Hans Blüher
Die Intellektuellen und die Geistigen

(erschienen 1916 im Verlag Hans Blüher, Berlin Tempelhof)

 

Seit Ausbruch des Krieges hält das Intellektuellen-Phänomen in Deutschland ununterbrochen an. Die deutschen Intellektuellen haben irgend etwas getan, das weiß man hier und in der übrigen Welt, und findet sich damit ab. Aber die Zeit muß kommen, wo man vor einem höheren Kulturwillen dieses Ereignis wird rechtfertigen müssen.

Die kritische Frage tritt immer spitzer hervor: was sind die Intellektuellen und wer sind sie..? Wie steht es mit der Zukunft dieses Wortes? Wird es das Schicksal haben, einmal über die Achsel angesehen zu werden, wie das Wort Aesthet, oder wird es sich halten können? Wird man sich so nennen können und damit Höchstes und Oberstes, Wesentliches und Gehalthaftes meinen? - Wie steht es mit dem deutschen Geist? Und war es deutscher Geist, der sich in jene Manifeste stürzte? War jener Aufprunk überhaupt Geist?

Man wird das messen können, wenn man ermißt, welche typischen Schicksale das Geistige in der Welt immer und immer wieder hat.

Wir wissen nicht, welcher vorgedachte Gedanke die Dinge um uns her geschaffen hat, die wir die Natur nennen. Wir wissen nur, wie es zugeht, wenn wir etwas schaffen. Dies geschieht vermöge einer Idee. -Ein Bild taucht auf als Vision: zuerst im Traum (dann fehlt ihm noch der verpflichtende Zwang), dann als Tagträumerei (hier beginnen wir selbst an ihm zu deuteln und zu ändern); schließlich setzt mit einem Ruck die geistige Aktion ein: wir verhalten uns nicht mehr träumerisch und spielend, sondern schaffend und verpflichtet. Das Zufällige, Nebensächliche, Psychologische des Bildes tritt zurück, es klärt sich alles zum Wesentlichen ab, bekommt Notwendigkeitscharakter und kann, wenn hoch und tief genug geraten, zur schöpferischen Leistung verführen. Der Durchbruch der Idee.-

Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dieses plötzliche Herausgerissenwerden aus dem Zusammenhang bloß psychischer Reize, dieses Aufbäumen der Idee und die unausweichliche Verpflichtung zu ihr: das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht. Dasjenige, was aus dieser Idee heraus gestaltet wird, nennen wir das Werk und wenn wir von einem ganzen Volke reden, die Kultur. Und wird es zugegeben, daß das eigentliche Wesen des Menschen von jener Bild-Schau stammt, die ihn erhebt und fortreißt, so folgt, daß dem einzelnen Menschen, der von ihr durchdrungen ist, das sonstige Leben - was er also mit den Tieren gemein hat, und was zufällig, unnotwendig und verpflichtungslos ist - keinen Augenblick voll in sich selbst gefestigt ist. Wenn Biologen das Leben als den obersten Wert hinstellen und aller Dinge Maaß von ihm abnehmen, so meinen sie - ohne es zu wissen - eben nicht das biologische Leben, das sich mehr oder minder in Naturgesetzen fangen läßt, sondern das von Bildern durchtränkte und gesteigerte Leben, das - sich bezweifeln kann. Biologische Philosophie ist demnach ein üppiges Taschenspielerkunststück, wo immer heimlich etwas verschwindet, was am Ende doch wieder auftauchen muß. Der Mensch erkennt "sich selbst" das heißt seinen kosmischen Wert, indem er von allem absieht, was sonst so lebendig heißt und was auch in ihm lebendig ist. - Jenes Götterwort "Erkenne dich selbst", das man heute am Türsims psychiatrischer Sprechzimmer zu lesen bekommt, stand ehemals in goldenen Buchstaben am Architrav des Tempels zu Delphi.

Wir nennen einen Menschen, den dieses oberste Erlebnis vollkommen in Anspruch nimmt und der alles, was er tut, aus ihm heraus begeht, einen geistigen Menschen. Ihm kann das übrige Leben jeden Augenblick fragwürdig werden, nichts nimmt er aus diesem selbst heraus zur Erhaltung seines Wesens, keine Stunde ist sein Leben gesichert durch das sonstige Leben; in tiefer Verdächtigkeit spielt es sich neben ihm ab, bezweifelt, verhöhnt, dann wieder glühender verherrlicht, als es je ein anderer kann, fanatisch bejaht, so fanatisch, daß nur Kenner es ihm anmerken, wo die große reservatio mentis steckt.

Von diesem Typus ganz und gar verschieden sind die Intellektuellen. Diese sind leicht zu begreifen und im Grunde ihres Wesens unproblematisch. Sie entstehen durch folgenden Prozeß des Geistes: das erste Werkzeug des Urmenschen wurde geschaffen in einer dringlichen Not und durch eine ideegeleitete Tat. Das Bild zuckte plötzlich auf in einem selten genialen Exemplar der Tiergattung Mensch. Indem dies geschah, wurde jener Mann herausgerissen aus der übrigen Menschheit, er war Künstler und Prophet zugleich, und es ist kein Zweifel, daß er vom Wahnsinn ergriffen wurde. Seine Stammesgenossen haben ihn sicherlich verbrannt oder in den nächsten Sumpf gesteckt. Dieser Geistige, der zum ersten Mal ein eigentliches Menschenschicksal hatte, ist der Prototyp des Schaffenden überhaupt. Aber seine Arbeit war auf Notdurft gerichtet, die praktische Verwertung der Idee galt nicht der Kultur, sondern der Zivilisation. Seine Jünger sind jenes unendliche Geschlecht der Handwerker, die uns heute deswegen für "ehrlich" gelten, weil die Herstellung von Schuhen, Beilen, Riemen und Kleidern längst den Zusammenhang mit letzten Fragestellungen an das Leben verloren hat. Anders ist es mit den sogenannten geistigen Handwerkern, den eigentlichen Intellektuellen, die tagtäglich - oder doch jahrjährlich - an sie stoßen und immer wieder den Stachel des bösen Gewissens sich aus dem Fleische ziehen.

