächlich stattfindenden Zusamrnenschluß zweier existierender, ein eignes Sein habender Faktoren, des brahrnan und des Noch–nichtbrahman, genannt âtman. Brahman ist ein Wirkliches, zu dem der Fromme "eingeht". Nie würde es einem freien Geiste einfallen zu sagen, er habe in jenem Erleben des All ein neues wirklich bestehendes Objekt erschlossen oder sich ihm genähert und sich mit ihm für Sekunden vereinigt; anders der gläubige Schüler der Veden: ihm ist brahman eine Realität, ja die Realität, die nur durch das Blendwerk der empirischen Außenwelt, den Schleier der Maya, verdeckt wird. Brahman ist in jeder Beziehung etwas anderes als samsara. Und daher preist es der Veda vor allen Dingen dadurch, daß er ihm alle Prädikate, die der gewöhnlichen Welt in jedem ihrer Teile unausbleiblich angehören, abspricht; so heißt es in der Bridaranyaka–Upanishad: "Es ist nicht grob und nicht fein, nicht kurz und nicht lang, nicht rot (wie Feuer) und nicht anhaftend (wie Wasser), nicht schattig und nicht finster, nicht Wind und nicht Aether, nicht anklebend (wie Lack), ohne Geschmack, ohne Geruch, ohne Augen und ohne Ohren, ohne Fede, ohne Verstand, ohne Lebenskraft und ohne Odem, ohne Mündung und ohne Maß, ohne Inneres und ohne äußeres; nicht verzehrt es irgend etwas, nicht wird es verzehrt von irgendwem." (Nach Deussen: Das System des Vedanta S. 143.) Solche wahren Hymnen der Negation finden sich in den Upanishads der Veden häufig, und das zeugt von der Feinheit des religiösen Gemütes bei den Indern, denn eben darin besteht ja die Größe und die Wucht dieses Erlebnisses, daß der Fromme, soweit es irgend geht, die Erinnerung an die Verhältnisse der dinglichen Außenwelt vergißt, aber doch dabei wachend bleibt. Der oft unwichtige und kleinliche Ausdruck den die Sprache der Inder fand, wie z. B. "nicht anklebend" usw., ist hier kein Nachteil, denn es handelt sich im letzten Ende und auf der Höhe der Veda: Religion nie um eine Verehrung eines göttlichen Wesens, die man in prunkenden Worten bewährt, – das Verehren des brahman wurde ausdrücklich in das Gebiet des Exoterischen, der "niederen Wissenschaft" gewiesen — sondern es soll durch diese Negationen nur die Absonderung von der Außenwelt bewirkt werden und dadurch die Vertiefung des religiösen Erlebens selber. Das brahman der Niederen, der Unweisen und Toren ist ein atributhaftes, ein Gott, auf den jene Negationen nicht in vollem Umfange angewandt werden; der Theismus wird von den Brahmanen als Niedrigkeit empfunden, und auch darin stimmt diese Religion mit dem freien religiösen Gefühl völlig überein, das ebenfalls von einem Gott nichts weiß und das eine Anspielung dieses Motives auf die Dauer nicht ohne Schaden verträgt.

Aber wie weit auch das Pathos der Negationen im vedischen Systeme gehen mag, ein Atribut hat brahman doch: das Sein. Darum eben ist der Brahmanismus ja auch eine positive Religion. Doch stellt man sich auf eine Stufe mit den gebildeten Brahmanen, die die Worte des Veda in ihrer Weise auslegen, so merkt man, daß es mit der Existenz des brahman seine eigene Bewandnis hat. Diese nämlich ist ganz und gar von der verschieden, welche dem christlichen Gotte, selbst in seiner feinsten pantheistischen Färbung, zukommt. Nach der Lehre des Veda wird das âtman bei allen Menschen vorübergehend zu brahman, nämlich – im Tiefschlaf. Das ist verräterisch für die Art, wie die vedischen Menschen im heimlichsten Grunde ihres Herzens vom Sein des brahman dachten! Denn das, was die Seele im traumlosen Tiefschlafe erlebt, ist das vollendete Nichts und als Erfahrung in keiner Weise von dem unterschieden, was ein Toter erfährt. Der einzelne Mensch also erlebt brahman und wird brahman, wenn er – nichts erlebt. Was hier als "Sein" des brahman zu denken ist, kann man kaum noch verstehen, besonders, wenn es immer wieder heißt: brahman ist Alles. . ! Und so ist es denn nicht unmöglich, daß die Tiefsten unter diesen vedischen Menschen die dogmatische Überlieferung längst hinter sich fühlten und religiös waren aus freiem Drange gemäß dem Charakter ihrer Rasse, Atheisten, die Welt weder hassend noch liebend, ungläubig an die Seelenwanderung, melancholisch und zufrieden. –

Das Christentum kommt in der Mystik dem Brahmanismus am nächsten. Die Mystik ist das augenschließende Versenken in sich selbst, das Fortlenken der Vernunft von den Außendingen; in der Meditation soll Gott begriffen werden. Gelingt das, so geschieht die große Umwandlung des Gemütes. Schopenhauer erwähnt, daß eine Schülerin Meister Eckhards, nachdem sie eben jene Umwandlung in sich erfahren, ihn besuchte und ihm jubelnd entgegenrief: "Herr freuet euch mit mir, ich bin Gott geworden!" – Es gibt auch im Christentum verräterische Ereignisse; denn dieses Gottwerden ist nichts anderes, als das Brahmanwerden des âtman, das Gefühl der Einheit mit dem All, das Jeder unabhängig von einer bestimmten Religion an sich erfahren kann. Eine entsprechende Deutung haben die Verse des Angelus Silesius zu erhalten, die Schopenhauer gleichfalls zitiert, und welche lauten:

Ich weiß, daß ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben:

Werd ich zunicht, er muß vor Not den Geist aufgeben.

Nach der mystischen Auffassung lebt Gott in uns und kann nur durch echte Meditation unser Eigentum werden, aber jene verwegenen Verse des Angelus Silesius verraten auch, wie dicht tiefste Frömmigkeit und Atheismus beieinander liegen; denn atheistischer, als in diesen Versen, kann man nicht gut sein.

In der Richtung des reinen religiösen Gefühles kann man daher die Mystik als den Höhepunkt des Christentums bezeichnen; aber es konnte auf ihm nicht verweilen, mußte sich diese Blüte selbst wieder abbrechen, da die überlieferte Gottesvorstellung dem Geiste der Mystik widersprach. Das Christentum kann sich im Grunde nicht einmal den Pantheismus gestatten, geschweige denn jene gefährliche Position, die der religiöse Trieb in der Mystik einnimmt. Das liegt viel weniger an der Schöpferrolle Gottes, die im vergangenen Jahrhundert so leidenschaftliche, für spätere Zeiten aber nur lächerliche Diskussionen hervorgerufen hat, desgleichen nicht an seiner Allgüte und Allweisheit, sondern vielmehr daran, daß Gott im Christentum der Ausdruck des Moralismus ist, der bei dieser Religion nicht entbehrt werden kann. Die reine Frömmigkeit hat aber mit Moral ganz und gar nichts zu tun; in ihr versinkt das Müssen der Dinge sowohl als das Sollen der menschlichen Handlungen und wenn etwas übrig bleibt von logischer Gesetzlichkeit, so ist es das letzte ausklingende Dürfen der Dinge, das Schöne, worüber noch später berichtet werden wird. Dadurch aber, daß das Christentum immer wieder den moralischen Stachel in das fromme Gemüt bohrt, fälscht es seine Ruhe und Erhabenheit. Aber diese Wendung ins Moralische haftet ihm nun einmal an und davon zurückzutreten, hieße, diese Religion auflösen. Sie beibehalten heißt, den Weg zu dieser Art Frömmigkeit versperren, denn all die Dogmen: der persönliche Gott, die Erlöser– und Mittlerrolle Christi, das Vertrauen auf seine unsterbliche Person, all diese Dogmen, die im Dienste des Moralismus stehen, sind ein Ballast, den die fromm sich erhebende Seele nicht mitschleppen kann, es sind Erinnerungen an die Erfahrungswelt, die hemmend wirken. Ganz "fromm", ganz dem All ergeben, kann der Christ nie sein, er "glaubt" immer. Welche inneren und äußeren Schwierigkeiten der reinen Mystik durch das Christentum bereitet werden, zeigt das Leben der weisen Madame Guyon, dieser einzigen Frau, zu der Schopenhauer ein geistiges Verhältnis gehabt hat.

Die tiefe und innige Verwandtschaft, die Schopenhauer mit dem Geiste der Inder empfand, ist durch seine Lehre gerechtfertigt. Was bei jenen das Wissen vom Brahmansein der Seele ist, heißt bei ihm die Einheit des Wollens und wird eingeleitet durch das Irrewerden am principium individuationis; die Welt der Erscheinungen, das Trug und Traumbild Schopenhauers, ist das samsara der Inder, brahman der Wille. Formell stimmt also alles; dieselben Vorgänge im religiösen Erleben spielen sich hier wie dort in gleicher Weise ab. Das Durchschauen des Truges der Welt und der Ausbreitung, das Verlangen, unter der Unendlichkeit der Erscheinungen das Wesen der Dinge zu begreifen, und schließlich das Erkemen dieses "Hen kai Pan" mit ihm die Antwort auf die Frage nach der Bedeutung der Welt: sie ist wertlos. Der metaphysische Trieb Schopenhauers, der an dieser Antwort und den Wegen zu ihr die Schuld trägt, ist auch die Grundlage des religiösen Systemes der Inder, wie er es für die christlichen Mystiker ist, soweit diese den Brahmanen gleichen.

Doch darf man über der Betonung der rein formellen Gleichheit nicht die Verschiedenheit im Erleben des Weltphänomenes selber und mit ihm seiner religiösen Verklärung vergessen. Schopenhauers "Wille" als metaphysisches Prinzip ist etwas unmittelbar zu Fühlendes im Gegensatz zu dem abstrackten brahman. Dieser Wille will doch immer noch, brahman aber besitzt unter seinen leuchtenden Negationen auch die, daß es nicht will, "ohne Lebenskraft" hieß es in der oben erwähnten Upanishadstelle. Und wenn es zu Beginn der Aitareya–Upanishad heißt:

Zu Anfang war die Welt allein âtman; (also brahman) es war nichts andres da, die Augen aufzuschlagen.

Er erwog: "Ich will Welten schaffen!" so ist dieses "will" doch keineswegs im Sinne des Willen zum Leben aufzufassen, wie ihn Schopenhauer versteht, sodaß âtman seinem innersten Wesen nach wollend ist, mit ihm also auch brahman, sondern es handelt sich hier nur um eine exoterische Darstellung, die das Bestehen der Welt nun einmal nicht anders ausdrücken kann, aber es wird nicht der geringste Wert darauf gelegt, daß bei dem großen Weltprozesse etwas gewollt wird. Die Brahmanen gingen in ihrem religiösen Leben im geraden Wege auf die Einheit zu, die ihnen das Wesentliche war, Schopenhauer fühlte zuerst den Willen und dann die Einheit alles Wollens. Darin liegt der Unterschied und hinter ihm liegt eine verschiedene Art Schmerzlichkeit der Welt gegenüber. –

–––

Zum Schlusse dieses Kapitels sei noch auf die bekannte und viel ausgesprochene Meinung eingegangen, daß "alle Menschen Religion haben" und die Grundlagen dieses Religionhabens seien in Kürze kritisiert. – Es ist zunächst entschieden unwahr, daß alle Menschen eine Hinneigung oder auch nur eine Veranlagung für das Erleben des religiösen Gefühles besitzen. Es gibt sehr viele Gebildete, denen es nie begegnet, weil ihr Intellekt zu fest und sachlich gefügt ist, wie es zum Beispiel auch andere gibt, denen die Musik keine Sprache hat. Dann ist die Liebe zum religiösen Erleben auch eine Geschmacksfrage; die Inder waren ihm leidenschaftlich ergeben, aber es ist zweifellos: das Gemüt wird schwer dadurch. Und wenn man im Veda noch so häufig liest: "Brahman istWonne!" so weiß man auch, was das für eine Wonne ist, man weiß, daß sie mit der Freude Epikurs nichts gemein hat. Und so gibt es natürliche Instinkte gegen das Religiöse; es gibt einen Selbsterhaltungstrieb gegen die wonnevoll vernichtende, unheimliche Macht religiöser Augenblicke, und dieser äußert sich in dem absoluten und prinzipiellen Auflösen des Einheitsgefühles. So finden wir in allen materialistischen Weltdeutungsversuchen die Einheit ganz äußerlich gefaßt als das gemeinsame Teilhaben an der Materie und dabei fehlt jeder melancholische Zug. Die Atomistik ist heiter.

Ferner ist es stets nur das Zeichen eines feinen und hochstehenden Geistes, die Welt gelegentlich vor sich versinken zu sehen und mit dem Ganzen scheinbar eins zu werden, wobei ihm das Wunder Dasein deutlich wird. Die feinen Geister erleben nur ein Wunder, eben dieses, und alle andern Dinge der Welt laufen ihnen mit strenger Notwendigkeit wie selbstverständlich ab, vielfach unerforscht aber durchaus gesetzmäßig und wunderlos. Dagegen sieht der kleine und krumme Geist an allen Ecken und Enden der Welt Wunder auf Wunder; er glaubt an Gespenster und Prophezeiungen, an Himmel und Hölle, an Auferstehung und Wunderheilung. Die "Religion" solcher Menschen – ich wage aus Höflichkeit gegen ein etwaiges Publikum keinerlei Schätzungen über ihre Zahl – beruht natürlich auf einer Basis, die in keiner Weise etwas mit dem metaphysischen Triebe zu tun hat, nämlich auf dem Aberglauben, oder, wie es vornehmer heißt, dem Glauben. Denn ein Glaube an ein jenseits der Erfahrungswelt liegendes Wesen, sei es auch noch so vollkommen und erhaben vorgestellt, sei seine Existenz auch noch so fein mit philosophischen Allüren eingefädelt, bleibt psychologisch doch dem ordinären Aberglauben völlig gleichgebildet. Das Geglaubte ist doch immer eine ziemlich konkrete Vorstellung und wird nur metaphysisch postiert, wird "hinter" die Natur gezogen, weil in ihr kein Raum dafür ist; aber dieses "Hinter" erinnert doch jedesmal mit schlichter Deutlichkeit an eine spanische Wand.

Diese Naturreligion entstammt meistens aus einem kosmologischen Bedürfnis, welches etwa in der Frage zu formulieren wäre: wo kommt man hin, wenn man immer geradeaus geht, und wohin dann . . ., wohin dann . . . ? usw. Schließlich muß es ein Ende geben Dieses kosmologische Fragen kann nun natürlich wieder für die feinen Geister genau so, wie das zinnerne Gefäß Jakob Böhmes der Anlaß zu einer tiefen, sie plötzlich überkommenden Religiösität werden, die dann jenen wirklich metaphysischen und nicht blos meta–kosmologischen Grundton hat, und sie werden hinterher lächelnd auf ihren ersten rastlosen Weg zurückschauen, aber für die große Masse der kleinen Geister bleibt die Religion, der Glaube, doch nur der Ausweg der Neugier und des Tüftelns, wie es etwa Hänschen Luther zeigte, als er seinen Vater fragte, was der liebe Gott denn getan habe, ehe er die Welt geschaffen! – Die unsterbliche und volkserzieherische Antwort des Alten ist bekannt.

So scheidet sich in der Geschichte der Religionen das Exoterische und das Esoterische, das Allgemeine und das Allgeheime. Ein wirklich religiöser Wert kann dem Exoterischen, dem Religionslehrertum, nicht zugesprochen werden, da es, wie aller Aberglaube, nur die Vernunft verwirrt, die ja gerade dann am tiefsten vom Wunder Dasein ergriffen wird, wenn sie am reinsten, ungetrübt und ruhig ist, wenn sie weiß, was es heißt: an nichts glauben und an allem zweifeln. Nur so kann sie das Feld sonstiger Erfahrung bedenkenlos hinter sich lassen, was ihr aber umso schwerer gemacht wird, je eindringlicher die Wichtigkeit exoterischer Glaubenslehren von den Priestern der Heimatsreligion gepredigt wird. Und alle geschichtlichen Religionen sind exoterisch, sind "Volksmetaphysik" und ruhen auf der kosmologischen (und anderer) Neugier, von Furcht und Hoffnung ganz zu schweigen.

Das Phänomen des Religiösen selber aber bleibt unbeschädigt stehen und kann weder durch das Kopfschütteln Derer, die es nie erlebt, noch durch irgend einen Fortschritt der Wissenschaft aus der Welt kommen. Es ist ein Ereignis der Vernunft und besteht so gut, wie diese selber.

 

Zweites Kapitel.

 

Der Weltschmerz und die Schuldfrage.

Die Brahmanen haben eine andere Art Schmerzlichkeit der Welt gegenüber, als Schopenhauer. Ihnen ist das Leben leidvoll, weil es von brahman verschieden ist, wie es im Veda heißt. Das bedeutet also: wer im Zustande der Kontemplation sich in Einheit mit dem Unendlichen fühlt, der erlebt das größte Glück, das ein Mensch erreichen kann, denn "brahman ist Wonne", und wenn er nun mit seinem Intellekt in die Welt der vielen Dinge zurücktaumelt, so erscheint ihm diese als leidvoll. Alles Wichtignehmen der empirischen Welt ist daher "Nichtwissen", nämlich Nichtwissen davon, daß im Grunde alles brahman ist; es entfernt und vernichtet den religiösen Zustand und wirkt daher leiderregend; auch Handeln und das Sittliche ist unwichtig. Der brahmanische Pessimismus ist am Werte des Religiösen gemessen, er ist ganz sekundärer Art, während der wirkliche intuitive Weltschmerz einem leidvollen Ergriffensein von der Idee des Daseins unmittelbar entspringt.

Wenn nach Cicero ein consensus gentium darüber existiert, daß es, Götter gäbe, so wird dieser an Ausbreitung und Dauer, vor allem aber an Innerlichkeit durch jenen consensus übertroffen, der das Dasein–müssen als ein Leiden versteht. Es herrscht vielfach das Vorurteil, daß eine pessimistische Gesinnung mit einem äußerlich gedrückten Leben in causalem Zusammenhange stehe, und daß glückliche, wohlbestellte Naturen und Völker nie auf den Gedanken kommen, das Leben als etwas Schlechtes zu betrachten und sich aus ihm hinauszusehnen. Dem steht gegenüber, daß die gesundesten und tiefsten Nationen den Weltschmerz kannten und daß oft gerade die reichsten und geistig am sorgsamsten gebildeten Menschen vom Jammer des Daseins in entscheidender Weise erschüttert werden. Dagegen gibt es nichts Lebensvergnügte-res, als den bedürftigen Pöbel.

Herodot erzählt im siebenten Buche (Kap. 44) seines Geschichtswerkes, wie Xerxes mit seinem gewaltigen Heere gegen Griechenland zieht und vor dem Hellesponte Halt macht, um Flottenschau zu halten; auf einem Hügel vor Abydos ist ein Thron aus weißem Stein errichtet, "dort saß er nun und blickte auf die Niederung herab, sah Fußvolk und Flotte, und da kam ihm der Wunsch nach einem Waffenspiel der Schiffe. Das kam zustande, und als die phönikischen Sidonier siegten, freute er sich über den Kampf und über sein ganzes Heer. Er sah den weiten Hellespont bedeckt mit seinen Schiffen und alle Gestade und die Ebene vor Abydos schwarz von Kriegern: da pries sich Xerxes .selber glücklich, und auf einmal – weinte er." Es folgt dann ein Gespräch mit Artabanos über die Nichtigkeit des menschlichen Daseins. – Das ist also ein ganz analoger Vorgang, wie der, welcher zur religiösen Vertiefung führt: ein einzelner Gegenstand gibt den Anlaß zum plötzlichen Innewerden des ganzen Welt– und Lebensphänomenes. Hier ist dieses Innewerden mit dem Affekt des Leidens verbunden. Das streitbare Heer des Persermagnaten ist immer noch ein einzelner Gegenstand, der hier nur vermittelnd wirkt. Dasselbe vermag auch ein Blick in Kinderaugen.

So ist der Mensch nicht nur das einzige Wesen, das sich über sein Dasein wundert, sondern auch das einzige, das an ihm leidet; beides liegt an seiner vernünftigen Begabung gekettet, die es ihm möglich macht, die Totalität zu denken. Darum ist das Weltleid auch in keiner Weise an eine besondere Lehre gebunden, eine Religion, vielmehr haben diese nur ein begleitendes Dasein, welches an eine allgemeine Veranlagung des Gemütes anknüpft. Daß die Venetianer gegen Ende des 15. Jahrhunderts ihre prunkvollen Gondeln plötzlich mit schwarzen Tüchern überdeckten, war der Ausdruck einer stets im Keime vorhandenen verdächtigen Stimmung gegen das Leben, die in Zeiten höchsten Glückes nur immer warnender wird, und man kann sich einen ähnlichen Gesetzeserlaß der venetianischen Republik auch ohne priesterliche Mitwirkung denken, die immer nur eine rationalistische Auslegung bedeutet. Das von Glück und Reichtum geschwellte Herz, der sich zur Beschauung des Weltganzen emporreckende Geist, wird aufs empfindlichste getroffen, wenn irgendwie auf seinem Siegeslaufe ein nur kleines, aber eindrucksvolles Leid sich ihm entgegenstellt; es richtet sich auf, wird drohend, und auf einmal ist es geschehen: er bricht zusammen in tiefster Seele ergriffen vom Leiden der Welt. So geschah es Xerxes, als er an das traurige Schicksal einzelner zu denken unternahm. Und so kann es ganzen Völkern gehen. Ein unüberwindlicher Verdacht gegen das individuelle Glück hat den bekannten Satz erzeugt: das Beste ist, nicht geboren zu sein, wenn aber doch, dann möglichst früh wieder zu sterben. Es war ein Grieche der so sprach, und dieses Volk, dessen "Heiterkeit" man so lange mißverstand, mußte die äußersten Mittel ergreifen, um sich gegen den Weltschmerz zu behaupten, Mittel, deren Größe wir noch heute bewundern; sie erfanden sich die Tragödie und genasen an ihr. Aber auch der ganze übrige Komplex ihres künstlerischen Schaffens zeugt davon, daß es aus anderer Quelle fließt, als aus dem bloßen Spiel mit dem Angenehmen. Ja, wer glaubt heute noch an den "Optimisten" Sokrates, der nach Nietzsches feiner Auslegung in seiner Todesstunde dem Asklepios deswegen einen Hahn zu opfern befahl, weil er – das Leben für eine Krankheit hielt . .!

