Vorbemerkungen

Der Schauende

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen,
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.

(Rainer Maria Rilke, 21.1.1901, Berlin-Schmargendorf)

Vorbemerkung von Dr. Peter Orban

In meiner bisherigen Praxis und den daraus hervorgehenden Büchern habe ich den Wirkungskreis der Familien in den Therapien und Aufstellungen immer im Vordergrund meiner Arbeit gesehen. Das machte damals Sinn - und es macht heute noch den gleichen Sinn!

Die Familie ist für mich - nach wie vor - das alchemistische Laboratorium, in dem jedes Menschsein einerseits seinen Ausgangspunkt hat, in dem es auch - und zwar notwendigerweise - seine Verstrickungen und Verbiegungen erfährt, und an dem der Mensch andererseits das grosse Werk der Versöhnung und Genesung für sich selbst herstellen und erfahren kann.

Auch wenn es im vorliegendem Text vordergründig so aussieht, als hätte ich die Dynamik innerhalb der Familien hintangestellt, so wäre das nur ein vorübergehendes Missverständnis: Mein Spot, der die Aufmerksamkeit der Familie im Feld der Stellvertreter beleuchtet, ist weder kleiner geworden, noch hat er seinen Focus verändert.

Das Neue an diesem Text besteht einfach darin, dass er jetzt einen weiteren Brennpunkt, gleichsam einen zweiten Focus dazu gewonnen hat.

C.G. Jung, dem ich viele Anregungen und Einsichten verdanke, hat es schon ziemlich früh auf den Punkt gebracht: "Eine gewissermassen oberflächliche Schicht des Unbewussten ist zweifellos persönlich. Wir nennen sie das persönliche Unbewusste. Dieses ruht aber auf einer tieferen Schicht, welche nicht mehr persönlicher Erfahrung und Erwerbung entstammt, sondern angeboren ist. Diese tiefere Schicht ist das sogenannte kollektive Unbewusste. Ich habe den Ausdruck "kollektiv" gewählt, weil dieses Unbewusste nicht individueller, sondern allgemeiner Natur ist, das heisst es hat im Gegensatz zur persönlichen Psyche Inhalte und Verhaltensweisen, welche überall und in allen Individuen cum grano salis die gleichen sind. Es ist, mit anderen Worten, in allen Menschen sich selbst identisch und bildet damit eine in jedermann vorhandene, allgemeine seelische Grundlage überpersönlicher Natur." (Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke, S.14, Olten und Freiburg im Breisgau 1976, Bd. 9/I. "Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten")

Genau in diesem Sinne können wir Jungs Unterteilung in
a) das "persönliche Unbewusste" und in
b) das "kollektive Unbewusste"
hier auch verstehen.

Das "persönliche Unbewusste" wäre gleichsam der Hort der individuellen (und meist familiären) Erfahrungen, die vermittelt über die Familienmitglieder in die Seele der Menschen eingesenkt wird und dort verborgene Kräfte aktiviert. Kräfte, die einerseits lähmend und andererseits agierend in die Zukunft dieses einen Menschen hinein ausgerichtet sind und dort - hinter seinem Rücken - sich ausbreiten.

Anders gesagt: Das "persönliche Unbewusste" ist es, dass aus den Hallen des Unbewussten in einer Familienaufstellung nach oben gezogen wird, im helleren Licht der Wahrheit aufscheinen und dort seine Wirkung entfalten darf. Wie das aussieht, kennt jeder, der einmal eine Aufstellungsgruppe besucht hat.

Was aber ist mit dem kollektiven Unbewussten? Nun, das zu vermitteln wird die Aufgabe dieser Texte über die Archetypen sein.

Zuvor noch drei Worte des Dankes: Wieder einmal mehr gilt meine Hochachtung und mein Dank zwei Männern, die so viele weisse Flecken auf der Landkarte der Seele erschlossen haben, wie kaum jemand vor ihnen. Bert Hellingers Leistungen werden wir wohl erst in einigen Jahrzehnten vollständig ermessen können. C.G. Jungs Leistung - er trieb seine Sonde in die Menschliche Seele hinab - tiefer als jeder vor ihm. Diesen beiden Männern zur Seite steht eine grosse Frau, die mich das Reisen in das Innere lehrte. Jean Houston hat mich in den Mythos hinein geführt. Mein Dank an sie arbeitet in mir schon mehr als dreissig Jahre!

Dieses Amalgam in mir wäre unvollständig, wenn ich nicht jene Menschen dankbar erwähnte, die mich immer aufs Neue zwangen, die Dinge, die ich hier beschreibe, auch am lebenden Menschen zu überprüfen.

Ich meine jene Klienten, die den Mut fanden, zu uns in die Einzelsitzung zu kommen oder unsere Gruppen mit Familienaufstellungen zu besuchen. Hier allein liegt the proof of the pudding. Dennoch: Jeder Satz in diesen Texten ist von meinen Klienten - und nur von ihnen - gedeckt.

Frankfurt, im Februar 2011