Der alte Weise

    

10 Das Schicksal oder Der alte Weise - Teil I

Sobald dieser Archetypus die Bühne meines Lebens betritt, geht es um etwas Großes. Ein Großes im Angenehmen oder ein Großes im Unangenehmen. Schicksal ist nämlich etwas Geschicktes! Von wem? Von woher? Niemand kann hierzu etwas wissen.

Alle Profis, die etwas Anderes mit Expertenmeinung vortragen, lügen oder irren sich. Natürlich wissen wir schon, dass jedes bisher behandelte Gebiet der Archetypen, also jeder Inhalt der (von uns so betitelten) Amphoren, als Person etwas Großes behandelt und wir diese (innere) Person aus diesem Grund auf einen Stuhl, also nach oben, stellen.

Aber bei dieser 10. Gestalt müssten wir eigentlich einen Stuhl auf einen Tisch hinauf geben, um dann erst den Stellvertreter auf den dieserart erhöhten Stuhl zu stellen. Um es noch deutlicher zu machen: Während der einfache Archetypus (sic!) als eine Gestalt des überpersönlichen oder kollektiven (Jung) Unbewussten beschrieben werden kann, wäre der Archetypus des Schicksals zu beschreiben als das persönliche kollektive Unbewusste und damit in der Rangordnung die Nummer eins.

(Es wäre das Beste, wir vergessen eine derartige Aussage sofort wieder, denn es gibt bei Archetypen keine wie immer geartete Rangordnung! Nur unser kleines Ego verlangt dringend danach! Also, burn after reading!)

Ich muss noch einen weiteren Gedanken – gleichsam durch die Hintertür – einführen: Schicksal ist zweigeteilt! Das eine ist jenes Schicksal, mit dem wir unmittelbar persönlich konfrontiert sind und an dessen Erscheinung wir zu 50% selbst eine Art Verantwortung tragen. Oder eine Art Schuld!

Sind wir dreißig Jahre lang Raucher, dürfen wir uns über ein Raucherbein nicht wundern oder über ein Lungenkarzinom. Also diese 50% müssen wir übernehmen. Die anderen 50%, nämlich ob wir dieses Raucherbein tatsächlich kriegen, (gar wenn wir 50 Jahre lang rauchen) geht auf das Konto des Archetypus. Und ist nicht vorherzusagen, oder gar über die Abschaffung des Rauchens zu lindern oder zu verhindern. (Siehe "Schicksal über einen Kamm").

Warum ist das Schicksal so groß? Weil es mir so gut wie immer des Menschen (wohl einzige) riesige Angst vor Augen stellt. Dieser Archetypus, wann immer er seinen Auftritt hat, bringt in seinem Gefolge die Nähe zum Tode in mein Leben hinein. Er ist der Begleiter, vielleicht sogar der Vorgesetzte, dieses Archetypus.

Bei der Frage: Welches Anliegen ist denn für eine Aufstellung dieses Typus angezeigt? Es ist ja immer die Konfrontation mit etwas Schwerem. (Selbstverständlich könnte man auch einen Lottogewinn aufstellen – wenn er denn bereits ausgezahlt ist. Aber welcher Klient würde so etwas machen. Er wäre entweder ein totaler Trottel, oder der klügste Mensch weit und breit. Mein Verdacht: Derartig kluge Menschen hüten sich wiederum Lotto zu spielen!)

Als Beispiel eine Aufstellung der Klientin "Roswitha": Der Bruder von Roswitha ist todkrank und sein bisheriges Leben war eine Kette schwerer Schicksalsschläge. Roswithas Leben auch? Darüber wissen wir nichts, denn ihr Leben war nicht der Gegenstand der Aufstellung. Sie wollte ausschließlich für das Leben ihres Bruders etwas Gutes tun. Und am Ende der Aufstellung fand sie heraus, dass auch sie, indem sie bereit war, dem Schicksal ihres Bruders zuzustimmen, ebenfalls ihrem eigenen Schicksal (z. B. einen solchen Bruder zu haben) zuzustimmen bereit war. Aus dieser Aufstellung kann der Leser alle weiteren Anliegen erahnen.

Es geht (fast) immer um eine schwere Krankheit, besonders auch angeborene Krankheiten bei Kindern. Krankheiten, die allesamt in die Nähe des Todes zielen und deshalb mit einer besonderen Schwere behaftet sind. Es geht um Partner, die an mit Krebs, AIDS, und anderen lebensbedrohlichen Symptombildern behaftet sind. 