Das Merkmal jenes unendlichen Handwerkergeschlechtes primitiver Art ist es, daß sie geistentsprossene, schöpferische Formen unbedenklich zur Befriedigung menschlicher Bequemlichkeitsgelüste verwenden. Der Schöpfer des ersten Werkzeuges, jener große Geistige, trieb es anders: die eine Form, die er ersann, die praktisch brauchbare, die zum Vorbild für alle späteren Beile, Schuhe, Bogen und Pfeile wurde durch die Jahrtausende... jene eine Form war nichts anderes, als ein Sonderfall von unendlich vielen, die sein bilderreiches Gemüt in sich trug. Ja sie wird sogar höchstwahrscheinlich die schlechteste, der eigentliche Abfall, die Makulatur seines Bilderreiches gewesen sein. Die Hauptsache aber waren ihm jene scheinbaren Sinnlosigkeiten, die er sich an die Höhlenwände malte - Vorbilder für spätere Tempelbauten - waren jene verzückten Laute, die er nachts und an einsamen Tagstunden zu sich sprach: - Vorbilder für die spätere Dichtung. Es waren eben alles jene Dinge, auf die es ihm ankam, die sein Wesen erhöhten, jene unbrauchbaren Verrücktheiten, die ihn an den Schandpfahl brachten. Denn hier war etwas Wichtiges geschehen, was unverständlich für alle bürgerlichen Naturen ist: der Geist spielte mit sich selbst, - beim Spiel rührte er die Frage nach dem Sinn des Daseins auf und zugleich zerbarst jener kranke Mensch, der ihm verfallen war.

An diesen Dingen, so fern sie sich gebärden, hat sich bis heute nichts geändert. Es ist jeden Tag möglich, daß ein großer Künstler mit erhabenem Bilder-Meer die Form eines dieser Bil-der zur Schaffung eines nützlichen Gegenstandes (die zahllosen Patente....!) verwendet und dadurch reich berühmt und volkstümlich wird, aber abtrünnig seinem Menschen-Wesen.

Nur Variationen jener Grund-Zustände haben sich neu gebildet und festgesetzt. Denn der verzückte Bilderseher geht niemals über die Erde, ohne Eindruck auf seine Mitmenschen zu machen: diese haben in ihrem Innern ja auch etwas Bilderseherisches und auch sie verknüpfen jene Visionen mit den Fragen nach dem Sinn des Daseins. Aber es reicht nicht zur Verzückung und reicht nicht zur Verpflichtung an die großen Zustände. Der heimliche Respekt, den sie alle vor dem Geistigen haben, zwingt ihnen daher ein erlernliches System von Wißbarkeiten auf: die bürgerliche Bildung. Dieses Bildungsbedürfnis, das den eigentlichen Zweck hat, vor durchschlagenden Konsequenzen zu schützen, Erschütterungen schwerer Art abzufangen, organisiert sich ein und wirkt dann wie die übrigen Bedürfnisse nach Bequemlichkeit. Wer aber den Beruf hat, diese Bedürfnisse seiner Mitwelt zu befriedigen und weiter nichts, der ist keine wesentlich andere Form von Handwerker, als Schuster und Schneider auch.

Was ist es eigentlich, was man so auf den ersten Anhieb hin das gegenwärtige Geistesleben eines Volkes nennt? Es ist das Produktionsgebiet seiner Intellektuellenschaft. Und es ist kein Wunder, daß die Beliebtheit, Weltberühmtheit und Vergöttertheit ihrer Vertreter umso größer ist, je praktischer, sofortiger, je nützlicher und unentbehrlicher ihre Betätigung ist. Steht gar ein kokettes Geist-Gewitter im Hintergrund mit großem Theorien-Aufwand und durchschlungenem Gewirr der Denkbahnen, so ist der Glaube an die Abgründigkeit unerschütterlich.

Der Geist der Medizin ist leicht zu fassen, nämlich deswegen, weil sie von den geistigen Zentralvorgängen so entfernt wie nur möglich ist, und, wenn überhaupt in diese eintauchend, schnell wieder zurückflieht in das liebe Gebiet der allernächsten Notwendigkeiten. Eine theoretische Pathologie steckt noch in den frühesten Kinderschuhen, und wird gründlich mißachtet, wenn sie sich hervorwagt. Medizin ist Technik, ihr Triumph liegt in den Heilerfolgen und kann nirgends anders liegen. Es ist zwar freilich vorgekommen, daß große Mediziner ins Menschenwesen eintauchten: aber wo ist die Verführung, in praktische Einzelheiten zurückzukehren, größer, als hier, wo der Kranke wimmert und von allen anderen Dingen redet, nur nicht vom Belang seines Wesens? - Chemie, an sich selber durchgedacht, eine der durchdringendsten Wissenschaften, streift ihre in-nerste Kostbarkeit so früh wie möglich ab und wird am volksbeliebtesten in ihren Spekulationen um Düngemittel und Explosivstoffe. Das Durchleben jener unerhörten Umdeutung von "Atom" auf dem Wege von Demokrit über Dalton, jenes wagemutige Eindringen in das Körper- und Qualitätsgeheimnis ist zwar erschütternd und menschenwürdig: aber die Spekulation auf den baldigen Erfolg hat das schwere Gewicht. - Daß Juristerei eine Wissenschaft wäre, hat man nur selten behauptet; aber man spricht von Staatswissenschaften, Finanzwissenschaften, Volkswirtschafts"lehre" Handelswissenschaften mit vollem Ernst und ohne sich eine Sekunde zu genieren, meist auch ohne zu wissen, daß es eine theoretische Ökonomie schon gibt. Eine theoretische Ökonomie freilich, die zur "ökonomistischen Geschichtsauffassung" avancierend die komische Unbeholfenheit ihres Ganges durch keine philosophische Gelehrsamkeit verbergen kann.

Dies alles sind wesentlich Techniken, und die eigentliche Technologie nur der vernützlichtste Sonderfall. Wenn man Maschinenbau als Wissenschaft bezeichnet, so gelingt es bereits, leise Züge von ironischem Lächeln hervorzuzaubern. Aber bei den Sprachwissenschaften tritt schnell eine eigentümliche Doppelstellung auf: weil es hier neue und alte Sprachen gibt, das heißt nützliche und "zwecklose". Neue Sprachen zu lernen ist über die Maaßen zweckdienlich für junge Kaufmannssöhne, die die deutsche Bildung und das deutsche Kapital in der Welt vertreten sollen. Aber alte Sprachen...? Ja, hier lauert die Sphinx: beide verbindet die geistvolle und geistnahe Wissenschaft von der menschlichen Sprache und ihren Formen, und es ist nur ein kurzer begeisterter Aufschwung von hier bis zur Glossolalie edelster Sprachbildner.

