Mephistopheles

    

08 Mephistopheles oder Die religiöse Idee - Teil I

Jung selbst scheint nicht sonderlich viel zu diesem Archetypus gesagt zu haben. Mir ist nur eine Stelle aus seinem Werk bekannt, die ich deshalb hier ausführlich zitiere: "Der Archetypus der religiösen Vorstellungen hat, wie jeder Instinkt, seine spezifische Energie, die er nicht verliert, auch wenn das Bewusstsein sie ignoriert. Wie man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass jeder Mensch alle durchschnittlichen menschlichen Funktionen und Qualitäten besitzt, so darf man auch das Vorhandensein der normalen religiösen Faktoren beziehungsweise Archetypen erwarten, und diese Erwartung trügt nicht, wie leicht ersichtlich. Wem es gelingt, eine Glaubenshülle abzulegen, der kann es nur tun vermöge des Umstandes, das ihm eine andere zur Hand liegt. Dem Präjudiz des Menschseins entgeht keiner." (C. G. Jung, "GW" Bd. 9/1, 1976 "Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten" S. 53)

Noch einfacher wird dieses Thema in üblich lapidarer Weise im SPIEGEL auf den Punkt gebracht, in dem die Zeitschrift dem Wirtschaftsminister vorwirft: "Röslers Bekenntnis ist ein Beispiel für Pippi-Langstrumpf-Politik nach dem Motto: Ich male mir die Welt, wie sie mir gefällt!" (DER SPIEGEL, Nr. 31, 2011, S. 66)

Dieser Archetypus konstruiert die Welt des Diesseits (und natürlich des Jenseits) einzig und allein nach meinen Vorstellungen darüber, wie sie (nach meiner inneren Architektur) sein sollte, wie sie zu sein hätte! Einzig und allein aus diesem Hintergrund heraus entstehen Religionen.

Ich habe lange mit C. G. Jung innerlich gehadert, wieso er bei dem Archetypus der "Vorstellungen" nur die Religiösen im Schaufenster der Archetypen auszustellen gewillt war. Nach einiger Zeit aber leuchtete es mir ein: Jedes große Vorstellungsbündel (nehmen wir als Beispiele "Christentum" oder "Marxismus") hat entweder einen religiösen Hintergrund oder ausdrücklich keinen religiösen Hintergrund (wie der Marxismus) und hält sich deshalb ausgesprochen nicht in der Nähe einer Religion auf. Es hat jedoch die gleichen menschenverachtenden Mechanismen, die nur das Wort "Hohepriester" durch "Mitglied des Zentralkomitee" ausgetauscht hat.

Auch der Norweger Anders Breivik ist eindeutig von einer religiösen Vorstellung beherrscht, die er auf 1500 Seiten niederschreibt – und mit einem Kreuzritter-Kreuz versieht. Mephisto ist nun einmal die zweitgrößte religiöse Potenz des Christentums, gleichsam die Nummer zwei neben Jesus.

Dieser Archetypus ist niemals zufrieden zu stellen, hat er sich einmal irgendwo oder irgendwie verwirklicht. Seine Existenz verdankt er einem merkwürdigen sprachlichen Regelwerk: dem Konjunktiv. "Etwas sollte so oder so sein...", Man müsste doch dieses oder jenes...", "Eigentlich sollte der Mensch...", "Mein Idealgewicht wäre..."

Das wichtigste Gebilde, das dieser Archetypus hervorbringt, ist die Idee, die Vorstellung, so weit sie sich auf die Verbesserung des Menschseins bezieht.

Entweder auf mein eigenes oder – wichtiger noch – gleich auf die Verbesserung der ganzen Menschheit. Zum Beispiel die Idee: "Frieden schaffen ohne Waffen!" Eine wunderschöne Idee! Zwar hat diese Idee sich seit den letzten 5000 Jahren um keinen Millimeter realisiert und wird sich mit Sicherheit auch in den nächsten 5000 Jahren nicht herstellen – egal ob die Firma Merck bereits an den entsprechenden Medikamenten arbeitet. ("Da sollte sich doch eine Pille dagegen finden lassen...") Aber toll ist sie trotzdem. Die Idee! Und wird in den diesbezüglichen Talkshows regelmäßig heftig beklatscht.