Neben diesem echten Weltschmerz läuft ein zweiter "Pessimismus" einher, den man stets im Auge hat, wenn man den ersten mißversteht, oder ihn mißdeuten, will. Dieses Fehldeuten ist gerade in der letzten Zeit vielfach in die Gedankenkreise der europäischen Welt gedrungen, nicht nur, weil das Thema des Pessimismus durch hervorragende abendländische Menschen, durch Schopenhauer, Richard Wagner, Leopardi, Lord Byron und andere wichtig geworden ist, sondern vor Allem deswegen, weil vom Osten aus eine große pessimistische Macht in Europa einrückte: das Buddha–Dharma. Diese Religion ist ein Absenker des Brahmanismus und wurde von diesem verketzert, im Grunde deswegen, weil sein Pessimismus sich nicht am Religiösen maß, sondern unmittelbar aus dem empfundenen Welt–Leiden quoll und den Wert des Handelns hob. Der Buddhismus trat mit einer schlichten Offenheit, – und diese lag in dem Hinweis auf das Primat des Leidens–, vor die europäische Kultur und wies mit Fingern auf dessen Christentum, dem es den einen großen Vorwurf machte: das charakterlose Hin und Her zwischen Weltbejahung und Weltverneinung. Selten hat es für das Christentum ein so peinliches Ärgernis gegeben, als das Auftreten der buddhistischen Bhikshus in Europa. Die Buddha–Lehre stieß auf protestantische Kritik. Die Protestanten mußten sich an den Optimismus klammern, denn mit diesem waren sie aus dem übrigen Mittelalter hervorgewachsen und die sie umgebende Kultur forderte ihn. Da wurde nun der Pessimismus der Buddhisten in verfehltester Weise gedeutet und an den Pranger gestellt. Diese Brandmarkungen stammten nicht selten aus dem Munde von scholastischen Philosophielehrern, die in geistiger Abhängigkeit von der protestantischen Kirche lebten und sie geschah durch das ärgste aller Mißverständnisse: dadurch, daß man das Wesen des Weltschmerzes und seiner dogmatischen Anwendung, des Pessimismus, mit einem landläufigen Verstandesprodukt als identisch setzte. Dieses Verstandes-produkt Pessimismus stammt aus der Vergleichung und Abschätzung einzelner Dinge und Genüsse, aus der zahlenmäßigen Betrachtung über den Wert des Lebens, aus der Kalkulation über die Lust–und Leidsumme, die ein Jeder während seines Erdendaseins zu erfahren hat, und die dann mit dem Ergebnis endigt: Die Leidsumme ist bedeutend größer, also ist das Leben schlecht und lohnt sich nicht der Mühe, die man sich darum gibt.

Diesem Pessimismus haftet eigentlich gar keine Kultur an; man kann wohl mit ihm gelegentlich geistreich sein, man kann sich aus ihm eine frivole Weltanschauung bauen, die dekadent und unfrei ein Spielball der Laune bleibt. Im Prinzip aber fehlt dieser Gesinnung jedes schöpferische Moment, sie ist noch nie die Grundlage eines großen Gedankens gewesen, wie sehr auch eine solche Buchführung über das Leben die Ansicht über seinen Wert gelegentlich beeinflussen kann. Dieser Konto–Pessimismus kommentiert den echten Weltschmerz in der Art, wie Mephistopheles die Schwermut Fausts nach Gretchens Fall. Jedenfalls kann ein glückliches Gemüt ein,ganzes Spottgebäude der Art in einem Augenblick .zu nichts verpuffen, und dasselbe glückliche Gemüt kann im nächsten vom Weltleide ergriffen sein, wie Xerxes auf dem Hügel von Abydos. –Aber der Pessimismus der Buddhisten wurde, wie gesagt, im Sinne dieses sophistischen Mäklertums mißdeutet und man glaubte, ihn damit aus der Welt schaffen zu können. Vergeblich . .! Denn die Vernunft, die immer wieder die Idee der Welt zu suchen und zu verstehen sich anschickt, wird auch immer wieder ergriffen von einer schmerzlich sinnenden Weise, die zur Weltdeutung anreizt und, wenn die Sterne danach stehen, Religionen schafft.–

In Schopenhauer lagen beide Richtungen des, Pessimismus verborgen und jede kam zu ihrem Wort, jede hatte ihre Konsequenzen. Und das war der Grund, weshalb er von sich sagen mußte, er habe wohl gezeigt, was ein Heiliger sei, aber nie gesagt, daß er einer wäre. Und er war auch weder ein Heiliger, noch auch nur der Schatten davon. Kuno Fischer bemerkt in seinem Schopenhauerbande hierzu, daß die Geschichte nur in Abständen von Jahrtausenden solche reinen Gestalten hervorbringe, die dann zu Religionsgründern werden, und daß Schopenhauer eben kein solcher sei. Er war es nicht nur in seinem praktischen Leben nicht, wie Kuno Fischer es an jener Stelle meint, sondern vor allem nicht in seiner Lehre. Er konnte an den schlechten Einzelheiten des Lebens nicht vorübergehen, indem er von der Verfehltheit des ganzen überzeugt war. Der Buddha konnte das und seine Lehre fordert die Reinhaltung vom Haß; denn nicht durch Feindschaft komme Feindschaft zu Ende.

Man kann die beiden Richtungen des Pessimismus, die den Charakter Schopenhauers ausmachen und dort eine untrennbare Einheit bilden, in seinen Schriften. deutlich unterschieden finden. Hier nennt er das Leben ein Geschäft, das die Kosten nicht deckt, und betrachtet den Selbstmord als eine ganz gerechtfertigte Aktion, er lobt die antiken Zyniker, weil sie durch die prinzipielle Besitz– und Bedürfnislosigkeit die größte Wahrscheinlichkeit für sich haben, ein möglichst unglückloses Leben zu erfahren, und die "Aphorismen zur Lebensweisheit" entspringen einem Geiste, der zwar in der Überzeugung lebt, daß das individuelle Dasein keine Möglichkeit eines dauernden Glückes bietet, der aber versucht, durch weise Ratschläge und bei Vermeidung des Selbstmordes das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Das ist der unreligiöse Schopenhauer, und die letzten Worte die der Greis kurz vor seinem Tode in den großen Folianten schrieb, legen von dieser Gesinnung Zeugnis ab: "Die Welt ist, und ist wie Figura zeigt: ich möchte nur wissen, wer etwas davon hat." – Und nun die andere Richtung! Das ist der Schopenhauer, der von sich schreibt: "In meinem 17 ten Jahre, ohne alle gelehrte Schulbildung, wurde ich vom Jammer des Lebens so ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend als er Krankheit, Alter, Schmerz und Tod erblickte." (Nachlaß IV S. 350. Reklam.) Dieses einzelne Erblicken löste bei beiden, bei dem Prinzen Siddharta, dem späteren Buddha, und bei dem jungen Schopenhauer dieselbe religiöse Intuition des Weltschmerzes aus, die dann das wahre pessimistische Ideal erzeugt (das nur der Eine erreichte), mämlich ein Heiliger und Weltentsager zu werden. Das ist eine ganz andere Konsequenz. Das Handeln bekommt einen objektiven Wert im Sinne des Weltganzen, das Leben des einzelnen Menschen verliert seinen naiven Selbstzweck, die Erscheinung des Universums wird als eine Verirrung des ihm zu Grunde liegenden gedeutet, das Leben als eine Schuld, die der Einzelne abzutragen hat durch sein geduldiges Leiden, bis der Tod ihn erlöst. Der Selstmord wird verworfen, denn er entzieht den Einzelnen jener Aufgabe, und der ganze neue Gesichtspunkt steht unter der Parole: Verneinung des Willens zum Leben.

Der Gedanke, daß das Leben eine Schuld sei, ist alt, und wohl das erste durch Reflexion entstandene Dogma, welches aus dem Zustande des religiösen Weltschmerzes entsprungen ist. Das Leben soll nicht sein, ganz gleichgültig, ob der Einzelne gut oder böse ist, denn Tugend und Verbrechen sind nur gradweise Unterschiede eines und desselben Willens zum Leben! – Mit einem Sündenfall hat diese Daseinsschuld übrigens gar nichts zu tun; es handelt sich hier nicht um eine Ignorierung logischer Moralgesetze, nicht um den Ungehorsam gegen ein göttliches Gebot, wie es die Thora darstellt, sondern das Schuldbewußtsein fließt ganz unmittelbar aus der schmerzvollen Einsicht in die Idee der Welt. So gibt zum Beispiel auch Anaximander eine kosmologisch–metaphysische Welttheorie, in der der Schuldgedanke vorkommt und zwar ganz ohne Berücksichtigung des Menschen. Anaximander redet nur von dem "Seienden", das seinen letzten Grund im "Unbestimmten" (?????) habe und sagt: ."Woher der Dinge Ursprung ist, dahin läuft auch ihr Ende nach der Notwendigkeit. Denn sie zahlen einander Strafe und Buße für ihre Schuld nach der Ordnung der Zeit." (Vgl. Diels, Fragmente der Vorsokratiker.) Schopenhauer schließt sich dieser Auffassung, die er u. a. bei Calderon findet, an und macht die Bemerkung: "Wie sollte es nicht eine Schuld sein, da nach einem ewigen Gesetze der Tod darauf steht ?" Diese Begründung ist wohl absichtlich so leichthin gehalten, denn in der ganzen Annahme einer wirklichen Schuld des Daseins liegt eine unerlaubte Kausalverknüpfung zwischen der erscheinenden Welt und deren Wesen, eine Transcendenz also, die Schopenhauer im Prinzip vermeiden mußte, umso mehr, als er sehr wohl wußte, wie hart sein ganzes System zwischer Dichtung und Wahrheit schwankt. So darf ihm auch die Lehre von der Erbsünde nur ein Mythos sein, dem er aber im innersten Herzen huldigt.

An diesem Punkte nun geht die schopenhauerische Weltdeutung rasch und entschieden ihrem letzten Ziele zu; das metaphysische Bewußtsein seines Geistes steht auf der Höhe. Der Wille, den er als das eigentliche Wesen der Welt erkannt hat, als das Ding an sich, das hinter der nichtigen Erscheinung liegt, dieser Wille hat sich in seinem blinden Drange diese leidvolle Welt gebaut und tut es immer noch und jeden Augenblick, wenn er etwas will; denn das Leben ist dem Willen zum Leben stets gewiß. In zahllosen Individuen strömt er sich aus, und diese Individuen sehen in ihrer Verblendung nicht, daß sie alle eines Wesens sind, sie halten das principium individuationis, das Bestehen ihrer Person, für etwas Reales und Wertvolles, ja für so wertvoll, daß sie sich selbst gegenseitig zerfleischen wähnend, dadurch vollkommneres Glück zu erlangen. Aber die Toren merken nicht, daß der allen gemeinsame Wille zum Leben sie selber sind, daß sie sich selbst zerfleischen, und unter ihren Streichen das Wesen der Welt zu leiden hat. Die erscheinende Außenwelt, die dieses Wesen durch seine Objektivation die größte aller Verirrungen heraufbeschworen hat, ist seine tiefe Enttäuschung, die er erst in der höchsten Stufe, dem denkenden Menschen, in ihrer ganzen Trostlosigkeit erkennt. "Wie muß es inzwischen unser Mitleid erregen, wenn wir betrachten, wie blutwenig dagegen diesem Herrn der Welt, in seiner individuellen Erscheinung, wird: meistens eben nur so viel, als hinreicht, den individuellen Leib zu erhalten. Daher sein tiefes Weh." (Parerga II 297.) Und mit diesem Anklingen des großen Mitleids–Motives ist das Signal zum Rückzug gegeben. Nichtmehr wollen, auf der Welt so leise wie möglich auftreten, barmherzig sein mit allen Wesen, am besten alles, was Wünsche erregt, verlassen und in die Wüste ziehn, ein Heiliger werden, Buße zahlen für die Schuld des Lebens!

Es bliebe nun, um auf die Hauptfrage zurückzukommen, nichts weiter übrig, als eine Heerschau zu halten über alle Religionen und nachzuprüfen, wo überall pessimistisches Wesen eine Rolle spielt; man könnte darüber ein ganzes Buch vollschreiben, was ich, – man sehe im Vorwort nach – zu unterlassen versprochen habe. Es kommt hier auch in keiner Weise darauf an, zu wissen, welche unzähligen Nuancen der Pessimismus in den Religionen geschaffen hat, sondern nur darauf, das leitende Prinzip dieser Weltauslegung zu verstehen. – Der Pessimismus erweitert die Physiognomie des religiösen Phänomenes insofern, als durch ihn das Leben zu einer Aufgabe wird: das Handeln bekommt einen Wert, wenn auch noch keinen selbständigen, so doch einen, der im Sinne einer großen Gemeinsamkeit des Zieles liegt, nämlich der Weltüberwindung; das Leben wird metaphysisch umgedeutet. Der Brahmanismus war in seiner höchsten Höhe rein religiös, die exoterischen Teile dieser Religion waren gewissermaßen nur eine Einladung zum Genuß des religiösen Zustandes; das Buddha–Dharma wurde praktisch durch die Macht des Weltschmerzes und die dogmatische Gewißheit, die den Anhängern dieser Lehre dadurch kam. Wenn alles Leben Leiden ist und Schuld, nicht blos Irrtum, wie muß dann der Mensch beschaffen sein, der in rechter Weise sein Dasein zubringt!? . . Das ist die Gewissensfrage des Pessimismus. Und die hat Schopenhauer und Buddha in gleichem Sinne der Menschheit vorgelegt. "Ein Weltüberwinder muß es sein!" lautet die Antwort, und mit ihr ist ein Thema gegeben, das über die bloße Frömmigkeit hinausreicht: die Pflicht gegen das Welt–All. Jeder Buddhist fühlt sich als Mithelfer am Einschläfern der Weltgeschichte. Fromm sein kann man bekanntlich auch in der Vereinzelung: ein einsamer Mensch auf einer Felsenspitze sieht das All und sich in ihm verschwinden, . . . dann geht es vorüber, – er sieht wieder Berge und Föhrenwipfel und steigt lächelnd ins Tal; was ist geschehen ? Er ist nur fromm gewesen. Wie anders wirkt es dagegen, wenn das Motiv des allgemeinen und notwendigen Leidens in diese Meditation hineinklingt! Einem lecken Schiff, in das die schmerzlichen Wogen des Daseins schlagen, gleicht dieser Mensch; er klammert sich, halb wrack geworden, an das schwarze Riff, um sich im nächsten Augenblick freiwillig den treibenden Fluten zu übergeben. Der Pessimismus ruft zur Pflicht. Nirgends gibt es einen größeren Feind des "Selbstzweckes" als ihn. Man erinnert sich wohl, wie verhaßt dieses Wort Schopenhauern war. Und mit dieser Leugnung des Selbstzweckes, die eigentlich nur ihm, dem Pessimismus ganz gelungen ist, war auch, wenn man so sagen darf, die ideale Schablone zu jeder möglichen Religion gefunden. Denn auf was immer für "ersten" Grundlagen eine Religion auch ruhen mag, das Eine haben sie alle gemein: die Beschlagnahmung der Person ! Und wo ist diese besser begründet, mit besseren Vorgebungen gedeckt, als in einer Lehre, die Jeden zum Mitschuldigen macht! Dadurch, daß die Abtragung dieser Mitschuld ins Gewissen gelegt wird als dessen wichtigste Angelegenheit, wird in so großartiger Weise, wie sonst nie, der Schwerpunkt der Person entwurzelt und außerhalb derselben, ins Allgemeine verlegt. Der Mensch bekommt seinen Wert erst durch sein Verhältis zum All und die Art, wie dieses Verhältnis sein muß, wird von der Religion gelehrt. Als Einzelner ist er nichts, ist er nicht gerechtfertigt, nur wenn er sich hingibt, weggibt zu einem andern Zweck, erst dann ist er ein "wahrer Mensch"; wie und was diese Zwecke sind, wird von den verschiedenen Religionen verschieden laut gesagt, da nicht alle gleich ehrlich sind. – Aber wer kennt diese Gedankengänge nicht wieder, wer hat sie nicht hundert und tausend Mal erlebt, wem sind sie nicht von Kindheit auf gepredigt worden, und wer kann, Mann geworden, nicht einsehen, welche Wucht im Pessimismus steckt, der die Schablone zu alledem gegeben hat! Die Religionen sind ein Prinzip gegen den Einzelnen, sie entwerten ihn und sein Eigentum. Daher sehen wir auch die absolut unreligionistischen Menschen (ich sage nicht unreligiösen) alle bei der Arbeit, den verlegten Schwerpunkt des Menschen wieder in ihn zurückzuverlegen und damit dem Allgemeinen nur einen sekundären Wert zuzubilligen: Demokrit, Epikur, Lukrez, Stirner, Nietzsche. Jeder unternimmt in seiner Art einen Kampf gegen das überwertete Allgemeine.

Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf das Christentum und die Rolle, die der Pessimismus in ihm spielt. Dabei scheide ich zunächst die Person Jesu vollkommen aus, eine Methode, die in letzter Zeit immer mehr Anwendung findet und die, wie mir scheint, ihre gute Begründung hat. Ich nehme also nicht die übliche Teilung in Katholizismus, Gräzismus, Protestantismus usw. an, sondern greife zu der viel innerlicheren, die das gesamte historische Christentum von der Niederschrift der Evangelien an bis auf den heutigen Tag als den einen Teil ansieht und das Leben des Nazareners als den andern. Dieses Verfahren rechtfertigt sich dadurch, daß schon die Evangelien das Leben Jesu in so verschiedener Weise darstellen, daß sein Bild nicht als ein einheitliches betrachtet werden kann und die gesamte christliche Dogmatik mit ehem angewandten Leben Jesu arbeitet, das je nach Bedürfnis in entsprechender Weise zurechtgelegt wird. Hier interessiert zunächst nur das dogmatische Christentum als Religion. – Hatte ich schon im ersten Kapitel darauf hingewiesen, daß die freie Frömmigkeit dem Christen verschlossen bleibt wegen des stets erneuerten Einfalls der Empirie, so gilt das nicht minder vom Pessimismus. Es gibt keine Religion, die ein so uneinheitliches Gepräge aufweist, wie diese. Sie ist aus so heterogenen Stücken zusammengesetzt, daß keines von ihnen zu wahrer Geltung kommt. Die Frömmigkeit des Angelus Silesius mußte scheitern am Theismus und der Weltschmerz wird degradiert durch die Vorstellung einer andern WeIt (das mißverstandene "Himmelreich" Jesu). Wer die Welt schlecht findet und dabei in der Überzeugung lebt, daß ihm dereinst eine bessere blühe, der erlebt nicht mit reinem Herzen jenes wuchtige Phänomenen, das Schopenhauer und die Völker Indiens erschütterte. Dieses heimliche Besserwissen, diese schmunzelnde Gastrolle auf Erden, der Unsinn des Lebens nach dem Tode hat weder mit dem echten Weltschmerz etwas zu tun, noch vermag es wahre Freude an den Dingen der Welt auszudrücken. Das Christentum wird dadurch zum Zwittergeschöpf, das zur Welt weder ganz ja, noch ganz nein sagt. Mag man in den heiligen Schriften der Brahmanen oder Buddhisten lesen, wo man wolle, jeder Gedanke weist auf das eine große Ziel hin; diese Religionen sind ehrlich bis ins Innerste, sie sagen schlicht, was ihnen die Welt wert zu sein dünkt. Beim Christentum kommt man nie aus dem Zweifel heraus: worum handelt es sich hier eigentlich ? Seine Zusammensetzung aus indischen Pessimismus und jüdischen Moralismus mit all ihren Permutationen, der Einbruch eines ganzen Mythen–Orchesters aus der hellenistischen Zeit, nahm ihm den einheitlichen Bau.

Eben dadurch aber, daß das Christentum weder Optimismus noch Pessimismus ist, schließt es sich am besten der gewöhnlichen Menschensorte an, die sich zu keinem von beiden zu entscheiden wagt. Es ist wie keine andere Religion dazu geeignet, denjenigen Menschen, deren Leben nicht von großen Welt–Erlebnissen beeinflußt wird, sondern deren Handeln sich nach den üblichen Zwecken richtet, Religion zu sein. Daher sein inniger Anschluß an die europäische Kulturgeschichte. Die Inder haben ihre Geschichte einfach unterdrückt; hier herrschte die Religion und die Religion lehrte die Nichtigkeit des Geschehens; sie war Volkswille. Das Christentum ist unvölkisch, aber es ist ein Anpassungsgenie und für alle Völker, für alle politischen und privaten Situationen verwendbar. Daher sehen wir es denn allenthalben seine Farbe .wechseln; bald ist das Handeln wichtig, bald allein der mystische Glaube, bald ist die Welt ein Jammertal, bald der Garten Gottes. Überall nistet es sich ein, wo eine erst bezweifelte Tendenz in der Kultur zum Siege gekommen ist, sei es eine literarische Strömung, sei es ein soziales Ereignis, alles, was nur einmal eine einigermaßen sichere Majorität für sich hat, wird als "im Grunde echt christlich" beansprucht.

Diese Allbrauchbarkeit des Christentumes hat nicht allein darin seinen Grund, daß seine Stimmung der Welt gegenüber labil ist wie die der meisten Menschen, sondern auch besonders in der Tendenz seines Theismus. Das Motiv der Weltordnung brag sich in diesem, und das ist ein wichtiger Faktor für jedes geschichtliche Eingreifen. Der Gottesglaube stammt für das Christentum aus Israel, wo er aber eine ganz speziell moralische Bedeutung hat, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden wird. Gott ist jedoch schlechterdings Ordner in jedem Sinne. Alles, was irgendwie rätselhaft erscheint, liegt in seiner Hand. Deswegen, weil die Welt vor uns gesetzmäßig abläuft, (durch unsern Verstand bestimmt!) muß es ein Wesen geben, das diese Gesetze macht und zum ersten mal denkt. So lautet der "consensus gentium" über die Existenz der Götter, von dem Cicero spricht, und der ist es auch, den das Christentum den christlichen Völkern erhalten hat. Daß das sonderlich religiös ist, kann man nicht sagen, denn wer so denkt, sieht nur den Wald vor Bäumen nicht; aber durch dieses Transcendentmachen des Verstandes, durch das Aufstellen eines göttlich ordnenden Prinzipes, bekommt eine Religion eine ungeheure organisatorische Macht über die Gemüter ihrer Gläubigen. Das wußte schon der Heide Constantin. zu schätzen und daher hat sich auch alles spätere Herrschertum in so interessierter Weise der christlichen Religion angeschlossen, die dann immer bereit war, seine Existenz durch eine göttliche Einsetzung zu rechtfertigen.–Doch darf ich mich bei dem Theismus, diesem überschätztesten aller Religionsfaktoren, hier nicht länger aufhalten; man frage, wenn man etwas darüber wissen will, den "consensus gentium", und der wird in der aller naivsten Weise die vollkommenste Auskunft geben. Noch weniger darf ich mich damit abgeben, zu beweisen, daß diese Grundlage der Religion, die es noch dazu meistens nicht auf die Ordnung der Welt, sondern auf die "Ordnung" privater Argelegenheiten absieht, mit Schopenhauers metaphysischen Triebe nichts zu tun hat; dagegen wird es wertvoll sein, darzulegen, auf welchem Wege der Christ dazu kommt, die Welt als "böse " zu beurteilen. Böse sein hat weder mit dem Pessimismus etwas zu tun, noch mit seinem Gegenteil, sondern ist eine moralische Qualität. Und damit kommen wir auf ein ganz anders geartetes Religionsgebäude, das seinen Stoff nicht aus einem metaphysischen Bedürfnis holt, sondern aus einer praktischen Gesetzlichkeit.