Es muß immer und immer wieder betont werden: wir brauchen diese technologischen Menschen unbedingt; wenn uns einer von ihnen heute mitsamt seinem Gebiete verloren ginge, es käme uns bitter an. Aber man sage nicht, daß sie auch nur um einen Deut die Kultur bereichern. Ihr geistiger Charakter ist so völlig peripherisch, daß von ihnen nichts zu erwarten ist. Man muß zuviel Schutt der Zivilisation bei ihnen abtragen, ehe man zu den strömenden Quellen kommt. Und diese sind dann meistens ein spärliches Rinnsal. Dieser technologische Typ des Intellektuellen hat zu viel zu tun. Arbeit schändet, wer wüßte das nicht!. Und wer wüßte nicht, daß diese Technologen, wenn sie über den verpuffenden Wirkungen ihrer Kollossalerfolge sich die Achtung der mehr Gebildeten erhalten wollen, genötigt sind, wieder einmal ganz "zwecklos"- theoretisch zu werden? Je mehr der abstrakte, allgemeine, der klarere und unbestechliche Gehalt der sonst rein technischen Lehrgattungen hervortritt, umso mehr tritt auch das Gesicht des Geistes aus dem Dunkel. Darum bemühen sich diese Intellektuellen auch immer wieder, theoretische Vorlesungen zu halten, damit sie ja nichts von ihrer Menschenwürde beim Maschinenbau verlieren. Wir stehen hier also wieder an der Stelle des geistigen Urmenschen, bei dem der Geist mit sich selber spielt,-- und lockt und lockt.

Der technologische Intellektuelle bewahrt sich aber trotz allem sein unbekümmertes Gemüt. Ihm ist es sicher, daß der Mensch ein Interesse daran hat, einmal auf den Mond zu gelangen; er zweifelt nicht daran, daß es der Menschheit eigentlichstes Ziel ist, im gleichmäßigen möglichst großem Glück möglichst Vieler zu leben; er übersieht unbedingt das tonangebende Glück der höheren Menschentypen. Keinen Augenblick kommt einem Mediziner der Gedanke, daß das Menschentum der Krankheit vielleicht bedürfen könnte. Sie springen kummerlos über alle wirklichen Bedenklichkeiten hinweg.- Ganz anders der zweite Typ des Intellektuellen, der seinen Ursprung jenem ersten Sichzurückziehen des Geistes vor der technischen Absicht verdankt: der Gelehrte. Dieser pflegt ein ängstliches Gesicht zu haben. Das kommt von einem Zwei-Fronten-Krieg, den er sein Leben lang führen muß. Nach links gegen den Vorwurf der Unnützlichkeit; denn was hat man von klassischer Philologie, Geschichte, Sanskrit, was hat man vom Studium der indischen Architektur, der christlichen Mosaiken, was hat man von der Kenntnis der Grammatik der englischen Volkssprache im - vierzehnten Jahrhundert, was hat man von der Physiologie der Sinnesorgane und von den Formeln des Benzolringes, ganz zu schweigen von denen des Kosinussatzes.? Der Technologe kommt hier nie in Verlegenheit, wenn man ihn fragt: er weist mit lachender Mine auf das nächste Plakat einer Aktiengesellschaft, die ihr Bestehen seiner "Genialität" verdankt, er weist auf den Staat der Glücklichen, der da kommen soll und auf die lustseuchenlose Zeit der Venusine. Und nach rechts geht der ewige Widerstand gegen den viel adelsstolzeren Vorwurf: Dein Spiel mit jenen Einzeldingen, so geistig es sein mag, ist Spiel mit Neben-Dingen. Deine Fachwissenschaft ist Flachwissenschaft! Ihr fehlt der Abgrund, der hinter ihr aufgähnt! - Vor diesem Kreuzfeuer hat die erdrückende Mehrheit der Gelehrten kapituliert, daher ihre bekümmerten Gesichter, daher das Fehlen der Jugendlichkeit, der Mangel an Aufschwung und Tiefe, und daher die Neigung zu Zünften, Klüngeln und Klicken. Kommen sie dann zur Macht, so wird sie freilich bösartiger und tückischer als irgend ein anderes Regime.

Dies alles also können die Geistigen nicht sein, und die Worte, die sie tun, sind keine geistigen Worte.

Da drängt sich der erhabene Name der Philosophie auf, die nun an der Reihe ist, und die vielleicht die Situation rettet. Fast alles spricht dafür, denn hier befindet sich der Geist in seiner dünnsten, eindringlichsten, abstraktesten Form; außerhalb der Fachwissenschaften stehend und niemals in sie eingreifend, lenkt er sie. Philosophie in ihrer wissenschaftlichen Abart ist Wissen vom Wissen, das Königlichste ohne allen Zweifel, was man sich an Gedanken denken kann. Aber noch mehr spricht dafür: nicht nur die Frage der Wissenschaft, sondern die Frage des Lebenswertes wird von ihr behandelt; Kunst, Ethik, Metaphysik gehören zu ihrem Thema. Doch eins spricht dagegen: daß für die Philosophen das Leben selber, das heißt ihr eignes, keine Frage mehr zu sein pflegt. Es tritt also eine neue Scheidung ein: das philosophische Gesamtereignis in der Menschheit, das neben anderem auch die Religionen schuf, hat eine Art Exsudat, eine Ausschwitzung, die wirklich und allen Ernstes Wissenschaft ist. Erkenntnistheorie ist Wissenschaft, keine Frage, Aesthetik und Moralphilosophie sind wenigstens nach wissenschaftlichen Normen gebaut, Metaphysik hat einmal Wissenschaft sein wollen und ist vorläufig abgetan. Man lausche diesem unerhörten Angebot: Interressenten wird die Möglichkeit gegeben, über die aufregendsten Fragen des Menschentumes kühl und erregungslos, ohne Berufsstörung und ohne schädliche Nachwirkungen sich und andere zu belehren! Das ist die Philosophie, die man in den Universitäten lernen kann, die dynamitlose Philosophie, die sich Männer und Frauen ohne allzugroßen Unterschied für das Examen aneignen können.

Aber was dem Namen des Philosophen einen so alten und erhabenen Glanz von Unnahbarkeit verleiht, ist offenbar nicht jene wissenschaftliche Absonderung, die sich im Verlaufe der Philosophiegeschichte aus ihr vollzogen hat. Diese ist nahbar, und Viele, ja die Vielzuvielen, nahen sich ihr. Wo aber beginnt das durchaus nur Wenigen Zugängliche, das Esoterische, die letzte, schwerste, verantwortlichste und allein ernste Denklage...? Sie beginnt dort, wo sublimstes Denken mit dem Blute des Denkenden zusammenrinnt. Sie beginnt dort, wo die Wucht der Antinomien auf das Leben selber herabbraust und es Tag für Tag an die Grenzen von Ja und Nein rückt. "Sein oder Nicht-sein das ist die Frage..."

