Der Schatten

    

07 Der Schatten - Teil I

Der Name "Schatten” ist bei den meisten Menschen hoch in einer Wertung angesiedelt, so als wäre er eine Art Personifizierung des Bösen. Dabei handelt es sich nur um einen Pol, der zu mir, der ich ebenfalls ein Pol bin, einen Gegenpol bildet. Und ich, der für ihn einen Gegenpol bildet, für mich ebenfalls nur einen Pol darstelle.

Nehmen wir einen Beispiel aus dem normalen Leben: Angenommen ich wäre ein Mann und meine ganze Liebe gelte dem Fußball. Und jetzt würde mir (als Mann) aus dem Außen eine Frau entgegen treten, die von Fußball weder etwas versteht, noch etwas wissen will. Sie (die Frau) liest jede Woche drei Bücher von A bis Z, denn das ist ihre Welt. Sie ist Bibliothekarin. (Dass ich in meinem ganzen Leben noch keine drei Bücher gelesen habe, ist ebenso selbstverständlich, wie dass sie noch keine drei Fußballspiele in einem Fußball-Stadion live angeschaut hat.) Damit wäre – von beiden Seiten aus betrachtet – der eine Pol auf seinen anderen Pol getroffen.

Und natürlich, das sieht jeder ein, sind weder der Fußballenthusiast noch die Bibliothekarin per se für irgend jemanden die Personifikation des Bösen – schon gar nicht in dem Moment wie gerade, in dem wir beide rettungslos ineinander verliebt sind. Und Verliebtheit bedeutet: Ich und mein Schatten schließen (im Zustand geistiger Umnachtung) einen Bund, d. h. wir binden uns aneinander. (Siehe: "Zur Bindung von Verliebtheit").

Im Verlaufe einiger Monaten tritt dann der Schatten mehr und mehr ans Tageslicht: Sie: "Gibt es vielleicht außer Kakao und Yogi Löw noch andere Themen in deinem Leben. Vielleicht der Abfalleimer?” Er: "Musst du mir schon wieder meine Hobbies mies machen, ich sage ja auch nichts gegen den halben Buchladen, den du hier täglich in mein Zuhause schleppst und alles damit vollstellst!” "Ach, das ist dein Zuhause, und deshalb kannst du mit deinem 125–Zentimeter Bildschirm an der Wand unsere Räume zumüllen...” (Ersparen wir uns den weiteren Fortgang!)

Wie diese Form der Beziehung weitergeht, weiß der Leser selbst, der natürlich an seinen eigenen Schattenbildern ebenfalls zum Produzenten wird.

Was ist die Aufgabe dieses Archetypen?
Sorgt der Schatten dafür, dass wir zusammen kommen? Nein!
Sorgt er dafür, dass wir uns wieder trennen? Nein!
Was also ist sein Amt in mir?

Er schickt mich auf die Suche. Er sagt zu mir: "Peter, da draußen ist jemand unterwegs, der nur für dich in der großen karmischen Ikea-Küche hergestellt, also gebacken wurde, und es wird Zeit, dass du ihn findest. Also verlasse endlich deinen Schreibtisch-Sessel und gehe auf die Suche!”

Er, der Schatten im eigenen Inneren schickt mich also mit einer Art Steckbrief ("WANTED") auf die Suche nach meinem Schatten im Außen, auf dass wir beide uns – aneinander – besser selbst wahrnehmen und verstehen lernen. Oder, anders herum formuliert: Im Antlitz des Anderen und in seinen Handlungen erkenne ich jenen Teil, der auch in mir ist, den (der) ich aber weder haben (noch sein) will. Den ich aber deshalb im Außen im Verlauf von Monaten, Jahren und Jahr zehnten als – zu mir selbst gehörend – akzeptieren lernen soll.

Teil II

Dass wir uns nicht missverstehen: Es geht im Außen um "Partner". Aber die Suche nach Liebespartnern (bei denen auch das Sexuelle mit einbegriffen ist) ist nicht die einzige Suchbewegung des "Schattens".

Es geht auch um Geschäftspartner (man gründet zu zweit eine Firma) oder therapeutische Partnerschaften (Klient zum Therapeuten und Therapeut zum Klienten), auch um Erziehungspartnerschaften (Student zum Professor, Professor zum Studenten, sowie Schüler/Lehrer) und dergleichen mehr. Alle diese Bindungsfiguren haben früher oder später diese Schattenfunktionen und müssen mir enthüllen, wer ich bin!

Sogar die Welt der Gurus verläuft nach diesem Schisma (Devotee-Meister versus Meister-Devotee!) Das erst sind die wirklich wichtigen Themen und Aufgabenstellungen des "Anderen" in jedem Leben.

