Die Anima

     

04 Die Anima - Teil I

Mit diesem Archetypus betreten wir das größte der von Jung beschriebenen Länder der Seele in seinem zutiefst verborgenen kollektiven Areal: Die “Anima” und eng damit verbunden ihr treuester Compagnon, der “Animus” – der bei uns erst in der nächsten, der 5. Abteilung zu finden ist.

Und in der Tat sind es immer wieder diese beiden großen menschlich-seelischen Grundstücke, auf denen sich die wichtigsten Ereignisse des größten Glücks, ganz ebenso wie die des größten Unglücks und Elends versammeln.

Die Anima wird bei Jung in einem ziemlich strengen Sinne als folgende Instanz gekennzeichnet: Sie sei eigentlich das Bild der Frau im Inneren des Mannes! Und der Animus (also die männliche Seite) stelle infolgedessen das Bild des Mannes im Inneren der Frau dar! Das freilich (so würde ein FDP-Politiker sagen) ist mit mir nicht zu machen. Dieser Einseitigkeit kann ich aus meiner Arbeit und meinen eigenen Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte nicht folgen.

Schauen wir uns das betreffende Jung-Zitat in voller Länge an: “Jeder Mann trägt das Bild der Frau von jeher in sich, nicht das Bild dieser bestimmten Frau, sondern einer bestimmten Frau. Dieses Bild ist im Grunde genommen eine unbewusste, von Urzeiten herkommende und dem lebenden System eingegrabene Erbmasse, ein “Typus” (“Archetypus”) von allen Erfahrungen der Ahnenreihe am weiblichen Wesen, ein Niederschlag aller Eindrücke vom Weibe, ein vererbtes psychisches Anpassungssystem. Wenn es keine Frauen gäbe, so ließe sich aus diesem unbewussten Bilde jederzeit angeben, wie eine Frau in seelischer Hinsicht beschaffen sein müsste.

Dasselbe gilt auch von der Frau, auch sie hat ein ihr angeborenes Bild vom Manne. Die Erfahrung lehrt, dass man genauer sagen sollte: ein Bild von Männern, während beim Manne es eher ein Bild von der Frau ist. Da dieses Bild unbewusst ist, so ist es immer unbewusst projiziert in die geliebte Figur und einer der wesentlichsten Gründe für leidenschaftliche Anziehung und ihr Gegenteil. Ich habe dieses Bild als Anima bezeichnet und finde darum die scholastische Frage: «Habet mulier animam?» (“Haben Frauen eine Seele?”) sehr interessant, indem ich der Ansicht bin, diese Frage sei insofern intelligent, als der Zweifel berechtigt erscheint. Die Frau hat keine Anima, sondern einen Animus.

Die Anima hat einen erotisch-emotionalen, der Animus einen räsonierenden Charakter, daher das meiste, was die Männer über weibliche Erotik und überhaupt über weibliches Gefühlsleben zu sagen wissen, auf der Projektion ihrer eigenen Anima beruht und darum schief ist. Die erstaunlichen Annahmen und Phantasien der Frauen über die Männer beruhen auf der Wirksamkeit des Animus, der unerschöpflich ist in der Erzeugung unlogischer Urteile und falscher Kausalitäten”. (C. G. Jung, Ges. Werke, Bd. 17, Olten 1972, S. 224)

Dieses “Haben Frauen eine Anima?”, bezieht sich hier spielerisch auch auf die Hauptübersetzung des Wortes “Anima”, die “Seele” lautet. Und dann zieht Jung folgendes Kaninchen aus dem Hut: “Die Frau hat keine Anima, sondern einen Animus!” Und der Mann vice versa keinen Animus, sondern eine Anima!

Für mich freilich gilt schon sehr lange: Sowohl die Anima als auch der Animus sind in gleicher Weise in der Tiefe einer jeden Seele vorhanden und arbeiten beide – bei dir und bei mir – daran, lebendig werden zu dürfen. Eine andere Frage ist es natürlich, mit welchen dieser beiden großen Figuren anima/animus oder yin/yang oder weiblich/männlich sind wir als menschliche Einzelwesen schwerpunkthaft identifiziert und gewinnen dabei durch eines dieser Gebilde eine deutliche Identität?