Teil II

Seit etwa 15 Jahren geistert das Gespenst, dass man derartige Krankheiten auch zu "besiegen" in der Lage sei, durch die Medien, besonders die Talkshows. Und was mittlerweile als Gütesigel gilt ("... hat ja seinen Krebs auch besiegt...", Bravo und Beifall). Die vollendete Hilflosigkeit der kulturschaffenden Menschen unserer Gesellschaft zeigt sich an zwei Zitaten.

Das erste: "...meinen Krebs, den habe ich mir ja in Bayreuth geholt...!" (Christoph Schlingensief im SPIEGEL. Er meinte damit, dass die Familie Wagner ihm von allen Seiten stark in seine Wagner-Inszenierung hinein geredet hat. Und derartige Argumente werden wohl bald weite Kreise ziehen: Wer alles dafür verantwortlich sein kann, dass das Schicksal mich befallen hat, ist ja wohl Legion.)

Das zweite: Man kann auch seinem Tod gegenüber eine Attitüde des Größenwahns an den Tag legen. Martin Walser sagte über seinen Tod die folgenden Sätze: Wenn es dann so weit sei, dann "gehe ich, hoffe ich, in die Schweiz zu Exit und lasse mir einen anständigen Tod servieren. Ich bezahle ihn, den Tod, das werde ich wohl noch können." (Der Stern, Heft 28/2011, S.110) Da er ja gar keine finanziellen Sorgen mehr hat (das geht aus dem Interview hervor), wird er das wohl können!

Eigenschaften und Attribute vom Archetypus des Schicksals:
– das Schicksal –
– das Gesetz ("nach dem ich angetreten" (Goethe))
– die Ordnung –
– die Verantwortung –
– die Mäßigung –
– der Eremit –
– der Gehorsam –
– das Erwachsensein –
– die Einsamkeit –
– das "Alter" –
– die "Zeit" –
– der "Tod" –
– insgesamt: Die Zustimmung darüber, dass es ein Schicksal, also etwas viel Größeres gibt

Schicksal über einen Kamm: Dummerweise sind die Bücher (und Seminare) die heute auf dem Markt sind, dem Schicksal gegenüber von einer bemerkenswerten Blauäugigkeit. Texte wie "Schicksal als Chance" oder "Entkomme deinem Schicksalszwang" sind die gängigen Wegmarkierungen, die einem Menschen Hoffnungen suggerieren wollen.

Hoffnungen, er habe etwas falsch gemacht, sei in die falsche Richtung gegangen, er müsse also nur (nur!) zurückkehren und dann habe das Schicksal ein Einsehen (ich verkürze die Argumentation) und alles würde gut.

Das mag für die ersten 50 Prozent tatsächlich (manchmal!) so funktionieren, die restlichen 50 Prozent bringen mich aber jetzt endgültig in die Bredouille: Nicht nur, dass ich vorher alles falsch gemacht habe und daran krank geworden bin, auch bei meinem Weg zurück (den man mir doch so fein und einfach aufgeschrieben hat) habe ich versagt.

 

---> Vorschau auf den Archetypus
»Der Trickster oder Der Hüter der Freiheit« 

  

Jene Gestalt, die uns jetzt aus der Tiefe der Archetypen entgegen schlägt, ist ebenfalls – wie "Der alte Weise" – kaum mit uns selbst in eine Verbindung zu bringen, will meinen: Wir glauben nicht, dass wir derartige Figuren selbst an Bord hätten.

Es ist, als wollte man sagen, Judas Ischariot ist nichts anderes, als ein Teil in Jesus Christus selbst! Nun, es ist eine christliche Tatsache, dass dieser als Verräter apostrophierte Archetypus die wichtigste Rolle bei der Entstehung des Christentums zu verantworten hatte. (vgl. Text "Judas")

Also: Manche Archetypen sind weniger leicht nach Hause zu holen als andere. Welche Eigenschaften des Menschseins will der Trickster uns also alle lehren? Nun, das erste große Thema, dass er uns näher bringen möchte und dass er in vielen Verkörperungen und Verkleidungen bemäntelt, ist das riesengroße Feld der FREIHEIT!

Mehr darüber am 03.08.2012