 

 

 

 

Drittes Kapitel

 

Die Idee des Guten und das Judentum. –

Das Schöne.

Es gibt in den Religionen eine Klimax im Werte des Handelns. Dem Brahmanismus ist es am unwichtigsten; "die Welt ist Vergeltung der Tat am Täter" lautet ein Vedawort, d. h. wer handelt und das Handeln wichtig hält, wird wiedergeboren, er hat ein neues Erleben der empirischen Welt nötig; tat er Gutes, so steigt er in eine höhere Kaste auf, der die echte Meditation leichter fällt, war er ein Bösewicht, so kann es ihm begegnen, daß er in der neuen Geburt zum Tier oder zur Pflanze wird Ziel und Zweck des Lebens bleibt allein die Hinsicht in die Identität von Ich und Welt, d. h. der religiöse Zustand, der überhaupt kein Handeln mehr erfordert und bei dem daher die schlechten wie die guten Taten in derselben Weise unwichtig sind. Beim Buddha–Dharma wuchs die Bedeutung der Werke, da hier der Pessimismus mitsprach, aber sie haben doch immer nur einen angewandten Wert, der an der Verminderung des allgemeinen Weltleidens gemessen wird. Einen weiten Vorstoß aber macht plötzlich das Handeln in der jüdischen Religion. Hier wird es Selbstwert und die Welt ein Material, ihn zu beweisen. Das Leben ist wichtig um des Handelns willen; der ist ein wahrer Mensch, ein rechter Israeliter, der das Gesetz erfüllt.

Das moralische Gesetz ist eine Variante des logischen. Die Zusammenhänge von Dingen, wie sie ihrer Natur nach sein müssen und die Zusammenhänge von Handlungen, wie sie sein sollen, werden durch sich entsprechende Gesetze des Denkens vertreten. Ein Beispiel: wenn die Schalen, die an einem Wagebalken hängen, beide unbelastet sind, so schweben sie in gleicher Höhe; kommt auf die eine der beiden ein Gewicht zu liegen, so sinkt sie nieder Wenn ich diesen Vorgang erkläre, so wendet der Verstand das Gesetz der Kausalität an, das von Notwendigkeit begleitet wird; anders kann ich nicht denken, und die Vorgänge können nicht anders geschehen, als ursächlich bedingt und notwendig. Das gesamte Bild der Erfahrungswelt am Faden der Notwendigkeit zu erklären, ist das Ideal des wissenschaftlichen Menschen. – Zweitens ein Mensch A hat einem andern Menschen B in der Not geholfen; nun kommt A in Not und B steht daneben; das Fazit lautet er "sol1 " auch helfen! In genau derselben Weise, wie der Verstand oben das Geschehen als bedingt und notwendig begriff, erkennt er hier das Geschehen einer künftigen Handlung – als Pflicht. In diesem Sinne ist der Ausdruck "Variante des Logischen" zu verstehen.

Von welchem Affekt dieses Soll getragen wird, das ist freilich eine andere Frage. Was "Gut und Böse" ist, darüber gilt das Wort Nietzsches "das weiß noch niemand". Das einheitlich Gute, das die tiefste Billigung beim andern Menschen erzeugt, ist gerade an seiner empfindlichsten Stelle im Affektleben verankert, und dieses bleibt ein Spiel der Entwicklung, von der wir nicht wissen, woher und wohin. Auch Schopenhauers Entdeckung des Mitleides als basierenden Affekt des Guten, ist keine allgemein gültige Grundsteinlegung, so tief sie auch ins Menscheninnere greift. Es ist nicht einzusehen, warum nicht auch irgend ein anderer bedeutendet Affekt diese Rolle übernehmen kann. Aber das "Soll" bleibt immer konstant; das Was und Wie kann man beinahe eine Mode nennen.

Daß die Menschheit sich zu allen Zeiten eines Sollens bewußt gewesen ist, steht mit derselben Sicherheit fest, wie die Tatsache, daß sie über den Zusammenhang von Dingen nachgedacht hat; beides ist so alt und so jung, wie ihre Vernunft. Aber die Grade in denen man diese beiden stets vorhandenen Formen des Denkens wichtig genommen hat, sind verschieden. Man kann sich Zeitalter vorstellen, in denen ein großes wissenschaftliches Streben nach dem Zusammenhang innerhalb des Universums überhand nimmt und alle moralischen Gedanken in den Hintergrund stellt, so weit in den Hintergrund stellt, als die Vernunft sich nicht rächt, und andrerseits wieder gab es Zeitalter, in denen das moralische Handeln des Menschen das öffentlichste Interesse war und seine Begründung durch echte Pflichtgedanken eine wichtige Konstatierung. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß Perioden, in denen das Wissenschaftliche die erste Rolle hatte, etwa unmoralischer im Handeln waren, als die andern. Die Stärke, mit der man das Moralische betont, die Stimmung, die man hineinlegt, ist keine Bürgschaft für die Zahl des Eintretens durch Pflicht bestimmter Handlungen. Man kann wohl sagen, daß die Menschheit zu allen Zeiten einen gewissen Prozentsatz unmoralischer Handlungen durchzumachen hat, soviel eben, als sie vertragen kann, und daß nur ein entschlossener und angestrengter Blick auf das theoretische Wesen des Moralischen bei Gelegenheiten große Perioden der Einkehr hervorruft. Ebensowenig vermag ein intensives Hinneigen zum Künstlerischen den moralischen Halt der Menschheit zu lockern.

Der wissenschaftliche Mensch ist ergriffen von der Idee der Notwendigkeit, ihr weiht er sein Leben, und das Moralische wird ihm dabei nicht zum Problem; der moralistische Mensch, sein Gegenbild, ist ebenso ergriffen von der Idee des Guten, ihr zu dienen, in ihr zu handeln ist ihm "Wert des Lebens", wobei ihm die Tatsache, daß alles in der Welt notwendig geschieht, nicht bedrückt. Man kann ein Abwechseln solcher Gesinnungen am trefflichsten im Griechentum beobachten, wenigstens ist das Beginnen der moralistischen Grundstimmung, – ganz gleichgültig, wie die vorhergehende geartet war, – mit Deutlichkeit an das Auftreten des Sokrates gebunden. Er hat für die Griechen den absoluten Wert des Handelns entdeckt. Was diese früher trieben, war Wissenschaft und Kunst; darüber gingen sie, – nach Ansicht des Sokrates, – am Wichtigsten vorbei, und die besten Griechenjünglinge wurden zu Tränen gerührt, wenn der alte Mann sie darauf aufmerksam machte, in seiner stechenden Art, zu fragen. Ehemals kam es nur darauf an, daß ein Mensch ?????? sei. Dieses Wort wird von den Philologen immer noch viel zu pathetisch übersetzt, – es war eine ganz abgegriffene Floskel und ließ weiter nichts als etwa: "gentlemanlike". Die Griechen liebten vor allen Dingen die Schönheit, schöne Jünglinge, schöne Götterbilder; Sokrates, der Häß1iche, hob bedeutsam den Finger und – (man sieht wieder einmal, was die Not lehren kann !) wies mit großen Augen auf das ????? und was es denn bedeute; sie sollten das doch ernst nehmen! Auf das Gute allein komme es an.

So kann es geschehen, daß, obwohl schon früher stets anständig und gut gehandelt wurde, auf einmal das Sittliche Mode wird. Und dieses Modewerden der sittlichen Bedeutung, das sich stets mit der Manie verbindet, einander aufzuspüren nach der Art der Motive, kann anderen Menschen, die im Schönen und in der Wissenschaft oder in Geschäften aufgehen, und daher kein Talent zum sittlichen Pathos haben, im hohen Grade lästig fallen, denn sie werden nun die Vertreter einer weniger geachteten Geistesart. So konnte auch Nietzsche von seinem Standpunkte aus sagen, daß Sokrates die Griechen verdorben habe, besonders den begabten Jüngling Platon, der in der ersten Zeit vor seinem Verkehre mit ihm Tragödien schrieb. So steht der sokratischen Gesinnung der Immoralismus gegenüber, das ist der Abscheu vor der moralischen Betonung des Handelns. Wenn ferner Friedrich Theodor Vischer in seinem Roman "Auch Einer" des öfteren den Passus vorbringt: "Das Moralische versteht sich immer von selbst", so bedeutet das ein echt heidnisches Bekenntnis, ein vorsokratisches, im Gegensatz zu einem vom Moralismus durchtränkten Zeitalter; es ist eine Rückkehr in die Antike dem Sittlichen gegenüber.

Trotz alle dem aber ist das Moralische die furchtbarste aller Gesetzlichkeiten und hat einen großen Teil der Menschheit ins Tiefste aufgeregt, das Gemütsleben der Völker affektartig bestürmt, – sodaß man sich mit Religionsgründungen helfen mußte. Dieses Gesetz der Vernunft, so unerbittlich, so gnadelos, so ohne alle Ausnahme und alle Verzeihung und dabei stets begleitet von dem ebenso unerbittlichen der Notwendigkeit, das jenes zu vernichten und ungültig zu machen strebt, diese Gesetzlichkeit war, einmal erfaßt, nicht mehr zu vergessen! Der sittliche Wert einer Handlung steht immer wie auf eines Messers Schneide, er kann verdorben werden durch einen einzigen Gedanken an Lust, Freude, Lohn – und unwiederbringlich rinn er dann dahin wie ein trockner Sand durch aufgespreizte Finger. Und wie hat die Natur dafür gesorgt, daß es dem Menschen schwer gemacht wird, das Gute um des Guten willen zu tun! Welche Fülle grober, brutaler, selbstsüchtiger Gedanken hat sie eng neben den Entschluß zum unbedingt Guten gelegt, aber mehr noch: welche Überfülle feinster, günstigster, liebevollster Motive, die uns alle zurufen: "was du jetzt tust, das tust du um deinetwillen, um der edlen Gesinnung deines Wesens einen prächtigen Ausdruck zu geben, – aus Egoismus!" Und da ist der sittliche Wert auch schon; verloren; er hängt an dem flüchtigsten Gedanken einer einzigen Sekunde. Wenn wir im Glücke und Überschwang unserer Persönlichkeit eine unerhört großmütige Tat begehen, und wir fühlen dieses Glück ehe wir handeln, – dann ist schon alles vorbei! Wer seine Pflicht tut, hat nicht glücklich zu sein, sondern er hat zu handeln, weil es Pflicht ist, auch nicht die Pflicht zu "lieben", – die Liebe erübrigt sich –, sondern objektiv zu denken, wie die Logik des Guten es erfordert, und dann handeln, nur das ist sittlich; alles andere, und mag es noch so erhebend sein, geschieht "leider aus Neigung".

Es sind freilich nur die feinsten moralistischen Geister, die darunter zu leiden haben, daß ihr bestes Tun, statt ein Ausdruck des Sittlichen zu sein, die unfreiwillige Konsequenz ihres edlen Innern wird, das nicht anders handeln kann; ein vorsokratischer Grieche wäre über solche Finessen des Gemütes wahrscheinlich ausgelacht worden. Aber die eigentliche Furchtbarkeit und das Aufreibende des moralischen Gesetzes liegt nicht da, wo es nicht zweifellos Motiv wird, und wo die Skepsis an der Möglichkeit sittlicher Handlungen überhaupt Herr zu werden droht, sondern da, wo man gegen dasselbe verstößt. – Wehe dem, der Böses getan hat! In ihm erhebt sich der Gewissensbiß und zertrümmert die Stille seines Innern. Mit dem moralischen Gesetz ist nicht zu spaßen, und wer die Logik des Sollens mißachtet hat, an dem rächt sie sich ungeheuer; mit der ganzen Rücksichtslosigkeit des richtigen Denkens bricht sie dann herein und schlägt Bresche ins Gemüt. Die Reue rast und treibt der Schuldigen ruhelos durch die Welt, unstät und flüchtig muß er sein auf Erden, ja, sie bringt ihn dem Wahnsinn nahe.

Natürlich darf man sich Kain nach seinem Brudermorde nicht reflektierend denken und sich die Furchtlosigkeit seiner Tat aus einer abstrakten Gesetzlichkeit folgernd, – die unmittelbare Intuition, der Anblick der nackten Leiche selber und das sofort einsetzende Mitleidsgefühl weckt seine Reue; aber das Mitleid reicht doch in keiner Weise aus, alles zu erklären, was ein Verbrecher fühlt. Wäre das der Fall, so müßte man bei einem schuldlos angerichteten Unheil dasselbe fühlen, wie bei einem Verbrechen; aber hier schwingt sich das Gemüt eben nur zu Mitleid und Trauer auf, während dort der Gewissensbiß zum eigentlich Beißenden wird; der aber entspringt aus dem Bewußtsein, außerhalb der Morallogik zu stehen, er ist die furchtbarste Vereinsamung der Seele, die es gibt, während das Mitleid immer sozialisierend wirkt. Der Gewissensbiß wird gelindert durch eignes hinzukommendes Leid, durch Mit–leid, vergrößert aber – durch Denken.

Die Macht des Moralischen wird vielfach noch dadurch erweitert, daß die meisten Menschen, besonders weniger Gebildete und einige Kranken die Neigung haben, in einem Falle, wo sie schuldlos, ohne es zu wissen, großes, Unheil angerichtet haben, im Zustande des heftigen Mitleides, den rein kausalen Zusammenhang, in dem sie mit ihm stehen, in einen moralischen zu verwandeln. Sie reden sich mit einer wahren Lust der Selbstquälung ein, die seien Schuld daran, und gefallen sich darin, die Schuld mit der bloßen Ursache zu verwechseln. Das moralische Pathos wirkt also noch zum Überfluß anziehend, es reißt den schlichten Nexus des Kausalen fanatisch in seinen Charybdisstrudel.

Bei solchen schweren Angriffen auf das Gleichgewicht der Seele, denen die meist schutzlose Menschheit zu allen Zeiten ausgesetzt ist, kann es nicht wunderlich sein, daß eine vorhandene Möglichkeit zur Religionsgründung sich verwirklichte. Der Inte11ekt erdenkt sich einen Rächer, einen.Vertreter des moralischen Gesetzes, das der Mensch in sich selbst zu bergen, nicht stark genug ist. Orestes sieht die Furien; er denkt nicht blos, es könnte welche geben, sondern er glaubt an ihre Existenz, und diese treibt ihn zum Wahnsinn. Die "Eumeniden" haben Tempel. Es gibt eine Religion des verletzten moralischen Gesetzes in Griechenland, aber eben, – und das ist echt griechisch–, nur für so schwere Fälle, wie der, in dem Orest sich befand. Die Bezeichnung "Eumeniden", die "Wohlgesinnten", braucht daher keineswegs nur euphemistisch verstanden zu werden: in dem Auftreten der Rachegöttinnen liegt ja das einzige Glück des Schuldigen verborgen, die Sühne, warum soll man sie da nicht allen Ernstes die "Wohlgesinnten" nennen! – Orest wird von den Furien verfolgt, bis die naive Güte eines Weibes dem moralistischen Phantom die Grenzen weist. Iphigenie aber ist kein Mensch, für den die Pflicht ein Problem ist, sie ist eine schöne Seele, die wie die gotthesche von sich sagen kann: "Ich erinnere mich kaum; eines Gebotes, nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes. es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß so wenig von Einschränkungen als von Reue." Nur solche Menschen können heilen. Für sie kommt das Moralische nicht in Betracht, es "versteht sich immer von selbst". Goethe hat diesen Erlösungsvorgang wunderbar begriffen; man lese nur die erste Szene des dritten Aktes und Iphigeniens Worte:

 

Hat das Geleit der Schreckensgötter so

Das Blut in deinen Adern ausgetrocknet?

Schleicht, wie vom Haupt der gräßlichen Gorgone,

Versteinert dir ein Zauber durch die Glieder?

O, wenn vergoßnen Mutterblutes Stimme

Zur Höll hinab mit dumpfen Tönen ruft,

Soll nicht der reinen Schwester Segenswort

Hilfreiche Götter vom Olympus rufen ?

Der Eumenidenkult ist also eine Schlöpfung des moralischen Denkens. Etwas ganz Analoges ist der Gespensterglaube. Wenn es auch banal erscheinen mag, diesen in eine Reihe mit der sinnvollen Religion der Eumeniden zu bringen, oder gar, wie es gleich geschehen wird, mit dem Jehovaglauben und der Gottesidee, so bleibt dennoch nichts daran zu ändern, daß alles dieses auf derselben Grundlage ruht.

Die Furcht vor Gespenstern ist freilich wesentlich eine bloße Überreizung des Seelenlebens, ein neurotisches Symptom im Volksleben, aber nebenher läßt sich eine zweifellos moralische Bedeutsamkeit erkennen. Die Gespenster sind Rachegeister, wie die Furien; nur wer ein böses Gewissen hat, muß sich vor ihnen fürchten. Und so betont bekommt dieser Glaube seine religionsgründerische Kraft. – Um diesen Vorgang recht deutlich zu machen und zu zeigen, wie aus diesem verwirrten, magischen, nervösen Aberglauben die Idee des ethischen Monotheimus entsteht, sei hier eine Stelle aus einem der neusten literarischen Erscheinungen angefuhrt, die diesen Ruck ins Allgemeingültige mit großer Schärfe zeigt. Es ist eine Szene aus Gustav Frenssens "Klaus Hinrich Baas". Ich muß die Herren bemühen und ihnen zumuten, mitten in einer philosophischen Arbeit ein Stück Roman zu lesen, und da sie diesen sicher nicht beider Hand haben, bleibt nichts übrig, als die Partie hier abzuschreiben. Sie zu kürzen, – wäre unfein. – Es handelt sich um eine Erzählung Kalli Daus, hinter dessen Leben überhaupt viel Lebensweisheit steckt, und die also lautet:

"lch war ein Jahr lang auf der Santa Barbara," sagte Kalli Dau ganz in Gedanken versunken, "es war eine italienische Viermastbark, und so´n bißchen altmodisch. Ein ordentliches Ankerspill hatte sie nicht, sondern so´n altes Plumpsspill von Anno Kruk, als die Flasche noch keinen Hals hatte; und das Essen war auch nicht weit her; und ich konnte ja erst auch ihre Sprache nicht verstehen," sagte er zu den Wärtern, "Ihr habt wohl´n bißchen Zeit und könnt mich ausreden lassen . . . da hatten wir zwei Leute unter uns, die hatten jahrelang in Brasilien an einem Bahnbau gearbeitet und fuhren nun mit dem Ersparten nach Italien zurück, wo sie beide Frau und Kinder hatten. Der eine war ein fröhlicher Gesell, er konnte am hellsten lachen auf dem ganzen Schiff, und, das wollte was sagen; denn es waren lauter Italiener bis auf mich. Der andere hatte falsche Augen, und sein Lachen kam immer hinterher und war nicht gut anzuhören. In einer schwarzen Nacht, als wir drei Tage und Nächte Sturm gehabt hatten, der uns weit nach Süden schmiß, und müde waren, traf es den Lustigen, am Ausguck zu stehen. Ich sage, es war eine schwarze Nacht, und das Wetter noch schlecht, und wir waren müde; ich glaube, es schlief alles. Als nach einer Stunde zufällig einer nach vom ging war der Ausguckmann weg. Wir suchten ihn; aber wir fanden ihn nicht, und nahmen an, daß, er über Bord gefallen war. Da öffnete der Kapitän die Kiste des Toten. Und da fand sich, daß gar kein Bargeld drin war, kein einziger Milreis.

"Von da an dachte jeder von uns zweiundzwanzig, daß der eine von den übrigen ein Mörder wäre. Und allmählich sagte es der eine dem, zu dem er das meiste Vertrauen hatte. Und allmählich sahen wir es einer dem andern an den Augen an, entweder: "Du bist es nicht", oder: "Bist Du es ?" aber in keinen Augen stand: "Du bist es". Die Wache hatten, sagten kein Wort zueinander; die schliefen, stöhnten im Schlaf; die am Ruder standen, faßten niemais in dieselbe Speiche. Jeder fühlte, daß er fähig war, eine solche Tat zu denken, und war darum bedrückt und mitschuldig. Nur der Junge, so´n kleiner Apfelsinenjunge, den sie von der via Balbi in Genua mitgenommen hatten, pfiff den ganzen Tag in seiner Weise. Das kam davon, daß er von Geld und Gleis noch noch nichts wußte, und es gar nicht denken konnte.

"Das ging so drei, vier Tage und darüber, während das Wetter schlecht war, stürmisch und naß. Wir waren wie in einem Zuchthaus, das keinen Richter und keinen Aufseher hat, und das nun jeden Augenblick übereinander herfallen will. Wir hatten kein Vertrauen mehr zu uns und zu den andern; keine Gesetze mehr in uns und über uns; wir waren so aus der Menschheit herausgefallen. So trieben wir bei schlechtem Wetter mit lotteriger Steuerung auf Madeira zu.

"Da, an einem wolkigen, dunklen Abend – wir fuhren mit scharfem Wind aus Südwest, der pfiff und heulte in den Perduhnen – ich vergesse es in meinem Leben nicht – da kam von Back her ein langer, holender Ruf. Wir stürzten aus dem Logis; die Leute von achtern riefen in das Dunkel, was vorn wäre. Als der Schrei dann gleich wiederkam, so aus einer angstvollen Brust und langsam heraufgeholt, so, als wenn er rief und forderte, stürzten wir vom Logis, alle Mann, nach achtern, die Treppe herauf, alle verstört im Geist. Dazwischen kam von vorn her wieder der schreckliche Ruf aus tiefer Brust.

"Wir fragten wild durcheinander, wer auf dem Ausuck gestanden hätte. Der meldete sich und sagte: er wäre nach dem Logis zugelaufen, seine Pfeife zu holen, da war der Ruf gekommen. Wir fingen an, uns zu zählen; wir waren alle da. Dazwischen kam der Ruf, der uns, so wie er anhub, so traf, daß wir zitterten wie Masten, wenn ein Sturmstoß, kommt. Wir hatten wohl nur einige Minuten so gestanden – in der Not geht es rasch – redend, schreiend, da kam der Mond aus den Wolken herauf, und wir sahen vorn eine gewöhnliche Gestalt stehen, am Backbordkranbalken, im Schatten des Vorstegstagsegels, und winken.

