Karte XXIII

Die Unberührbarkeit

 

Thema als Kurzfassung:

Sich nicht einlassen. Die Distanz. Der Steppenwolf. Die Einsamkeit.
Das Gulliver-Syndrom. Die Artisten in der Zirkuskuppel.

 

Diese auf den ersten Blick sehr gefällige Karte scheint mit dem Thema Partnerschaft so gar nichts zu tun zu haben. Weder ist ein Pärchen abgebildet, noch ein realer Mensch. Dargestellt ist der Gott Amor selbst und zwar in seiner kindlichen Gestalt, als sogenannte Amourette. Seine Pfeile und sein Bogen — das Markenzeichen des Liebesgottes — die auf vielen alten Abbildungen zu sehen sind (und zwar meist wenn er zum Schuss, ansetzt) liegen ungenutzt an seiner Seite.

Als Liebesstifter scheint er gerade nichts zu tun zu haben. Niemand scheint seine Dienste zu benötigen. Doch diese Sichtweise täuscht. Schaut man nämlich genauer hin, so sieht man, dass er doch nicht allein ist. Es ist noch ein zweites Wesen abgebildet: Ein Schmetterling hat sich ihm genähert, ist auf ihm gelandet und der Gott pflückt ihn gerade mit zarten Fingern und mit nachdenklich konzentriertem Blick von seinem Arm — ihn, den Schmetterling, der sich doch gerade leicht und zärtlich annähern wollte. Der doch nur zarte Bande knüpfen wollte.

Der Leser sieht also: Es geht doch um das Thema der Partnerschaft. Eine Partnerschaft freilich, in der der eine so groß ist wie Gulliver im Reich der Winzlinge — und der andere ist eben einer dieser Winzlinge. Auch die Tatsache, dass der eine ein Gott ist — gar noch der Gott der Liebe —, spricht Bände. Denn wo es um die Liebe geht, darf der, dessen Aufgabe es ist, sie stiften müssen, sich ja nicht selbst verlieben. Er steht viel zu hoch darüber.

Soviel zum Mythos.

Was soll das jetzt in Bezug auf eine Partnerschaft bei einem Menschen bedeuten?

Nun, es gibt hier mehrere Facetten, die ins Auge springen und die einer näheren Betrachtung wert sind: Zum einen der bereits erwähnte Größenunterschied dieses ungleichen Paares. Der eine der beiden ist riesengroß im Vergleich zum anderen und außerdem auch noch mit starken Flügeln ausgestattet, die es ihm gestatten, sich hoch in die Lüfte zu erheben, über die Menschen empor, über den Partner empor, um von dort oben nach tief unten herab zuschauen. Und aus dieser Höhe erscheint das Unten sehr klein und sehr beengt. Natürlich muss er ab und zu nach unten, um dort sein Werk zu vollführen, aber eigentlich weiß er: Das ist nichts für mich, da gehöre ich nicht hin. Der andere der beiden kommt sich im Vergleich zu dem Großen klein und winzig vor. Natürlich, wir reden über Partnerschaft und nicht über Körpergrößen und so ist es klar, dass dieses Gefühl der Winzigkeit lediglich eine Frage des Vergleichs ist: Nur in den Augen des Kleinen schaut der andere überlebensgroß aus und er mißt sich daran, er spürt den Größenunterschied und vor allem, dass es da wohl kaum eine Annäherung geben kann. In dieser Größe und in dieser Höhe findet er kein Zugehörigkeitsgefühl. Er weiß, seine Schmetterlingsflügel tragen ihn nicht in diese Höhen und so gibt es kein oder nur ein sehr unbefriedigendes Zusammenkommen.

Und noch etwas spürt der "Winzling" ganz deutlich: Dass nämlich der Große die Nähe und die Berührung des Kleinen schon fast als eine Art von Belästigung empfindet. Dieser ist nämlich ein Einzelgänger, ein Steppenwolf, ein Loner.

Sein Wissen und seine Visionen (die er tatsächlich hat) zielen über das Kleine und Normale einer Partnerschaft weit hinaus.

Ja sein Ort ist eigentlich der Olymp.

Die höchsten Höhen eines Berges, auf den man zu zweit gar nicht mehr hinaufgelangen kann und als gewöhnlicher Sterblicher schon gar nicht!

Natürlich weiß der Große gar nicht, was er weiß. Aber er weiß in jedem Fall, dass er mehr weiß als der Kleine. Und so ist sein Schweigen oft nur eine arrogante Höflichkeit und meist erspart er sich die Mühe, den Anderen an seiner Großartigkeit teilnehmen zu lassen oder gar, ihn einzuweihen.

Dem Schmetterling (dem Kleinen) gegenüber empfindet er fast ein wenig Mitleid, da dieser ja doch nicht mithalten kann. Und alsbald ist er bereit, ihn mit einer gezielten Bewegung (und auch ein wenig Wehmut) abzupflücken.

Doch im Endeffekt ist und bleibt er allein. Und mitunter sitzt er auch ratlos (trotz all seines Wissens) auf dem Olymp und träumt von jemandem, der ihm ebenbürtig sein könnte. Doch leider ahnt er dabei nicht, dass jeder Partner in der dünnen Luft seiner Höhe dem Erstickungstod ausgeliefert wäre. Nein, der Große hat es auch nicht leicht. Wenn er doch wenigstens richtig traurig sein könnte.

Doch auch hier hat ihm der "Kleine" die Nähe zur Erde voraus.

Er macht es für ihn mit.