Der Geist ist zweifellos die fürchterlichste und wüsteste Erkrankung der Tiergattung Mensch. Daß es soweit kommen mußte! Das Schlimme aber und Verfängliche daran ist, daß diese Krankheit von jeher und unabweislich als heilige Krankheit empfunden wurde, die man nur heilen kann, indem man ganz auf ihre Gesetze eingeht und niemals fremde Gifte einbringt (keine Schlaf- und Fiebermittel). Ob diese Heilung je gelingen wird, ist durchaus zweifelhaft und vor allem unabsehbar. Und die Frage, ob man den Menschen jenem heiligen Phänomen opfern müsse (wie es das Christentum und die Gotik fordert) oder umgekehrt dieses selbst mit allen seinen Ausweitungen verwenden zur Höherpeitschung des Lebens durch den Menschen:... diese Frage bleibt tagaus tagein eine blutige und lebensgefährliche für alle Die, die noch nicht Gelehrte und Technologen sind und die ihr selbstgeschaffnes Leben noch in sich hämmern fühlen.

Ein jeder weiß, daß der Typus des Philosophieprofessors von einigen der wichtigsten Köpfe auf das heftigste angegriffen worden ist. Soweit die Philosophie den wissenschaftlichen Charakter angenommen hat - das Produkt jenes Ausscheidungsprozesses in ihrer Geschichte - soweit sind die Philosophieprofessoren nicht verdächtiger, als jeder andere Fachgelehrte auch. Man soll nicht ohne weiteres sagen, daß sie verkauft seien, man soll nicht sofort sagen, daß sie dafür bezahlt werden, weil sie die Philosophie zur Dienstmagd der Theologie und damit der herrschenden Klassen machen - Schopenhauer hat Hegel bitter unrecht getan-verkauft sind sie nicht, aber sie sind enteignet. Kein Zweifel sie führen nicht ihr eigenes Leben, sondern das Leben der bürgerlichen Gesellschaft. Der Philosophieprofessor steht über jedem Verdacht erhaben, daß er einmal gleich Diogenes-aus tiefsten Erkenntnissen heraus!-in die Tonne kriechen könnte, oder daß er gleich Antisthenes eines Tages in Lumpen ginge, daß er gleich Sokrates eine Nacht lang stehen bliebe, um zu denken und dann später den Giftbecher zu nehmen. Wir wissen von ihnen, daß sie niemals den freien Tod wählen würden-Selbstmord ist durchaus unhonorig-daß der Tod eines Otto Weininger oder Max Steiner, die nach ihren großgedachten Werken das Leben freiwillig von sich warfen, nicht im Programm ihres Lebens liegt. Auch werden sie verdächtig selten vom Wahnsinn befallen, (dieser sogenannten Krankheit, die doch eigentlich in der Lage selbstverständlich ist!) und daß Einer auf heißen italienischen Straßen zusammenbricht und sich für Dionysos und Christus hält, kommt in ihrer Zunft nicht vor. Dagegen hört man oft davon, daß sie im Alter verblöden, was nicht besonders für die Aufgeregtheit ihres Denkens spricht. Sie sind enteignet, das ist es, was sie von dem letzten geistigen Typ, den wir meinen, trennt. Ihr Leben gehört nicht ihnen, der Staat hat es beschlagnahmt, und sie selbst sind nicht schlecht dabei gefahren. Sie haben die Philosophie zu dem gemacht, was sie niemals sein kann: harmlos. Sie reden herablassend von jenen zerschellten Denkern, den erhabenen Gestalten der Menschheit, und sie dünken sich voller des Geistes, weil sie spitzer geschulter, konsequenter und - vernünftiger sind. Und wie sollte es auch anders kommen! Wer jahraus jahrein, Woche für Woche mit halbernsten Seminarzöglingen beiderlei Geschlechtes erkenntnistheoretische Quisquilien drischt, der kann kein Geistiger sein.

 

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So ist das Echte auf einen ganz engen Raum verwiesen: hier wohnen die Geistigen und drüben die Intellektuellen.- Und die Intellektuellen haben manifestiert, als der Krieg kam, manifestieren immer noch; die Intellektuellen haben sich groß und breit gemacht, die Intellektuellen haben den deutschen Geist vertreten.-Aber wie tut man so etwas? Die Intellektuellen wiesen auf die Zeit vor hundert Jahren und versuchten, sich an jene Stelle zu drängen, wo damals so ungefähr Fichte stand.

Aber wer feinere und tiefer organisierte Ohren hat, der wird herausgehört haben, daß es ihnen selbst in dieser Nähe nicht ganz behagt. Es ist merkwürdig, wie selten man immerhin von Fichte spricht und dies hat gar sehr seinen guten Grund. Er ist in der völlig anderen Denklage Fichtes zu suchen und in ihrer Unanpaßbarkelt an die Gegenwart. Jene Professoren übersahen es nämlich, daß der Begriff des "Deutschen" bei Fichte ein Forderungs-Begriff ist. Wenn er etwa sagt: deutsch sein heißt, eine Sache um ihrer selbst willen tun, so hat dieses "deutschsein" zunächst nicht das mindeste zu schaffen mit irgend einer Zugehörigkeit zum deutschen Volke. Daß Fichte als Deutscher sein Volk für besonders berufen hielt, zur Deutschheit zu gelangen, ist eine hiervon völlig geschiedene Frage. Wenn aber nun die Intellektuellen den empirischen Befund des Deutschtumes, daß heißt die Gesamtheit seiner charakterologischen Zufälligkeiten zu den Sternen heben und verphilosophieren, so bedeutet dies, gemessen an dem Gehalt der Fichteschen Lehre natürlich ein völliges Débacle. Es erklärt sich hier also ohne viel Mühe die geheime Unpäßlichkeit, von der die Intellektuellen in der Nähe Fichtes befallen werden. Daß ein Volk seinem zufälligen empirischen Volkstum unverbindlich genug eine Apothese gönnt, hat ja für das Wertverhältnis der Völker zueinander keinen anderen Belang als jede andere Grossprecherei auch. Und die Intellektuellen haben es also übersehen, daß in der von ihnen so gern gebrauchten Wort-Verbindung "deutscher Idealismus" das Wort deutsch nichts anderes ist, als eine Adressenangabe (wobei wir noch zartestens davon schweigen, daß der Idealismus in den meisten dieser Köpfe nichts anderes ist, als idealisierter Nebel).