"Da machte der Kapitän sich auf und ging die Treppe hinunter mittschiffs ihr entgegen. Als er aber bis ans Logis war, machte die Gestalt eine Bewegung, daß er zurückgehen sollte. Da kehrte er um. Da machte sich der Steuermann auf; der kam auch zuruck. So gingen auch die übrigen, die ums Skylight standen und kauerten. Sie gingen einer nach dem andern, als wäre das Deck von dünnem Eis; andere riefen alle Heiligen an; andere beichteten laut kleinliche und klägliche Dinge. Da habe ich gestaunt, was für Schied und Schund in so´m Menschenherzen ist.

"Zuletzt schien es, daß nur noch der Junge und ich übrig waren. Der Junge, der nur gepfiffen und gesungen hatte, kauerte zu meinen Füßen, hielt sich Augen und Ohren zu und wimmerte in Angst. Ich stieß ihn auf und nahm ihn in den Arm und ging mit ihm die Treppe hinunter, er ließ sich schleppen und schrie laut, die Hand vor den Augen; ich aber sah geradeaus, denn ich hatte ein gutes Gewissen in allen Dingen und fürchtete weder Tod noch Teufel. So ging ich vorwärts, den Jungen vor mir haltend. Als ich an die Hütte kam, sah ich die Gestalt deutlich im Graudunkel stehen. Ich konnte sie nicht erkennen; ich sah aber, daß sie den Kopf vorbog, als wollte sie genau sehen, wer da kam. Da riß ich dem Jungen die Hand von den Augen, er starrte hin; aber die Gestalt winkte ab; da lief er laut schreiend zurück. Da war ich allein.

Da zog ich mein Messer; ich dachte, ich wollte es ihm oder mir in die Brust stoßen, je nachdem, wer der Bessere oder Schlechtere von uns wäre, und kam drei Schritte näher und schrie laut: "Ich habe in Christiansand bei der Tochter der Wirtin geschlafen, sie war fünfzehn und ich siebzehn . . . aber ist das Sünde . . . Was? Ich habe im Weststurm vor Neufundland den Jungen von der Raa heruntergeholt, die nur noch lose in den Tauen hing; kein anderer wollte hinauf . . ." Das schrie ich laut in den Wind und schlug mit meinem Messer um mich, und schrie so gegen Tod und Teufel an, daß er wußte, ich hatte ein gutes Gewissen, und wollte gegen ihn anstürmen; aber als ich an der Treppe zur Back war, winkte er ab. Ich wollte ihm aber doch zu Leib und, sprang die Treppe hinauf. Aber da sah ich so an seiner Haltung und seinen Augen, daß er da in eines Anderen Auftrag stand; da ging ich langsam zurück und hörte mein röchelndes Atmen, und fühlte, daß ich am ganzen Körper wie aus dem Wasser gezogen, war. Und hinter mir kam der grausige Ruf.

"Die meisten lagen gekrümmt. den Kopf zwischen den Schultern, Augen und Ohren verhalten, laut und leise betend und stöhnend. Der Kapitän saß stumm mit gefalteten Händen, mit jammervollem, verzweiteltem Gesicht, er war ein guter und tüchtiger Mann. Der Steuermann weinte bitterlich. Von der Back rief es unaufhörlich, ungeduldig, aufjammernd, aus schrecklicher, nicht menschlicher Kehle. Einige schrieen, daß sie alle dagewesen wären; auch der Freund des Toten hob den Kopf und schrie es.

"Da rief ich in den Knäuel, und riß und stieß sie auf, und wies auf jeden mit der Hand und fragte alle, ob er dagewesen wäre, und immer war einer, der es von dem andern bezeugen konnte. Da kam ich zu dem Freund des Toten, und da war keiner, der für ihn zeugte. Da verlangten wir drei oder vier, daß er vorginge. Er stritt gegen an und schwor, und umklammerte die Knie des Kapitäns und schrie mit tierischer Stimme. Aber der Steuermann und ich rissen ihn hoch und die Treppe hinunter, und zerrten ihn an der Hütte vorbei, und sahen, wie die Gestalt ihn heranwinkte, und ich sah deutlich, daß sie so mit der Hand winkte, wie die Italiener es machen, nicht wie wir, von unten nach oben, sondern von oben nach unten. Da ließen wir ihn los und wiesen ihn hin. Er sah wohl, daß keine Hilfe mehr war; er ging wimmernd mit knickenden Knien die Treppe hinauf und verschwand im Dunkel. Wir hörten ein Röcheln und dann nichts mehr. Ich stand für den Rest der Nacht am Steuer; um mich standen und lagen einundzwanzig Mann.

"Als der Kapitän am andern Mogen vor unser aller Augen die Kiste des Gerufenen aufbrach, fanden wir nichts; aber in seinem Bett versteckt fanden wir das Geld des Toten. Von da an waren wir wieder wie Menschen miteinander, reinigten das Schiff und gingen ordentlich Wache und kamen glücklich nach Genua . . Seht: es kommt alles darauf an, daß man ein gutes Gewissen hat. Das Gewissen muß all right sein. Dann ist alles, in Ordnung. Und wenn man mit dem Messer in der Hand auf Gott losgeht! . . .

Also das moralische Gespenst wird zu Gott, und damit steht eine ganz neue Religion vor uns: das Judentum. Zum Kulturgut konnte der bloße Gespensterglaube freilich erst werden, als es sich nicht mehr allein um das handelte, was zu vermeiden ist, um Mord, Tolschlag und Diebstahl, sondern um das, was getan werden soll. Das Gespenst wird erst Gott, wenn aus dem Rache- und Sühnegeist die sittliche Pflicht wird, das Positive. Es mußte erst das ganze tiefe Gemütsleben derer hinzukommen, die sich nicht mehr um das Böse kümmern, sondern um die Idee des Guten und um die Grundpfeiler, auf dem dieser kostbare Architrav ruht. Hinzukommen mußte ferner wenigstens ein Anflug religiöser Vertiefung, der ihn in Zusammenhang mit dem Weltganzen verstand, um sagen zu können: Gott ist das Gute und Gott ist das Ewige. Doch die Juden sind unmystisch, und es liegt in der Natur ihres Religionssubstrates, sich nicht zu weit im All zu verlieren; sie brechen an einer bestimmten Grenze ab und setzen die Weltschöpfung hin. Dafür aber bricht umso klarer ein echt jüdischer Religionsgrundsatz durch; das ist die absolute Rechtfertigung des Menschen durch sein Handeln. Das Leben wird nur schuldig durch die eigene bewußte Tat innerhalb des individuellen Daseins. Eine Schuld des Lebens an sich ist dem Juden fremd; er ist völlig unpessimistisch. Der Gelegenheitspessimismus, der bei ihnen an einigen Stellen auftaucht, ist immer moralisch bestimmt. Die Herzensreinheit zu erringen ist die höchste Aufgabe des Lebens, und das geschieht durch immer neue Versöhnungen mit Gott, der allein das absolut Gute ist. Gott ist verschieden von der Natur, in der das Notwendige herrscht, und nur durch das heftigste Anspannen des Intellektes, nur dadurch, daß jeder kleine Fehler, jede Unreinheit des Herzens ehrlich gesucht und an den Pranger gestellt wird, nur dadurch kann der Mensch ein Kind Gottes werden. Und noch mehr: Gott ist die Garantie dafür, daß das Gute wirklich ist und immer Wirklichkeit hat; er ist der Vernichter des moralischen Skeptizismus. Die Welt vergeht, das Leben sieht dahin, aber das Gute darf nicht vergehen, dafür ist Jehova Bürge, der einen Bund mit den Kindern Israel geschlossen hat.

Das Judenvolk war das einzige im Altertum, daß einen rein geistigen Gott hatte. Sein bildloser Tempel mit dem großen moralischen Hintergedanken war ein unzeitgemäßes Ereignis in der antiken Geschichte. Das ist ihnen teuer zu stehen gekommen; sie hahen über dieses auserwählte Religionsfassung ihre Wehr und Weltkraft vergessen, sodaß sie fast zweitauend Jahre lang heimatlos herumgestoßen wurden und sich erst jetzt wieder zum Rückzug zu sammeln beginnen. Das ist gewiß ein echtes Martyrium.

Man kann natürlich ein derartiges Religionsphäomen, wie das Judentum, diesen starren unbeugsamen Willen zum moralischen Gesetz, der durch kein Mittlertum und kein Opfer eines Anderen aus dem Geleise gebracht werden kann, ebenso auch von der andern Seite ansehen und die Frage aufwerfen: was hatten die Juden dabei für Hintergedanken? Aber diese Fage ist überall am Platze und sie bei den Juden so besonders streng zu stellen, ist ungerecht. Anthropologisch genommen ist jede Höhenlage eine Notlage. Natürlich machten die Juden Geschäfte dabei, als sie ihre Religion schufen. Sie schlossen einen Vertrag mit Jahwe, laut welchem dieser sich verpflichtete, ihnen für die Einhaltung der Gesetze die Weltherrschaft zu schenken. Die Juden waren ebenso konsequent in der Bejahung des Willens zum Leben "um seiner sittlichen Möglichkeiten willen", wie die Inder in seiner Verneinung, und diese hat ebenso ihre "allzumenschlichen" Gründe. Aber was sagt das gegen die Idee? Wenn kein einziger Jude je am Versöhnungstage einen reinen Gedanken gehabt hat und immer nur an die Eroberung der Welt dachte, so ist doch der erste Jude, der sich davon frei macht und die sittliche Idee in ihrer Echtheit erkennt, ein reiner Mensch und rechter Israeliter. Darum ist es ja nicht nötig, daß alle Menschen "Israeliter" werden und darin das Ideal des Menschentums erblicken. Es blühen viele Blumen auf dem Felde. –

Wenn in Bezug auf diese Richtung des Religionsphä-nomenes die Frage beantwortet werden soll, ob der von Schopenhauer sogenannte metaphysische. Trieb ihre Grundlage bildet, so bleibt nur ein klares Nein möglich. Das Sinnen nach dem Wesen der Welt, das Schopenhauer dauernd beschäftigt, spielt hier nur eine so geringe Rolle, daß von einer "Grundlage" nicht die Rede sein kann. Aber der allbekannte Widerwille Schopenhauers gegen die jüdische Religion hat seine tiefere Wurzel nicht darin, daß bei den Juden Gott die Welt aus dem Nichts gut gemacht hat, sondern vielmehr in der Theorie des Handelns und seiner Struktur. Der jüdische Optimismus besteht ja keineswegs nur in der These, daß Gott die Welt gut gemacht hat und das Leben in ihr eine Freude sei, sondern das Leben ist deshalb gut, weil man in ihm sittlich handeln kann, weil Jehova die Garantie bietet für den Sieg des Sittlichen und dieses dermaleinst im messianischen Weltreiche der Zukunft allgemeine Wirklichkeit werden soll, (ich wende dabei eine "echte Idealisierung" an, um einen Terminus Herrmann Cohens zu benutzen) und eben dieses ist dem Schopenhauerischen Geiste so durchaus zuwider. Nichts liegt ihm ferner, als das wahrhaft Gute auf das Logische zu stellen. Wenn man den Anfang seiner Preisschrift über die Grundlage der Moral liest und zwar besonders an der Stelle, wo er über die kantische Fundierung des Sittengesetzes spricht, so bemerkt man ganz deutlich, wie er sich an der Erkenntnis, es könne hier ein absolutes Gesetz vorliegen, so gültig, wie das der Kausalität, (nur in der Form des Sollens) geradezu vorbeiwindet; aber umso heftiger und auf die Autorität aller "Völker, Zeiten und Glaubenslehren, auch von allen Philosophen (mit Ausnahme der eigentlichen Materialisten)" pochend besteht er auf der metaphysischen "d. h. über dieses erscheinende Dasein hinaus sich erstreckende und die Ewigkeit berührende ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns." Und diese metaphysische Bedeut-samkeit des menschlichen Handelns kommt ihm letzten Endes auf die Verneinung desselben hinaus. Diese beginnt ihm bei einer wirklich aufopfernden Liebestätigkeit, die immer nur den einen Zweck hat, das Leiden zu mindern, das Leiden des Einzelnen und, tiefer verstanden, damit das Leiden des großen Dulders und "Herren der Welt", des Willens in seiner verzweifelten Objektivation. Ihm ist "jede ganz uninteressierte Wohltat eine mysteriöse Handlung, ein Mysterium". (Parerga II § 115), welches in der Tatsache beruht, daß das scheinbar fremde Wesen im Grunde wir selbst sind. Er nennt auch an einer andern Stelle die Wohltat den Anfang der Mystik.

Eine größere Mißachtung des Logischen in der Sittlichkeit kann es nicht geben; Schopenhauer ist eben durchaus Inder. Seine Ethik verhält sich zu der auf Logik gebauten Sittlichkeit wie eine angewandte Wissenschaft zur freien. Er nennt nur die Handlungen völlig unegoistisch, bei der das Subjekt sich selbst vergißt (hier klingt die Mystik an!), aufhört, Ich zu sein und sich völlig hingibt; damit beginnt die Auflösung des principium individuationis, die auch für das Religiöse charakteristisch ist. Die logische Natur des moralischen Gesetzes bewirkt dagegen so wenig eine Auflösung des Ichs, wie die Beurteilung kausaler Zusammen-hänge es tut, ja sie fordert vielmehr eine starke Betätigung des Persönlichen, ein umfassendes Denken und einen weiten Blick in die Welt der Erfahrung, denn "Tugend ist Wissen". Der sittliche Wert einer Handlung beginnt erst dann verloren zu gehen, wenn nicht die Tatsache, daß etwas Pflicht ist, allein Motiv wird, sondern das Verlangen nach Lusterhöhung, auch nach der, welche auf die getane Pflicht folgt (man darf die Pflicht nicht "lieben".) Hier stehen Mitleidsmoral und Denkgesetz einander schroff gegenüber, und in diesem Grundunterschiede liegt die wahre innere Feindschaft Schopenhauers zum Judentum, das andere spielte nur eine NebenroIle. Ihn ärgerte die Weltschöpfung Gottes, ihn ärgerte der pelsönliche Gott, der eine schlechte Welt geschaffen und von einem raublustigen Volke verehrt wird; er kannte das entwickelte nachbibilische Judentum nicht, und wenn er es gekannt hätte, so würde es ihm nichts gesagt haben. Sein metaphysischer Trieb wies ihn auf eine ganz andere religiöse Stimmung hin, als er sie in der jüdischen Religion finden konnte. Dort ist Gott nicht das "Ding an sich" die "Idee", der "Wille", wenn er auch schlechterdings nicht anders zu postieren war, als hinter resp. über die Welt. Er mußte ja etwas von der Natur Verschiedenes sein, weil er das Sittliche war und nicht das Natürliche, aber er ist gerade deshalb alles andere, als das "Wesen der Welt". Wenn er auch nach der jüdischen Auffassung die Welt geschaffen hat, so hat er sich doch nicht in ihr "objektiviert" und nie kann ein Mensch durch Meditation zu ihm gelangen, sondern nur durch das Gesetz des Guten und den Glauben an dessen Bürgen. Gott hat den Menschen geschaffen sich zum Bilde, nicht sich gleich, der Mensch ist Natur, aber er ist bestimmt, durch das Denken über das Natürliche hinaus sittlich zu werden und so zu Gott gelangen. – Diese Religion ist ganz unschopenhauerisch.

Das Christentum stellt eine Bastardierung zwischen indischem und jüdischem Religionswesen dar. Wir hatten schon oben gesehen, daß es wesentlich ein Nebenprodukt der abendländischen Geschichte ist und daß sein Ja und Nein dem Leben gegenüber schwankt. Eine dem ganz entsprechende Unsicherheit findet sich bei der Bedeutung des Handelns. Der Christ wird nicht gerechtfertigt durch die eigene Sittlichkeit wie der Jude, sondern im Glauben an die Erlösungstat Jesu, der die "Schuld" der Menschheit auf sich genommen hat. Was ist das für eine Schuld? – Hier leuchtet auf der einen Seite ganz unverkennbar die alte indische Auffassung von der Schuld des Lebens überhaupt hinein, die also jeden Menschen trifft, auch den Sittlichen, auf der andern aber die Vorstellung, daß der Mensch durch seine Natürlichkeit stets auf dem Wege zum Bösen ist, also zum Unmoralischen, Unlogischen, Ungesetzlichen. Daher findet sich auch im Christentum bis auf den heutigen Tag die Auffassung von "Sünde" in zwei Formen begründet, nämlich einerseits in der starker und übermütiger Lebensbejahung, wie etwa die Sünde des geschlechtlichen Genusses um seiner selbst willen, andrerseits durch das, was aus logisch-moralischen Gründen Unrecht ist. Die reine geschlechtliche Lust, die keinem schadet, steht nun an sich in gar keinem Zusammenhange mit den moralischen Begriffen "gut und böse", sie ist nur Glück; dadurch aber, daß das Christentum hier einschreitet, die These der Sündhaftigkeit anbringt, zeigt es noch in dieser Gegenwart, wo es oft so überaus lebensfroh sich zu führen unternimmt, unverkennbar seinen pessimistischen Einschlag, der das Leben und den Willen zum Leben totalitär für schuldvoll erachtet. Aber natürlich konnte es auf diesem Wege nie konsequent weiter gehen, ja wir sehen den klaren Schuldgedanken niemals rein hervortreten, weil ja das Leben von Gott geschaffen ist, also gut sein muß in irgend einem Sinne. Das Christentum kann sich daher nie damit befassen, das Dasein eigenmächtig zu unterdrücken, wie es der Buddhismus tat, der durch keinen Gottesglauben darin gestört wurde, vielmehr ist der weltabgesagte Zug dieser Religion wesentlich darin begründet, daß sie eine Verzweiflung am Handeln ist. Wir können nicht gut werden aus eignen Mitteln! sagt der Christ, denn uns haftet die Erbsünde an; wir sind von Geburt zum Bösen disponiert und überhaupt böse, sündig!

Man hat sich übrigens davor zu hüten, diesen Begriff der Erbsünde zu schopenhauerisch aufzufassen da, wie gesagt, im Christentum die Vorstellung einer Totalschuld Leben stets nur unterhalb des Bewußtseins lag, dogmatisch aber nie offen ausgesprochen werden konnte; es handelt sich hier um einen Sündenfall, d. h. um einen Ungeborsam gegen das göttliche Gesetz, an dem jeder von Adam abstammende Mensch teilhat; die Juden haben diesen Mythus ällmählich ganz in den Hintergrund gestellt.

Diese Verzweiflung am Handeln wird beim Christen wieder aufgehoben durch den Glauben an das Mittlertum Jesu, den Gott ihm zu Hilfe gesandt hat. Das Christentum ist ein Abbrechen der jüdischen Religion, die den Weg zum Guten und zur Rechtfertigung selbst durchkämpfen wollte, wobei sie aber die Verirrung beging, den Gläubigen in ein schier unentwirrbares Netz inhaltlich genau präzisierter Bestimmungen und Gesetze einzuspinnen. Das Christentum ersetzt die Strenge durch den Glauben an die Stellvertretung durch Jesu Blut. Die modernen Juden sagen daher ihrerseits mit Recht, daß Jesus (– in den Evangelien! .–) den messianischen Gedanken seines Volkes mißverstanden hat, der sich weiterentwickelte und nun gar nicht an eine einzelne Person gebunden war, sondern einen Zukunftszustand der Menschheit bedeutet, in dem sie Sittlichkeit den Sieg über die Natur davongetragen hat; es sei aber keine Sittlichkeit, wenn man sich auf die Handlungen und den Opfertod eines Anderen verlasse.–

Ich habe diese Darstellung hier mitgegeben lediglich, um ein naheliegendes Interesse an der hierzulande am stärksten propagierten Religion zu berücksichtigen, nicht aber, weil ich das Christentum in gleicher Weise für so charaktervoll halte, wie die beiden Urreligionen, deren Blut in seinen Adern fließt. Daß das Christentum schließlich diejenige Religion war, mit welcher der Fortschritt der europäischen Kultur gelegentlich Hand in Hand ging, ist eine Frage, die in die Kulturgeschichte gehört, wo man sie würdigen möge und den Wert des Christentums taxieren. Hier ist es nur meine Sache, den Charakter der Religionen selbst zu behandeln in ihrem Zusammenhange mit den dringendsten geistigen Bedürfnissen der Menschheit, und ich lasse es zunächst dahingestellt sein, ob die Religionen überhaupt einen Wert haben; an diesem zu zweifeln ist gerechtfertigter, als von Jugend an daran zu glauben.

Die Frage nach dem Verhältnis des von Schopenhauer sogenannten metaphysischen Triebes zum Christentum kann als beantwortet gelten durch die Abhandlungen über das Judentum und die indischen Religionen, da beide seine Komponenten sind; sie ließe sich am kürzesten in die Form bringen: entsprechend dem Anteil mystischen und pessimistischen Wesens steigt die Bedeutung des metaphysischen Triebes und sinkt, wo der Wert des Handelns, die Zielsetzung innerhalb der Erfahrungswelt bis zur Annäherung an den Begriff "Selbzweck" in den Vordergrund tritt.