Jeder Mann könnte also (nach längeren Lernprozessen) früher oder später sagen: “Das ist die Frau in mir.”

Jede Frau könnte also ebenso (nach jenen Lernprozessen) früher oder später sagen:“Das ist der Mann in mir”.

Jeder Mann kann (nach Lernprozessen) in gleicher Weise früher oder später sagen:“Das ist der Mann in mir.”

Jede Frau kann (nach Lernprozessen) in gleicher Weise früher oder später sagen:„Das ist die Frau in mir”.

Geben wir erst einmal eine Auflistung der Eigenschaften und Attribute der Anima:
– die Suche nach der Heimat –
– das Fehlen des Zuhauses –
– die Abhängigkeit von der Nähe –
– die Infantilität –
– das Innere Kind –
– die Innere Mutter –
– die Suche nach der Mutter –
– der Wunsch nach Nähe –
– nach Wärme und Geborgenheit –
– das Nehmen –
– die Suche nach dem JA –
– E.T.s “nach Hauuuse” –
– Kinder haben wollen –
– die tickende Babyuhr –
– eigene Schwangerschaft –
– Gefühl, bei der Geburt vertauscht worden zu sein –
– “das sind nicht meine Eltern” –

Und während die beiden ersten Archetypen des “Zerstörers” und der “Kore” meine körperliche Geschlechtszugehörigkeit und Geschlechtsidentität vorgeben und bestimmen, handelt es sich bei dem 4. und 5. Archetypus (unserer Zählweise!) um die seelische Geschlechtszugehörigkeit und seelische Geschlechtsidentität.

Die Anima Teil II

Das will den meisten Menschen nicht auf Anhieb einleuchten. Haben sie sich doch angewöhnt, die Frage nach der "Geschlechtszugehörigkeit" sei mit einem Blick zwischen die (unbekleideten) Beine jeweils gelöst. Das kann sich freilich als gravierender Irrtum erweisen!

Mit anderen Worten: Habe ich einen "Johannes" zwischen meinen Beinen, so bin ich deshalb noch lange kein Mann! Ja, körperlich bin ich - augenfällig - ein Mann. Seelisch aber muss das beileibe nicht stimmen: Tendiere ich in meiner Seele (und mit der Anima beginnt nun die Seele) zu dem weiblichen Pol, also zum Archetypus der Anima, dann bin ich seelisch kein Mann!

Wollte man eine Wertung über die Gewichtigkeit und d.h. auch über die Wichtigkeit der bisherigen Archetypen aufstellen, so wäre die Anima bis zu der bisherigen 4. Stelle mit Sicherheit eine gewichtige (im doppelten Wortsinne) Hauptrollendarstellerin auf der Theaterbühne meines Lebens.

Dieser Archetypus des Mütterlich-Weiblichen, also die Anima, ist ebenso jener, der unser Geschlecht tiefinnerst als "Menschen" durch die letzten hunderttausend Jahre am Leben erhielt. Der Archetypus trug uns, er brachte uns hervor (also zur Welt), er zog uns auf (wusch, säuberte, fütterte und kleidete uns), bis wir auf eigenen Füssen stehen konnten und sicherte so, dass es in der Welt eine Menschen- und Tierbrut gab, gibt und (wenn nichts dazwischen kommt) auch fürderhin geben wird.