Zu welcher Fragestellung hätte dieser Archetypus des "Anderen", der auch gern als "Schatten" auftritt, etwas zu sagen?
a)
z. B. wenn das Gefühl entsteht, der Klient würde sich zu schnell aus einem Bindeverhalten herauslösen. Schneller jedenfalls als dass er überhaupt von dem Gegenüber etwas hätte nehmen können. Er also die Phase des Verliebtseins noch gar nicht durchquert haben kann und jetzt schon wieder auf der Suche zu etwas Neuem aufgebrochen ist.

b) Man hat bereits eine ganze Reihe von Partnern hinter sich gelassen, vielleicht sogar schon die eine oder andere Heirat durchwandert. Insbesondere dann, wenn man später kein gutes Haar mehr am anderen lassen kann.

c) Die Bindung an den Vater (bei der Tochter) oder an die Mutter (beim Sohn) ist direkt mit diesen Familienmitgliedern nicht zu lösen. (Sie widersteht mehreren Aufstellungserfahrungen)!

d) Beziehungen zu anderen Menschen kommen bei diesen Klienten gar nicht vor! Vorgängig muss natürlich noch einmal überprüft werden, ob der Klient nicht doch in den Schuhen eines früheren Partners bei Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern steht.

(Wir nennen es das Birkenstock-Phänomen. Manchmal geht der Therapeut durch den Raum und hat keine Idee mehr, in wessen Schuhen der Klient sich aufhält. Er geht dann in die Mitte des Raumes und streift einen seiner Birkenstocks vom Fuß und stellt diesen in die Mitte. Gleichsam zum Hineinschlüpfen. Nach einer bestimmten Zeit fängt dieser Schuh an, in der Seele der Teilnehmer zu kreischen.) Wenn zusätzlich noch die Figur des "Schattens" als Archetypus auf dem Stuhl steht, kann sich Überraschendes ergeben.

Eigenschaften und Attribute des SCHATTEN:
- die Andersartigkeit -
- die Partnerschaft -
- Suchbewegung nach dem Du -
- Entscheidungsunfähigkeit -
- das Du wird über das Ich gestellt -
- die Abhängigkeit vom Du -
- der Partner als solcher -
- die Welt des anderen Menschen -
- sich in den anderen einfühlen -
- die Spiegelneuronen -
- die Suche nach Harmonie -
- der (gute) Geschmack -
- der Andere auf gleicher Augenhöhe -
- "es gibt so viele Andere" -
- das Bild (Platos) vom Doppelmenschen


Zur Bindung von Verliebtheit
Ob diese Verliebtheit tatsächlich hält, ist eine völlig zweitrangige Frage, denn Verliebtheit (das ist seine Definition) ist eine vorübergehende Krankheit, deren Haltbarkeitsdatum spätestens nach neun Monaten abgelaufen ist. (Das sollte eigentlich auf der Packung angegeben sein!)

 

---> Vorschau auf den Archetypus
»Mephistopheles oder Die religiöse Idee«

 

  

Jung selbst scheint nicht sonderlich viel zu diesem Archetypus gesagt zu haben. Mir ist nur eine Stelle aus seinem Werk bekannt, die ich deshalb hier ausführlich zitiere: "Der Archetypus der religiösen Vorstellungen hat, wie jeder Instinkt, seine spezifische Energie, die er nicht verliert, auch wenn das Bewusstsein sie ignoriert. Wie man mit größter Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dass jeder Mensch alle durchschnittlichen menschlichen Funktionen und Qualitäten besitzt, so darf man auch das Vorhandensein der normalen religiösen Faktoren beziehungsweise Archetypen erwarten, und diese Erwartung trügt nicht, wie leicht ersichtlich. Wem es gelingt, eine Glaubenshülle abzulegen, der kann es nur tun vermöge des Umstandes, das ihm eine andere zur Hand liegt. Dem Präjudiz des Menschseins entgeht keiner." (C. G. Jung, "GW" Bd. 9/1, 1976 "Über die Archetypen des kollektiven Unbewussten" S. 53)

Noch einfacher wird dieses Thema in üblich lapidarer Weise im SPIEGEL auf den Punkt gebracht, in dem die Zeitschrift dem Wirtschaftsminister vorwirft: "Röslers Bekenntnis ist ein Beispiel für Pippi-Langstrumpf-Politik nach dem Motto: Ich male mir die Welt, wie sie mir gefällt!" (DER SPIEGEL, Nr. 31, 2011, S. 66)

Mehr darüber am 13.07.2012