Peter Orban
Saturn und Die Macht des Schicksals

 

Vorabdruck des 1. Kapitels eines Buches, das im April 2000 im Hugendubel-Verlag erscheint.

 

 

Vorbemerkung

"Gustaf Gründgens ist immer einsam gewesen.

(...) Er war in jeder Phase seines Lebens

...ein Fanatiker der "Richtigkeit".

Er wußte nicht immer, was richtig,

was falsch war wer weiß das schon?

aber sein Leben war eine Kette von Bemühungen,

eben dies herauszufinden

und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Es gab nichts im Leben, was er sich

leicht gemacht hätte, weil er davon überzeugt war,

daß der Mensch nicht dazu da ist,

das Leben zu genießen,

sondern "richtig" zu leben."

(Curt Riess über Gustaf Gründgens,

der ein doppelter Steinbock war,

in Riess: Gustaf Gründgens,

Hamburg 1965, S. 11 f)

 

Vor fast 25 Jahren (1976) schrieb die junge Psychologin und Astrologien Liz Greene eine Monographie mit dem Titel "Saturn" und sie beeindruckte damit eine ganze Generation von Astrologen, die durch dieses Buch ein erstes Mal davon hörten, daß der seit dem frühen Mittelalter "große Übeltäter" doch nicht so ein Finsterling sei, sondern daß er durchaus seine Meriten habe. Daß er dem Menschsein eben doch nicht nur Schicksalsschläge zuzufügen imstande sei, sondern daß sein Erkenntnis-Werkzeugkasten eine sehr viel größere Dimension habe.

 

In einer großartigen Analyse erstattete also Liz Greene diesem Planeten-Archetypen seine - für den normalen Blick erst einmal verborgene - andere Seite zurück und bereicherte damit die Astrologie und die (Jungsche) Psychologie enorm.

Auch ich habe während meiner astrologischen Lehrjahre sehr oft und sehr dankbar nach diesem Text gegriffen und konnte ihm sehr viele Anregungen entnehmen.

Und wenn ein gutes viertel Jahrhundert später ein neues Buch zu diesem Thema aus meiner Feder erscheint, so ist dies nicht etwa als ein Konkurrenzunternehmen gedacht (so als wüßte ich es besser), sondern der Text möchte zeigen, was in diesen Jahren - ausgehend von der Basis des ersten Buches - in meiner Seele geschehen ist und welche Facetten diese "alte mythologische Gestalt" im Laufe meiner Lebensjahre enthüllte.

Ich verneige mich also vor dieser großen Astrologin, die mir ganz am Anfang über den Gott (Kronos-Saturn ist ein Gott) die Augen geöffnet hat und erzähle hier, was ich - mit dieserart geöffneten Augen - habe sehen dürfen. Daß diese Sicht sehr oft von dem greeneschen Text abweicht, liegt an meinem Blickwinkel und meiner Position in der Welt und hat nichts mit wahr oder falsch zu tun.

Ein weiterer Text hat mich in den letzten Jahren tief berührt: Das Buch "Saturn und Melancholie" der Autoren Klibansky, Panofsky und Saxl (Frankfurt 1990). Hier ist in wahrhaft enzyklopädischer Weise das Wissen über den Saturn durch die Jahrtausende

nachgezeichnet worden und solche (gänzlich unastrologischen)Texte sind heute sehr selten geworden. Ich habe nicht jedesmal angemerkt, welche Perlen dieser Autoren ich in meine (Argumentations)-Kette eingearbeitet habe - mein ganzes Buch ist sehr von ihrem Wissen getragen und durchdrungen .

Last but not least gibt es auch in unseren Tage einen lebenden reinen SteinbockArchetypus: Bert Hellinger. Er gehört für viele Menschen (auch für mich) zu einem der unerbittlichsten Verkörperer dieses Prinzips (wenn auch sein Horoskop ein Geheimnis bleibt). Seine Arbeiten über die "Ordnungen" des Lebens und der Liebe haben meine eigene Seele zunehmend "befiedert" und ihr Echo hallt durch alle Seiten dieses Buches.

Ein Buch zu schreiben über die Gestalt des Saturns ist niemals eine akademische Sache: Man hält sich für einige Monate in seinem Reich auf; indem man über ihn spricht, ruft man ihn auch; man kommt ihm nahe; man wird stellvertretend wie er. Wer hier in diesen Momenten keinen ausreichenden eigenen Bezug hat, hat es nicht leicht. Hat man freilich - wie ich - eine Sonne an der Spitze des zehnten Hauses, hat man - wie ich - die Mitte des Lebens überschritten und ist man - wie ich - seit mehr als fünf Jahren mit einer Ehefrau mit einem Steinbock-Aszendenten zusammen, so wird es langsam Zeit, sich diesem großen Seelenführer zu stellen.

Ich tue das mit sehr großer Ehr-Furcht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

 

 

"Kein Ruhm auf Erden ist unvergänglicher

als der Ruhm der Rühmenden."

(Eckart Peterich: Das Mass der Musen,

Freiburg 1947, S. 19)

 

 

"Das griechische Wort mythologia

hat nicht nur die "Geschichten",

die mythoi selbst zum Inhalt,

sondern auch das "Erzählen", das legein:

ein Erzählen, das auch ein ResonanzErwecken war;

innerliches Resonanz-Erwecken,

indem auch das Bewußtsein

dadurch erweckt wurde,

daß die erzählte Geschichte den Erzähler

und den Zuhörer persönlich anging."

(Karl Kerenyi: Die Mythologie der Griechen,

Bd. 1, München 1966, S. 9)

 

Der Mythos

 

Als in Griechenland der Olymp eröffnet wurde, gleichsam der innere Kreis, die interne Tafelrunde der Gottheiten, als also jeder der großen Götter seinen Platz im griechischen Walhalla auf dem Gipfel jenes sagenumwobenen Berges einnahm, war Kronos-Saturn nicht unter ihnen.

(Es will scheinen, daß es schon damals eine Art göttlicher Quotenregelung gegeben hat, denn wie sonst fände ein derart patriarchales Volk wie die Griechen zu sechs männlichen (Zeus, Poseidon, Apollon, Ares, Hephaistos, Hermes) und sechs weiblichen (Hera, Athene, Artemis, Aphrodite, Demeter, Hestia) Gottheiten?)

Nein, Kronos gehörte nicht zu den Olympiern, er gehörte vielmehr zu jenen, die diese erst hervorgebracht hatten. Er ist der Vater zumindest einiger von ihnen. Er ist der Vater von Poseidon, Hestia, Demeter, Hera, Hades und von Zeus. Zeus ist sein jüngster Sohn, ein wie wir später sehen werden, wichtiger Topos. (Hades hat seinen Platz ebenfalls nicht auf dem Olymp, denn er regiert nicht über die Welt, sondern eine Etage darunter, über die Unterwelt, eben über den Hades.)

 

Und: KronosSaturn, der Vater, mag seine Kinder nicht!

Um das zu verstehen, müssen wir ein wenig weiter ausholen. Es liegt dahinter nämlich eine (wenn auch göttliche) Familienverstrickung verborgen.

Hesiod erzählt uns diese Geschichte so: Das erste große Götterpaar: gleichsam Adam und Eva der griechischen Weltentstehung, waren Uranos, der Himmelsgott, und seine Gemahlin, die Göttin Gaia, die Erde. Und Uranos kam jede Nacht zu seiner Frau, um sie, die Erde, zu umfangen und zu begatten. Doch die Kinder, die aus dieser nächtlichen Beiwohnung entstanden, waren dem Vater verhaßt. Es waren - man höre und staune - zwölf Kinder, die Hesoid ebenfalls beim Namen nennt. Wieder sechs Töchter: Theia, Rhea, Themis, Mnemosyne, Phoibe und Thetys und sechs Söhne: Okeanos, Koios, Krios, Hyperion, Iapetos und als jüngstes Kind Kronos.

Das erste, was wir je von Kronos hören, ist folgendes:

"Als das jüngste nach ihnen entstand der verschlagene Kronos,

dieses schrecklichste Kind, er haßte den blühenden Vater."

(Hesiod: Theogonie, Wien 1937, Zeile 137)

Dieser Haß jedoch will uns nicht weiter wundern, denn Uranos, der Vater, macht sich eine "Freude" daraus, die Kinder nicht ans Licht des Tages zu lassen; er sperrt sie ganz einfach ein.

"Denn von allen, die so aus Gaia und Uranos stammten,

Waren die Schrecklichsten sie, verhaßt dem eigenen Vater

Gleich von Anfang. Sobald von ihnen einer geboren,

Barg er sie alle und ließ sie nicht zum Lichte gelangen,

Tief im Schoße der Erde, sich freuend der eigenen Untat, Uranos."

(Hesiod, ebd. 155)

 

Ganz offensichtlich fürchtet Uranos ein Erstarken der Kinder und damit eine Bedrohung für seine Macht, denn immerhin, er ist weit und breit der einzige männliche Gott!

Ein solches Tun aber kann einer Mutter nicht gefallen. Gaia wendet sich in ihrem Kummer über die eingesperrten Kinder an diese selbst, hauptsächlich an die Söhne:

" "O ihr Kinder von mir und dem grausigen Vater, sobald ihr

Willig, mir zu gehorchen, so rächt an dem eignen Erzeuger

Schlimme Schmach; zuerst hat ja er selber gefrevelt."

Sprachs, und alle erfasste Entsetzen und keiner von ihnen

Redete; nur der große, der listenmächtige Kronos

Gab, von Mut beseelt, der erhabenen Mutter die Antwort:

"Mutter, so will denn ich dir dies versprechen und möchte

Gern das Werk vollenden, denn unser verrufener Vater

Kümmert mich wenig, zuerst hat er ja übel gehandelt." " (ebd. 164)

 

Es sind tatsächlich gern die jüngsten Söhne, die die Aufgabe übernehmen, sich für die Mutter beim Vater zu rächen. Es sind gern die jüngsten Söhne, die sich darin vor allen Geschwistern und vor der Mutter an die erste Stelle (noch vor den Vater) überheben. Und da Kronos noch zu schwach ist, es mit dem Vater Auge in Auge aufzunehmen, schmiedet ihm die Mutter (aus dem

Erz ihrer Erde)

"ein graues Eisengebilde, eine gewaltige (zahnige) Sichel" (162 und 180)

 

(Wir finden hier den Ursprung jenes Werkzeuges, das Kronos Saturn von da ab immer bei sich führen wird. Dieses Gerät wandelt sich dann später zu jener (größeren) Sense, die wir in der Gestalt des Todes (im Mittelalter) auf tausenden von Abbildungen vorfinden.)