 

Damit ist allerdings nur der eine Teil des Christen-tumes erledigt, während der andere, nämlich die alleinige Person Jesu abseits steht. Ich habe diese Art der Teilung oben selbst angenommen und muß sie nun auch durchführen, wenn ich auch die Frage, ob Jesus überhaupt eine Religion gegründet hat, oder seiner Natur nach hätte gründen können, nicht beantworten kann. Sein Leben ist uns von vier abergläubischen Biographen geschildert, gut hundert Jahre nach sehem Tode. Keiner von ihnen hat ihn gesehen und auch das sogenannte Johannesevangelium stammt nicht von seinem Jünger. Ich verweise damit nicht auf die große Literatur über dieses philologische Problem, sondern lege nur dem Leser die Frage vor, ob es möglich ist, daß ein derartig einfältiger Mensch, wie der Apostel Johannes in den Evangelien ist, (die Schüler Jesu waren sämtlich keine Genies, wenn ich auch noch nichts darüber sagen möchte, was hinter Judas Ischariot gesteckt haben mag, vielleicht dem einzigen kritischen Kopfe!) . . . daß ein so einfältiger Mensch, wie Johannes, das Adler-Evangelium hätte schreiben können! – Jesu Leben ist verwirrt und verschüttet und wir können uns nur an das Auffallendste halten. Er hat gesagt, das "Himmelreich" komme nicht in äußerlicher Gestalt, und sein Reich sei nicht von dieser Welt. Das ist ein Protest gegen den Vertrag der Juden mit Jehova! Aber dieses "nicht von dieser Welt" darf man ebenso wenig transzendent auffassen, als wäre dabei an ein Leben nach dem Tode im "Jenseits" gedacht, sondern nur das Innerliche ist dabei gemeint, das "Himmelreich in uns", welches nicht abhängt von Schätzen und Zukünften der äußeren, "dieser" Welt. Es ist die Seeligkeit des Handelns. Das Gesetz wird nicht gebrochen, aber es wird anders erfüllt, ihm wird die logische Grundlage nicht genommen, aber sie wird vergessen über der Liebe: der Mensch handelt wieder naiv. Daher werden die Kinder gepriesen und vom Manne verlangt, er solle werden, wie ein Kind an Gemüt, sonst könne er nicht ins Himmelreich kommen: von Neuem sollen sie geboren werden, denn nie können sie seelig sein im Handeln, wenn sie rechnen und abrechnen mit Jehova! Es ist ganz oberflächlich, zu sagen, die Bedeutung Jesu bestehe darin, daß er statt des strengen anrechnenden Gottes den gütigen Vater gepredigt habe, der es nicht so genau nimmt. Keineswegs! Die Konsequenz dieser Art, vom sittlichen Handeln zu denken, ist nicht ein Umstimmen Gottes, sondern ein Abschaffen. Dadurch, daß das Himmelreich in uns liegt (eine ganz unerhört revolutionäne Idee!), rechtfertigen wir uns selber aus eigenen Gnaden! Dieser Mensch Jesus braucht nicht an Gott geglaubt zu haben, und wenn, dann nur so, wie Sokrates an die atheniensischen Lokalgötzen!

Man sieht, wie verschieden das Alles von der Auffassung des Kirchentumes ist, und es zweifelt ja auch heute so Mancher nicht mehr daran, daß Jesus. wenn er auferstünde, der Antichrist sein würde, der dieselbe Rolle dem Christentum gegenüber zu spielen hätte, wie damals die Synagoge.

Jesus hatte eine ganz eigene Art, mit dem Werte des Handelns fertig zu werden. Er ist in dieser Hinsicht einer der gebildetsten und vorbildlichsten Menschen, die je gelebt haben. – Ich habe es in dieser Arbeit unternommen, die verschiedenen Religionen auf die Frage hin zu prüfen: wieviel ist unser Handeln wert? hat es eine Bedeutung dem Welt-Sinn gegenüber oder nicht? Und ich habe gefunden, daß die großen Clarakter-Religionen diese Frage höchst wichtig nehmen und entscheidende Antwort geben. Die Menscheit hat sich also immer damit befaßt und keinen geringen Aufwand darum gemacht, denn diese Frage ist durchaus nicht blos theoretischer Natur, sondern im Gegenteil die praktischste von allen. Zwei Grundveranlagungen des Gemütes kommen hier zur Sprache: die aktive und die kontemplative. Man kann die Menschen sehr gut in tätige und beschauliche teilen und wird finden, daß diese Einteilung viel wichtige Aufschlüsse über ihr Wesen ergibt und höchst glücklich ist: Hier Menschen des Hastens und Drängens die nie eine ruhige Stunde haben, dort Menschen des Schauens und Denkens, denen nie eine mutige Tat gelingt Welche Art ist die höhere . .? Jesus ist hierin einer der vollkommensten Menschen. Sein ganzes Leben ist ein Beispiel dafür, wie man aus jenem Konflikt herauskommen kann, ohne sich mit Religionen einzulassen und an den Folgen ihrer charaktervoll-rigorosen Forderungen den eignen Charakter zu verlieren, – außerdem noch das Weltbild zu fälschen. Er ist ein Vorbild für heißes Handeln und für mildeste Beschauung; derselbe Jesus, der die jüdischen Trödler aus dem Tempel prügelt: derselbe preist die Lilien auf dem Felde glücklich und die Kinder, deren Handeln noch keinen Wert hat. Er weiß hart und siegend aufzutreten und kann in Würde dulden, wenn es sein muß. Am deutlichsten verhält er sich bei dem Zusammentreffen mit Maria und Martha. Martha glaubt das Erscheinen des verehrten Gastes durch aufdringliche Geschäftigkeit feiern zu müssen, während Maria in edler Beschaulichkeit verweilend den Augenblick innerlich wertvoll zu machen sucht. Und Maria "hat das gute Teil erwählet".

Diese eigentümlich glückliche Mischung von Wertschätzung und Mißachtung des Handelns, die sich bei Jesus findet, verbunden mit der Lehre vom "Himmelreich in uns", ist die Grundlage seiner Persönlichkeit und kann immer nur von einer einzelnen Persönlichkeit aufgenommen werden. Daneben steht das vergängliche Schlackenwerk seiner Theologie – wenn wir den Evangelien trauen dürfen –, die gar keinen Wert hat; sie ist ein Zeitprodukt ohne alle Wahrheit. Die christliche Kirche hat das Falsche für das Wertvolle gehalten; sie hat aus seiner Theologie sich selbst geschaffen und zwar sind an diesem Bau die Reste der mittelmeerischen Völker schuld, die in jener Zeit im Untergehen waren und sich durch schlechte Rassenmischung verdarben. Die reine Persönlichkeit Jesu trat immer mehr zurück. Aber es ist kein Wunder, daß das frischeste Volk, das es gibt, die Germanen, sich zu ihr hingezogen fühlten und daher stets am Werke waren, das Bild des Heilands den Händen des Christentums zu entreißen. Heute sind die besten Germanen soweit, daß sie die christliche "Religion" überflüssig gemacht haben und daher allein diese Figur Jesu zurückgeblieben ist als ein rechter, ganzer und irrender Mensch.

Daher ist dieser eine und vereinsamte Teil des Christentumes auch kein fremder in dem andern, historischen, vielmehr sehen wir allenthalben, wenn auch durch Dogmen verunstaltet, reine Jesus-Motive auftreten, die aber erst dann zur alleinigen Wirkung kommen werden, wenn der dogmatische Teil überhaupt beseitigt ist und Jesus als Mensch und als nichts weiter seine Bedeutung für die Menschheit bekommt; da wird es sich denn auch herausstellen, daß sich eine Religionsgründung ganz und gar erübrigt hätte, oder, um eine Bemerkung Friedrich Albert Langes anzuwenden: daß die Erfüllung des Christentumes identisch ist mit seiner Auflösung.–

Schopenhauer ist an diesem Menschen vorbeigegangen, ohne seine Bedeutung zu erkennen. Ihm war die Seeligkeit des Handelns fremd, er kannte nur eine andere Seeligkeit, von der bald die Rede sein wird: die des Schönen. An Jesus, – er spricht sehr selten, aber immer mit Hochachtung von ihm, – sah er nur das Leiden und die Weltverneinung, "jene vortreffliche Gestalt, voll tiefen Lebens, von größter poetischer Wahrheit und höchster Bedeutsamkeit, die jedoch, bei vollkommener Tugend, Heiligkeit und Erhabenheit im Zustande des höchsten Leidens vor uns steht." (Hauptwerk I § 16.)

 

Man könnte nun noch erwarten, daß ich das entscheidende Grunddogma des Christentumes, nämlich den Glauben an Jesus Christus, als den Sohn Gottes und Erlöser der Welt in seinem Zusammenhang mit dem metaphysischen Triebe prüfe, denn das ist ja eben das Originale am Christentum, dieser Glaube an den Gekreuzigten, dessen Bild die Geschichte Europas begleitet hat. Doch hier macht die Philosophie Halt. Handelte es sich bei der Frage um das Religiöse, um die Weltschuld und die Idee des Guten um wesentliche Ereignisse und Anwendungen der menschlichen Vernunft, waren jene Grundlagen der historischen Religionen aufs engste verknüpft mit dem vernünftigen Wesen des Menschen überhaupt, und dürfen sie daher sehr wohl in das Gebiet der Philosophie aufgenommen werden, so scheidet eine willkürliche, wenn auch originelle und wirkungsvolle Unternehmung des Verstandes und der Phantasie, wie jenes Mittlerwesen zwischen Welt und Nichtwelt, zwischen Menschen und Gott ohne Weiteres aus. Die Gnadenlehre entspringt zwar einem allgemeineren Erlebnis des menschlichen Geistes, nämlich dem, daß, die qualvolle nachrechnende Selbsterforschung über unser Recht und Unrechttun, die uns so vielfach zu jenem Verzweifeln am Handeln bringt, oft gleichsam von außen und ohne unser Verdienst unterbrochen wird durch ein hinzukommendes religiöses Erlebnis und uns so erlöst ("gratis justificantur!"), doch ist dieses Phänomen eben so durch und durch Lehre geworden, gebunden an den Theismus und die metaphysisch fingierte Person Jesu, daß es uns als freies Erlebnis, kaum noch auffällt und in dieser gebundenen Form gehört es nun einmal in die erspekulierten Verstandesprodukte, deren Wert und Haltbarkeit zu prüfen nicht Aufgabe der Philosophie sein kann. Es klingt vielleicht hart, daß gerade das wichtigste Gut europäischen Religionswesens außerhalb der Weltweisheit fallen soll, es klingt vor allen Dingen aber auch, sehr neu und widerspricht den Gepflogenheiten der "Philosophie"; aber wer kann etwas dafür, es sei denn das Christentum selber, daß ein so rein rationalistisches Unternehmen im Mittelpunkte der Religion steht? Die Philosophie kann sich nur nach den Tatsachen richten. Im Buddhismus stand es anders, da war die Zentralwichtigkeit ein wichtiges Ereignis der Vernunft und das aus ihm direkt abgeleitete Doma: der Weltschmerz und die Schuldauslegung; ebenso beim Brahmanismus, wo das gefolgerte Religionssystem ein völlig adäquates Bild des religlösen Urphänomenes ist. Dagegen spielen z. B. die früheren Lebensläufe Buddhas keine wesentliche Rolle, ja, wenn man von dem Bedürfnisse der Pietät absieht, nicht einmal die Person des Buddha selber, sondern allein seine Lehre, und ich habe mich um den Mythus der Lebensläufe auch in keiner Weise gekümmert; – nun aber steht im Christentum ein rein mythologischer Faktor in der Mitte alles Interesses. Daß dieser in so bedeutender Weise wichtig genommen wurde und die Philosophie in ihrem scholastischen Zeitalter, (dessen Beendigung durchaus noch nicht verbürgt ist) fast ganz in diesen Fragen aufging, ich meine in den Problemen um ?????????, um die aufsteigende Trinität, kurz um die gesamte Christologie, das war nur eine Machtfrage, die Macht, mit der das Gemütsleben die Grenzen des Vernünftigen verwischte; heute aber, in einer kritischer gesinnten Zeit, hat die Philosophie Grund, eine unphilosophie Fragestellung philosophisch abzulehnen.

 

–––

 

Auf eine andere Spur, die schließlich zu einer Grundlage religiöser Gebilde führt, gelangt man, wenn man eine zweite Variante des Logischen in Betracht zieht, nämlich das Schöne. – Beruhte das Bewußtsein der Pflicht, gedanklich genommen, auf einer in die Form des Sollens hinübergeleiteten Logik, so wird das Bewußtsein des Schönen dadurch am treffendsten gefaßt, daß man es als eine Ablenkung des Logischen in die Form des Dürfens versteht. Kein Gegenstand ist schön, wenn wir ihn als Objekt des wissenschaftlich forschenden Verstandes betrachten, seine Beziehungen zu anderen erwägen, seine Teile, seine Gattung, seine Struktur zu erkennen versuchen. Eine Blume ist nicht schön, wenn wir sie "bestimmen", ihre Staubfäden zählen, kurz, über sie nachdenken; auch der Gärtner, der sie benutzt, versteht sie nicht als schön, – sondern erst dann, wenn sie aus ihrem naturgesetzlichen Zusammenhange herauszutreten scheint und in einen andern, ihr nicht objektiv eignen, sondern von uns hinzugewünschten, hinzuerinnerten, hinzugeschauten, "hinzugelogenen" einläuft. Dieser andere Zusammen-hang ist nie ein gegebener, nie ein wirklicher, aber doch ein logischer, gedacht nach dem Gesetze des Dürfens, der Schönheit. Diese Art, wie nun die Blume Objekt wird, ist keine wissenschaftliche mehr, sondern eine ästhetische; sie geht aber nichtsdestoweniger mit genau derselben strengen Gesetzlichkeit vor sich, wie die wissenschaftliche und wie auf der andern Seite eine moralische. Wenn die Blume so zu uns spricht, beseeligt sie uns. – Oder ein anderes Beispiel: eine Handlung. Objektiv erkannt und beurteilt ist sie in keinem Falle schön; stellen wir sie jedoch in einen Zusammenhang, der nicht wirklich ist, sondern ideal, lassen sie aber innerhalb desselben sich den logischen Gesetzen gemäß abspielen, so wird die Handlung, vorausgesetzt, daß ein Künstler sie umschuf, zum Kunstwerk, zum Drama oder Roman. Diese neue ideale Handlung kann völlig phantastisch sein, ein Märchenspiel, aber sie ist solange schön, wie sie noch logisch ist; verliert sie die Logik, so wird sie unwahr, das Kunstwerk ist mißglückt. Aber die gesamte Erfahrungswelt des Kunstwerkes ist und bleibt eine "eigentlich unerlaubte", die eben den Gesetzen des Dürfens gehorcht. –

Hören wir über diesen großen Vorgang den Monumental-Satz der schopenhauerischen Ästhetik im dritten Buche der "Welt als Wille und Vorstellung" § 34:

"Wenn man, durch die Kraft des Geistes gehoben, die gewöhnliche Betrachtungsart der Dinge fahren läßt, aufhört, nur ihren Relationen zu einander, deren letztes Ziel immer die Relation zum eigenen Willen ist, am Leitfaden der Gestaltungen des Satzes vom Grunde, nachzugehen, also nicht mehr das Wo, das Wann, das Warum und das Wozu an den Dingen betrachtet; sondern einzig und allein das Was ; auch nicht das abtrakte Denken, die Begriffe der Vernunft, das Bewußtsein einnehmen läßt; sondern, statt alles diesen, die ganze Macht seines Geistes der Anschauung hingibt, sich ganz in diese versenkt und das ganze Bewußtsein ausfüllen läßt durch die ruhige Kontemplation des gerade gegenwärtigen natürlichen Gegenstandes, sei es eine Landschaft, ein Baum, ein Fels, ein Gebäude oder was auch immer; indem man nach einer sinnvollen deutschen Redensart, sich gänzlich in diesen Gegenstand verliert, d. h. eben sein Individium, seinen Willen, vergißt und nur noch als klarer Spiegel des Objekts bestehen bleibt, so daß es ist, als ob der Gegenstand allein da wäre, ohne Jemanden, der ihn wahrnimmt und man also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beide Eines geworden sind, indem das ganze Bewußtsein von einem einzigen anschaulichen Bilde gänzlich gefüllt und eingenommen ist; wenn also solchermaßen das Objekt aus aller Relation zu etwas außer ihm, das Subiekt außer aller Relation zum Willen getreten ist: dann ist, was also erkannt wird, nicht mehr das einzelne Ding als solches, sondern es ist die Idee, die ewige Form, die unmittelbare Objektivität des Willens auf dieser Stufe: und eben dadurch ist zugleich der in dieser Anschauung Begriffene nicht mehr Individuum: denn das Individuum hat sich eben in solche Anschauung verloren: sondern es ist reines, willenloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis."

Das ist die Ideenlehre. Der Gegenstand wird angeschaut, wie er nach der Art des untersuchenden, Denkens nicht angeschaut werden kann und darf. Die Ideen der Dinge sind nach Schopenhauer die "adäquate Objektität" des Willens zum Leben, d. h. die Urtypen der Dinge, im Vergleich zu denen die zahllosen Einzeldinge, die den Stempel dieses Urbildes tragen, eine gleichgültige unendliche Reihe von Reproduktionen sind. – "Dann wird man dem Platon beistimmen, wenn er nur den Ideen eigentliches Sein beilegt, hingegen den Dingen in Raum und Zeit, dieser für das Individuum realen Welt, nur eine scheinbare, traumartige Existenz zuerkennt." (§ 35.) Diese Ideen im ästhetischen Zustande zu erkennen ist die vorzügliche Begabung und Fähigkeit des genialen und wahrhaft objektiven Menschen, wohingegen "der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikware der Natur", nur auf die einzelnen Dinge sieht und zwar stets mit dem Nebengedanken eines Interesses an ihnen. Der künstlerische Mensch dagegen sieht die Ideen der Dinge, er "verliert" sich in ihnen, sodaß man "also nicht mehr den Anschauenden von der Anschauung trennen kann, sondern beides Eines geworden sind"; der Anschauende ist "reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis". Und weiter unten heißt es: "Das reine Subjekt der Erkenntnis und sein Korrelat, die Idee, sind aus allen jenen Formen des Satzes vom Grunde herausgetreten: die Zeit, der Ort, das Individuum, welches erkennt, und das Individuum, welches erkannt wird, haben für sie keine Bedeutung. Allererst indem auf die beschriebene Weise ein erkennendes Individuum sich zum reinen Subjekt des Erkennens und eben damit das betrachtete Objekt zur Idee erhebt, tritt die Welt als Vorstellung gänzlich und rein hervor . . ." Darin erkennen wir in aller Deutlichkeit das religiöse Phänomen wieder, wie es im ersten Kapitel geschildert worden ist. Das Verlorengehen der Zeit- und Raumvorstellung, das "Heraustreten" des Subjektes aus diesen beiden und sein Einswerden mit dem All, ist in klarster Weise dargetan. Für Schopenhauer ist der Trieb zur Schönheit eine Nüance des metaphysischen Triebes, und das ganze psychische Schauspiel also tief religiös; religiös auf dem Umwege der Schönheit.

Diese Ideenlehre hat eine streng dogmatische Einkleidung erhalten, nämlich im Veda. Dort findet sich die exoterische Lehre, daß bei jeder neuen Weltschöpfung das hier als kosmisches Prinzip gefagte brahman sich der Worte des ewigen Veda erinnert und ihnen gemäß die neue Welt schafft.

Man darf sich das Schaffen der Welt aber nicht mosaisch vorstellen, vielmehr ist ein mechanisches Neuemanieren zu verstehen, wobei die neue Welt wesentlich dieselben Formen annimmt, wie die vergangene alte. Diese "Worte des Veda", âkriti sind demnach species mit gewissen dynamischen Eigenschaften, sind Gattungsbegriffe, die die unvergänglichen Formen der immer schwindenden Dinge enthalten. Auf die enge Verwandtschaft mit Platons Ideenlehre an dieser Stelle des vedischen Religionskomplexes hat Paul Deussen in seinem "System des Vedanta" aufmerksam gemacht.

Nun wird es sich ja bei diesem hochgenialen Dogma der vedischen Inder, deren abstrakter Geistesveranlagug entsprechend einfach um Begriffe und Gattungen handeln, die mit den Ideen eng verwandt sind, aber eben aus begrifflichem Denken stimmen und nicht aus künstlerischer Anschauung; doch ist das Resultat schließlich dasselbe, und ganz ohne den hellen Blick des künstlerischen Menschen wird auch diese Dogmengründung nicht zustande gekommen sein. – Wir können aus ihr die tiefe innere Beziehung zwischen Künstlertum und Religiosität erlernen, welches beides dem metaphysischen Triebe des menschlichen Geistes zur Seite steht. Von Schopenhauer wenigstens kann man sehr wohl sagen, daß sein ganzes religiöses Wesen, sein ganzes Metaphysikertum lediglich eine Spielart seines künstlerischen Innern war und damit auch seine gesamte Philosophie, eine Ansicht, die er selbst ohne Zweideutigkeit als die seinige verraten hat. –

Die Schönheit hat unter den Religionen immer nur Hilfsdienste geleistet; eine "Religion der Schönheit" in dem Sinne, wie es eine Religion des Guten gibt, das Judentum, hat sich nie durchsetzen können, obwohl doch das Verhältnis des Schönen zum Logischen dem des Guten ganz parallel läuft. Das hat wohl daran gelegen, daß das Gesetz des Dürfens nicht furchtbar wirkt, wie das des Sollens, sondern vielmehr beseeligend, und daß es andererseits durch die Ideenbildung zur Vorstufe für den religiösen Zustand wird, womit sein Verhältnis zum Logischen fast vernichtet ist. Es war wieder eine Machtfrage.

Wir haben ja gesehen, daß das rein Beseeligende, also die wirkliche Freude und Beglückung, nicht gut brauchbar zu Religionsgründungen ist, und ich hatte darauf hingewiesen, daß das Religiöse dicht an der Schwermut liegt auch bei dem "brahman ist Wonne". Wer beim ästhetischen Beschauen bleibt, hat keine Neigung zu den düstern Religionen. So mag es denn auch mit Jesus von Naazreth gewesen sein, der eine Seeligkeit des Handelns gefunden hatte, als er vom "Himmelreich in uns" sprach.

–––

 

Viertes Kapitel.

 

Die Psychologie des Priesters.