Man wird es dem Verfasser dieser Schriften unverargt lassen-so hofft er-wenn er sich in den nächsten Zeilen wieder einmal auf einen Andern stützt. Ist es doch seine bisher unerschütterte Überzeugung, daß nicht das manifeste Deutschland (..und nun gar das manifestierende!) das wesentliche ist, sondern das latente. Deutschland ist ein unbekanntes Land, etwa wie China, und der Pulsschlag seines inneren Wesens hat sich noch nicht bis in die Helligkeiten seiner Alltage hindurchgepocht. Es gibt genug Leute, die da meinen, sie könnten das "geistige Leben" Deutschlands kennen lernen, wenn sie in die Buchläden treten und viel kaufen. Aber die Guten irren sich; das geistige Leben ist meistens ungedruckt, es spielt sich überwiegend von Lippe zu Lippe ab und fürchtet sich sogar nicht selten vor dem verhängnisvollen Sprunge ins Schrifttum. Und so ist es denn kein Wunder, daß die besten, innersten, heitersten und echtesten Dinge, wenn überhaupt, so auf vergilbtem Papiere stehn, das kaum jemand sieht und das nur den Kennern und Lauschern vertraut ist. Daher sei es denn wenigstens hier gesagt, welcher Deutsche zum ersten Mal das Intellektuellen-Phänomen entlarvt hat (Fußnote: Historiker! Aufschreiben! H.B): es war Gustav Landauer im "Sozialist".-

Daß dieser wichtige Mann heute noch zu den unbekannten Deutschen gehört spricht arg gegen den Gehalt des manifesten Deutschtumes; und wenn es hier ein Jüngerer- aber nicht Jünger-wagt, ihn zu rühmen, so geschieht es mit dem Bewußtsein, daß es ein Wagnis ist. Gustav Landauer gehört zu den wenigen radikalen Sozialisten, die den Weg über die marxistische Rohheit nicht mitgemacht haben und die die großen Spuren des Geistes in der Menschengeschichte immer vor Augen hatten. Die Seltenheit dieser Erscheinung in unserer wissenschafts-abergläubischen Zeit ist Grund genug, um ihrer ausdrücklich zu gedenken, und um die Worte hier hinzusetzen, mit denen das Intellektuellentum an seiner empfindlichsten Stelle getroffen wurde. Gustav Landauer schrieb im "Sozialist" (6. Jahrgang Nr. 17):

"Eines freilich macht bedenklich, ob ihnen den künftigen Krieg für die Idee auch nur zu verkünden und zu verherrlichen so leicht fallen wird wie den jetzigen Krieg zur Verteidigung ihres vaterländischen Staatswesens. Auch im Krieg nämlich fürs Vaterland haben diese Philosophen, Forscher, Dichter, Zeitungsschreiber und Professoren sich denn doch nicht eigentlich als Helden und ganz gewiß nicht als Rebellen gezeigt. Sie waren nicht gerade die Stein und Scharnhorst und Schill und Kleist und Görres und Arndt und Fichte, welche den Befreiungskrieg gemacht hatten, weil er ihre Sache, oder doch ein Stück Wegs zu ihrer Sache war; über unsere neuen Propheten kam die Begeisterung und Entschlossenheit vielmehr, wenn schon nicht post festum, so doch erst Post manifestum, nach der Kriegserklärung der Regierungen nämlich; nicht eine Nacht des 4. August, sondern der Nachmittag des 4. August 1914 ist es, was ihren Zunder zum Glühen gebracht hat. Ist es so ganz sicher, daß diese hinkenden Führer des Geistes, die mehr den Eindruck von Marodeuren als von Pionieren machen, nicht dann, wenn erst die Regierungen Frieden schließen, aufs Haar und auf die Glatze die nämlichen sein werden, die sie waren, ehe die Regierungen bekanntgaben, daß nun der Krieg über die Völker und über die Stimmung dieser Geistigen kommen solle; die nämlichen, die sie waren, ehe diese Geisteshelden selbst, durch Bewunderung der andern und Staunen über die noch prachtvoll vorhandene Gesundheit der Völker Europas, zum Pathos und zur Einsicht kamen, daß sie selbst bisher leere Fässer gewesen waren? Man bedenke nur, daß-abgesehen von den ersten Spuren der holden Gründerzeit und der Periode der Muschelaufsätze - der deutsche Geist 1872 nicht eigentlich besser aussah als 1869; und daß 1824, als Fichtes Reden an die deutsche Nation, ein Jahrzehnt nach den Freiheitskriegen, in zweiter Auflage erschienen, es um die Macht der Ideen in Deutschland nicht besser, sondern schlimmer bestellt war als 1808, ein halbes Jahrzehnt vor der Befreiung, wo sie erstmals herausgegeben wurden. Es wäre gut, wenn sich die deutschen Denker und Dichter, die sich jetzt, und dazu noch mit etlichem Recht, am liebsten schämen möchten, daß sie nichts anderes sind, keinen Illusionen darüber hingäben: daß es ihnen nur während des Krieges erlaubt ist, ihre leeren Fässer mit dem Aufschwung des Volkes zu füllen und in ihre leeren Adern das in den Schlachtfeldern vergossene Blut zu pumpen, daß sie nach dem Kriege aber entweder Führende mit eigenem starken Gehalt und selbstgewachsener Todbereitschaft oder bankerott sein werden wie Ulrik Brendel!"

Nichts ist unförderlicher, als den Gehalt seiner Zeit zu verkennen. Und nichts ist heute dienlicher, als die tiefe Verschiedenheit der Situationen klarzumachen. - Als es vor 100 Jahren galt, das Nationale zu betonen, da geschah es im Kampfe gegen ein Weltbürgertum, das von den Geistigen der Jahrhundertwende gedacht war und das den Adel der Idee in sich trug. Daher mußten auch die Mittel, die es bekämpften, von entsprechender Höhe sein. Der heutige Internationalismus aber stammt keineswegs vom Geiste, sondern vom Börsenjobber:- und die Qualität der Bekämpfungsmittel paßt sich an. Noch eins: das Verhältnis der feindlichen Heerführer zueinander ist ein rein technologisches. Sie mögen die obersten, gelungensten und vollkommensten Exemplare des technologischen Intellektuellen auf strategischem Gebiete sein, und sie mögen tagtäglich ihr Leben aufs Spiel setzen: aber die Heerführer vor 100 Jahren setzten ihr Menschentum aufs Spiel. General York war immerhin ein Hochverräter!-

Aber nichts darf dazu verführen, am allerwenigsten jetzt ein müßiger laudator temporis acti zu sein. Selbst wenn die Vergangenheit in allen Dingen besser wäre, als das Heute, so darf man sie doch nicht zurückwünschen. Die verzweifeltste Zukunft ist liebenswerter, als die herrlichste Vergangenheit. Man darf keinen Augenblick glauben, daß unsere Zeit ärmlicher an Geistigen sei. Die Intellektuellenmisere darf nicht zur Verzweiflung an der Rolle der Geistigen verführen. Der Unterschied liegt nur darin: sie sind wohl da, aber sie haben mit dem Kriege nichts zu tun. Wo sich ein Geistiger in die Intellektuellenwirtschaft verlief, da wurde er überhört, und ein wenig pflegte sich sein Bild sogar zu trüben.