Die Mutter aber tut noch ein übriges: Sie verbirgt Kronos in einem sicheren Versteck, sie lehrt ihn noch allerlei "listige Schliche", wie er den Vater überwinden kann und als dann - des nachts - der große Gott Uranos (der Himmel) wieder seiner Gemahlin Gaia (der Erde) beiwohnen will und - wie wir annehmen wollen - von wilder erigierter Begierde abgelenkt ist, da greift Kronos, der Sohn, aus dem Versteck mit der linken Hand das Geschlecht...

"...und griff mit der rechten die ungeheuerlich große,

Schneidende, zahnige Sichel und mähte dem eigenen Vater

Eilig ab die Scham und warf im Fluge sie wieder

Hinter sich; sie entflog nicht eitel und unnütz den Händen." (179)

 

Uranos, der Vater, ist damit machtlos, kastriert. Jetzt ist es der Sohn Kronos, der die Macht über das Göttergeschlecht hat. Uranos hat die Kraft der Zeugung verloren, er kann sich mit seiner Frau Gaia nicht mehr vereinen. Die erste Zeugung des Götterhimmels geht mit sechs Söhnen und sechs Töchtern zuende. Kronos schwingt sich durch diese Tat zur Herrschaft über das Titanengeschlecht auf und eine neue Ära beginnt.

Freilich, die Verwicklung ist gesetzt. Der Vater ist geschändet. Die Verwirrungen nehmen ihren Lauf.

 

Beinahe beiläufig erzählt der Mythos an dieser Stelle noch etwas sehr Entscheidendes: Es entsteht nämlich nicht nur eine Verfehlung des Sohnes gegen den Vater, es entstehen auch jene Gottheiten, die später antreten werden, alle Verfehlungen der Kinder gegen die Eltern zu verfolgen und zu ahnden. Die Blutstropfen des abgeschnittenen Penis, die zur Erde fallen (also in Gaias Schoß) sind der Samen, aus denen Gaia dann nach einiger Zeit die Erinyen (die Zorn und Rachegöttinnen) entbindet. Und das weiterfliegende Geschlechtsteil, das letztlich im Meer landet und dort Schaum aufwirbelt, bildet den Samen für die Entstehung einer aus dem Schaum (Aphros) geborenen Göttin: Aphrodite. (Aber das ist eine andere Geschichte.)

Kronos ist also jetzt der Herrscher über das (neue) Göttergeschlecht der Titanen. Er, der jüngste, schwingt sich zum größten unter den elf Geschwistern auf. Und er tut das, was gute Götter tun: Er nimmt sich eine Gemahlin und er beginnt eine neue Reihe von Göttern zu zeugen, die sein Geschlecht fortführen. Aber welche göttliche Frau gäbe es als seine Gemahlin außer seiner Schwester? Nun, was bei uns Menschen Blutschande wäre (und zutiefst verpönt), das ist im Himmel der Götter eine ganz normale Angelegenheit. Unter den Kindern von Uranus und Gaia nehmen etliche ihren eigenen Bruder zum Mann, ihre eigene Schwester zur Frau:

Theia nimmt Hyperion zum Mann und sie zeugen Helios (die Sonne), Selene (den Mond) und Eos (das frühe Licht des Morgens)...

Phoibe nimmt Koios zum Mann und sie zeugen Leto (die spätere Mutter von Apollon und Artemis)...und

Rhea schließlich nimmt Kronos zum Mann und sie zeugen sechs (nicht zwölf!) Kinder, die später allesamt zu den großen Gottheiten zählen. Drei Töchter: Hestia, Demeter und Hera sowie drei Söhne: Hades, Poseidon und Zeus.

Zeus ist der jüngste!

Und wir ahnen bereits den Verlauf der Geschichte. Es gibt nämlich was Kronos betrifft eine düstere Prophezeiung:

"Hörte er doch von der Erde (also von seiner Mutter Gaia)

und von dem sternigen Himmel (also von seinem Vater Uranos):

Künftiger Sturz sei ihm bestimmt vom eigenen Sohne,

Trotz seiner eigenen Stärke durch Zeus, des erhabenen, Arglist."

(Hesiod, ebd. 463)

 

Kronos, der die Königswürde über das Göttergeschlecht der Titanen durch den Frevel an seinem eigenen Vater erlangt hatte, muß jetzt fürchten, daß einer seiner Söhne denselben Frevel an ihm begehen wird. Und er hat Angst. Er will nicht die Herrschaft verlieren. Deshalb tut er etwas ganz ähnliches wie das, was bereits sein Vater Uranos an seinen Kindern getan hatte. Er schafft die Kinder beiseite. Hatte Uranos sie noch in die finsteren Tiefen der Erde verbannt, so entscheidet sich Kronos für etwas ganz ähnliches:

"Darum ließ er nicht ab, zu wachen und stellte den eigenen

Kindern nach und fraß sie zu Rheas unsäglicher Trauer" (ebd. 466).

 

Sobald sie auf die Welt kamen, sobald sie den Schoß der Mutter verlassen hatten, fraß er sie auf!

Das aber wir wiederholen uns kann einer Mutter nicht gefallen. Rhea sinnt auf Rache. Sie will ihre Kinder wiederhaben (die bereits verschlungenen) und behalten dürfen, denn sie ist ein sechstes Mal schwanger. Hilfesuchend wendet sie sich an ihre Eltern Gaia und Uranos:

"Als ihr daher bestimmt, den Vater der Götter und Menschen,

Zeus, zu gebähren, da fleht sie zu den eigenen, teuren

Beiden Eltern, zur Erde und zum sternigen Himmel,

Listigen Rat zu ersinnen, damit sie verborgen gebäre

Ihren geliebten Sohn und an seinem Vater die Untat

Räche, weil seine Kinder der listige Kronos verschlungen.

Willig vernahmen sie beide die Worte der Tochter, gehorchten

Gern und verkündeten ihr, was noch in Zukunft beschieden

Kronos, dem Herrscher, und auch seinem eigenen, gewaltigen Sohne,

Sandten sie dann nach Lyktos, den fetten Gefinden in Kreta,

Denn da sei ihr bestimmt, ihr jüngstes Kind zu gebären,

Den gewaltigen Zeus. Den nahm ihr die riesige Gaia

Ab im räumigen Kreta, um seiner nährend zu pflegen.

Rhea eilte und brachte ihn erst durch das nächtige, schnelle

Dunkel nach Lyktos und barg ihn aus der Hände Behütung

In einer riesigen Höhle, im Schoße der heiligen Erde, (also der Mutter)

Im aigeiischen Berg, dem waldigen, schattenumhüllten,

Wickelte dann einen riesigen Stein in die Windeln und brachte

Ihn dem Uranossohn, dem früheren König der Götter.

Der (Kronos) aber packte ihn gleich und schlang ihn gierig hinunter.

Tor, der nicht im Herzen bedachte, daß ihm in Zukunft

Statt des Steines sein Sohn noch unbezwingbar und sorglos

Blieb; der sollte ihn bald mit Kraft und Händen bezwingen

Und seiner Würde entkleidet und selbst bei den Ewigen herrschen.

(Ebd. 468)

 

Rhea schmiedet also ein Komplott gegen ihren eigenen Mann (und Bruder), sie schiebt ihm einen Stein (mit Windeln) als Sohn unter. Kronos verschlingt den Stein und wähnt sich wieder in Sicherheit.

Die Details der Machtübernahme durch Zeus sind jetzt unerheblich. Er wächst heran, wird stärker. Er bezwingt den Vater. Er befreit die Geschwister und diese vergelten es ihm, indem sie ihn zum König des neuen Geschlechts der Olympier machen. Die restliche Geschichte ist schnell erzählt:

"Es folgte ein Krieg, in dem Kronos von seinen Kindern und mit Hilfe der Giganten und Kyklopen, die Zeus befreit hatte, zugunsten von Zeus abgesetzt wurde. Zusammen mit Iapetos (seinem Bruder) und anderen Titanen stieß man Kronos in den Abgrund des Tartaros, wo die Hekatoncheiren ihn bewachen mußten." (Grant/Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1980, S.252)

 

Kronos ist jetzt wieder an der Stelle, an die ihn bereits sein Vater Uranos verbannt hatte: Unter der Erde.

Ich habe diese Geschichte deshalb hier so ausführlich erzählt, weil in ihr jenes Motiv deutlich wird, das dem Saturn noch 2500 Jahre später anhaften wird: Er frisst seine Kinder!

 

Die bisher erzählte Geschichte ist gleichsam die erste Fassung des Auftretens von Kronos-Saturn, denn Hesiod (ca. 700 v.Chr.) war der erste, der systematisch die Genealogie des griechischen Götterhimmels zusammengetragen und in seiner "Theogonie" aufgeschrieben hat.

Für uns ist diese Geschichte aus mehreren Gründen wichtig: Will man eine Seelengestalt zu erfassen versuchen, so hilft es, die Geschichten, die sich um ihren Hintergrund ranken, erzählt zu bekommen. Weiß man um diese Geschichten nicht, so bleiben die einzelnen Versatzstücke ("Sichel", "Kinderfressen" usw.) blaß und sind nur noch angsteinflößend.

Apropos: Das Kinderfressen. Wie wir von Hesiod erzählt bekommen, ist dieses "Kronos verschlingt seine Kinder" im Sinne des Mythos vollständig verschieden von einem Kindermord!

Es scheint ja auf den ersten Blick keinen Unterschied zwischen Kronos und Herodes (der nach den Erzählungen des NT die erstgeborenen Kinder abschlachtete) zu bestehen. Schaut man freilich genauer hin, übersetzt sich "Kronos frißt seine Kinder" als: Er nimmt sie in sein Inneres auf, aber weder sind sie endgültig verschwunden noch tot. Jeder Grieche wußte, daß Götter nicht sterben können, so wie heute jeder Comic-Leser weiß, daß seine Heroen ebenfalls nicht untergehen können und er also beruhigt auf das "Fortsetzung folgt" warten kann.

 

Nun, der griechische Mythos ist noch um eine Spur komplizierter. Wir sind ja erst bei der ersten Fassung der Geschichte. Es gehört zu den verwirrenden Besonderheiten fast jeder griechischen Göttergestalt, daß ihre Geschichte nicht nur einmal erzählt wird, sondern daß sich (oft auch regional verschieden) plötzlich in neuer Gestalt eine neue Geschichte entfaltet.