Man könnte natürlich einwenden: All diese geschilderten Tätigkeiten und Verdienste gebühren doch einem anderem Wesen, nämlich unserer Mutter! Richtig! Allein die Frage stellt sich: in wessen Auftrag? Neben all den geschilderten und referierten Tätigkeitsfeldern gibt die jeweils besondere Art meines Weiblichen (ob ich dabei Mann oder Frau bin, spielt keine Rolle) heftige Auskunft über vier identitätsnotwendige Berichtslagen. Nämlich:

a) Über das Thema meiner eigenen Mutter (aus Fleisch und Blut).
b) Über das Thema: Wie sehr ich meine Pläne in Richtung auf eigene Kinder ausrichte.
c) Über das Thema: In welche Richtung meine Weiblichkeit tendiert (wenn ich eine Frau bin) und in welche Richtung der bestimmte Wunsch nach einer Frau tendiert (wenn ich ein Mann sein sollte).
d) Über das Thema: Wie ist das Kind in meinem Inneren geartet und welche Verletztheiten weist es auf?

Eng damit verbunden ist die Frage: In welchen Fällen würde man jetzt an eine Aufstellung des Archetypus der ANIMA denken? Sehr viele Szenarien sind denkbar, ich zähle hier nur einzelne auf.

a) Wenn eine Frau endlich aus dem Status der Partnerlosigkeit oder der ewigen Geliebten heraus möchte (die bei keinem bleiben kann - oder bei der kein Mann sich endgültig binden will), die also aus dem Status der KORE in den Status der Frau überwechseln möchte. Wenn wir hier oft die Ahnenreihe hinter eine Klientin stellten, sie also mit ihrem Rücken an ihre Mutter, Großmutter, Urgroßmutter usw. usw. anlehnen ließen, so ist das nur ein geringfügig anderes Bild, wie wenn wir die ANIMA auf einen Stuhl vor die Klientin postieren. Beide haben ihren Sinn, beides behandelt die ANIMA.

b) Wenn sich trotz langjährigen Bemühungen bei einer Frau kein Kind einstellen will und vorher medizinisch abgeklärt wurde, dass kein dagegen sprechender Befund vorhanden ist.

c) Wenn sich bei einer Frau das Thema des Weiblichen in einem gravierenden Wandel befindet. Sei es durch die normalen Hormonumstellungen während der Menopause, sei es durch krankheitsbedingte Veränderungen ihrer weiblichen Funktionen oder Vorstellungen. (Z. B. Gebärmutter- bzw. Brustoperationen)

d) Wenn das Weibliche bei einer Frau eher im Hintergrund sich aufhält und dafür ihre männliche Seite im Vordergrund stark durchscheint und sie sich nicht mehr nur über die männliche Seite definieren möchte, sie also ihre weibliche Seite mehr im Vordergrund leben möchte.

e) Als Anregung: Auch bei einem Ausbleiben der Menstruation in jüngeren Jahren würde ich die Aufstellung der ANIMA ins Auge fassen - habe allerdings bisher keinerlei Erfahrungen damit.

 

---> Vorschau auf den Archetypus »Der Animus«

  

Natürlich teilt sich die ANIMA diesen herausragenden Platz, diese Größe der inneren Rollen, mit ihrem männlichen Pendant, dem ANIMUS. Ist sie, die ANIMA, die weibliche (nicht die mädchenhafte) Seite im grossen Konzert der Weltgeschichte, so benötigt sie, um zu ihrem Ziel zu gelangen, die männlichen Zutaten. Als da sind: das Erobertwerden und die Befruchtung. (Ja, Mutter zu werden, ist eines ihrer größten Ziele, ob uns das gefällt oder nicht!)

Auch wenn es hier profan klingt, dieses Geschehen bringt zwei männliche Grundvoraussetzungen ins Spiel. Die erste: Der erwählte Mann benötigt die “Kraft der Erektion”, damit er seinen Samen an die Frau heranzubringen vermag. Die Möglichkeit dieser Leistung hat er bereits durch unseren ersten Archetypus als “der Zerstörer” entwicklungsgeschichtlich sehr früh in die Wiege gelegt bekommen. Die zweite: Der Samen muss fruchtbar sein. Es reicht nicht aus, ihn nur herausschleudern zu können. Er muss auch die Kraft, Leben zu zeugen, in sich tragen.

Mehr darüber am 21.06.2012