 

Wer einen Blick auf die Religionen wirft, wie sie durch die Weltgeschichte gegangen sind, und dabei die entscheidenden Ereignisse des menschlichen Geistes, wie sie in den vorigen Kapiteln geschildert sind, im Auge behält, der wird zu der Einsicht kommen, daß diese letzteren allein noch nicht ausreichen, um eine Religion zu schaffen, geglaubt und verbreitet, unerschütterlich befestigt im Herzen ihrer Anhänger. Kurz ausgedrückt: religiös sein und Religion haben ist ein Unterschied, und da drängt sich als Schlußproblem die Frage auf: was denn dieses Andere, nicht blos Triebartige ist, das zur konkreten Religionsbildung führt? Diese letzte Frage muß als im Wortlaut der Preisaufgabe durchaus einbegriffen gedacht werden, da sonst das ganze Gebäude der Antworten nur auf einem, noch dazu nicht in der Mitte stehenden Pfeiler ruht. Nur darauf zu antworten, ob die und die Grundtriebe die Fundamente der Religionen sind, oder nicht, und dann verschweigen zu müssen, was denn schließlich wirklich die Religion zur Religion macht, – eine solche Forderung wäre eine Unbilligkeit gegen die Methode und kann nicht als dem Geiste einer weitherzigen für freie Wissenschaft und Auffassung daseienden Fakultät entsprungen gedacht werden. Die Religionen sind nur Spezialfälle im religiösen Gesamtgebiet, einzelne fest konstruierte Gebäude. Was aber hat diese konstruiert? Wo liegt die Grenze zwischen ihnen und den allgemeinen Formen religiösen Erlebens? Ist diese scharf zu ziehen, oder schwankt sie hin und her? –

Alles, was in das Gebiet des religiösen, des metaphsischen Triebes und zuletzt der positiven Religionen fällt, beschäftigt sich mit dem Gesamtphänomene Welt. Dadurch unterscheidet es sich von der Wissenschaft, die immer nur auf Teile geht, welche aneinander gereiht, als Objekte ins Unendliche laufen. Die positiven Religionen haben dadurch ihre Bedeutung, daß sie etwas über dieses Gesamtphänomen aussagen und diese Aussage zur unumstößlichen Gewißheit, ja zur Wahrheit par exelence erheben. Die gesamte Erfahrungswelt wird gedeutet in Bezug auf ein nicht Erfahrbares; sie brauchen den Glauben. Das tut der naive Mystiker noch nicht, dem in einem weihevollen Augenblicke die Welt des Mannigfaltigen verschwunden zu sein schien und der von der lauten Vielheit der Dinge wieder erweckt in Bildern von diesem Erlebnisse spricht; das tat auch Xerxes noch nicht, als er den großen Weltschmerz erlebte und nachher mit Artabanos über das Elend des menschlichen Daseins sprach. Wohl aber hätte es ein vedischer Priester getan, der das Gespräch der Beiden belauscht hätte und nun zu ihnen getreten wäre also lehrend: "Die Welt ist die Vergeltung der Tat am Täter!" und der sie darüber aufgekärt hätte, wieviele Wiedergeburten sie noch zu erleben haben würden, bis sie gänzlich erlöst seien vom Spiel des samsara. Ebenso ist das reine Erleben der Idee des Guten mit all der Überschwänglichkeit des Gemütes noch toto genere verschieden von dem Vorgange, der dazu verleitet, diese "Gott" zu nennen, sie dann über uns zu setzen, zu sagen, Gott sei wirklich und die Welt dazu berufen im Frieden seiner Hände zur Ruhe zu kommen. – Aus dem frei erlebenden Menschen wird ein gebundener Religionsmensch durch den Zutritt des Dogmatischen.

So sehr die Evidenz, daß die vor uns liegende Welt der Erfahrung, die in ihrer Gesamtheit bewertet werden soll, die einzige ist, die es gibt, und der daher die zu einer Bewertung notwendige Relation zu einem anderen Verschiedenen fehlt, damit also der Dogmatismus jeder Stütze entbehrt, so sehr diese Evidenz vielen und wohl den meisten Menschen einleuchtet, so sehr steht andrerseits das immer wieder neue und heftige Erleben religiöser Zustände, das eine solche "andere" Welt an einem Zipfel zu erfassen glaubt, entgegen, und daher kommt es, daß die Menschheit den Dogmatismus noch nicht hat überwinden können. Das Erleben der Welt ist keine so schlichte Tatsache, wie das eines einzelnen Zusammenhanges in ihm, und nur den vorwiegend unreligiösen Geistern gelingt es, trotzdem unbeirrt durch Leben zu gehen, während empfänglicheren Gemütern das Wunder Dasein mit jedem Aufleuchten eindrucksvoller wird. Und diese Gemüter sind nicht nur in der Mehrzahl, sondern die Sprache ihrer Weltanschauung hat eine Eindringlichkeit, die es schwer macht, sie auf Grund eingehender Untersuchungen über die Theorie des Erfahrens von voreiligem Dogmatisieren abzubringen. Es ist leichter, an Gott zu glauben, als es nicht zu tun.

Bleibt der Kernpunkt alles Dogmatismus und damit aller positiven Religion, das Beziehen dieser Welt auf etwas anderes, das nicht Welt ist, aber ist, so lehrt die genaue Untersuchung dessen, was wir das Zustandekommen der Erfahrung nennen, die Unmöglichkeit dieses Beginnens. Natürlich lagen schon von jeher in der Menschheit kritische und realistische Potenzen die die Sätze in sich bargen: "Nur die vorliegende empirische Welt ist wirklich" und "Wahrheit gibt es nur in der Erfahrung", doch haben erst die Entdeckungen Kants für dieses naive Philosophieren den Boden sicher gemacht. Die wohlverstandenen fundamentalen Sätze dieser Philosophie zerstören mit Sicherheit jedes dogmatische Gebäude. Hiernach stehen die Dinge der Welt, die wir sehen, hören und denken, nicht, wie man früher theoretisierte, fertig vor uns da und werden von unserer "Seele" ganz passiv aufgenommen, wobei beides, Seele und Welt, als etwas Seiendes und getrennt Geschaffenes betrachtet wird, sondern wir, als die Subjekte des Erkennens, haben durch unsern Intellekt einen schöpferischen Anteil am Zustandekommen dieses vor uns liegenden Weltbildes. Die Erfahrung ist ein Produkt aus unserm Intellekt und der ihm gegebenen Materie, und nur in den Urteilen über sie allein gibt es Wahrheit, nur diese Erfahrung ist das Wirkliche, die Realität, während ihre Komponenten, der Intellekt (also die ehemalige "Seele") und die von ihm getrennten "Dinge an sich" nur logisch notendige Hilfsgrößen sind zur Erklärung des Zustandekommens der Erfahrung, keineswegs aber wirklich und absolut existieren. Es gibt keine Seele und es gibt auch keine Dinge an sich, sondern es gibt nur "Dinge für uns", wie Nietzsche sagt. Beides wird zu bloßen entes rationis degradiert. Die Seele kann nun nicht mehr wandern oder unsterblich sein, Gott kann die Welt nicht mehr schaffen und regieren, denn zu solchen Unternehmungen fehlt beiden die Existenz. – Diesem Weltbilde entsprechend findet man auch in den vedischen Schriften der Inder die Lehre, daß der Wissende (alias "Brahmanwisser") nicht nur keine neue Geburt zu erleben habe und seine Seele mit dem Tode tot sei, sondern auch, daß für ihn die Seelenwanderung überhaupt keinen Sinn mehr hat, nur ein Mythus sei, ja Çankara, der große Kommentator und Metaphysiker des Vedântasystemes, leugnet an vielen Stellen ganz offen die Existienz der individuellen Seele überhaupt (nach Deussen), freilich in Anlehnung an das Dogma, daß die Seele brahman sei, doch kann man aus diesem kleinen Zuge wieder sehen, wie nahe die gebildeten Inder dem philosophischen Kritizismus standen Denkt man sich nur den einen zän festgehaltenen Satz des orthodoxen Çankara, daß die Seele brahman sei, fort, so stehen diese Veda-Menschen vor uns in freiester Religiösität, in der tiefsten, die es je gegeben, ungläubig an Gott und die Seele.

Was wir also auch irgend erleben mögen, und sei es in den geheimnisvollsten und innigsten Zuständen unsres Gemütes, es bleibt restlos Erfahrung, ist aber nie und nimmer ein Hinabsteigen in das "Wesen der Welt" oder ein Ahnen ihrer metaphysischen Bedeutung. Nur die Art, zu erfahren, schwankt; am deutlichsten ist es auf der Höhe des klaren Bewußtseins und des wissenschaftlich strengen Verstandes, magischer beginnt es schon im Traume zu werden, ergreifend aber im religiösen Erleben; – doch es bleibt Erfahrung dieser selben Welt, in der wir kurz darauf mit festen Füßen stehen, ihr Treiben erkennend, und nutzlos sind alle Reden von "Offenbarung"; es gibt kein Entrinnen aus der Welt des Tatsächichen, und es gibt kein Erlebnis, welches uns berechtigt, etwas darüler auszusagen, welcher "Berufung der Gang des Werdens folgt – und folgen soll. Damit ist die Frage, ob eine Metaphysik möglich ist, die als Wissenschaft und als Lehre wird auftreten können, endgültig mit nein beantwortet, mit ihr die Möglichkeit der Feststellung eines objektiven Wertes der Welt. Diese steht vor uns da in aller Unschuld, ohne eine geringste Beziehung zu etwas, dem sie Verantwortung schuldig wäre und an dem sie ihr Dasein rechtfertige. Unser Leben hat keinen objektiven für alle Ewigkeit begründeten Sinn, sondern nur den, welchen der Ton und die Neigung unseres Gemütes samt seiner geistigen Leitung ihm abgewinnt. Alle religiösen Ereignisse sind demnach rein psychologisch zu deuten, und jede Verbindung mit dem Dogmatischen ist unerlaubt.

Damit sind alle Religionen gerichtet. –

Diese Methodik, die in der logischen Trennung von "Ding an sich" und "Erscheinung" ihren Ausdruck findet, hat freilich bei einer nicht geringen Zahl religiös interessierter – nicht immer religiöser – Menschen eine merkwürdige Ausdeutung erfahren, die weit populärer geworden ist, als die richtige. Nachdem der alte Moses Mendelssohn schon ganz treffend Kant den "Alleszermalmer" genannt hat, glaubt man heute noch vielfach, in seinem System eine neue Begründung der Religion gefunden zu haben. Durch eine allerdings naheliegende romantische Auffassung seiner Philosophie kam ein Urteil auf, welches in typisierter Form etwa lautet: es wäre ungeheuerlich zu denken, daß sich mit dieser vorliegenden Welt alle Möglichkeiten des Seins erschöpfen sollten, vielmehr liege hinter der Welt der Erfahrung die Welt der Dinge an sich jenseits von Raum und Zeit und in alle Ewigkeit. Diese pastorale Formulierung ist in der Methode so verfehlt wie nur etwas, denn "hinter" dieser Welt "liegen" gar keine "Dinge an sich", die etwa ein höheres Wesen begreifen und erleben könnte, sondern vielmehr jenes erfahrende Wesen erfährt immer nur das, was es durch seine Erfahrungsmittel und durch die Materie der Erfahrung selber zustande bringt, und dieses allein ist ihm Wirklichkeit, nur in ihm gibt es Wahrheit. Und wenn wir als erhöhte und verklärte Wesen nach dem Tode, wie Dogma lautet, "Gott schauen", (worunter dann etwa diese "Welt der Dinge an sich jenseits von Raum und Zeit" verstanden wird,) so wäre dieses Schauen doch immer wieder Erfahrung, die sich theoretisch genau ebenso aufbaut, wie jede andere mögliche Erfahrung auch, und es müßte bei dieser nun erlebten "metaphysischen Welt" genau so wieder eine meta-metaphysische gefordert werden, und so fort. Daß der Mensch durch eine besondere an seine Spezies gebundene Eigenart des Intellektes seine Erfahrung in so verschiedenartiger Weise zu variieren vermag, daß er sogar die Fähigkeit besitzt, sich über sein Dasein zu wundern und darüber fromm zu werden, ist nichts weiter, als eben ein Merkmal der Spezies, sagt aber nicht das Geringste zu Gunsten der "Welt der Dinge an sich" aus, die hinter der Welt der "bloßen" Erscheinungen liegen soll. Freilich hat es einen gewissen Reiz für grüblerische Menschen, das Gebäude der Erfahrung, welche durch die beiden, dem theoretischen Verständnisse dienenden Begriffe "Ding an sich" und Intellekt, d. h. Seele, zusammengebracht wird, gewissermaßen chemisch zu zerlegen, die freie vom Verstande unbearbeitete Materie, irgendwie in die Sphäre des Erfahrbaren zu rücken und andrerseits den absoluten Geist zu erfassen, doch ändert auch dieses Bedürfnis nichts an der alleinigen Wirklichkeit der konkreten Erfahrung selber.

Eine weitere pastorale Reaktion setzte in der These Kants ein, daß Gott "postuliert" werden müsse, statt, wie es früher geschah, "bewiesen". – Es mag dahingestellt bleiben, ob man einem Begriffe mehr Wirklichkeit abtrotzt dadurch, daß man die Notwendigkeit seiner Existenz falsch beweist, oder dadurch, daß man sie hartnäckig fordert, es scheint aber so, als ob das dogmatische Bedürfnis heute der Ansicht ist, daß ein inständiges Fordern größere Wirkung tut; doch haben Bedürfnisse mit den Problemen nichts zu tun, und wenn Kant Gott eine "theologische Idee " nennt, so dürfte das rein Ideale dieser Vorstellung hinlänglich dargetan sein, der Platz fur die Realität aber für immer abgeräumt. Auch wenn man die erkenntnistheoretische Basierung des Gottesbegriffes beiseite läßt und Gott als die Idee des Guten versteht, wie es die Juden tun, so bleibt der Satz: "Gott ist das Gute" doch nur solange einwandfrei, als er nur eine Namengebung bedeutet; man kann natürlich, wie man im Altertum das Meer Poseidon nannte, auch das Gute Gott nennen, das Gute in uns als das Göttliche im Menschen verstehen und so ein gewisses heiliges Pathos erzielen, aber sowie dieser Satz auch nur das Geringste aussagt, d. h., sowie der Inhalt des Begriffes "Gott" über den des Begriffes ,das Gute" hinausgeht, ist er falsch. Wenn mit dem Begriffe Gott eine neue Synthese eingegangen wird (heimlich oder offen), wie die, daß er die Welt geschaffen, daß in ihm, also dem Guten, der Sinn der Welt und des Lebens verborgen liege, so ist das dogmatische Gebiet, d. h. das der Religion, betreten und der Satz wird hinfällig.

 

Der Atheismus ist daher durchaus selbstverständlich ebenso, wie der Gottesglaube auf jeden Fall ein Irrtum, und das gesamte religiöse Leben spielt sich innerhalb des Erfahrens ab, wobei das Objekt immer dasselbe bleibt: diese eine, einzige Welt vor uns. Das schlechthin ewige Leben ist der unabbrechbare Zusammenhang dieser Welt, in der sich das Individuum schmerzlich als das immer Zerrinnende erkennt und im religiösen Zustand von dieser Erkenntnis vorübergehend erlöst wird; – "brahman ist Wonne!" Aber es gibt kein brahman, und nur die Wonne ist.

 

Wenn nun also in diesem Lichte von Neuem die Hauptfrage auftaucht, ob der von Schopenhauer sogenannte metaphysische Trieb die Grundlage der (positiven) Religionen bildet, so muß geantwortet werden: wo er eine wesentliche Grundlage ist, ist er es doch nicht allein, sondern es bedarf, und zwar in a11en Fällen, eines Trugschlusses, einer unerlaubten Transzendenz, und nur so kann eine Religion entstehen, während sonst die Phantasie ihr freies, rein künstlerisches Spiel treibt, bei dem der Mensch aber nicht gläubig wird. –

 

Bei dieser Gelegenheit kann ich mich nicht enthalten, den letzten Zusatz der Preisfrage, den ich schon lange irgendwo anbringen wollte, schnell zu behandeln, nämlich die Worte: "oder selbst eine Abwandlung des religiösen Triebes ist." Ich bin unsicher, was die Fakultät damit gemeint haben könnte, und ehe ich mich auf spitzfindige Untersuchungen einlasse und die klare Darstellung der Probleme durch exquisite, aber vielleicht nur für die eingeweihtesten Theologen verständliche Auseinandersetzungen unterbreche, gebe ich lieber offen und ehrlich zu: ich verstehe davon kein Wort! Ich habe mir den Text der Aufgabe, der, wie ich im Vorwort gezeigt habe, durchaus vieldeutig ist, erst mühevoll zurecht legen müssen, ehe mir ein brauchbares Thema vor Augen stand, aber mit diesem Schlußzusatz geht meine ganze Auffassung wieder in die Brüche, und ich stehe ratlos da. Ich halte den metaphysischen Tieb für wesentlich identisch mit dem religiösen und konnte nur mit Mühe einen Unterschied in der Farbe erkennen, wie er aber eine "Abwandlung des religiösen Triebes sein soll, der also dann als etwas ganz Gesondertes und Eigenartiges betrachtet werden müßte, das ist mir bei dieser Anordnung der Begriffe schon als Frage unerfindlich. Einmal kam mir der rettende Gedanke, man könnte vielleicht gemeint haben, "die" (sic!) Religion sei etwas absolut Primäres, wie die "Worte" des heiligen Veda in der exoterischen Lehre, etwas Geoffenbartes, zu dessen wörtlicher Durchforschung die Menschheit unwiderruflich gebunden sei, (das Wort "religio" soll von religere = "wieder binden" herkommen!) und daß der metaphysische Trieb dann nur als ein philosophischer Umweg und eine Verschnörkelung des absolut Richtigen anzusehen sei, eine "Abwandlung"; doch habe ich die furchtbare Ahnung, daß eine gelehrte Fakultät für freie Wissenschaft zu einem solchen Barbarismus fähig sein könnte, nur in kurzen Augenblicken verzweifelten Suchens in mir aufkommen lassen, ihr aber stets wieder die Tür gewiesen; sie wäre ja auch der Ruin meiner Arbeit gewesen, die ich als unscholastisch angekündigt habe. – Doch will ich mit alledem keineswegs sagen, daß die Frage überhaupt falsch gestellt sei, etwa wie eine überbestimmte mathematische Gleichung, sondern ich nehme die Schuld des Nichtverstehens ganz und gar auf mich, hoffe, daß das, was ich sonst gesagt habe, dieses Manko ausgleicht und lasse es gänzlich dahingestellt, ob jener Zusatz der Aufgabe nicht vielleicht eine besonders tiefsinnige Ergänzung ist – –*)

Kehren wir zu unserm Problem zurück, so stehen wir vor den Trümmern jedes Dogmatismus und damit jeder Religion, doch fehlt zur Vollendung noch die Frage, was Schopenhauer dazu sagt, wie speziell sein metaphysischer Dogmatismus auf dieses Schauspiel reagiert, es fehlt ferner noch, die Menschenart aufzulecken, die am Zustandekom-men der Religionen schuld ist, und zuletzt die Frage der Rechtfertigung der Religionen. –

Wenn es nun einmal verboten ist, zur Lichtung der Frage: was ist die Welt? Wozu ist sie da? Und warum? die Grenzen möglicher Erfahrung in der Form wissenschaftlichen Aufbauens zu überschreiten, wenn damit die Beantwortung überhaupt hinfällig wird, und die Welt vor uns liegt einem Kinde gleich, das mit Sand spielt und uns wohl sagen kann, was es da treibt, das aber, nach seinem Namen gefragt, nur ein stilles unkluges Lächeln zur Antwort, hat, . . . so tragen alle Versuche, doch etwas objektiv Gültiges über das Wesen der Welt auszusagen, – und das tun die Religionen – den Charakter des Betruges. Nicht nach der Form des Müssens, welche aller Wissenschaftlichkeit zugrunde liegt, ist es möglich, eine Metaphysik oder Religion zu errichten, sondern allein nach der des Dürfens. Das heißt also: jede Lehre von der Bedeutung der Welt und ihrem Wesen ist eine Dichtung, also gerade das, was die Religionen zu sein nie zugeben können, ohne sich selbst aufzuheben. Alles, was dieser vor uns liegenden allein wirklichen Welt der Erfahrung einen sekundären Charakter zuweist, sei es zeitlich verstanden oder dem Werte nach, alles das sind kosmologische Dichtungen. Und durch diese Deutung erhalten die Religionen ihren allein gültigen Wert und ihre verlorene Weihe wieder; – aber nur durch diese! Wir mögen in der Bibel die Worte lesen: "Herr Gott" Wie sind Deine Werke so groß und schön! – Du hast sie alle weise geordnet; und die Erde ist voll Deiner Güte!" oder aus der Aitareya-Upanishad jene Schöpfungsstelle: "Zu Anfang war diese Welt allein Atman; es war nichts andres da, die Augen aufzuschlagen. – Er erwog: "Ich will Welten schaffen!" – Da schuf er diese Welten: die Flut, die Lichträume, das Tote, die Wasser. – Jenes ist die Flut, jenseits des Himmels; der Himmel ist ihr Boden. – Die.Lichträume sind der Luftraum. – Das Tote ist die Erde. – Was unter ihr, das sind die Wasser. – Er erwog: "Das sind nun die Welten; ich will jetzt Welthüter schaffen!" Da holte er aus den Wassern einen Mann hervor und formte ihn." Wir mögen in Hesiods "Götterwerden" die Hexameter hören, die davon reden, wie zuerst das Chaos war, und aus ihm die breitbrüstige Erde wurde, dann die Unterwelt und schließlich die Liebe. Oder die Worte Nietzsches: "Dieser Ring, in dem du ein Korn bist, glänzt immer wieder. Und in jedem Ring dts Menschen-Daseins überhaupt gibt es immer eine Stunde, wo erst Einem, dann Vielen, dann allen der mächtigste Gedanke auftaucht, der von der ewigen Wiederkunft aller Dinge: – es ist jedesmal für die Menschheit die Stunde des Mittags." Oder wenn wir schließlich den Mythus hören vom gekreuzigten Gottessohn und Himmelreichverkünder, der "für uns" gestorben ist, . . . kurz, mögen wir alle Welt-Weisheit vernehmen: das, was sie weise macht, ist allein die Dichtung, das Gesetz des Dürfens, das wir einatmen in den Formen der Schönheit. Wenn wir vom Klageliede des Achilleus hören und sehen seine Mutter aus den Fluten steigen, oder von Antigones Opfergang, – es ist nichts anderes, als jene erhabenen Worte. Doch liegt der Pathos des Kosmologischen und des Lebens-Ganzen in ihnen, und darum dünken sie den Menschen wichtiger; sie sind aus einem spontan religiösen Erlebnis heraus geschaffen worden, das fühlen sie wieder, und so stehen sie erschütterter vor ihnen, als vor Achilleus Klage.

Es gibt nun eine bestimmte Geistesart Mensch, welche die Lauterkeit solcher Gefühle immer wieder befleckt: der Priester. Man darf unter diesem Begriff durchaus nichts Vereinzeltes, an Sitte und Gewohnheit Gebundenes, verstehen, keinen bloßen Titel, sondern der Priester ist ein scharf geschnittenes und streng begrenztes psychologisches Phänomen, das völlig unverkennbar von jedem andern absticht; er ist der Mensch, welcher die Weltdichtungen zur Wirklichkeit umlügt. Diese Definition ist erschöpfend für seine geistige Struktur und gilt für die ganze Menschheit zu allen zeiten; mag man irgend einen Verkünder einer obskuren Religion, irgend einen phantastischen Verbreiter plattester Weltauslegungen nehmen, einen Menschen etwa, der behauptet, die Welt ruhe auf dem Rücken zweier Fische, möge man an die murmelnden Isisapostel denken oder an einen liberalen Geistlichen der protestantischen Kirche, . . . so verschieden sie auch sonst gebaut sind, in diesem einen Punkte sind sie sich gleich: sie sind Priester, d. h. sie versuchen mit mehr oder weniger feiner Verschweigung einer tief im Gemüt liegenden, vom Gemüte fast geforderten Dichtung den Schein der Wirklichkeit zu geben. Der Priester ist ein gefallener Künstler. Und er ist derjenige Mensch, den die Religion nötig hat, er ist der Stützbalken des Dogmatischen, also gerade dessen, was immer falsch ist; der Priester ist der grundverirrte Wahrheitssucher, das schlimmste intellektuelle Übel der Menschheit und die Darstellung einer geistigen Pathologie.