Klibansky et. al. stellen fest:

"Von Anfang an zeichnet sich die Vorstellung des Gottes Kronos, einer offenbar schon in vorgriechischer Zeit verehrten Gottheit, von deren ursprünglichem Wesen wir so gut wie nichts wissen, durch eine ausgeprägte innere Gegensätzlichkeit oder Ambivalenz aus. Zwar erscheinen auch die anderen griechischen Götter doppelgestaltig in dem Sinne, daß sie zugleich verderben und segnen, zerstören und helfen können. Doch bei keinem ist die Doppelgestaltigkeit von so grundsätzlicher Art wie bei Kronos. Sein Wesen ist nicht nur dualistisch in bezug auf die Wirkungen nach außen, sondern auch in bezug auf sein eigenes, gleichsam persönliches Schicksal, und dieser Dualismus ist in solcher Schärfe ausgeprägt, daß man Kronos geradezu als einen Gott der Gegensätze bezeichnen könnte. Die Homerischen, bei Hesiod wiederholten Epithea (schmückenden Beiworte, P.O.) kennzeichnen den Vater der drei Weltenherrscher Zeus, Poseidon und Hades (als der er in der llias erscheint) als "groß" und "krummsinnig". Auf der einen Seite ist er der gütige Gott des Landbaus, dessen Erntefest von Freien und Sklaven gemeinsam gefeiert wird, der Herrscher des Goldenen Zeitalters, in dem die Menschen alles im Überfluss hatten und das unschuldige Glück eines Rousseauischen Urzustands genossen, der Fürst auf den Inseln der Seligen, der Erfinder der Agrikultur und des Städtebaus. Auf der anderen Seite ist er der traurige, enthronte und einsame Gott, der an den entferntesten Enden des Landes und Meeres hausend, unter die Erde und Flut der Meere verstoßen vorgestellt wird, der ein Herrscher der unteren Götter ist, der als Gefangener oder Gebundener im oder sogar noch unter dem Tartarus wohnt und später geradezu als Gott des Todes und der Toten gilt. Auf der einen Seite ist er der Vater der Götter und Menschen, auf der anderen der Kinderfresser, der rohes Fleisch Fressende, der Alles-Verschlinger, der sämtliche Götter in sich hineintrinkt und von den Barbaren Menschenopfer verlangt. Und er entmannt seinen Vater Uranos mit eben der Sichel, die ... von Gaia verfertigt, zugleich das Instrument des gräßlichsten Verbrechens und das Werkzeug der Ernte ist."

(Klibansky, Panofsky und Saxl, aaO., S.211 ff)

 

Eine andere Geschichte erzählt uns nämlich, daß Kronos ein milder göttlicher König war, unter dessen Regentschaft auf Erden ein Goldenes Zeitalter anbrach, in dem die Menschen am leichtesten (von allen Erdzeitaltern) lebten.

"Im Goldenen Zeitalter floß Honig aus den Eichen. Die Anhänger des Orpheus wußten es so, daß Kronos von Honig berauscht schlief noch gab es ja den Wein nicht als Zeus ihm die Fesseln anlegte. Er fesselte den Vater, um den alten Gott dorthin zu entrücken, wo Kronos und mit ihm das Goldene Zeitalter auch heute noch weilt: auf den Inseln der Seligen, am äußersten Rand der Erde. ... Dort ist er der König, der Gatte der Rhea, der zuhöchst über allen thronenden Göttin."

(Kerenyi: Die Mythologie der Griechen Bd. 1, München 1966, S. 26)

 

"Nach einem abweichenden Bericht war Kronos kein grimmiger Tyrann, sondern ein gütiger Herrscher, der in einem gesegneten goldenen Zeitalter regierte; nach seiner Absetzung wurde er Herrscher über die Inseln der Seligen im westlichen Ozean. Diese Darstellung verknüpft Kronos mit Saturn, dem römischen Gott, mit dem er gleichgestellt wurde." (Grant und Hazel: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten, München 1980, S. 252)

Kronos wird damit in der Tat zu einer eigenartigen Doppelgestalt: Auf der einen Seite ein milder König, unter dessen Herrschaft Milch und Honig fließen auf der anderen Seite ein Griesgram, der seine Kinder verschlingt.

Platon fügt dem Ganzen noch eine Variante hinzu:

"Darüber hinaus wird Kronos an den Stellen, an denen Platon in mythischer Form die Entstehung des Staates behandelt, als menschenfreundlicher Gott bezeichnet, unter dessen Regierung Zufriedenheit, Bescheidenheit, Gesetzlichkeit und neidlose Rechtlichkeit herrschten, so daß die Menschen der Gegenwart ermahnt werden, auf jegliche Weise dem Leben unter Kronos nachzustreben und in diesem Sinne die Herrschaft des Nous Gesetz zu nennen." (Klibansky, Panofsky und Saxl, aaO., S.239)

 

Es ist wichtig, daß wir das bei Platon noch einmal genauer nachlesen, denn hier finden sich Textstellen, die uns auf jenes Thema aufmerksam machen, das uns im weiteren Verlauf des Buches noch sehr intensiv beschäftigen wird: Das Gesetz, das unter der Herrschaft von Kronos steht, und dem nachzustreben dem Menschen anempfohlen wird:

"Die Sage erzählt uns von dem seligen Leben der damaligen Menschen und berichtet uns, daß ihnen alles in reicher Fülle und ganz von selber gedieh und daß Folgendes der Grund dafür gewesen sei. Kronos nämlich wußte sehr wohl ..., daß auch nicht Eine sterbliche Art stark genug dazu sei, alle menschlichen Angelegenheiten aus eigener Machtvollkommenheit zu verwalten, ohne sich dabei mit Frevel und Ungerechtigkeit zu beflecken. (Also Menschen können es nicht! P. O.) Indem er (Kronos) daher dies in Erwägung zog, setzte er damals zu Königen und Herrschern über die Staaten nicht Menschen, sondern Wesen von besserer und göttlicher Abkunft, nämlich Dämonen, gerade wie wir jetzt es bei Schafen und allen anderen Herden zahmer Tiere machen, indem wir bei ihnen nicht etliche Rinder über die Rinder und etwelche Ziegen über die Ziegen zu Hütern bestellen, sondern wir selbst (also wir Menschen, P. O.) ihre Leitung übernehmen, als Wesen von besserem Geschlecht denn sie. Eben so machte es also auch der Gott (Kronos) und setzte in seiner Menschfreundlichkeit damals ein edleres Geschlecht über uns, das der Dämonen, welches uns die Mühe dafür abnahm und doch selbst sich keiner großen Mühe damit unterzog, und so durch seine Fürsorge für uns Frieden, sittliche Scheu, Gesetzlichkeit und die Fülle der Gerechtigkeit bei uns heimisch und die Geschlechter der Menschen von innerem Zwiste frei und glücklich machte. Und so verkündet uns denn diese Sage noch heutzutage die Wahrheit, daß es für alle Staaten, deren Herrscher nicht ein Gott, sondern ein Sterblicher ist, keine Möglichkeit gibt, Leiden und Mühen zu entfliehen; und sie lehrt uns, daß wir auf jede Weise vielmehr das Leben, welches unter Kronos geherrscht haben soll, nachahmen und dem Unsterblichen (Kronos), so viel dessen in uns ist, in der Verwaltung von Privat und öffentlichen Angelegenheiten, Häusern und Staaten Folge leisten und die Satzungen der Vernunft zu Gesetzen erheben müssen.

Wo hingegen ein einzelner Mensch oder eine Oligarchie oder auch Demokratie, von allen möglichen Lüsten und Begierden getrieben und nach steter Erfüllung derselben begierig und doch immer leer und mit einem unheilbaren und unersättlichen Übel behaftet, über einen Staat oder (auch nur) einen Einzelnen Herrschaft ausübt, da treten sie dann alle Gesetze mit Füssen, und es bleibt, wie gesagt, kein Mittel zu Rettung. Es ziemt sich also für uns, Kleinias, in Betracht zu ziehen, ob wir dieser Sage glauben und folgen oder anders handeln wollen."

(Platon: Nomoi, 713 c, in Sämtliche Werke Bd. 9, Ffm. 1991, S. 294 ff)

 

(Es versteht sich, daß Platon mit einem "Dämon" etwas gänzlich anderes meint, als unsere heutige Wortbedeutung nahelegt. Sokrates z. B. war sehr stolz auf seinen Dämon, der ihn durch die Fährnisse des Leben begleitete und wir könnten dieses Wort vielleicht besser als "Genien" übersetzen, die uns leiten als "gute Geister", so wie es die deutsche Sprache ausdrückt, wenn sie sagt: "von allen guten Geistern verlassen".)

 

Da dem Leser vor lauter Zitaten jetzt schon der Schädel brummt, wollen wir es erst einmal genug sein lassen.

Fassen wie unseren bisherigen Ertrag zusammen: Kronos, der große Gott, der Vater einer großen Zahl von Olympiern, trägt folgende z. T. widersprüchliche Merkmalsdimensionen:

- er entmannt seinen eigenen Vater mit einer Sichel, die seine Mutter Gaia ihm anfertigt.

- er frißt seine eigenen Kinder, damit sie ihm nicht gefährlich werden können.

- er ist ein weiser und gerechter König, der über das Goldene (Erd) Zeitalter regiert.

- er ist der Gott des Landbaus, der Erfinder und Schöpfer der

Agrikultur und des Städtebaus. (Bei seinem Fest, den "Kronia" durften Herren und Knechte zusammen schmausen).

- er war der Gott, der zuständig war für die Einsetzung von "Dämonen", von Wesen also, die höher standen als die Menschen und die darüber wachten, daß Zufriedenheit, Bescheidenheit, Gesetzlichkeit und neidlose Rechtlichkeit herrschten. So sorgte Kronos dafür, daß es etwas Höheres gibt (so wie der Mensch über dem Schaf steht), an dem die Menschen sich orientieren können, wenn sie es akzeptieren. ("Es ziemt sich also für uns, Kleinias, in Betracht zu ziehen, ob wir dieser Sage glauben und folgen oder anders handeln wollen.")

- oft wird er auch (manche sagen fälschlich) mit dem Gott "Chronos" (die Zeit) gleichgesetzt als eine Macht, die alles sieht, aufdeckt und ausgleicht.

 

Wie kommt nun eine solche schillernde Gestalt von der griechischen Mythologie hinüber zu ihrem römischen Gegenstück: denn schließlich heißt unser Buch "Saturn"?

 

Nun, Saturnus ist erst einmal der römische Gott des Ackerbaus, des Obstes, des Weinanbaus, aber letztlich der Gott des Saatgutes für ebendiese Bereiche.