Teil II

Das eigentlich Entscheidende an diesem mephistophelischen Geschehen ist aber nicht die Idee (als solche) oder dass die Vorstellung bis ins kleinste Detail ausgeschmückt wird (das wünscht sich ja jeder Künstler, der ein Bild nach dem Leben malt). Das Entscheidende besteht darin, dass ich (nachdem ich es mir ausgemalt habe) alle mir zur Verfügung stehenden Energien in die Realisierung dieses leblosen Gebildes hinein stecke.

Einer meiner Lieblingsfilme trägt diesen Gedanken in bemerkenswerter Klarheit in seinem Untertitel: "Leben, das ist was geschieht, während du gerade andere Pläne machst." Dieser Archetypus gibt also nicht eher Ruhe, bis ich ihm all meine Lebenskraft geopfert habe. Er wünscht sich, dass ich mich nur ihm, nur seiner Amphore, widme und keine anderen Götter mehr neben ihm dulde.

Bei welchem Anliegen könnte man an ihn denken?
a)
Bei dem Syndrom: Ich kriege nie diejenige oder dasjenige, was ich will. (Und wenn ich es einmal doch kriege, ist es niemals so, wie ich es mir gedacht habe.)
Jemand will ganz hoch hinaus und beklagt sich, dass er nicht die nötigen Energien zur Verfügung hat. (Ins Unreine gesprochen: Ich bin gern bereit, mit dem Teufel einen Pakt zu schließen! Wenn ich nur wüsste, in welcher Disco er gerade verkehrt.)

b) Ich bin von ziemlich verrückten Vorstellungen besessen, z. B. glaube ich, dass mein Mann (meine Frau) mich betrügt. Und ebenso, dass mir bald gekündigt wird, weil ich den Chef gerade ... Bis hin zu: "Es ist doch wohl klar, dass die CIA sämtliche unserer Schritte überwacht".

Etwas Geistiges hält mich gefangen. (Die Wahnidee, kurz vor Weihnachten 2012 ginge die Welt unter, oder so etwas Ähnliches! Das ist ganz ja normal: Die Zeugen Jehovas prophezeien das mittlerweile zum 16. Male. Ja, aber bei uns ist das etwas ganz anderes Anderes!)

c) Auch die körperliche Ebene kann ich hier als Spielwiese verwenden. Jede Form, in der ich meinen Körper meiner Vorstellung anpassen möchte (oder ich den Körper meiner Frau meinen Vorstellungen überantworte) bin ich mit diesem Archetypen im Bunde. (Mit Hungerkuren, absurden Diäten, fremdartigen Nahrungsergänzungen, Schönheitsoperationen etc.)

Eigenschaften und Attribute von MEPHISTOPHELES:
- die Welt der religiösen Vorstellungen -
- die Welt der Ideen -
- die Welt der Bilder -
- der Perfektionismus -
- die Bindung an diese Vorstellungen, diese Ideen, diese Bilder
- das magische Denken -
- die Obsessionen -
- die Bindungen an die Extreme -
- das Stalking -
- das Leben und das Lebendige schrumpft zugunsten der Idee vom Leben -
- schwarz oder weiß -
- die Bindung an das Geistige -
- das Geistige überhaupt -
- die Ideologie -
- der feste Glaube -
- der "richtige" Glaube
- der Konstrukteur -

 

---> Vorschau auf den Archetypus
» Der Priester oder der Archetypus des Sinns«

   

Es ist dies ebenso der Archetypus des Glaubens. Dabei dürfen wir nicht in den Fehler verfallen, der Glaube habe irgendetwas zu tun mit der Kirche oder gar mit Gott! Lange bevor die Menschen an einen Gott oder eine Kirche glauben konnten, (da es Derartiges noch nicht gab), existierte schon dieser Archetypus, der die Menschen mit einem bestimmten Maß an Hoffnungen ausstattete.

Die Hoffnung darauf, dass sein Hier sein etwas Gutes in sich trüge, etwas Sinnvolles. Etwas, dass mir das Rätsel lösen hilft, wo ich herkomme, wo ich hingehe und worum das Ganze sich dreht. Und dass ich eine Seele habe und es sich lohnt, sich um diese Seele zu kümmern.

Mehr darüber am 20.07.2012