Betrachten wir den Werdegang dieser Menschenart, so dürfen wir zu ihrer Entschuldigung wohl sagen, daß bei der tief eingreifenden Bedeutung der metaphysischen Weltdich-tungen, bei ihrer überwältigenden Wucht und andrerseits bei dem leicht zu überwältigenden kritischen Vermögen der allermeisten Menschen, denen es unmöglich ist, die Grenzen der Vernunft un das Zustandekommen der Erfahrung zu begreifen, daß bei einer solchen Situation es verständlich ist, wie so Viele dem Priestertum verfallen; doch steht auf der andern Seite auch die lockende Berechnung, daß ein Mensch, der imstande sein soll, über die wichtigsten Fragen des Lebens, ja über die Lebensfrage eine bündige Auskunft zu geben, eine ungeheure Macht über die Gemüter Anderer hat, und so ist es denn in der Tat geschehen, daß die Zusammen-rottung priesterlicher Menschen zu Religionen und Kirchen eine Machtspekulation wurde. Der Staat interessierte sich für den priesterlichen Typ, und zwar immer dort, wo er seine allein gerechtfertigte Aufgabe, die Lebensverhältnisse der Einzelnen äußerlich zu ihrem Vorteile zu ordnen, nicht entsprach und sich Privilegien anmaßte; er ließ sich von ihm segnen und gewann dadurch seinen "Untertanen" gegenüber das Pathos der Heiligkeit, das lange Zeit einzuschüchtern vermochte.

Aber der Priester ist noch mehr; er ist als Anhänger und Verkünder einer bestimmten Religion von Natur der Unterdrücker des selbständigen Schaffens, religiöser Werte, denn er hat ein bestimmtes Religionssystem zum wirklichen und wahren umgelogen und darf nicht dulden, daß es noch andere, frei erschaffene, gibt. Daher ist es auch im Interesse des Religiösen eine durchaus falsche politische Maxime, zu sagen: "Die Religion muß dem Volke erhalten bleiben"; die Religion ist der Feind des Religiösen. Sie ist das durch den priesterlichen Menschen verdorbene religiöse Ereignis, das frei und aussagelos in der Brust jedes Menschen lodern kann, und es ist kein Zweifel, daß die freie Frömmigkeit nur deshalb so selten ist, weil durch die Religion jedes beginnende Aufleuchten einer religiösen Sekunde durch dogmatische Vorstellungen, die von Jugend auf den unmündigen Menschen im Zustande der Wehrlosigkeit von den Priestern anerzogen werden, wieder erlöschen muß.

Um noch einmal zu zeigen, was freie Frömmigkeit ist, sei hier ein Gedicht von Emile Verhaeren, eingefügt, das auch sehr treffend mit "Fromm" überschrieben ist, und also lautet:

 

Klar hebt die Winternacht den reinen Kelch zum

Himmel.

Und mit ihr steigt mein Herz empor, o Gott,

Mein nachtumhülltes Herz, in deine blassen Weiten.

Wohl weiß ich, daß dein Himmel kalt und tot

Und daß nur Träume dieses Herz geleiten,

Und weiß dich Lüge, – und ich bete, Herr,

Auf meinen Knieen, ein verirrtes Kind,

Und weiß, daß deine großen Hände leer,

Daß deine Augen starr geschlossen sind

Und daß du taub für aller Schmerzen Ruf

Und nur der Menschen Sehnsucht dich erschuf

Und alles Wahn, – und meine Tränen fallen.

Nimm sie barmherzig auf in deine großen Hallen.

Klar hebt die Winternacht den reinen Kelch zum

Himmel.

(übersetzt von Erna Rehwold.)

 

Ein Priester könnte die Verbindung von Ungläubigkeit mit dem feinsten lyrischen Vermögen, die sich in diesem Gedichte zeigt, nicht als religiös anerkennen, ohne sich dabei .selbst vorher in seinen ehrlichen und seinen unehrlichen Teil zu zerlegen, d. h. also, sich aufzugeben.

In diesem Umlügen des Kunstwerkes zur Wirklichkeit also liegt das Wesen des Priesters und das ist auch zugleich die letzte und notwendigste Grundlage aller Religionen. Diese Erkenntnis hatte man schon im Altertum gehabt, wie eine Stelle aus dem Naturgedichte des Titus Lucretius Carus zeigt:

Hic siquis mare Neptunum Cereremque vocare

Constituit fruges et Bacchi nomine abuti

Mavult quam laticis proprium proferre vocamen

Concedamus ut hic terrarum dictitet orbem

Esse denm matrem; dum vera re tamen ipse

Religione animum turpi contingere parcat.

 

Friedrich Albert Lange übersetz sie in seiner "Geschichte des Materialismus": "Wenn jemand das Meer Neptun und das Getreide Ceres nennen, und den Namen Bacchus lieber mißbrauchen, als die Flüssigkeit beim rechten Namen nennen will, so wollen wir gestatten, daß dieser auch den Erdenkreis als die Mutter der Götter bezeichnet, wenn er es nur in Wirklichkeit unterläßt, sein Gemüt mit der schnöden Religion zu beflecken." – In dieser Beurteilung ist grenau das gesagt, was ich das "Umlügen" nannte, und sie trifft in den Worten "vera re" mit Sicherheit die Stelle, wo die rein künstlerische Tätigkeit der spekulierenden Vernunft durch den Piester religionistisch verdorben wird. Daß der ganze Vorstellungskomplex hier bei Lukrez nicht über die Grenze einer simplen Naturreligion hinauskommt, ändert nichts, das Umlügen bleibt dasselbe.

Zieht man nun in Betracht, welche Wirkung ein religiöses Elebnis, in welcher Form und Färbung es sei, auf das Gemüt des Menschen ausübt, wie weit es ihn über die Dinge des trivialen Lebens emporreckt, welche Verfeinerung der geistigen Anlagen es verspricht, welchen bezaubernden Blick für das All es dauernd unterhält, und wie auf der andern Seite durch den Einbruch des priesterlichen Geistes diese Erlebnisse in ihrem Wachstum verstümmelt werden, wie das, was unschuldig aus der menschlichen Vernunft geboren war, nun zum objektiv Wahren umgestempelt, ihr Frohnherr wird, der von ihr Abgaben fordert, bis sie sowohl zum Wissenschaftlichen, wie zur wahren Frömmigkeit untauglich wird, – denkt man ferner daran, welche Opfer an Menschenleben und Menschenglück eine emporwachsende Religion gar leicht bedingt, und wie das ganze Dasein des Menschen lediglich durch einen Trugschluß des priesterlichen Geistes, statt sich fei zu entwickeln, in den Fesseln eines auf alle Fälle falschen Weltsystems schmachten muß, so bleibt nicht anderes übrig, als das Bestehen von Religionen zu verwerfen, wobei es ganz gleichgültig ist, was sie etwa hie und da Nützliches zu stiften imstande sind. Die vielfach genannten guten Nebenwirkungen der Religionen, mit denen man ihr Bestehen entschuldigen will, wie z. B. die christliche Liebestätigkeit, haben ihre Wurzel nicht in jenen, sondern in sich, also hier in der Liebe und Milde, die eine allgemeine Eigenschaft des menschlichen Gemütes ist und die nur ohne religionistische Nebengedanken einen wahrhaft sittlichen Wert haben kann. Wenn ein System auf einer Unwahrheit beruht, wie die Religionen, so ist es immer schädlich und die guten Eigenschaften bestehen nur trotzdem, sie sind Kinder des Zufalls und der Laune, und wem die Ethik nicht blos ein durch Mitleid bestimmtes Handeln ist, sondern ein logisches Gepräge hat, der wird der toleranten Ansicht Schopenhauers, der in den Religionen, (er hatte die christliche im Sinne) noch Mithelferinnen der Barmherzigkeit sah, nicht beistimmen können, sondern den Satz anerkennen müssen, daß der Staat eine kulturwidrige Handlung begeht, der sich Religionen hält und sie den Untertanen aufnötigt. –

In welchem Verhältnis stand nun Schopenhauer zur Psychologie des Priestertums? Trug er selber einen Ton jener Geistesart in sich? – Ihm ist die Philosophie wesentlich eine Kunst. Sein Aufsatz "Über das innere Wesen der Kunst" im zweiten Bande seines Hauptwerkes beginnt mit einem deutlichen Hinweis auf dieses Verwandtschaftsverhältnis: "Nicht bloß die Philosophie, sondern auch die schönen Künste arbeiten im Grunde darauf hin, das Problem des Daseins zu lösen. Denn in jedem Geiste, der sich einmal der rein objektiven Betrachtung der Welt hingibt, ist, wie versteckt und unbewußt es auch sein mag, ein Streben rege geworden, das wahre Wesen der Dinge, des Lebens, des Daseins, zu erfassen. Denn dieses allein hat Interesse für den Intellekt als solchen, d. h. für das von den Zwecken des Willens frei gewordene, also reine Subjekt des Erkennens; wie für das als bloßes Individuum erkennende Subjekt die Zwecke des Willens allein Interesse haben. – Dieserhalb ist das Ergebnis jeder rein objektiven, also auch jeder künstlerischen Auffassung der Dinge ein Ausdruck mehr vom Wesen des Lebens und Daseins, eine Antwort mehr auf die Frage: Was ist das Leben? – Diese Frage beantwortet jedes echte und gelungene Kunstwerk, auf seine Weise, völlig richtig. Allein die Künste reden sämtlich nur die naive und kindliche Sprache der Anschauung, nicht die abstrakte und ernste der Reflexion: ihre Antwort ist daher ein flüchtiges Bild; nicht eine bleibende allgemeine Erkenntnis. Also für die Anschauung beantwortet jedes Kunstwerk jene Frage, jedes Gemälde, jede Statue, jedes Gedicht, jede Szene auf der Bühne: auch die Musik beantwortet sie, und zwar tiefer als alle andern, indem sie, in einer ganz unmittelbar verständlichen Sprache, die jedoch in die der Vernunft nicht übersetzbar ist, das innerste Wesen alles Lebens und Daseins ausspricht. Die übrigen Künste also halten sämtlich dem Frager ein anschauliches Bild vor und sagen: "Siehe hier, das ist das Leben!" – Ihre Antwort, so richtig sie auch sein mag, wird jedoch immer nur eine einstweilige, nicht eine gänzliche und finale Befriedigung gewähren. Denn sie geben immer nur ein Fragment, ein Beispiel statt der Regel, nicht das Ganze als Welches nur in der Allgemeinheit des Begriffes gegeben werden kann. Für diesen daher, also für die Reflexion und in abstrakto, eine eben deshalb bleibende und auf immer genügende Antwort jener Frage zu geben, – ist die Aufgabe der Philosophie. Inzwischen sehen wir hier, worauf die Verwandtschaft der Philosophie mit den schönen Künsten beruht, und können daraus abnehmen, inwiefern auch die Fähigkeit zu Beiden, wiewohl in ihrer Richtung und im Sekundären sehr verschieden, doch in der Wurzel die selbe ist."

Nach dieser Auffassung von Philosophie sind also, wie er es an einer andern Stelle ausdrückt, die Begriffe für den Philosophen das, was für den Bildhauer der Marmor; der Philosoph soll die Ideen alles dessen, was im Bewußtsein liegt, erfassen, "er stehe wie Adam vor der neuen Schöpfung und gebe jedem Ding seinen Namen; dann wird er die ewigen lebenden Ideen in den toten Begriffen niederlegen und erstarren lassen, wie der Bildner die Form im Marmor." (Nachlaß IV § 97.) Mit Vorliebe fühlt Schopenhauer sich in heftigem Gegensatz zum wissenschaftlichen Menschen, der immer nur an der Kette des Notwendigen einherläuft und nie zur Einsicht des Sinnes und Wesens der Welt gelangt: "So arm und dürftig ist alle Wissenschaft, und ihr Weg ohne Ziel! – Aber die Philosophie verläßt ihn und tritt zu den Künsten über. Da wird sie sein, wie die Künste alle, reich und allgenugsam. – Seht den Musiker, wie er im Triumph seine Kunst übt, die ihre Allgenugsamkeit über ihn verbreitet. Bleiben da noch Zweifel und Skrupel zu lösen? Sie spricht auf ihre Weise die Welt aus und löst alle Rätsel. Keine Beziehung ohne Ende auf ein Andres macht hier, wie in der Wissenschaft, alles zum Bettel. Man begehrt nichts weiter, man hat Alles, man ist am Ziel; allgenugsam ist diese Kunst, und die Welt ist vollständig wiederholt und ausgesprochen in ihr. Auch ist sie die erste, die königlichste der Künste. Wie die Musik zu werden ist das Ziel jeder Kunst. Aber auch die Malerei löset ihre Aufgabe und ebenso die Skulptur: sie wiederholen die Welt, wo nicht die ganze, doch den Teil, der im Gebiet ihres Materials liegt: die Ideen stellen sie dar, dasjenige aus dieser Welt was allein Bestand hat und nicht stets bei einem Andern Anhalt sucht und bettelt, das was auf diesem rast und bestandlosem Strohm vierfachgestalteter Gründe und Folgen allein feststeht, wie der Regenbogen auf den unstäten, fallenden Tropfen." (Nachlaß IV § 15.)

Bedenkt man nun, was Schopenhauer selbst hervorhebt, daß der Künstler immer nur einen Teil der Welt darstellt, indem er dessen Idee erblickt und von ihr entzückt in Gleichnissen von ihrer Erhabenheit Zeugnis ablegt, und daß dagegen der Philosoph immer das Welt ganze im Auge hat, so beginnt man zu begreifen, wie nahe hier Künstlertum und Dogmatismus beieinander liegen. Denn diese "Ideen", die für den kritischen Menschen lediglich Visionen sind, hergenommen aus einem tieferen genialen Anschauen der konkreten Dinge, die also im Vergleich zu diesen einen durchaus sekundären Charakter tragen, – diese Ideen sind Schopenhauer, der an der Welt der Wirklichkeit zu leiden hatte, und sie als die schlechteste Gelegenheit, zu existieren ausgab, das eigentlich Seiende, "der Regenbogen, auf den unstäten, fallenden Tropfen". Sie sind ihm die "Mütter", wie Mephistopheles in dem einzig ernsten Augenblick, den er hat, Faust zuflüstert, während sie, recht genommen, gerade als die Töchter des Seins bezeichnet werden müßten, die von den Künstlern verführt werden. – Nun ist nur noch ein ganz kurzer Schritt und der Einbruch dieser ästhetischen Weltanschauung in das Gebiet der Erkenntnistheorie ist getan. "Aber nun ist die Platonische Idee Kants Ding an sich, d. h. frei von Zeit und Raum, und dadurch von Vielheit, Wechsel, Anfang und Ende. Sie allein ist das ??????? oder das Ding an sich." (Nachlaß IV § 12.) Und Kants Ding an sich ist der Wille.

Diese hart hineingesetzte These scheint zunächst ein so arger Verstoß gegen den Kritizismus zu sein, daß der durch jenen vernichtete metaphysische Dogmatismus in Schopenhauer, dem die Ehre, ein Kantschüler zu sein, innig am Herzen lag, seine Auferstehung zu finden scheint. Doch bei näherem Hinsehen ergibt sich eine Lockerung dieses Standpunktes. Schopenhauers Dogmatismus ist kein transzendenter, wie derjenige war, gegen den Kant zu Felde zog, sondern ein "immanenter", d. h. er wurzelt nicht in einem von der Welt Verschiedenen, das mit dem Verstande erschlossen wird, sondern die vorliegende Welt der Erscheinung gibt ihm den Stoff zu seinem Bestehen; er ist aus einer Betrachtung der Sinnenwelt entstanden. So heißt es in der "Kritik der Kantischen Philosophie": (Reklam I S. 547.) "Ich sage daher, daß die Lösung des Räthsels der Welt aus dem Verständniß der Weit selbst hervorgehen muß; daß also die Aufgabe der Metaphysik nicht ist, die Erfahrung, in der die Welt dasteht, zu überfliegen, sondern sie von Grund aus zu verstehen, indem Erfahrung, äußere und innere, allerdings die Hauptquelle aller Erkenntniß ist; daß daher nur durch die gehörige und am rechten Punkt vollzogene Anknüpfung der äußeren Erfahrung an die innere, und dadurch zu Stande gebrachte Verbindung dieser zwei so heterogenen Erkenntniß-quellen, die Lösung des Räthsels der Welt möglich ist; wiewohl auch so nur innerhalb gewisser Schranken, die von unserer endlichen Natur unzertrennlich sind, mithin so, daß wir zum richtigen Verständniß der Welt selbst gelangen, ohne jedoch eine abgeschlossene und alle ferneren Probleme aufhebende Erklärung ihres Daseyns zu erreichen."

Und die Betrachtung der vorliegenden Welt ist bei Schopenhauer eine wesentlich künstlerische, die aber fortwährend geteilt wird durch das, was er innere und äußere Erfahrung nennt, die daher von den Dingen außer ihm, deren Ideen er zu schauen versucht, stets ins eigene Innerste zurückkehrt, wo es keine Dinge gibt, wo alles Dunkel ist, und wo er sich nur als wollend erkennt; er erkennt das Triebartige in sich, als seinen eigentlichen Kern und nun durch die Anknüpfung der äußeren Erfahrung an die innere dasselbe bei allen andern Menschen, desgleichen bei allen Tieren, Pflan-zen und Steinen, die dasselbe erkennen müßten, wenn sie denken könnten. Die Welt ist ihrem Wesen nach Wille. – Das sind alles rein künstlerische religiöse aber, insofern die Totalität der Welt ins Spiel kommt. Und wie eng dieses beides bei ihm nebeneinander liegt, haben wir schon früher gesehen. Sein. Geistesleben schwankt fortwährend zwischen dem künstlerischen Erleben einzelner Dinge, wo diese also noch starr und hoch in seinem Bewußtsein aufragen, und dem Dahinfließen ihrer Ideen in das All, wo âtman und brahman nichts Verschiedenes mehr sind, sondern nur das Eine, der unersättliche immer treibende Wille. Daran ist vor allem die Mystik schuld, die das Auge vom Schauen der Ideen ablenkt. Er nennt das die "innere Erkenntnis", und man sieht schon aus diesem Worte, daß damit nichts anderes bezeichnet wird, als die Meditation.

Im zweiten Bande seines Hauptwerkes, wo er eingehender, als sonst, sich mit dem Pinzip des Dogmatismus auseinandersetzt, und kritischer gegen seinen eigenen "immanenten" wird, findet sich noch die Stelle (Kap. 18): "lnzwischen ist wohl zu beachten, und ich habe es immer festgehalten, daß auch die innere Wahrnehmung, welche wir von unserm eigenen Willen haben, noch keineswegs eine erschöpfende und adäquate Erkenntniß des Dinges an sich liefert. Dies würde der Fall sein, wenn sie eine ganz unmittelbare wäre: weil sie nun aber dadurch vermittelt ist, daß der Wille, mit und mittelst der Korporisation, sich auch einen Intellekt (zum Behufe seiner Beziehungen zur .Außenwelt) schafft und durch diesen nunmehr im Selbstbewußtsein (dem notwendigen Widerspiel der Außenwelt) sich als Willen erkennt; so ist diese Erkenntnis des Dinges an sich nicht vollkommen adäquat. Zunächst ist sie an die Form der Vorstellung gebunden, ist Wahrnehmung und zerfällt als solche in Subjekt und Objekt. Denn auch im Selbstbewußtsein ist das Ich nicht schlechthin einfach, sondern besteht aus einem Erkennenden, Intellekt, und einem Erkannten, Wille: jener wird nicht erkannt, und dieser ist nicht erkennend, wenngleich Beide in das Bewußtsein Eines Ichs zusammenfließen. Aber eben deshalb ist dieses Ich sich nicht durch und durch intim, gleichsam durchleuchtet, sondern ist opak und bleibt daher sich selber ein Räthsel. Also auch in der innern Erkenntniß findet noch ein Unterschied statt zwischen dem Sein an sich ihres Objekts und der Wahrnehmung desselben im erkennenden Subjekt. Jedoch ist die innere Erkenntniß von zwei Formen frei, welche der äußern anhängen, nämlich von der des Raums und von der alle Sinnesanschauung vermittelnden Form der Kausalität. Hiergegen bleibt noch die Form der Zeit, wie auch die des Erkanntwerdens und Erkennens überhaupt. Demnach hat in dieser innern Erkenntnis das Ding an sich seine Schleier zwar großen Teils abgeworfen, tritt aber doch noch nicht ganz nackt auf."

Schopenhauer hat viel "raumlose Stunden" erlebt. Aber was bliebe übrig, wenn auch diese letzten Formen, die Zeit, und die des Erkanntwerdens und Erkennens überhaupt, auch verloren ginge? – Das absolute Nichts, brahman, das was die Seele im Tiefschlafe und im Tode erlebt, und kein "Ding an sich", kein Wille. Und an diese Erkenntnis, die einen Wendepunkt zu einer ganz andern Weltanschauung bedeutet, ist Schopenhauer hier dicht herangekommen. Er wußte recht wohl, daß sein "Wille", den er zum Wesen der Welt gemacht hatte, – Erscheinung ist, und er wußte ebenso gut, daß er mit ihm das Welträtsel nicht gelöst hatte, denn die "Dinge an sich" sind ein rein erkenntnistheoretisches Postulat, für welche die Fage, was sie sind, überhaupt keinen Sinn hat. Die Dinge sind nicht "an sich", sondern sie sind nur als Dinge. So sagt Schopenhauer in dem selben Kapitel: "Demzufolge läßt, auch nach diesem letzten und äußersten Schritt, sich noch die Frage aufwerfen, was denn jener Wille, der sich in der Welt und als die Welt darstellt, zuletzt schlechthin an sich selbst sei? d. h. was er sei, ganz abgesehen davon, daß er sich als Wille darstellt, oder überhaupt erscheint, d. h. überhaupt erkannt wird. – Diese Frage ist nie zu beantworten: weil, wie gesagt, das Erkanntwerden selbst schon dem Ansichsein widerspricht und jedes Erkannte schon als solches nur Erscheinung ist."

Damit aber steht Schopenhauer in seiner Reinheit vor uns: er ist ein Dichter und nur als solcher "darf" er den Willen, als das Wesen der Welt, als das Ding an sich hinstellen und jenen grandiosen Mythus schaffen von seiner Objektivation, seiner Selbsterkenntnis und seiner Verneinung im Heiligen, und wir können nichts anderes, als staunen. Es ist eines der tiefsten und herrlichsten Lieder von der Welt, die je gesungen wurden. Und er hat es selber gesagt, daß die Philosophie im Gunde eine Kunst sei.