Er ist der Ehemann der Ops (römische Göttin der Saaten und der Ernten) und der Vater Jupiters. Und jetzt wird die Geschichte sehr bekannt: Jupiter, also der Sohn, entmachtet nämlich seinen

Vater, worauf dieser flüchtet:

"Er flüchtet nach Latium, wo er von Janus freundlich aufgenommen wird. Unter seiner (also Saturns) Herrschaft erleben die Menschen das glückliche sorgen und schuldfreie goldene Zeitalter. In Erinnerung an dieses Zeitalter des Saturnus feierte man im alten Rom jahrhundertelang vom 17. bis 19. Dezember die Saturnalien. Es herrschte ausgelassenes Festtreiben wie im späteren Karneval, die sozialen Unterschiede schienen verwischt, besonders am 19. De zember, da Herren und Sklaven Kleidung und Rollen vertauschten." (Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Hamburg 1974, S.370)

Natürlich erinnert dieses Fest an die "Kronia" und bereits die antiken Autoren weisen oft darauf hin. Als Gottheit war Saturnus also für das Ausbringen des Saatgutes zuständig. Sehr viel mehr Gegebenheiten des (römischen) Lebens beherrschte er nicht. Sein Tempel am Fuße des Kapitols (errichtet 496 v. Chr.) war einer der größten auf dem Forum und die Römer lagerten in ihm ihren Staatsschatz.

 

Erst mit dem Aufkommen der Astrologie, also mit der Gleichsetzung eines Gestirns (im Himmel) und einer Gottheit (hier auf Erden?) wandelte sich dieses Bild. Erst jetzt wird seine Verbannungsgeschichte (Jupiter fesselt und verbannt ihn genau wie Zeus Kronos verbannte) in den Vordergrund gestellt.

"So tritt uns schon in den wenigen Versen des Manilius einer der frühesten uns erhaltenen astrologischen Aussagen über das Wesen Saturns ein Himmelsherrscher eigentümlich düsteren Charakters entgegen. Von seinem Thron gestürzt und von der Schwelle der Götter verjagt, übt Saturn seine Kräfte am "umgekehrten Ende der Himmelsachse" aus; er beherrscht die "Fundamente" des Universums, d. h. den "imum coeli" genannten untersten Abschnitt des Himmels, was zur Folge hat, daß er die ganze Welt gleichsam in umgekehrter Perspektive, von einem grundsätzlich feindseligen Standpunkt aus, anblickt. Und wie sein eigenes mythisches Schicksal durch seine Vaterschaft entschieden wurde, so hat er als planetarische Potenz das Schicksal aller Väter und Greise in Händen." (Klibansky, a.a.O., S.220)

 

Und schon sehr früh finden wir ein astrologisches Einteilungsschema, das die Planeten in "gut" und "böse" zergliedert. Nicht nur das, auch die Wochentage, die die Namen dieser Planeten in sich tragen, erhalten die Attribute "glückliche Tage" und "unglückliche Tage": So sind Jupiter (Donnerstag) und Venus (Freitag) grundsätzlich "gute" Tage, Mars (Dienstag) und Saturn (Samstag) sind grundsätzlich "böse" Tage, während Merkur (Mittwoch) ein "neutraler" Tag ist.

Und ein Autor des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts, Vettius Valens, hat gleichsam alle astrologischen Attribute, die bis dahin mit dem Bild des Saturns in eine Verbindung gestellt worden sind, auf den Punkt gebracht.

Valens beschreibt sehr umfangreich sowohl den Archetypus, als auch den Menschentypus, der unter der Regentschaft dieses Planeten steht. Seine Attribute sind:

- der Bittere (bitterer Geschmack)

- der Furchtsame (traurig, ängstlich, leidend)

- der Kleinliche (engherzig)

- der Geizige (begierig, Geld zu stapeln)

- der Selbstverächter

- einsiedlerisch

- von Wahnvorstellungen befallen

- Verheimlicher von Betrügereien

- mit gesenktem Haupt, ihr Äußeres verstellend

- mit niedergeschlagenen Augen, Gesicht stets zur Erde geneigt schwarz gekleidet

- von kleiner Gestalt

- Magerkeit (trotz vielem Essen)

- an dem etwas von Gebeugtheit ist

- meidet das menschliche Gespräch

- Selbstmordneigung

- träge und wahnsinnig

- schwarzäugig, schwarzhaarig,

- schläfrig,

- übler Geruch, (zitiert nach Klibansky, a. a. O.)

 

Um dieses Bild abzurunden, wollen wir noch zwei frühe Saturnbildnisse unserer Aufzählung hinzufügen.

Das erste stammt von einem Wandgemälde aus Pompeji, jener Stadt, die 79 n. Chr. von einem Vulkanausbruch vollständig eingeäschert und erst in den letzten beiden Jahrhunderten teilweise wieder freigelegt wurde. Das zweite stammt von einem sehr frühen Kalender aus dem Jahre 354 n.Chr., der sich heute in der Bibliothek des Vatikans befindet und eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem ersten Bildnis aufweist: Beide Abbildungen aus Klibansky, a. a. O. Abbildung 14 und 9 (nach S.200) (Leider können wir Bilder nicht in der Internet-Sprache html darstellen, deshalb müssen wir hier auf das Buch verweisen.)

 

Exkurs über die "Götter"

 

Bevor wir das eigentliche Themengebiet dieses Buch - die Astrologie - betreten, wollen wir einen kleinen Ausflug unternehmen in die Welt der "Götter" und in die Welt der menschlichen Seele. Und die Fragen, die uns dabei leiten sollen, lauten: Was wissen wir über die Götter?

Zu welchem Zweck dienen sie uns Menschen?

Und zu welchem Zweck dienen wir ihnen?

 

Seit es eine aufgeschriebene Geschichte gibt und seit wir andere kulturellen Zeugnisse (Gebäude, Skulpturen, Wand und Vasenmalereien etc.) des Menschenlebens vorfinden, also etwa seit zehntausend Jahren, stehen die Götter im Mittelpunkt des menschlichen Daseins. Ich verwende das Wort "Götter" absichtlich im Plural, denn die Entstehung des Einen, also des jüdischen Gottes, ist erstens eine relativ späte Entwicklung und zweitens viele hundert Jahre der Glaube einer relativ kleinen Minderheit. Daß dieser Glaube dann zum abendländischen Mainstream wurde und sich noch einmal in Christentum und Islam (mit ebenfalls jeweils einem Gott) verzweigt, geschah erst als die Vielzahl der Götter allmählich unterging und d. h. als an sie nicht mehr geglaubt wurde. Eine ähnliche Situation finden wir heute: Der Gott der Christenheit und der Gott des jüdischen Volkes stehen nicht mehr im Mittelpunkt des "zivilisierten Menschen". Er ist eher eine Randerscheinung und sowohl die jüdischen als auch die christlichen Kirchen beklagen den Glaubensverlust des modernen Menschen. (Ob es im Bereich des Islam eine ähnliche Entwicklung gibt, vermag ich nicht zu beurteilen.) Allenthalben scheinen jedoch der "moderne Mensch" und die "moderne Gesellschaft" und der Glaube an das Göttliche in einem direkten Gegensatz zu stehen.

Zwar gibt es hier und da noch Relikte, Überbleibsel, wenn die Kinder noch getauft und konfirmiert werden oder zur Bar Mizwa gehen und manche Parteien haben gar noch ein großes C (für "christlich") in ihrem Namen aber nur noch die wenigsten Menschen nehmen das ernst. Da man die "Sache mit Gott" noch nicht gänzlich abgelegt hat, überdauert sie noch ein wenig gleichsam als spirituelle Altersvorsorge ("man weiß ja nie...").

Bevor also die monotheistischen Religionen (Gott der Eine) sich (meist mit dem Schwert - in manchen Ländern auch heute noch sehr aktuell) emporschwangen, hatten die Hochkulturen der Weltgeschichte einen ganzen Kanon von Göttern. Wo man hinschaute: Nach Babylonien, Assyrien, Ägypten, zu den Inkas, den Mayas, den Indern, nach Griechenland, nach Rom, nach Skandinavien, alle Völker, die es zu (mehr oder weniger monumentalen) kulturellen Leistungen brachten, hatten einen weitverzweigten Götterhimmel, der sich gleichsam über diesen Kulturen aufspannte und die Menschen in ihnen zu Höchstleistungen anspornte.

Und in den Mythen und Geschichten, in den Heiligen Büchern dieser Kulturen wurde erzählt und aufgeschrieben, wie die Genealogie dieses Götterhimmels beschaffen war und über welches Themengebiet des menschlichen Lebens der jeweilige Gott das Sagen hatte.

Natürlich gab es eine Hierarchie in dieser Götterwelt und natürlich ging es auch im Kreise der Götter nur allzu menschlich zu, aber wenn der Bauer in Griechenland oder Rom seinen Samen in die Erde brachte, so wußte er: Ein Dankgebet, ein kleines Opfer an Kronos oder Saturn bringt Segen.

Oder wenn ein Dichter in Attika seine Gänsekiel in die Tinte (oder wohinein auch immer) tauchte, so war sein erster geschriebener Satz eine Huldigung an die Musen. (Sogar ein Buch über die Abstammung der Götter, wie Hesoids "Theogonie" beginnt mit der Zeile: "Musen am Helikon, ihr, von euch beginn ich zu singen..." und endet mit dem Vers "...ihr liederbeglückten, olympiadischen Musen, des Aigiserschütterers Töchter."

Und was sollte eine erfolgreiche Feldschlacht anderes begleiten als eine Huldigung an den Kriegsgott Mars? ("Vor Beginn des Kriegszuges mußte der Feldherr mit dem Ruf "Wache, Mars" die Marslanzen schütteln, die das Symbol des Gottes waren und in der Regia aufbewahrt wurden" (Lexikon der alten Welt, a.a.O.,Bd. 2 S. 1857)

 

Jeder Gott hatte eben sein festumrissenes Gebiet im Bereich menschlicher Tätigkeiten und Leidenschaften und es gehörte zu den Selbstverständlichkeiten dieser alten Kulturen, daß die Götter eingeordnet waren in das alltägliche Leben.

Allein eine Frage, wie das heutige "Glaubst du an Gott?", wäre von einem derart eingebetteten Menschen mit ähnlichem Unverständnis quittiert worden, wie die Frage "Glaubst du an das Internet" an ein heutiges Computer-Kid. Die Götter waren eine (seelische) Realität. Sie beherrschten das Leben real und der Mensch, der unter diesem aufgespannten Götterhimmel lebte, war ein Geborgener und ein Dazugehöriger.