Das Originalgemälde stammt von dem französischen Maler Adolphe (William) Bouguereau (1825 - 1905). Titel: L’amour au papillon (gemalt 1888). Es befindet sich heute in Privatbesitz.

Wenn Du die Karte ziehst:

 

A: Das Problem

Du, der du diese Karte gezogen hast, weißt genau, welcher von den beiden du bist: Gulliver oder der Winzling.

In der Rolle des Gulliver hast du dich im Laufe deines Lebens so groß gemacht, dass keiner deiner Partner mehr nahe an dich heranreichen kann. Und, wenn du dich hinab beugst, so ist dies auch nicht für lange — nein, du willst dich nicht auf dieselbe Stufe stellen, nicht auf die gleiche Höhe begeben. Du denkst, natürlich, das Problem läge bei den anderen, die alle viel zu klein seien für dich. Bei jenen, die so gefangen sind im Einerlei ihres Wollens, in der Enge ihrer Partnerschaft, in der Starre ihrer Gedanken. Die sich eingelassen haben mit dem Althergebrachten, die die alte Werte und alte Strukturen unreflektiert übernommen und somit ihrer eigenen Individualität entsagt haben. Damit werden sie für dich uninteressant und farblos.

Allerdings: Nicht sie, sondern du bist das Problem. Du hast dich soweit erhoben, so weit entfernt, dass du sie nicht mehr richtig sehen kannst. Und wenn du dich doch einmal einem Menschen zuwendest, dann mit einer wohlwollend abgeklärten Unberührbarkeit, die soviel Größe und Unabhängigkeit in sich trägt, dass der andere schnell in einen Schrumpfungsprozeß gerät, der dich wieder emporhebt in deine einsame Höhe.

Du bist unberührbar geworden — du lässt dich nicht ein. Du pflückst deinen Partner einfach ab, wenn er dir lästig wird. Hast du es schon einmal so betrachtet?

Jetzt zu der zweiten Rolle: Als Winzlings fühlst du dich vielleicht bestätigt von dem, was du gerade gelesen hast. Fühlst dich verstanden — endlich. Aber so einfach ist es auch wieder nicht: Du bist zu klein. Oder anders gesagt: Du hälst dich fest am Zustand der Kleinheit. Natürlich, darunter leidest du und beklagst dich. Du strengst dich an, versuchst immer wieder auf den Großen (dieser Welt) zu landen, mit ihnen Nähe und Berührung herzustellen, und immer wieder musst du feststellen, dass das vergebliche Liebesmühe ist. Aber so schlimm sich das für dich auch anfühlen mag, irgendeinen Nutzen hat es trotzdem.

Schau, du bist klein und du bleibst es auch und du reichst nicht an jene Früchte heran, die viel zu hoch hängen. Und auch wenn du springst und hüpfst, bis dir die Luft ausgeht — du bestätigst immer wieder nur deine Winzigkeit. Die Frage ist: bist du wirklich so klein oder bist du es nur im Vergleich zu jenen Partnern, die so gigantisch überdimensioniert sind?

Wie dem auch sei, es ist dein Problem, dein Leben und deine Verantwortlichkeit. Und es wird Zeit, dich dem zu stellen.

 

B: Die Lösung

Wer sich als Erwachsener immer noch in seiner Kleinheit befindet, der muss noch mal zurück in seine Kindheit. Dorthin, wo er einst aufgehört hat, zu wachsen. Das Thema, das sich in einem solchen Fall oft im Hintergrund verbirgt, sieht folgendermaßen aus: Ein Kind, das erwachsen werden will und sich auf den Weg in die Eigenständigkeit macht, muss dabei als erstes seinen Vater und seine Mutter verlassen. Es muss ein Lösungsprozeß in Gang kommen, der manchmal der kindlichen Seele ganz und gar nicht gefällt. Dieser Konflikt wird deshalb oft so gelöst, dass ich zwar äußerlich groß werde, aber innerlich klein bleibe und mich von den Eltern eben nicht löse. Und dieses Spiel wiederholt sich später mit einem (viel zu großen) Partner.

Fazit: Du musst also (innerlich) noch einmal zurück und dich von deinen Eltern oder von jenem deiner Elternteile, an die/den du (sei es im Guten, sei es im Bösen) noch gebunden bist, lösen.

Erst in diesem Prozess beginnst du zu (er-) wachsen und lässt peu à peu deine Kleinheit hinter dir zurück.

Bist du allerdings der, der zu groß ist, so musst du in einen Prozess des "Gesundschrumpfens" eintreten. Aber auch dabei führt dich dein Weg noch einmal zurück in deine Kindheit.

Die Frage, die du dir vorlegen musst: Wem gegenüber bin ich zu groß geworden? Und aus welchem Grund. Du bist als "Großer" an ein Elternteil gebunden — hast ihm helfen wollen, wolltest sein Retter sein — und das hat dich unberührbar gemacht für andere. Es ist dies eine besondere Form der Treue, die dich jedoch einsam macht in deinem übrigen Leben. Das ist der Preis, den du dafür zahlst. Schrumpfen heißt, Vater und/oder Mutter gegenüber wieder den natürlichen "Kindstatus" einzunehmen.

Auch hier hast die Wahl: Es ist dein Problem, dein Leben und deine Verantwortlichkeit. Und vielleicht wird es Zeit dich dem zu stellen.

Freilich, eines wollen wir nicht verhehlen: Es ist ein ziemlich weiter Weg, von so weit oben wieder so klein werden zu müssen. Die Zauberformel für diesen Weg lautet: "Lieber Papa (oder Liebe Mama), ich würde gern wieder Euer Kind sein!"

 

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