Nach allem also, was zu beobachten ist, scheint es so zu stehen, daß die Geistigen keine gebietende Rolle im Leben der Staaten spielen können. Am ehesten neigt noch das französische Volk hierzu, und man sollte wahrlich mehr ergriffen als schadenfroh zusehen, wie diese Nation, bei der die Geist-Krankheit fast die Form der Epidemie angenommen hat, in ihrem Hunger nach dem Wagemutigen und Kühnen sich so häufig blenden läßt zum Schaden seines Gefüges. In Deutschland steht es hier gerade umgekehrt. Man setzt die ausgeglichnen, unproblematischen, goethebündlerischen und imgrunde langweiligen Naturen mit Vorliebe in die öffentlichen Ämter und erreicht durch deren Lammheit jene eigentümliche Stabilität des nationalen Wesens, die dem deutschen Volke den Vorwurf des Barbarentums eingetragen hat. Noch fehlt es den Deutschen ohne Zweifel an gewissen feineren Vorinstinkten für den geistigen Typus, die zwar noch nicht zum Urteil über die Gesamterscheinung berechtigen, aber doch gewisse geistnahe Präliminarien fördern. So weiß man zum Beispiel einfach noch nicht, daß vieles Wissen und große Belesenheit fast unter allen Umständen Minderwertigkeitssymptome sind. Und es ist trübe genug, daß gerade diese Eigenschaft zur Grundbedingung für das staatliche Lehren erhoben worden ist. Man halte hier nicht die vorgeblich immense Belesenheit Schopenhauers entgegen: wir wissen heute längst, daß dieser große Geistige freilich viel wußte und las (und man muß eben genau so viel wissen, wie man braucht !)-aber keineswegs das Wissen eines Universitätsprofessors erreichte. Dasselbe gilt natürlich auch für Nietzsche, und es ist wahrlich kein Zufall, daß das Ressentiment eines Wilamowitz die "Unwissenheit" des jungen Tragödien-Deuters an den Pranger stellte.

Was denjenigen, die die öffentliche und staatliche Geistigkeit des deutschen Volkes heute noch zu vertreten haben, fehlt, und was den Besseren-also etwa der Jugend- im Halbbewußtsein so zwingend klar ist, das könnte man etwa in diesem einen Satze zusammenfassen: Man kann zu diesen Menschen nicht Ecco Homo sagen. Dieser geweihte Gruß prallt an ihrer strahlenden Gewöhnlichkeit ab. Solch ein Salut paßt heute nur für die Männer mit den staubigen Hüten und den großen wundervollen Augen. Für jene Männer, die kümmerlich leben müssen, weil ein heiliger Atem durch ihr Wesen geht.

 

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Aber wo sind nun endlich die Geistigen? Wie sehen sie aus? Wo wohnen sie? Was tun sie?... wie alt sind sie?

Ihr Wesentliches ist, daß sie noch dicht am Urerlebnis der Idee stehen. Sie haben noch keinen Schritt zur Peripherie getan, oder doch wenigstens keinen, den sie nicht sofort wieder zurücknehmen könnten. Die Intellektuellen sind peripherisiert; irgend eine Interessantheit ihres Denkens wurde von der Gesellschaft beschlagnahmt, dorthin richteten sie ihr ganzes Wesen, wurden älter und älter und entfernten sich Jahr um Jahr immer mehr von der Ursprünglichkeit des Geistes. Kein Wunder, daß sie wirr und haltlos reden, wenn es letzte Dinge gilt. Die Intellektuellen sind die Industriellen des Geistes.

Wir kehren zum schöpferischen Urmenschen zurück, den wir oben in seinem Wahnsinn verlassen haben, und sehen uns seine unbastardierten Abkömmlinge an. Von diesen gibt es zwei Typen, die sich deutlich gegeneinander abheben.

Der eine ist von sakraler Art. Er verschmäht es, irgend etwas von dem, was er in seiner Verzückung geschaut hat, zu nützlichen Dingen zu verwenden. Er ist der reine Tempelbauer, dem nichts heilig und wesentlich ist, als der Triumph der kunsthaft-geistigen Form. Dieser Altarmensch lebt für nichts weiter, als für die Rettung seiner Gesichte aus dem Wirrwarr der Umwelt. Nur dies ist ihm heilig: das Feuer, das ihm aufgelobt, so fest und so unerschütterlich zu bewahren, daß der Regen der Welt es nicht auslöschen kann: "Welt"...das ist ihm das, was nicht sein soll, das, wovon man erlöst werden muß; Welt ist die Hemmung gegenüber der Idee. Und nichts als Hemmung. Er sieht lieblos auf die Welt, die ihm die Bilder trübt. Die größte Demonstration seines Wesens ist bisher der gotische Dom; in ihm wird das Lebensträgste, der Stein, zum Dienst am Dünnsten und Geläutertsten gezwungen. Hier triumphiert die kunsthafte Form über das Widerstandsfähigste. Der Christ (wobei wir selbstverständlich nur die katholische Form meinen) ist von diesem gotischen Menschen nur ein Sonderfall, der ebensogut hätte ausbleiben können, und der über kurz oder lang verschwinden wird, ohne daß damit die Erscheinung "gotischer Mensch" an Existenz verlieren kann.

Kultur wird diesem sakralen Typus des geistigen Menschen daher wesentlich zu Kult. Handeln hat nur Sinn, sofern es dem Kulte dient; jede andere Handlung, außer einer sakralen, ist profan und wertlos. Das Leben, das er führen muß, ist Leid, Dulden, Passion: nicht deswegen, wohlgemerkt, weil es wirklich in sich selbst durch Nerven-Zerreißungen schmerzvoll ist, sondern weil es von der Idee verschieden ist. Aber man mißversteht jene vestalischen Menschen, wenn man ihr Nicht-Handeln eine Gebrochenheit nennt: es ist sogar höchstes Tun, weil es gegen die biologischen Anreize steht. [Der Hindu, der sich von der Tiegerin ruhig zerreißen läßt, aus der religiösen Erkenntnis heraus, daß es ihr schlimmes Schicksal sei, so leben zu müssen, dieser Hindu ist der höhere Täter, als jener andere, der die biologisch selbstverständliche Verteidigung unternimmt.]