Platons Bild, daß man zum Hüter einer Herde von Schafen nicht ebenfalls ein Schaf nehmen darf, sondern ein höheres Wesen (in diesem Falle den Menschen), trifft dieses Gefühl des Aufgehobenseins in aller Schärfe: Die von den Göttern behüteten Menschen fühlten sich in ihrer Seele angenommen und bewacht und beschützt. Noch nicht einmal der Tod konnte an diesem Gefühl des Behütetseins etwas ändern. Die letzten irdischen Worte eines Sokrates an einen seiner Schüler (nachdem er den Giftbecher, den ein menschliches Gericht ihm zugedacht hatte, geleert) beweisen diese sichere Geborgenheit: "Und vergeßt nicht, in meinem Namen dem Asklepios einen Hahn zu opfern!" Und das sind nicht die letzten Worte eines Menschen, der auf dem Totenbett fromm wird wie es heute so oft geschieht ("man kann ja nie wissen!") , sondern die eines Menschen der mit den Göttern und mit seinem "Dämon" ein Leben lang verkehrte.

 

Dieses Verhältnis zu den Göttern ist lange beendet, diesen Halt in einer höheren Ordnung hat der heutige Mensch nicht mehr. Der Götterhimmel ist leergefegt und auch der Eine Gott unseres abendländischen Kulturkreises hat nicht mehr (oder nur noch in den wenigsten Fällen) die Kraft, dem Leben jenes Gefühl des Aufgehobenseins und des Dazugehörens zu geben und dem Menschen damit letztlich einen gewissen Sinn zu stiften.

Was übrigbleibt, ist die Leere, das kreischende Nichts, das der Mensch mühsam mit den neuesten Errungenschaften und Abfallprodukten des Tanzes um das goldene Kalb zu füllen bestrebt ist. Aber auch das bleibt ohne Sinn.

(Auch wenn der Vergleich etwas weit hergeholt zu sein scheint: Es ist wie beim heutigen Fernsehen. Der Mensch glaubt, am Abend einen Film zu sehen, den er kennt und von dem er weiß, daß er ihn anrührt. "Casablanca". Einen Film über Liebe und Verzicht durchaus ein Steinbock-Film. Was er aber in Wahrheit sieht, ist eine Kette von "Werbe-Botschaften", notdürftig umwickelt von Humphrey Bogart und Ingrid Bergmann. Und für die Strategen, die im Hintergrund das Fernsehen machen, ist nicht mehr der Inhalt des Filmes das Eigentliche und macht den Sinn aus, sondern die "Lila Pause", die dem Fernsehzuschauer verkauft werden muß. Der Film ist nur noch der Köder. Und kann demnächst ganz weggelassen werden, wenn die nächsten James Bond Spielfilme auf den Markt kommen, die nur noch eine einzige Werbebotschaft von BMW (oder wie die anderen "Lila Pausen" so heißen) sind.)

 

Der Leser mag sich schon geraume Zeit fragen: Was will der Autor mir damit sagen? Will er die alten Götter wieder inthronisieren? (Will er das Werbefernsehen abschaffen?) Wenn die Götter verschwunden sind, wie sollten sie wiederkehren? Wie sollten wir heute noch an Götter glauben?

Nun, wir sollten eines klarstellen: Wir haben bisher nie von den Göttern an sich gesprochen, sondern nur über die Menschen und wie sie die Götter in ihrem Leben als etwas Dazugehöriges erlebten und betrachteten.

Die Fragen, ob es diese Götter je real gab, und wenn ja, wo es sie gab (und ob es sie weiterhin gibt), sind natürlich vom Menschen überhaupt nicht zu beantworten und sind letztlich völlig unerheblich. Der Gottesbeweis, an dem sich Theologen und Philosophen in hunderten von Jahren die Zähne ausgebissen haben, will ja immer beweisen, daß die Götter oder daß der Eine Gott in irgendeinem himmlischen oder olympischen oder sonstwie elysischen Refugium tatsächlich existiert. (Und daß man am liebsten von einer derartigen Götterversammlung ein Polaroid anfertigen möchte.) Aber solange diese Frage so gestellt wurde, ging der Mensch unweigerlich in die Irre. Denn zu jedem Gottesbeweis kann jede beliebige Wissenschaft heute eine Widerlegung dieses Beweises erstellen.

Allein die Frage nach einem Beweis ist schon Ausruck des menschlichen Zweifels. Und je weniger Belege der Mensch für die Existenz des Gottes beweiskräftige nach Hause tragen konnte, desto mehr wuchs auch sein Zweifel.

Seit vor 250 Jahren die Aufklärung begann und seit Wissenschaften sich etablierten, denen es gelang, in die Strukturen des Atoms (hier auf Erden) und in die Spektrallinien eines schwarzen Loches (im Himmel) einzudringen, wurde auch dem letzten Gläubigen klar, daß die "Sache mit Gott" sich so (also real) nicht würde beweisen lassen.

Was blieb, war der Glaube. Aber dieser Glaube bezog sich ebenfalls immer auf eine reale (oder spirituelle) Gestalt. Sei sie nun sichtbar oder (als Hilfskonstruktion) unsichtbar.

Denn jede Diskussion über das Thema des Gottes läuft immer noch auf die Frage hinaus: Gibt es ihn? Und die Antwort (ob nun sichtbar oder unsichtbar) soll immer auf ein "Ja" oder ein "Nein" hinauslaufen.

Und mit einer derartigen Antwort kommen wir nicht weiter. Um die Logik dieser Frage ganz deutlich zu verstehen und um vielleicht zu einer neuen Frage zu gelangen, wollen wir versuchen, das Bisherige graphisch zu verdeutlichen.

Stellen wir uns vor,der gläubige Mensch steht in seiner Welt und "Welt" heißt hier tatsächlich der gesamte ihn umgebende sichtbare und unsichtbare Kosmos. (Bild 1 - Leider können wir Bilder nicht in der Internet-Sprache html darstellen, deshalb müssen wir hier auf das Buch verweisen.)

Und der Mensch hat in sich die Vorstellung, daß Gott irgendwo existiere, sei er nun sichtbar, sei er unsichtbar. (Bild 2) Denn das ist ja der Streit, der bisher zwischen Gläubigen und Ungläubigen (Atheisten) geführt wurde: Wie ist er und wo ist er? Die Atheisten befinden sich in Bild 1, die Gläubigen in Bild 2.

Natürlich, es gibt eine zweite Gruppe von Gläubigen. Diese behaupten, Gott stecke in allem. In allem Sichtbaren, in allem Unsichtbaren. Und natürlich ist hier die Beweislage ganz ebenso kompliziert. Aber sehen wir es auch einmal als ein Bild (3). Es ist dies die Vorstellung, Gott stecke ebenso im kleinsten Atom wie in der Schneeflocke, ja, er ist die gesamte Schöpfung und be findet sich noch im weitest entfernten "schwarzen Loch" ganz genauso wie im Körper und der Seele des einzelnen Menschen. ("Gott ist die Liebe").

"Schöpfung" und "Gott" werden in diesem Bild zu Synonymen. Aber immer noch wird in dieser Gottesvorstellung "Gott" als im Außen identifizierbar angesiedelt. Das liegt natürlich auch daran, daß jede spätere Religion, jeder spätere Glauben eine Offenbarungsreligion (ein Offenbarungsglaube) ist: Gott hat sich gezeigt! Er hat sich einem auserwählten Menschen (Mohamed usw.) geoffenbart; also auf die eine oder andere Weise als Gott gezeigt. Der christliche Gott hat sich gar durch einen Menschen offenbart, der behauptete, sein Sohn zu sein.

Und das gläubige Judentum wartet schon seit über 2000 Jahren auf einen Messias, einen von Gott geschickten "gesalbten König", der nach einer Prophezeiung folgenden Auftrag hat:

"Ja, die reißenden Tiere, Löwe, Wolf und Bär wandeln ihre Natur, und der Stand paradiesischer Unschuld und Gutartigkeit kehrt auf dieser Welt wieder ein, auf der niemand mehr verderbt handeln wird; denn der weisheitsvollen Gerechtigkeit des messianischen Königs beugen sich alle im Lande." (Jüdisches Lexikon, Bd. 4, Berlin 1930, S. 135)

Ein wenig erinnert uns dieses Paradies an das Goldene Zeitalter der Götter Kronos und Saturnus.

 

Mit anderen Worten, alle späteren göttlichen Glaubenssysteme wurden installiert, weil einem oder mehreren Menschen vor vielen hundert Jahren einmal eine Gestalt, eine Vision oder ein Mensch begegnet ist, der etwas gesagt oder getan hat und an den dann geglaubt wurde. Und jetzt (heute) richtet sich eine ganze Glaubensgemeinschaft (mitunter viele Millionen Menschen) nach den Worten dieses einen (im Islam und Judentum) oder dieser zwölf (im Christentum) Zeugen!

Und natürlich hätte dieses Zeugnis heute vor keinem Staatsanwalt und in keinem Gericht der Welt Bestand. Und die Dutzende von Menschen, die in den letzten 2000 Jahren sich dem Jüdischen Volk als "der" Messias präsentiert haben, sind natürlich auch alle von den Gläubigen (früher oder später) davongejagt oder davongelacht worden.

 

Anders gesagt: Die neueren Glaubenssysteme entstanden aus dem Bericht eines oder mehrerer Menschen im Anfang der Periode und wurden (und werden) seitdem geglaubt.

 

Der Unterschied zu den alten Religionen der Götter verdient festgehalten zu werden: Hier, bei ihnen, gibt es diese Offenbarungen nicht! Kein Ägypter, Grieche, Römer oder Nordländer stand je im Verdacht, persönlicher Zeuge der Anwesenheit einer Gottheit zu sein. Und wenn es doch einmal so war, so zog er mit Sicherheit aus dieser Tatsache nicht den Gewinn, ein Religionsstifter oder sonst ein besonderer Mensch zu werden. Die Götter waren so selbstverständlich; ob sie sich zeigten oder nicht zeigten, hatte mit dem betreffenden Menschen gar nichts zu tun. Man konnte die Geschichten vielleicht am Kamin erzählen und die Umsitzenden würden nicken und sagen: "Ja, ja, die Götter!" Und das war's!

Das ist eben der Unterschied, ob man im Schoße der Götter lebt oder ob man zweifelt und jetzt händeringend nach jemandem sucht, der einem einen Beweis (?) liefert und den man dann anstelle des Beweises, denn der ist ja vorbei zum Religionsstifter erklärt.

 

Unseren Fragen: Gibt es einen Gott? Gibt es Götter? sind wir noch keinen Schritt nähergekommen. Die letzten 2000 Jahre lassen sich zusammenziehen zu dem Satz: Es gab einmal vor vielen Jahren jemanden, der hat behauptet, daß ihm der Gott erschienen sei; oder: der hat behauptet, er habe einige Zeit mit dem Sohn Gottes zusammengelebt.