Doch auch in diesen Menschen brach der priesterliche Geist ein und schuf sich Raum. Man durchblättere das ganze literarische Leben Schopenhauers und sehe, wie dieses Weltgenie das von ihm Gefundene allenthalben als "die Wahrheit" darzustellen versucht, und doch eben nicht in dem Sinne, wie er von einem Kunstwerk sagt, es sei "wahr" und gebe eine völlig richtige Antwort auf die Frage, was das Leben sei, sondern in einem andern, im dogmatischen, verpflichtenden. Und er beruft sich zum Schutze für die von ihm neuerkannte "ewigen Wahrheit" auf die Autorität aller indischen Völker und aller wahrhaft großen Philosophen. Aber noch mehr. Seinen Schüler Frauenstädt nennt er "Apostole primarie", andere "Evangeliten; dann spricht er zu Frauenstädt, der eine bestimmte Erklärung für die Erscheinung des Tischrückens vorgebracht hat, von dessen "mechanischer Ketzerei im Betreff des Tischrückens" und weiter schreibt er von einem andern Schüler: "Ganz von selbst sagte er mir, er werde in München den Doß aufsuchen. Dieses Sichbesuchen der Apostel gefällt mir sehr: es hat was Ernstes und Grandioses: "wo zwei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen." – Das sieht ganz religionsgründerisch aus. Und man kann daraus erkennen, welche verführerische Macht jedes Verhältnis zum Welträtsel auch für die erlauchtesten Geister hat. Das Übel Priester und mit ihm das Übel Religion, über das eine freigewordene vernünftige Menschheit sich zu erheben trachtet, sitzt ihr nicht minder sicher im Nacken, wie der Überschwang zu den höchsten Dingen im Geist.

 

–––

 

Man könnte mir nach dieser Darstellung leicht den Vorwurf machen, ich hätte die Gastfremdschaft der Theologie mißbraucht, indem ich ein so radikal verneinendes Urteil über die Religion fällte. Demgegenüber verweise ich auf das, was ich im Vorwort sagte, als ich von der "Arbeitssphäre philosophischer Köpfe" sprach, "denen schlechterdings Alles, auch die größten und scheinbar bewiesensten Werte, unter ihnen die Religion, auf der Grenzlinie des Zweifels steht". Wer dieses Vorwort verstanden hat und noch weiter gelesen, der hat sich auch mit mir auf das Grundprinzip stillschweigend geeinigt, hat anerkannt, daß man sogar an der Religion zweifeln dürfe, und damit die freie Wissenschaft und den freien Standpunkt als einigendes Band zwischen dem Preisfrage-steller und dem Beantworter. Nun darf man nicht mehr sagen, ich habe das Gastrecht der Theologie mißbraucht, denn ich habe von vorn herein gesagt, was ich für ein Gast bin.

Ich übersetze das Wort Theologie mit "Religionswissenschaft", nicht aber mit "Gottesgelährtheit", und damit rechtfertigt sich meine Darstellung. Das heißt also: die Theologie hat die alleinige Aufgabe, das Religionsphänomen des menschlichen Geistes nach kritisch haltbarer, wissenschaftlicher Methode zu erforschen, wie es jede andere Wissenschaft mit ihrer Materie auch tut, nicht aber hat sie das Denken in den Dienst eines Vorurteiles (theos) zu stellen, welches seinerseits nun wieder in den Diesten der verschiedenartigsten Rücksichten, Absichten und Aussichten steht, (um eine polemische Floskel Schopenhauers anzuwenden). Sie hat kritische Menschen in Bezug auf das Religionsphänomen auszubilden, nicht aber Priester (auch nicht in der liebenswürdigeren Form der "Geistlichen"). Tut sie das doch, wie es in der scholastischen Zeit üblich war, so gehört sie unter die Scheinwissenschaften gleich der Alchymie und der Astro-logie. Ich aber habe keinen Grund, mich nach dieser letzten Auffassung von Theologie zu richten auch wenn die meinige noch eine Idealisierung sein sollte; diese Idealisie-rung ist trotzdem das allein Haltbare, und alles andere ist falsch. Ich möchte dabei kurz an das Schicksal einer andern Wissenschaft erinnern, die auf demselben Wege war, der Psychologie. Auch in ihr gibt es keine "Seele" mehr, sondern hier wird allein durch strenge Methode auf dem Gebiete des Erkennbaren das Seelische erforscht, nicht aber die "Seele". Die sogenannte rationale Psychologie, die Letzteres versuchte, ist endgültig abgetan, ebenso, wie die rationale Theologie, der vielleicht das "endgültig" an einigen Stellen noch weh tut. Wie dort nur das Seelische noch Problem ist, nicht die Seele, so hier nicht Gott, sondern das Verhältnis des menschlichen Geistes zu dem, was unter diesem Begriff (und auch noch unter anderen religiösen Grundfactis) gedacht wird. Faßt man die Theologie in dieser Weise auf, und das ist völlig gerechtfertigt, so ist es durchaus theologisch, die Religionen zu verwerfen. –

An der Erkenntnis des Priesters und seines scharf geschnittenen geistigen Profiles hängt die Theorie des Unterganges der Religionen, an der endgültigen Ablehnung dieser Menschenart seine Praxis. Wenn ein System von Grund auf falsch ist, muß es auch auf die Dauer schädlich sein und das zeigt sich bei den Religionen. Sie bedeuten in allen Fällen eine Herabminderung des vollen Menschenwertes. Die Inder sind ein Beispiel hierfür: ihre Religionen allein sind daran schuld, daß ihr Geistesleben verwaist ist, daß es sich in einseitiger Richtung entwickelte und alle andern Äste absterben mußten. Bei hochgesteigerten spekulativen Fähigkeiten sind sie kaum recht zivilisiert, ihre Kunst ist in der Symbolik stecken geblieben, ihre ganze Welt ist eingeschläfert und traumhaft. Entsprechend geht es den moralistischen Religionen: das Judentum mit seiner alleinigen Betonung des Moralischen, hat gleichfalls den Weg zum bedingungslos Künstlerischen nicht gefunden. Sein Gebot: "Du sollst dir kein Bildnis noch Gleichnis machen", hat die Juden Jahrtausende lang unfähig zur Plastik und Malerei gemacht. Dieses Volk lebt in Italien zur Zeit der Rennaissance, es erzeugt begabte Menschen, gute Ärzte, aber sie stehen der Hauptleistung der großen Italiener, der bildenden Kunst, verständnislos gegenüber. Heinrich Graetz bekennt in seiner "Geschichte der Juden" ganz offen: "Allerdings an den damaligen Kunstschöpfungen, Malerei und Bildhauerkunst, hatten die Juden keinen Anteil, sie lagen außer ihrem Bereiche". Diesen Mangel an Menschentum hat ihre Religion verschuldet. Der bei den Juden des Altertums immer wieder auftretende, von den Propheten so arg verpönte Hang zur Götzendie-nerei, war nichts, als eine Rache des ästhetischen Gefühls, das durch den starren Moralismus erdrückt wurde, ein im Grunde gesunder Ausgleichversuch der verkümmerten Menschen-natur. In ähnlicher Art mißlang ihnen der Anschluß ans volle Menschenwesen zur hellenistischen Zeit, als einige freiere Juden Verbindung mit dem Griechentum suchten: ihre engen Religionsgebote verhinderten sie, die Nacktheit mit klaren Augen anzusehen, und sie empfanden das Eindringen sinnlich-edlen Menschentumes als götzendienerische Greuel und Unkeuschheit.

Im Christentum, das in dieser Hinsicht ja nur ein Absenker des Judentumes ist, finden wir dasselbe wieder. Hier war durch die Trinitätslehre und den zur Propagierung nötigen Heiligenkult der strenge Monotheismus, wenn auch nicht im Dogma, so doch im Bewußtsein der naiv Gläubigen aufgehoben und das Verbot des Bildnismachens nicht mehr am Platze; das Künstlerische konnte hier wachsen und hat auch gute Früchte getragen. Trotzdem aber zeigt die christliche Gesinnung jeder Konfession in moralischer und ästhetischer Beziehung eine unverkennbare Schiefheit. Sie begrenzt das Gute genau so eng, wie das Schöne und hat keinen Sinn für den selbständigen Wert des Charakters. Ein christlicher Priester schrieb unter das Bild Spinozas die Worte: "characterem reprobationis in vultu gerens". Wenn man meint, daß ein solcher Fehlgriff im Urteil psychologisch ins Mittelalter gehöre und heute nicht mehr vorkommen könne, so denke man daran, in welcher Art protestantische Christen und Priester uneheliche Mütter behandeln und wie die Kirche sich gegen das Aufkommen humaner Einrichtungen verhielt, die das Los solcher Verstoßen- Glücklichen zu erleichtern versuchten. Für die reine Geschlechtsliebe ist der Protestantische Christ der Menschenfeind par excellence. Man überlege ferner, ob ein Christ imstande ist, eine dichterische Figur wie Frenssens Doris Rotermund zu würdigen. Die Freiesten unter ihnen können sie vielleicht "verstehen" moralisch geredet "verzeihen", aber sie können sie nicht anerkennen in jener vornehmen Art wie sie unter freien Menschen üblich ist; sie beleidigen mit ihrer Toleranz jedes echte Menschentum, und unter ein Bild der Doris Rotermund würde heute noch jeder Geistliche die Worte setzen: "characterem reprobationis in vultu gerens". Der Christ ist moralisch und ästhetisch ein Krüppel und "steht zu allen Dingen schief." Man kann. mit ihm nur innerhalb des Koordinatensystems der zehn Gebote von Menschwert sprechen, was darüber hinaus ist, gehört ihm in das Gebiet, wo das "Verzeihen" zu wirken hat.

Die moralistischen Religionen besonders haben es an sich, das Leben des Menschen durch die Auferlegung und Verheiligung kleinlicher und größlicher Pflichterfüllungen der allmählichen Entwertung einheimzugeben, indem sie den großen Wertverleiher Glück verdächtigen. Das Glück in seinem verwegensten Sinne ist trotz aller moralistischen Aufhetzungen noch immer der Wert des Lebens geblieben, und es bedeutet eine der tiefsten Kulturaufgaben, diesen fraglos zu erhalten. Der Prister, der selber verunglückt ist, streicht diesen Pathos fort und setzt den Wert des Daseins in die Pflichthandlungen. Vergleicht man, was ja schon häufig geschehen ist, das Leben mit einer Reise, so ist das, was dieser den Wert verleiht, die Freude an der Landschaft, die Gefühle der Erhabenheit der Natur gegenüber, das Idyllische und die sieghafte Überwindung von Strapazen. Daneben versteht es sich von selbst, daß man unterwegs nicht die Kutscher betrügt, keine Sehenswürdigkeiten stiehlt und im Notfalle bereit ist, mit seinem Gefährten das letzte Stück Brot zu teilen und dem Tode still in die Augen zu sehen. Die Religionen aber sind die Verhinderer des Glückes, weil sie eine wichtige Nebensache und Selbstverständlichkeit zur Hauptsache machen und damit den Reiseplan verpfuschen. Sie gleichen einem geschwätzigen Alpenführer, der über Schneefelder gehend die Bergsteiger mit platten Dorferlebnissen belästigt.

Die Religion bildet eine Verarmung des Gemütes und kann nur durch verarmte Gemüter gehalten werden. So sind z. B. diejenigen Frauen, die sich einen Freund im Himmel suchen, statt ihre irdischen Männer mit ganzem Herzen lieben, trotz der Würde ihres Liebesobjektes nicht reich, wie sie sagen, sondern gerade verarmt und verdorben. Und trockene Armut der Seele ist es auch, den Menschen anspruchsvoll als ein Geschöpf Gottes anzusehen, – nur um ihn schmähen zu dürfen, wenn er dieser Gotteskindschaft nicht genügt, oder mit jener verletzenden Allüre priesterlicher Menschen ihm zu "verzeihen". Die Religion ist das Gegenteil der Liebe. Ärmlich ist es ferner, dem Künstler die Freiheit zu beschränken und sein Verhältnis zu Dingen und Menschen, das so eigenartig und unvergleichlich ist, nach den Werten eines anderen, ihm ganz gleichgültigen, zu messen. Aber es steht zu erwarten, daß die Religionen an der Verarmung des Gemütes, die man ihnen zur Last legen muß, zugrunde gehen; sie schwinden immer mehr, je reicher und inniger dieses wird.

Oft wird die Religion durch proletarische Menschen angegriffen und verspottet; als Entgegnung wird dann gesagt, man könnte dem "Volke" nichts Besseres geben, als die Religion und darum sei es ein Raub an seinem Gemüte, wenn man sie ihm nähme. Die Frage, ob man dem Volke etwas Besseres geben könne, als die Religion, wird oft genug schon mit dem einen Worte "Brot" entschieden, und wenn man sich ferner darüber einig ist, daß die Religion eine Verarmung des Gemütes bedeutet, so ist es vielmehr richtig, daß man dem Volke nichts Schlechteres nehmen kann, als sie; was auf Irrtum ruht, ist immer das Schlechteste von allem. – Ferner hört man oft die Mahnung, man solle Ehrfurcht haben vor der Religion und diese nicht lästern. Es ist gewiß eines feinen Menschen nicht würdig, zu lästern, aber wenn man bedenkt, daß gerade die, deren System von jeher darauf ausgegangen ist, der innigsten und reinsten Regungen des Menschenher-zens nicht die geringste Ehrfurcht zu erweisen, die alles unterdrückt haben, was nicht in ihrer Prokrustesbett paßte, jetzt, wo sie in Not kommen, verlangen, man solle Achtung vor ihrem Religionssystem haben, so wird man sogar dem Pobel Recht geben, der es auf der Straße anjohlt, und sagen: es ist ein Vergeltungsakt der Geschichte. Denn nichts ist das Gebrüll und das Pfeifen proletarischer Menschen gegen den Spott und den Hohn, den die Religionen zur Zeit ihrer heftigsten Wucherung über alles Menschliche ergossen haben. Es nützt dem Priester auf die Dauer nichts mehr, daß er die Ehrfurcht vor den großen Weltgefühlen, die nie wahr oder falsch sein können, so gerne mit der vor seiner "Religion" verwechselt, die immer falsch ist.

Man hat lange Zeit daran geglaubt, daß die Religionen wichtige Kulturträger seien. Dieser Satz ist nur historisch richtig. Sie waren es, aber sie sind es nicht mehr. In einer Zeit, wo die Völker noch nomadisch und bäuerisch lebten, waren Klöster und Bistümer kulturelle Zentren; dort lagen uralte Manuskripte und dort gab es Menschen, die schreiben und alles lesen konnten. In dieser rein äußerlichen Art des Kultur "tragens" haben die Religionen Verdienste, und bildeten eine fortschrittliche Macht. Sowie aber ein Volk aus dem Zustande des Bauerntums heraus tritt und geistig selbständig wird, wirken die Religionen gerade umgekehrt. Das Volk schießt über sie hinaus, und die Priester sind stets bemüht, es auf das Niveau der Religion zurückzuschrauben. So erklärt es sich, daß die Religionen einerseits Krankheitsträger sind, nämlich psychologisch, andrerseits aber Kulturzentren, historisch.

Reif und glücklich ist das Volk, das hierzu die rechte Stellung einzunehmen weiß. Die religiösen Grunderlebnisse, auf denen sich die Religionen aufbauen, sind soviel Wert, wie der Duft einer Rose. Das ist gewiß viel. Es ist das Zeichen einer tief ausholenden Geistigkeit, diese Erlebnisse haben zu können, aber es ist plump, sie wichtig zu nehmen. Es hängt ja nicht das Geringste von ihnen ab, sie sind nie Erkenntnisse, nie Verheißungen, sie haben auf den Verlauf der Welt unmittelbar gar keinen Einfluß; es ist abergläubisch, an sie zu "glauben". Man kann keine " Theologie" an sie knüpfen. Die Griechen waren hierin am glücklichsten. Sie nahmen das Theologische sehr wenig ernst; ihre Götter waren die Zeremonienmeister ihrer Festlichkeiten, an denen sie, wie alle südlichen Volker, mit Leib und Seele hingen. Den Aberglau-ben, der in alle dem lag, konnten sie vertragen und er wirkt ja auch nicht so zermürbend, wie die großen wuchtigen Weltsysteme der Kirchen. Sie nannten die Religion eine ?????????? d. h. ein gewisses "kaufmännisches Verhalten" allen unbekannten Mächten gegenüber. Und das alles hat ihnen wenig geschadet, wie eine Priese halb ernst, halb spaßhaft genommenen Aberglaubens ja das Volksleben überhaupt würzig macht, und daher sind sie bisher als einziges Volk zur Blüte ihrer eigenen Individualität gekommen. Sie war kurz, aber wer hat auch Zeit, besonders im Süden, lange zu blühen? – Das frische sturmgekühle Germanenvolk ist jetzt auf dem Wege, in seiner Art die Religionsära der Menschheit zu beenden und ohne Aberglauben, aber ausgerüstet mit einer Fülle künstlerischer Gestaltungskraft in rechter Weise der Welt und dem Probleme der Welt gegenüberzustehen und so endlich zu seiner Eigenart zu kommen.

Es hieße, eine auf der Zungenspitze liegende Wahrheit hinunterzuschlucken, also ein höchst unphilosophisches pfahlbürgerhaftes Unternehmen, wollte man verschweigen, daß es sich bei allen Fortbildungsbestrebungen bezüglich der religiösen Dinge nie um eine Reformation der Kirche handeln kann, sondern nur um deren Negation. Die modernen Besserungsversuche, auch die außerkirchlichen, greifen meistens an einer ganz falschen Stelle an, sie heilen symptomatisch, während sie besser täten, sich nach dem Grundherde der Krankheit umzusehen. Man hat hie und da, heute und gestern, teils den Pessimismus, teils den Moralismus, dann aber auch gelegentlich die Mystik als das eigentlich Krankhafte erklärt, während das Grundübel doch ganz allein im Dogmatismus liegt. Nur der Priester ist der erkrankte Mensch und gegen ihn hat sich das große Naturheilverfahren zu richten. Hier sitzt das absolut Verirrte, während die andern Erscheinungen nur in ihren überreizten Formen als pathologisch zu bezeichnen sind, so etwa das Asketentum als Hypertrophie des Pessimismus usw. Der Priester ist immer, wenn er nur den Mund auftut, eine Fälschung, und da er auch zugleich die einzige Erscheinung ist, die den Religionen immer und notwendig.anhaftet,.während die oben genannten in verschiedener Stärke und Färbung wechseln, so ist er und mit ihm die Religion selber das eigentlich Abzulehnende. – Und warum soll diese Menschenart, die sich so deutlich abhebt, die man gar nicht verwechseln kann, nicht ebenso im Bewußtsein der Menschheit als unverträglich erkannt und schließlich absorbiert werden, wie man es mit den Zauberern, Traumdeutern und Weissagern gemacht hat? Auch diese sind nur logische Mißbildungen.

Das fliegende Wort von der "Fortbildung der Religion" ist eine Redensart. Alle wirklich bildnerischen Fähigkeiten der Menschheit können hier ja nur auf dem Künstlerischen ruhen, und der Priester, d. h. die Religion, ist gerade das, was das Künstlerische verdirbt. Beide tun weiter nichts, als das Umlügen zur rechten Zeit und den fordernden Umständen gemäß zu bewerkstelligen. So liegen also die Potenzen des religiösen Fortschrittes immer außerhalb der Kirchen. Und diesem Fortschritt dient jede Geistesarbeit die den priesterlichen Menschen verneint, aber wohl gemerkt, nicht bloß da, wo er sich schlecht benimmt, sondern überall. Man muß die harte Grenzlinie zwischen Künstler und Priester sehen lernen und dann wissen, wo man zu schneiden hat. Ich glaube, daß durch das allmähliche Aufstreben des künstlerischen Gefühles, wie wir es in unseren Tagen in den Bemühungen um die Kultur des Ausdruckes und des Empfangens erleben, der beste Nährboden zur Überwindung der Religion und zum religiösen Fortschritt gegeben ist. Unsere heutigen Kunst-bestrebungen sind alle unscholastisch, sie.dienen der Religion nicht mehr, aber um so eher wird ein Volk, das lernt, die Kunst mit immer tieferen Augen zu verstehen, auch fähig sein, das Weltganze künstlerisch zu begreifen; es wird mit großerer Sicherheit, als alle partielle Aufklärung sie zu schaffen vermag, dazu kommen, die Religion mühelos zu entbehren. Und dann ist der religiöse Fortschritt da. Dann sind die Menschen gekommen, die religiös so groß sind, wie die höchsten Brahmanen, welche sagen: Der Veda hat keine Autorität mehr! – Auch Origines, der Kirchenvater, hat etwas ähnliches verlauten lassen. –

Ob das Alles langsam geschehen wird, oder plötzlich, das zu entscheiden ist nicht meine Sache, auch nicht, wie es geschehen soll; in der Philosophie gibt es kein Allmählich und alles geht so schnell, wie der Gedanke des Menschen. Aber möglich ist es, daß die Völker auch diesen Menschen ausscheiden, den Priester. Es könnte eine große Priesterhetze geben, die in der Zukunft spielt. Und wenn die Menschheit einmal jenen Vorgang des Umlügens recht herzhaft begreift, so wird sie sich nicht davon zurückhalten lassen, auch herzhaft zuzugreifen. In Europa würde sich das etwa in der Form einer neuen Christenverfolgung abspielen, die freilich ganz unneronisch sein wird; ich meine geistvoll. Wer kann das wissen? Es wäre nichts weiter, als logisch. Aber die Welt-geschichte. .. .

Natürlich bleibt das Material, das die Religionen der Nachwelt überlassen, für die kommende unpriesterliche Religiösität immer wertvoll, aber es könnte im Vergleich zu dieser selber unbedeutend sein. Die Religionen sind überhaupt nur Skizzen und Entwürfe. Gewiß kann man jetzt noch nicht sagen, was aus ihnen einst entsteht, doch darf man nicht annehmen, daß das Kommende unberühmter sein wird, als das Vergangene. Welche gewaltigen künstlerischen Möglich-keiten liegen noch unbenutzt im Volksleben verborgen! Sie wagen sich jetzt erst schüchtern ans Tageslicht, aber wir staunen schon über sie. Die Kunst beginnt ja jetzt erst, das reinste aller Gewissen zu bekommen, im selben Grade, wie das des Priesters und der Religionen von Tag zu Tage schlechter wird. Und so scheint es denn so zu gehen, wie es dem ersten Präludium J. S. Bachs erging. Der Genius Charles Gounods griff es auf, benutzte die schlichte Weise dieses kurzen Stückes und schuf jenes unsterbliche Ave Maria daraus mit seiner großen melodiösen Pracht.

 

Ende.

 

–––