Der Gegentypus verwendet die Idee anders. Und zwar politisch. Er tritt aus dem Erlebnis des ideelich-Reinen brüsk heraus und wird Prophet. Er kündet der Welt an, daß sie weder gut noch böse sei, sondern verbesserungswürdig. Er kündet ihr an: nicht Handwerker, Gelehrte, Unterhaltungskünstler und sonstige Intellektuelle haben in der Welt zu herrschen-von den Kapitalisten ganz zu schweigen- sondern die Geistigen. Das heißt Die, denen das ursprüngliche Erlebnis der Idee noch jeden Tag lebendig ist. Er setzt dem bisherigen Typ des Politikers seinen eignen entgegen: seine Politik geht nicht auf mäßige Veränderung des grade vorhandenen Staates, sondern auf grundsätzliche Neuschöpfung aus der Idee des besten Staates aus. Gegenüber dem bürgerlichen Liberalismus setzt er platonischen Radikalismus.

Man könnte versucht sein, den stillen, gläubigen, feierlich-ruhigen Altarmenschen mit seiner melancholischen Lebensführung und dagegen den heiteren, mobilen volksrednerischen Poli-tiker mit seinen sanguinischen Wesenszügen einfach als Produkte eben dieser rein gemüthaften Grundstimmungen zu verstehen und die geistige Diskrepanz so zum Verschwinden zu bringen. Aber damit ist es nicht getan, wie psychologische Erklärungen geistiger Vorgänge ja überhaupt nichts tun. Zweifellos ergreift nach dem Gesetze von der List der Idee das sakrale Wesen leichter den an sich schon melancholischen Jüngling und hält sich bei ihm fest, und das politische den sanguinischen. Aber es gibt ein ernsteres Zeugnis für die geistige Urbedeutung der beiden Typen. Dies sind die Religionen, jene größten Verkünder des Menschenwesens. Man nehme von dem Sakralen etwas fort, nämlich seine Gebundenheit an das Bildhafte der Ideen, man nehme ihm das künstlerische Innere, so daß das Ich in ihm sich nichtmehr an Gestalten verlieren kann, sondern nur an das Objekthafte selbst: -dann verliert sich sein Subjekt an diesem Leeren, die Welt der Erkenntnisse und Bilder verschwindet, sie wird "Irrtum" "Nichtwissen", die Subjekt-Objekt-Einstellung scheidet aus, und vor uns steht die große Erscheinung, die es bisher nur einmal in der uns bekannten Geschichte gegeben hat: der brahmanische Mensch. Man kann die religiöse Verfassung dieses Menschen nur mit dem Worte Welt-Auge, noch gerade wiedergeben. Welt-Auge, das zwar wach ist, aber dennoch schlafen muß, weil es nichts gibt, wohin es sieht-nicht einmal das Dunkel. Dieser Mensch des Veda lebt in vollkommener Passion. Die immerwiederkehrenden Worte des heiligen Upanishad: "Brahman ist Wonne, und alles, was von Brahman verschieden ist, ist Leid", sind seine Worte. Die Welt ist also Leid, für sie etwas zu tun, ist layenhaft, voreilig und vorheilig, auf alle Fälle aber zwecklos.

Der politische Typus des geistigen Menschen findet seine Verherrlichung in einer Religion, in der nichts gilt, als die Tat: im Judentum. Die Idee des messianischen Reiches ist eine politische Idee obersten Ranges. Sie entspringt dem reinen Denken, der Ablösung von aller Empirie und der Verachtung bürgerlicher Tatsachengläubigkeit.- Aber das Judentum ist nicht in einem so vollkommenen Maße eine höchste Ausgestaltung des politischen Menschen, wie der Brahmanismus eine des sakralen ist. Das hat einen sehr tiefen Grund: Das Judentum ist bildfeindlich. Der böse Zufall wollte es, daß jener Moses von der großen Sinai-Vision nur jene moralistischen Fragmente zurückbehielt, die seitdem als Zehn Gebote ihr Wesen treiben. In jene Zehn Gebote füllte man das Menschentum, und die Züchtung, die sich daraus ergab, formte sich zum bürgerlichen Typus. Daher kommt es, daß der Ertrag dieser Religion so gering ist; es fehlt ihr die Spannkraft, ihr Bogen ist flach, und die Pfeile, die es auf ihm verschießen kann, fliegen nicht weit. Bekanntlich fliegen sie gerade bis zur Humanität. Wo aber der politische Menschentyp Ernst macht mit dem bildhaften Untergrunde solcher Erleuchtungen, wo er es wagt, in den Reichtum des künstlerischen Innern zu greifen und mit ihm am Menschen-Wesen zu rütteln: da fliegen die Pfeile in ganz andere Fernen. (Und nun weiß man wohl, weshalb Nietzsche und die Folgen gewichtiger sind, als Moses und die seinen...)

 

 

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Wenn man die geistige Lage eines Volkes dadurch auf einer Karte markieren könnte, daß man die Höhepunkte, die Stellen der größten Intensität und der ursprünglichsten Geborgenheit miteinander verbände, wenn es möglich wäre, Wetterkarten des Geistes herzustellen, die auf die Altersklassen bezogen wären: so zweifelt niemand daran, daß die dichtesten Linienbündel über die jugendlichen Männer laufen würden. Hier, wo der Wille zum Nicht-Relativen am stärksten ist, wo die ungehemmte Geistigkeit noch kümmernislos hervorbrodelt, hier ist der eigentliche Sitz des geistigen Menschentypus. Nachher beginnt der große Aufsaugungsprozeß, den die bürgerliche Gesellschaft unternimmt. Die geistigen Werke werden das Opfer ihrer eignen Interessantheit und ihre Schöpfer das Opfer des bürgerlichen Bildungsdranges. So ziehen sie in Schaaren fort von der Berufung zum Beruf, vom Intensiven zum Extensiven, von der Höhe zur Breite, von den Wenigen zu den Vielen, von den Geistigen zu den Intellektuellen. Und wenn man nun suchen geht in den älteren Altersklassen, zwischen 30 und 70, dann verklingt die rufende Stimme echolos im leeren Raum: kaum hier und da noch ein jugendlicher Mann! Kaum ein Einziger und sein Eigentum. Es ist alles enteignet und verpfändet.

Wo ist die Rettung...? Wie kann man die Besten vor ihrem Untergange bewahren, der in dem Aufstieg zur bürgerlichen Höhe liegt? -Man mache ihnen die Urheimat erträglich; man dulde nicht weiter, daß sie einsamer sind als sie sein wollen. Man schließe ein Defensivbündnis zu ihrem Schutz. Die Front wird immer breit genug gehalten sein.

...Zu wem reden wir also? Wer ist das Volk, das am Fuße unserer Hügel kauert...? Sind es die Greise, die den Vorduft der Grüfte in den Haaren tragen? Sind es die wohlbestallten Bürger mit dem gesicherten Leben und den festen Überzeugungen? - Von diesen allen ist nichts zu erwarten, und keiner von uns denkt an sie, wenn er spricht. Aber wir reden auch nicht zu den Oppositeuren von Beruf und den Wichtigtuern des Kontrastes.