(Wobei zu den 12 Letztgenannten noch gesagt werden muß: ... der hat behauptet, die Geschichte von jemandem zu erzählen, der mit jemandem einige Zeit verbracht hat, der mit dem Sohn Gottes gelebt hat. Denn die Evangelien sind ja gar nicht (vielleicht mit einer Ausnahme) von den Jüngern Jesus selbst aufgeschrieben worden.)

Wir werden hier nicht daran zweifeln (warum sollten wir auch), daß es sich in der Seele des betreffenden Jüngers oder des betreffenden Propheten so angefühlt hat, als habe Gott oder der Sohn Gottes zu ihm gesprochen. Daß er in seiner Seele also tatsächlich die Gestalt oder die Vision oder den Traum oder was auch immer hatte. Und daß seine Seele tatsächlich geglaubt hat, dem Sohn Gottes gegenüber zu stehen. An seinem Glauben zweifeln wir genausowenig, wie wir am Traum des Abrahams zweifeln, daß Gott ihm befohlen habe, seinen einzigen Sohn zu schlachten. Vielleicht um seinen Glauben zu prüfen! Aber vielleicht gibt es auch andere Gründe, seine eigenen Kinder zu schlachten (oder zu fressen)!

Damit aber sind wir beim Thema des Gottesbeweises unversehens an der Stelle gelandet, die im Zusammenhang mit Gott (und den Göttern) bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat; Der menschlichen Seele!

Jenem Gebilde also, in dem die Visionen, die Gestalten, die Geschichten, die Begegnungen (mit wem auch immer) als erstes landen. Bei jenem Gebilde, das das Aufgenommene als erstes registrieren und verarbeiten muß. Bei jenem Gebilde, das mitunter gar das Aufgenommene erst produziert - genauso wie es vielleicht Träume und Visionen produziert.

 

In der Seele der Griechen (und frühen Römer) gab es die Götter! Sie waren dort fest verankert. In der Seele der griechischen Menschen gebe es etwas Höheres, vor dem sie klein waren wie das Schaf vor dem menschlichen Hirten. Die Götter waren eine Institution, fest verankert in seinem Inneren; mit Orten im Außen (Tempeln), in denen der jeweilige Gott eine Filiale hatte. Und jeder einzelne Gott trug in sich eine festumrissene Aufgabenstellung für das Leben des Einzelnen. Mars war eben der zuständige Gott, wenn es um das Kriegführen ging und Venus die Göttin, wenn es um die Liebe ging. Nicht nur, daß man sich an sie wenden konnte, sie meldeten und regten sich selbst im Menschen.

Aber da der Mensch eben nicht nur vom Krieg und von der Liebe in seinem Inneren (in seiner Seele) leben konnte, gab es für jede menschliche und seelische Regung eine Gottheit, die gleichsam die Oberhoheit über diese menschlichen und seelischen Regungen und Tätigkeiten ausübte.

Das menschliche Leben hatte also nicht nur einen Hirten für die Liebe und einen Hirten für den Krieg, sondern ganz ebenso Hirten für das Geldverdienen, Hirten für den Handel, für die Ernte, für den sportlichen Wettstreit, für das (mit Verlaub) Saufen, (ja, natürlich, es gab ein kultisches Trinken bis zur Bewußtlosigkeit - das gibt es auch heute noch, wenn es auch keinen Sinn mehr hat), Hirten für das Schreiben, für das Dichten, für die Musik, für das Heilen und für das Sterben. Usw.

Und genau wie jeder gute Hirte sorgten die Götter dafür, daß das, was sie hüteten, nicht in Gefahr geriet. Sie achteten darauf, daß genügend Spielraum für das Schaf bliebt, satt zu werden, ohne sich zu verirren oder anderweitig in Gefahr zu geraten.

Die Götter waren die Hirten.

In der Seele.

Es brauchte dazu keine weltliche Organisation wie die Kirche mit ihren Hierarchien, die die Griechen verfolgten oder sie zum Gehorsam zwangen und ggf. verdammten. Es brauchte keine Glaubenskrieger (mit Speeren, Scheiterhaufen, Kalaschnikows oder Selbstmörder-Bomben), die den wahren Glauben überwachten. Natürlich gab es Tempel mit Priestern. Aber jeder Priester eines jeden Tempels hatte eine klarumrissene Aufgabe. Er war nur für einen Teil des Seelenheiles zuständig, niemals für das Ganze des Menschseins.

Und es gab auch eine zweite klare Aufgabenteilung: Die Priester waren für das Seelenheil zuständig und die mündigen Bürger für das weltliche Heil. Hier, erst in dieser Aufgabenteilung, entstand die Wiege der Demokratie. Hätte irgendein Priester der Demeter aus bewußten oder unbewußten Macht-Gelüsten heraus verkündet: Wir wollen eine Demeter-Welt errichten und alle Menschen dürfen jetzt nur noch der Demeter huldigen und die Gebote der Demeter befolgen, die Griechen hätten ihn aus dem Tempel gelacht. So etwas war erst möglich mit dem Auftreten und dem Kampf für den Einen Gott.

 

Als Bild könnten wir uns den griechischen Götterhimmel in der Menschlichen Seele so denken (Bild 4): Die Vielfalt der Götter als Hüter der vielfältigen menschlichen Eigenschaften und Tätigkeitsfelder in der menschlichen Brust wirken auf die umgebende Welt in einer Weise, daß der Mensch in ihnen (in den Göttern) ein Gefühl des Aufgehobenseins in sich fanden.

Es ist dabei gänzlich unerheblich, daß die Griechen ja auch an die "Götter im Außen" glaubten und aus diesem Grund auch nicht im Traum daran dachten, je den Gipfel des Olymps (der ja als Berg in Griechenland vorhanden war) zu ersteigen.

Denn natürlich waren auch die Griechen (und alle anderen Völker, in deren Seele viele Götter wohnten) davon überzeugt, daß es diese Götter real gab. Wo? Na, auf dem Olymp (die zwölf olympischen Götter) und unter der Erde (Hades und Persephone und Kronos) und im Meer (Poseidon) und noch an vielen anderen Orten, die als Wohnstatt der Götter von den Griechen verehrt wurden. Aber natürlich hatten sie viel zu viel Ehrfurcht, neugierig zu diesen Orten zu gehen. Das überließen sie gern den großen Helden aus der Vergangenheit (Odysseus, Herakles, Orpheus und wie sie alle hießen) und erzählten sich lieber Geschichten über deren Werdegang. Zu besonders feierlichen Anlässen (oder wenn sie sehr krank waren) gingen sie einmal im Leben zu den großen göttlichen Festen zu einer der Hauptfilialen eines Gottes. Zu einem Mysterienspiel (würden wir heute sagen) und wurden dort in die Nähe des Gottes gerückt und entrückt. Manchmal erschien der Gott dann im Traum (im Asklepieon zu Epidauros und heilte) oder als Lichtgestalt (im Heiligtum der Demeter und ihrer Tochter Persephone in Eleusis). Viele Tausende haben so das "Göttliche" geschaut. Und waren ergriffen und erhoben und verwandelt und noch mehr aufgehoben.

Sie hatten jetzt Teil und Anteil am Göttlichen.

Aber wenn wir es von heute aus betrachten, so können wir nicht unterscheiden: Sahen sie etwas im Außen? oder sahen sie etwas in ihrem eigenen Inneren? Hatten sie Kontakt zum Gott im Außen oder hatten sie Kontakt zum Gott in ihrer eigenen Seele?

Für die Griechen war das keine Frage und kein griechischer Philosoph hat diese Frage je gestellt. Für die Asklepiaden ist diese Frage leicht zu beantworten: Der Gott Asklepios erschien immer nur im Traum. Und in Eleusis scheint die gesamt Gesellschaft der Einzuweihenden hoch unter Drogen gestanden zu haben; erst dann konnte die Vision geschaut werden.

("Doch in Eleusis hatte man die Vision, die epopteia, und wurde (nach der Vision) jemand, der geschaut hatte, ein epoptes." (Wasson, Hofmann, Ruck: Der Weg nach Eleusis, Ffm.,1990, S. 107, vgl auch zu den Drogen diesenText)

Wie dem auch sei, ob Traum oder Vision, es fand etwas statt, was die Seele erhöhte, sowohl bei den Griechen, die den Gott in Eleusis oder Epidauros in Massenveranstaltungen schauen durften, bei Moses oder Abraham, bei den Jüngern Jesu als auch bei Mohammed.

Der Gott wurde geschaut und die Seele wurde befiedert. Und aus diesem Grund ist es notwendig, daß wir noch einen kleinen Ausflug unternehmen:

 

 

Exkurs über die "Seele".

 

Als die Aufklärung uns einen radikalen Zweifel über das Gottestum bescherte und von daher auch alle vorher unangetasteten Gottgegebenheiten (wie das Kaisertum und die Adelsherrschaft) in Frage stellte, da bescherte sie uns manche sagen zum Ausgleich dazu eine neue akademische Disziplin, die es in dieser Form vorher nicht gab: Die Psychologie. Die Lehre von der Seele!

Als Geburtsstunde der modernen Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie gilt gemeinhin das Datum 1775 als Franz Anton Mesmer (1734 - 1815), der "Finder" des "thierischen Magnetismus" (aus dem später die Hypnose hervorging) zum Mitglied der Bayrischen Akademie der Wissenschaften ernannt wurde.

Mesmer hatte mit seiner naturwissenschaftlichen Methode des "Mesmerismus" gleichsam einen Zweikampf gegen den Pfarrer Joseph Gassner gewonnen, der seine Patienten mehr oder weniger mit einer Art "Teufelsaustreibung" (mit großem Erfolg) zu heilen bestrebt war. Der Versuch also, mit Hilfe des Gottes zu heilen (Gassner) wurde von Mesmer mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden zu seinen Gunsten entschieden. (Vgl. dazu Henry Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten, Zurich, 1985, S. 89 ff).

Mesmer mobilisierte mit seiner Arbeitsweise Kräfte, die tief in der Seele des Patienten schlummerten, zu Heilungszwecken und diese Methoden führten in gerader Linie zur Entdeckung des Unbewußten.

Mit diesem Gebilde, dem Unbewußten, ist ein riesengroßes Areal im Inneren des Menschseins gemeint, das dem Menschen jedoch im normalen Alltag nicht zugänglich ist. Es ist ihm unbekannt. Als Bild kann man es sich folgendermaßen verdeutlichen: Der Mensch lebt in einem großen Haus mit (mindestens) 20 Räumen oder Zimmern. Fünf dieser Zimmer betritt er täglich, in ihnen lebt er, denn er glaubt, er lebe in einer Fünf-Zimmer-Wohnung. In drei weiteren Zimmern war er - wenn auch sehr selten - schon einmal: Z. B. in außergewöhnlichen Situationen des Glücks (Verliebtheit, Betrunkenheit usw.) oder des Unglücks (Krankheit, Depression usw.) Von diesen drei Zimmern hat er eine Ahnung. Aber die restlichen zwölf Räume kennt er gar nicht! Er hat sie nie betreten. Und wenn doch, wie manchmal des nachts im Traum, so vergißt er es beim Aufwachen ganz schnell wieder. Es ist ihm hier viel zu unvertraut und bedrohlich. Aber wenn sich hier doch einmal unvorbereitet (und man ist, was das Unbewußte anbelangt, immer unvorbereitet) die Tür zu einem dieser Räume öffnet, so geschieht Unerhörtes:

"Eines der eigenartigsten Episoden in Jungs Experiment ereignete sich eines Tages, als er nach dem Diktat des Unbewußten schrieb und sich fragte: "Was tue ich eigentlich? Bestimmt hat es mit Wissenschaft nichts zu tun. Also was ist es dann?" und die Stimme einer Frau antworten hörte: "Es ist Kunst." Er widersprach, aber die Stimme bestand darauf, es sei Kunst, und sie sprachen eine Weile miteinander. Er bemerkte auf diese Weise, daß er eine autonome weibliche Subpersönlichkeit in sich hatte, die er seine "Anima" nannte. Die Anima sprach mit der Stimme einer Dame, die zu dieser Zeit einen gewissen Einfluß auf ihn hatte. Es war Jung klar, daß das, was die Anima ihm sagte, nicht wahr war und nach einer langen Auseinandersetzung mit der Anima erfuhr Jung, daß ihr Einfluß positiv oder negativ sein konnte; es kam darauf an, die angemessene Beziehung zu ihr herzustellen." (Ellenberger, a.a.O, S. 899)

 

Ich zitiere an dieser Stelle ganz bewußt eine Begebenheit aus dem Leben von C. G. Jung (1875 - 1961). Zwar gebührt seinem Lehrer, Sigmund Freud, ganz ohne Zweifel das Verdienst, das Unbewußte als erster beschrieben und in der Wissenschaft salonfähig gemacht zu haben. Über die Entstehungsgeschichte und über die Mechanismen, die in ihm wirken, hat Freud sehr umfangreich geforscht und damit eine wissenschaftliche Bewegung ins Leben gebracht, die immer seinen Namen tragen wird. Freud hat gleichsam bewiesen, daß das Haus sehr viel mehr Zimmer (als fünf) hat und er hat die Wirkungsweisen beschrieben, wie die Türen der unbekannten Zimmer verschlossen (und zugehalten) werden. Aber Jung, seinem Schüler, gebührt das Verdienst, selbst in die Räume hineingegangen zu sein (Freud hatte - mit allem Respekt - zu viel Angst davor) und die verschiedenen Inhalte der Räume beschrieben zu haben.

Unser Zitat zeigt jene Stelle in Jungs Leben, als sich die Tür zu einem der unbewußten Räume seines Inneren öffnete und eine Gestalt, eine Bewohnerin des betreffenden Raumes sich in sein Bewußtsein einmischte und mit ihm in einen Dialog trat!

Eine Gestalt, die er dann später "Anima" nannte. Seine Anima!

(Ein wenig erinnert es an den Dämon, der Sokrates Zeit seines Lebens begleitete.)

Viel später beschrieb Jung die Anima beim Manne und den Animus bei der Frau als Teil eines Archetypus (nämlich des Archetypus der "Seele"), eines Gebildes also, das bei jedem Menschen von allem Anfang an vorhanden ist, nicht durch Erziehung erworben (sondern höchstens modifiziert) wird und in allen Kulturen der Welt vorhanden ist und seine Spuren hinterlassen hat von den frühesten Heiligen Büchern bis zum modernsten Comicstrip.

Aber die Anima beim Manne (und der Animus bei der Frau) ist nur eine Gestalt in einem der inneren unbewußten Räume. Es gibt noch viel mehr Räume. Mit viel mehr Bewohnern.

 

Ja, und das war das eigentlich Neue an Jungs Psychologie: Er beschrieb das Innere des Menschseins, also die verborgenen Zimmer der Seele nicht nur wie Freud als abstrakte Gebilde ("Es", "Uber-Ich", "das Vor und Unbewußte") oder als ein abstraktes Tätigwerden ("orale Phase", "Nazißmus" etc.) des Ichs, sondern er benannte die Zimmer, indem er ihre vom Ich verschiedenen Bewohner (mitsamt deren Aufgaben) beschrieb.

In einer relativ späten Arbeit fragte er sich selbst, ob das denn eigentlich zulässig sei:

"Es wäre dabei einzig die Frage zu beantworten, ob es im Gebiete der empirischen Psychologie solche personifizierten Widerspiegelungen überhaupt gibt."

Und er beantwortet diese Frage sogleich selbst:

"Dem ist in der Tat so, und diese Erfahrungen bilden sogar die frühesten psychopathologischen Beobachtungen, nämlich die Persönlichkeitsspaltungen (double personalité). Diese Dissoziationen haben die Eigentümlichkeit, daß die abgespaltenen Persönlichkeit nicht irgendeine ist, sondern zur Ichpersönlichkeit in einem komplementären oder kompensatorischen Verhältnis steht." (C. G. Jung: Zur Psychologie der Tricksterfigur, in Archetypen, München 1990, S. 165)

Anders gesagt, der "Trickster" eine Person in einem der verborgenen (also unbewußten) Zimmer steht zur Kernpersönlichkeit (Ichpersönlichkeit) in einem sehr individuellen Verhältnis: Er ist zu ihr komplementär, d. h. wo die Kernpersönlichkeit "Hüü" sagt, sagt der Trickster "Hott". Aber dieser "Trickster" (die deutsche Sprache würde ihn "Schalk" oder "Schelm" nennen) gehört nicht nur zu der betreffenden Person (mit ihren individuellen Eigenschaften), sie gehört darüberhinaus zum Menschsein von allem Anfang an. Jung schreibt nämlich weiter:

"Sie (die abgespaltene und unbewußte Person in einem der Zimmer) ist eine Personifikation von Charaktereigenschaften, bisweilen von schlechter und bisweilen von besserer Art, als die Ichpersönlichkeit aufweist. Eine kollektive Personifikation wie der Trickster geht aus der Summierung von individuellen Einzelfällen hervor und wird vom Einzelnen wiederum als bekannt begrüßt, was nicht der Fall sein würde, wenn es sich um eine individuelle Ausgeburt handelte." (a. a. O.)

 

Und in demselben Aufsatz über den Trickster fügt er hinzu:

"In scherzhaften Erzählungen, in karnevaleskem Ubermut, in Heil und Zauberriten, in religiösen Ängsten und Erleuchtungen geistert dieses Phantasma des Tricksters in bald unmißverständlichen, bald schattenhaften Gestalten durch die Mythologie aller Orte und Zeiten, offenbar ein "Psychologema", das heißt eine archetypische psychische Struktur höchsten Alters." (a. a.O., S. 164)

 

An den Zitaten wird deutlich: Diese inneren unbewußten Personifikationen der "Anima" oder des "Tricksters" (es gibt noch etliche mehr) sind zweifach determiniert.

Der eine Strang ihrer Herkunft stammt aus der Tiefe der Menschheitsgeschichte, denn es gibt sie zu allen Zeiten und in jedem Mythos eines Volkes.

Der zweite Strang stammt aus der persönlichen Geschichte dieses einen Menschen, in dessen Brust der "Trickster" eine ganz besondere Gestalt annehmen kann.

Die Frage, die die Philosophie seit hunderten von Jahren ganz ebenso wie die moderne Entwicklungspsychologie beherrscht: Ist der Mensch, wenn er auf die Welt kommt, eine tabula rasa und erwirbt er alles, was seinen Charakter ausmacht, oder bringt er seinen Charakter durch seine Anlagen (Gene etc.) bereits mit? Diese Frage wischt Jung durch seine Entdeckung einfach vom Tisch, indem er sagt: Die Gestalten im Inneren der unbewußten Zimmer sind universell und haben ein mitgebrachtes inhaltliches Thema - die individuellen Ausprägungen der Gestalten jedoch besorgt der Mensch in seiner individuellen Geschichte selbst. Anders gesagt: Mein Trickster ist anders als dein Trickster! Er kann in tausend verschiedenen Menschenschicksalen tausend verschiedene Gestalten annehmen aber er bleibt ein Trickster und d. h. seinem Thema treu! (Was immer dieses Thema auch sein mag). Wir wollen noch ein anderes Thema herausgreifen, weil uns das in die Nähe unserer vorherigen Diskussion zurückbringt:

"...so ist es nicht erstaunlich, daß auch im Gebiete der parapsychologischen Erfahrungen Phänomene vorkommen, welche Züge des Tricksters aufweisen. Es sind dies die Erscheinungen des "Poltergeistes", welche universell in Zeit und Raum verbreitet in der Umgebung von Kindern vor der Adoleszenz vorkommen. Die scherz- und boshaften Streiche dieses Geistes sind ebenso bekannt wie die niedere Intelligenz, beziehungsweise notorische Dummheit seiner "Kommunikationen"." (a. a. O. S. 160 ff)

 

So wie wir vorher die Frage gestellt haben: "Gibt es Gott?", so können wir nach dem bisher Gesagten die sehr viel kleinere (aber erkenntnistheoretisch genauso ergiebige) Frage stellen:

"Gibt es Poltergeister?"

Und die Antwort ist sehr deutlich: "Ja, es gibt sie!"

Aber! Aber es gibt sie nur im Umkreis von vorpubertierenden Kindern! (Wären wir jetzt boshaft, so könnten wir behaupten: "Gott" gibt es! Aber es gibt ihn nur im Umkreis von (späteren) Propheten! Doch das tun wir nicht.)

Anders gesagt: Ein "Poltergeist" ist eine der Ausformungen, die der "Trickster" annehmen kann. Der Trickster aber ist nur eine Ausformung eines Archetypus, den Jung als "Schatten" bezeichnet. Der "Schatten" aber existiert nie für sich allein, sondern er braucht jemanden, der ihn wirft, der ihn entwirft. Der ihn aus sich heraus wirft. Insofern gibt es einen "Poltergeist" als einen aus der Seele eines vorpubertierenden Geworfenen, der sich real manifestieren (und damit wahrgenommen werden) kann. Für sich allein, also in der Abwesenheit eines Vorpubertierenden, gibt es ihn nicht! Da dieser Zusammenhang nicht eben leicht zu verstehen ist, wollen wir versuchen, ihn mit Hilfe einer Graphik zu veranschaulichen. (Keine Bilder in html, sorry)

Unser Bild zeigt, daß es einen Strang von Archetypen gibt, der durch die Jahrhunderte hindurch sich gleichsam als universales Muster durch das Leben der Menschen zieht. Dieser Strang oder dieses Bündel der Archetypen zieht sich durch die kulturellen, mythologischen, religiösen Bilder ganz ebenso wie durch die realen Handlungen und durch die Träume, Hoffnungen und Sehnsüchte der Menschen.