Wir reden zur Jugend.

Denn dorthin redete Jeder bisher, der im Aufrausch des Geistes lebte. Aber nicht zu der beliebigen Jugend. Nicht zu der, die schon weiß, was einmal aus ihr wird, nicht zu den Bürgern unter ihr, sondern zu der wagemutigen, die sich bewegt.

Wir reden zur Jugendbewegung.

Gehört es nicht zu den Schicksalen allerbester Art, die eine Jugend erleben kann: daß man vor ihr nicht zurückzuhalten braucht mit Stürmen des Geistes, vor denen schon Heraklit von Ephesus erbebte? Ist es nicht wundervoll, daß es Lauschende gibt in jenem jungen Geschlecht, zu denen man Glauben hat, daß sie nie versagen? Aufgereckte und Horchende, die die Ohren nicht zurückziehen, wenn man von seinem Besten und Schlimmsten redet!...

Wir wissen freilich: der öffentliche Zustand der heutigen Jugendbewegung ist wenig hoffnungsvoll. Sie hat sich bewegt, jetzt liegt sie auf einem toten Punkt. Aber die baldigste Zeit wird den neuen Aufschwung bringen.

Die heutige Jugendschaft verdankt ihre Vegetation einer wohldüngenden Doppel-Feigheit. Diese ruht etwa in der Wortserie: "innerliches Verstehen", "Erleben", "empfinden", "letztes Geheimnis".-Man könnte wohl sagen: wenn es diese Worte nicht gäbe und es nicht Situationen gäbe, die sich hinter ihnen verbärgen, so gäbe es auch das ganze Schrifttum der heutigen Jugendschaft nicht. Hierbei sind selbstverständlich ausgenommen Dinge wie: "Freie Schulgemeinde", "Anfang", "Aufbruch".) Sie allein sind es, die die schlimmste Lage der Jugend-Bewegung beschönigen können: ihr Behagen an sich selbst. Ihre wohlige Tanzlust (...ohne die harte Problematik des Tanzes!), ihre spielerische Romantik (...ohne den Ernst des schöpferischen Spieles), ihr Singen und Sagen (...ohne die aufrührende Wucht von Dichtertum).

Die eine Feigheit, in deren Dienst jene Wortserie steht, gilt dem Eros. Es ist nicht verwunderlich, daß ein Lebensvorgang wie die Jugendbewegung in den Tatsachen seines Liebeslebens verwegener, absonderlicher und neuer sein mußte, als die bürgerliche Gesellschaft, der zum Trotz sie erstand. Ja, wer könnte überhaupt erwarten, daß irgend etwas bei ihr in diesen Dingen ortsüblich wäre? Wer dies tut, verurteilt den Lebensgehalt der Jugend-bewegung zur Durchschnittlichkeit. Aber sie selbst weiß es sehr wohl, daß es nicht so ist. Sie kennt heute das Wie und Wo, sie weiß, daß man wissen muß, um hier in sauberen Gewändern zu gehen. Und sie weiß, daß man ein anderes Leben führen muß, als die Gesellschaft der Alten, wenn man mehr sein will, als sie. Aber wie kann man sich besser vor solchen gefährlichen Konsequenzen bewahren, wie kann man besser dem Behagen fröhnen, als dadurch, daß man unkontrollierbar "erlebt", "tiefe Gefühle hat" "mit dem Gemüte begreift" und "innerlich mit sich fertig wird"? Ein Mensch, der sich,- dem Tintenfische gleich-in die Trübheit der eignen Säfte einballt, ist freilich unangreifbar,-aber er schluckt auch selber die Trübheit auf, und das ernste Gesicht des Eros ersteht niemals im ihm.

Die zweite Feigheit, die durch jene Wortserie und ihre Abkömmlinge gedeckt wird, geht auf die Geisteshaltung selbst.-Wer dem Geiste verfiel, ist in Lebensgefahr. Die geistigen Menschentypen haben einen Dorn im Innern, der sie jeden Augenblick zum Wahnsinn aufpeitschen kann. Die Intellektuellen schützen sich durch jenen Prozeß, den wir eben durchgegangen sind. Die jetzige Jugendschaft findet Schutz im "Gemüt" Durch unkontrollierbare vorgeblich "tiefe" Erlebnisse, durch das berühmte "innere Fühlen" wird die Giftigkeit des geistigen Bisses gelindert. Die heilige Erkrankung des Tiertypus Mensch am Geist wird wie ein gewöhnlicher Schnupfen behandelt. Mit Gemüt gegen den Verstand vorgehen heißt-in fast allen Fällen-vor der eignen Gesetzlichkeit des Geistes fliehen.

Wir wollen einmal vorübergehend alles, was diese Jugend heute noch schreibt und denkt und singt, ernster nehmen als alles, was alle Professoren über den Krieg gesagt haben (was immerhin ein recht erhebliches Opfer des Intellektes bedeutet). Aber wir nehmen es nur deshalb ernster, weil hier Keime ruhen, die aufschießen können, und weil es Jugend ist. Alter gelte vorläufig als Einwand. Dies alles aber kann nur dann geschehen, wenn es wirklich Keime sind, wenn wirklich der Ernst dieser Seeligkeit, die wir ihr wünschen, schon in ihr steckt. Einer Seeligkeit, die weder auf dem Umwege der Intellektuellen noch auf dem des Gemütes erreicht werden kann, sondern allein durch den Geist und durch den Eros. Latinität wollen wir von dieser Jugend - gegen "Germantik". Talmud gegen Talmi! Einen Instinkt für die Mittel wollen wir bei dieser Jugend, den Geruch dafür, daß man nicht wahllos gegen und für eine Sache sein darf. Man darf gegen Wissenschaft sein: aber nicht als Naturmensch mit Rohkost, sondern mindestens als Forscher. "Kalter Intellektualismus"-dieses Wort sollte ein für alle mal verboten sein, denn Kälte ist fast immer ein Vorzug und Intellekt erst recht. Man darf gegen Aufklärung sein: aber nicht als Mucker; und man darf nicht für Aufklärung sein als liberaler Bourgeois. Man darf gegen Religion sein: aber nicht als "Monist"; und man darf für Religion sein-aber auch nicht als Monist. Man darf für Kunst sein: wenn man die Distanz vor den süßen Gefühlen wahrt und mindestens so gut denken kann, wie Sokrates. Man darf Antisemit sein, aber nur als Jude. Man darf gegen Gustav Wyneken "sein" aber nur :-wenn man Seinesgleichen ist.

 

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