Diese Archetypen nützen sich niemals ab.

Weder entstehen durch die Jahrtausen hindurch neue Archetypen, noch verschwinden alte. Sie treten nur dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend in einer anderen Gestalt auf, aber sie erzählen immer dieselbe Geschichte. (Ob der Archetypus des "jugendlichen Helden" Odysseus von Homer in der "Odysee" in Versen besungen wird oder die Geschichte des Archeologen Indiana Jones von Steven Spielberg in dem Film "Indiana Jones und der Tempel des Todes" im Kino erzählt wird, sind lediglich kulturelle Geschmacksnuancen des Zeitgeistes. Der dahinterliegende Archetypus wird von Millionen von Menschen (am Stoff) erkannt und ihre Seele reagiert darauf mit einem Angesprochensein und wenn der Archetypus genau getroffen wird mit einer seelischen Erhöhung.)

Ja, es ist tatsächlich die gleiche Erhöhung, es ist der gleiche seelische Mechanismus, wenn ein Sänger in einer altgriechischen Halle die Verse der Odysseus seinem Publikum zu Gehör bringt (und damit den Archetypus zu Leben erweckt), wie wenn Spielberg seine Lichtbilder in den großen Tempeln des Abendlandes (Lichtspiel-Theater) zum Tanzen bringt.

 

(Hier noch einmal, weil meine Leser schon daran gewöhnt sind, das Kleingedruckte: Wird derselbe Film im Fernsehen mit Werbeunterbrechungen gesendet, geschieht dergleichen nicht mehr. Es geschieht gar nichts mehr. Der Archetypus ist verwirrt, wendet sich ab und weigert sich, in der Seele aufzuscheinen. Es ist dann so ähnlich, wie wenn im Tempel der Demeter, kurz bevor die Göttin erscheint, ein großes Transparent mit "METAXA" aufleuchtet. Die Griechen hätten derartige Händler hochkant aus dem Tempel geworfen.)

 

Zurück zum Strang der Archetypen. Dieses Bündel existiert nirgends außerhalb in der Welt. Sie existieren nur in der Brust des Menschen. Nähme man alle Menschen mit einem Schlag aus der Welt heraus (so wie die Dinosaurier herausgenommen wurden), so würde der Strang der Archetypen in sich zusammenfallen und verlöschen. Es ist also der Strang unsere seelischen Erbschaft von allem Anfang an. Und jeder Mensch, der geboren wird, wird in diesen Strang hineingeboren und der Strang fließt durch seine Brust hindurch weiter in die Zukunft des Menschseins.

Ein Vater und eine Mutter, die in ihrem Inneren Teil des Stranges sind, zeugen ein Kind, das ebenfalls in den Strang hineingeboren wird. Auf diese Weise bleibt der gesamte Strang lebendig solange es Menschen auf dieser Erde gibt.

Der lebendige Archetypus ist also sowohl eine universelle Gestalt, die aus der Tiefe der Zeit durch die Brust unserer Vorfahren zu uns Heutigen heraufgetragen wurde, als auch eine individuelle Gestalt, die in der Brust eines jeden einzelnen Menschen ihre persönliche Ausformung findet. Ob also der "Trickster" im Einzelfall als (scheinbar) von außen kommender "Poltergeist" erlebt wird oder als innere Vorliebe für Clownsgestalten oder in meiner eigenen Eigenschaft als "Spötter" (oder "Till Eulenspiegel") sich artikuliert, sind nur verschiedene Verkleidungen derselben Sache. In Jungs Arbeit über den Trickster findet sich noch ein Zitat, daß unsere kurze Wanderschaft durch die Welt des Mythos abschließen soll:

"Wie alle mythischen Gestalten inneren Erlebnissen entsprechen und ursprünglich aus solchen hervorgegangen sind..." (a.a.O. S. 159)

Damit behauptet Jung zwei Dinge gleichzeitig. Zum einen, daß der Mythos (also auch die Göttergeschichten) nur deshalb angenommen wird, weil er den Mechanismen der Seele und des Geistes entspricht also deren Sprache spricht und deren Geschichten erzählt. Zum anderen aber, daß der Mythos in der Seele (und im Geist) des Menschen entstanden ist und eben der Ausdruck des archetypischen Materials nach außen ist.

Zumindest für Jung sind damit die Götter nichts anderes als Personifikationen und Projektionen der inneren Regungen des Menschen nach außen in die Welt. Genau wie die Archetypen leben die Götter nur im Inneren. Und nirgends sonst. Ja, die Götter sind die Archetypen. Gleichsam die reinen Archetypen ohne ihre individuelle Umkleidung.

 

Der Leser, der uns bis zu dieser Stelle gefolgt ist und der uns folgen wollte, könnte jetzt behaupten: Aha, die Götter sind nur Bilder, die der Mensch in seiner Seele vorgefunden und dann nach außen projiziert hat - dann gibt es sie aber in Wahrheit gar nicht! Dann haben sie gar keinen Einfluß auf den Lauf der Welt. Diesen Leser müssen wir zur Vorsicht mahnen. Auch wenn die Götter Personifizierungen einer inneren Welt sein sollten, so heißt das ganz und gar nicht, daß sie keine Wirkung haben. In Wahrheit nämlich ändert sich durch diese Sichtweise gar nichts! Haben die Götter vorher in der alten Sichtweise die unendlich große äußere Welt bevölkert, so beleben sie in der jetzigen Sichtweise die - ganz genauso große - innere Welt des Menschen. Es macht in der Tat gar keinen Unterschied: Ihre Größe ist ganz ebenso majestätisch und vom kleinen Ich des Menschen weder zu durchschauen noch gar zu beherrschen. Wir haben nur einen anderen Namen gefunden: Statt der unendlichen Größe der Götter (irgendwo da draußen) haben wir jetzt, dank Jung, die unendliche Größe der Archetypen (irgendwo hier drinnen). In der eigenen Brust!

Der einzige Unterschied: Diese Götter sind für Hierarchien des Machtmißbrauchs (wie ihn die Kirchen seit Jahrhunderten praktizieren) nicht mehr zu verwenden, für diese Götter muß man keine Kriege mehr führen, man muß in ihrem Interesse nicht mehr sterben. Denn damit stürben auch sie!

Und: Diese Götter verdammen niemanden! Weder sind sie böse, noch führen sie zu Bösem.

Was schon der Neuplatoniker Jamblich (250 330 n. Chr.) über sie gesagt hat, muß man leider auch heute noch den Astrologen ins Poesiealbum schreiben:

"Auf diese Weise sind also die Gestirne am Himmel, und zwar alle insgesamt, zwar sichtbar, aber doch zugleich auch Götter und in gewissem Sinne nicht körperhaft. Deine weitere Frage ist darüber im Unklaren, "wieso manche von diesen gutes, andere übelstiftend sein können". Diese Auffassung ist von den Astrologen hergeholt, verfehlt aber völlig den wahren Sachverhalt. Denn in Wahrheit sind alle Gestirnsgottheiten insgesamt gut und Urheber des Guten, da sie, alle in gleicher Weise nur auf das Gute hinblickend, nach dem Guten und Schönen allein ihre Bahn vollenden... Die Schöpfung dagegen nimmt, da sie selbst vielgestaltig und aus verschiedenartigen Teilen zusammengesetzt ist, infolge der ihr eignenden Gegensätzlichkeit und Zerspaltung das Einheitliche und voneinander nicht Verschiedene dieser Energien (der Planetengötter) nicht ohne Widerstreit und nur geteilt in sich auf." (Zitiert nach Klibansky et. al. a. a. O. S. 237)

 

Die Götter sind gut, aber im Menschen (in seiner der Schöpfung eigenen Vielgestaltigkeit und Verwickeltheit) geraten sie in Konflikte und können das Leben zerstalten und sogar gefährden. Als sich in Jung die weibliche Stimme seiner Anima laut zu Wort meldete, hätte er sich, statt ihr zuzuhören, ganz ebenso in Panik in die nächste Psychiatrie begeben können. (Und wie Psychiater mit Menschen umgehen, die in sich weibliche Stimmen hören, ist hinlänglich bekannt.)

Mit anderen Worten: Die Götter bzw. die Archetypen haben mitunter den Drang, gegen die mühsam errichteten Mauern unserer Normalität anzurennen und diese zu Fall zu bringen. Das erlebt der Mensch jedoch (in den meisten Fällen) erst einmal als seelische Not, als Angst, mitunter als Panik. Er versucht weiterhin verzweifelt, sich hinter den einstürzenden Mauern in Sicherheit zu bringen und begreift nicht, daß es dieser Mauern gar nicht mehr bedarf. Der Archetypus aber beharrt darauf, daß es auch ein Leben jenseits der Mauer gibt, oder daß es - um unser vorheriges Bild zu verwenden - hinter der eingestürzten Mauer ein neues Zimmer gibt, das der Mensch jetzt betreten und kennenlernen kann und soll. Hat er sich an dieses neue Zimmer gewöhnt und mit der Bewohnerin oder dem Bewohner des Zimmers Kontakt aufgenommen (wie Jung mit seiner Anima), so merkt er sehr schnell, daß sein Blick jetzt weiter geworden ist und daß das neue Zimmer nicht etwa furchterregend, sondern ein Geschenk ist. Er merkt, daß die Archetypen ihm durch die Angst hindurch ein Mehr präsentiert haben und dieses Mehr ist gut!

Freilich: Der Prozeß, der mich durch die Angst hindurch führen soll und wird, kann mitunter Monate und Jahre dauern. Während dieser Zeit erscheint uns dieser Archetypus, der sich in unser Bewußtsein hinaufarbeiten möchte, als so schlimm, daß ich mich lieber in die Psychiatrie oder in die Nähe des Selbstmordes hinbegebe als mich mit ihm zu konfrontieren.

Aber das liegt nicht an ihm dem Archetypus sondern ausschließlich an mir, der ich mich weigere, diesen neuen Raum zu betreten.

Wir sind jetzt ausreichend gerüstet, einen Schritt weiterzugehen und einzutreten in den Raum der Astrologie.

 

(Ende des 1. Kapitels)