In eigener Sache V

1969, direkt nach meinem Abitur (über den zweiten Bildungsweg) zog es mich - im Alter von 24 Jahren - von Dortmund nach Frankfurt, um bei Adorno Philosophie und Soziologie und bei Mitscherlich Psychoanalyse zu studieren. Dortmund war damals noch ohne Universität und außerdem hatten zwei meiner Lehrer am Dortmunder "Institut zur Erlangung der Hochschulreife" (später Westfalen-Kolleg) mir den Mund wässrig gemacht mit Psychoanalyse und der "Kritischen Theorie" Adornos, so dass nur Frankfurt in Frage kam. Und so besuchte ich im SS 1969 die Vorlesungen Adornos und ebenso seine Doktoranden-Seminare, denn in Frankfurt fand gerade eine Studentenbewegung statt und alles war so antiautoritär, dass niemand im Seminar je danach gefragt wurde, ob er denn wohl Doktorand sei. Nun, ich war hoch begeistert, endlich zu Füssen meines Idols zu sitzen. Allerdings verstand ich kein Wort von dem, was gesprochen wurde. Aber nicht nur Adornos sprach so, die männlichen Studenten konnte man ganz ebenso nicht verstehen. Jedenfalls nicht im Seminar. Auf den Fluren wurden sie dann wieder ganz normal und man konnte sich gut mit ihnen unterhalten, außer es gingen gerade Menschen des anderen Geschlechts vorüber, dann konnte man wieder nur ahnen, wovon jetzt die Rede war. Später habe ich verstanden, worum es ging: Je unverständlicher man (wie Adorno) sprach, desto mehr Studentinnen hingen einem an den Lippen. (Das fand ich deshalb empörend, weil niemand an meinen Lippen hing. Ohne den Adorno-Sound war man ein Niemand. Ist das nicht eine interessante Interpretation für Sonne-Neptun?)

Nach zwei Monaten verstand ich immer noch kein Wort im Seminar; jetzt war ich auch noch bei Jürgen Habermas in einer kleineren Vorlesung (bei Adorno saßen morgens 600 Menschen) und auch bei Habermas war es ziemlich schlimm mit der Verständlichkeit. Langsam rührte sich in mir eine Art Minderwertigkeitskomplex, denn ich war ja nach Frankfurt gekommen, um etwas zu verstehen und nicht um ins Nichts gestoßen zu werden.

Aus lauter Verzweiflung fing ich an, Comics zu lesen.

Besonders ASTERIX hatte mir angetan. Ich hatte die drei Alben, die bislang auf deutsch erschienen waren, schnell gelesen, und jetzt - obwohl ich kein Wort Französisch verstand, (aber wenigstens verstand ich an dieser Stelle, warum ich etwas nicht verstand) - begann ich einen vierten ASTERIX-Band (Le serpe d'or) aus dem französischen ins deutsche zu übersetzen (natürlich nur, damit ich endlich irgend etwas zu tun hatte und verstand!), und ich begann die französischen Sprechblasen mit flüssigem Tip-Ex zu übermalen und die deutschen Texte hinein zu schreiben. Das war sinnvoll und toll. Langsam gewann mein Leben wieder einen Halt.

Mein zweiter Retter in dieser Not war Ulrich Oevermann. Er weiß davon nichts. Er war ein (bereits berühmter) Assistent, der es verstanden hatte, aus einer kleinen Fliege eine größere Fliege zu machen. Ihm war eine Idee aus England zugeflogen: Dort hatte ein Soziologe namens Basil Bernstein etwas (irrwitzig Selbstverständliches) herausgefunden, nämlich: Dass die unteren Schichten eine andere Sprache sprechen als die oberen. Die Sprache der Unterschicht nannte er "den restringierten Code", die Sprache der Mittel- und Oberschicht den "elaborierten Code" (er kannte den Code der Frankfurter Philosophen noch nicht - es hätte mich interessiert, welchen Namen er dieser Mundart gegeben hätte).

Oevermann forschte jetzt unglaublich intensiv daran, die Thesen Bernsteins auch für Deutschland zu belegen. Und er fand durch Bernstein sein akademisches Glück.

Und ich auch! Jeder auf seine Weise.

Nun, jeder kannte (durch Oevermann) die Ideen Bernsteins, doch nur sehr wenige Studenten hatten seine Thesen nachlesen können, weil es die Texte von B. B. nicht in Buchform gab - sondern nur in englischen Zeitschriften.

Eines Tages kopierte ich die sechs bisher erschienenen Aufsätze B.B.s aus den englischen Zeitschriften in der Uni-Bibliothek, ging dann damit in die revolutionäre Buchhandlung LIBRESSO, die hauptsächlich davon lebte, dass sie Raubdrucke verkaufte (auch die von Adorno!), zeigte dem leitenden Genossen (wir waren damals ja alle Genossen!) die sechs Arbeiten und tat dabei so, als hätte ich sie unter Einsatz meines Leben bei Nacht und Nebel aus Großbritannien hierher gebracht. Ich sagte dann so etwas wie: "Wir sind ein Kollektiv und wir werden endlich die Texte Bernsteins ins Deutsche übersetzen. Wenn ihr wollt, könnt ihr einen Raubdruck davon machen! Wir vier wollen für unsere Arbeit 10.000 Mark haben." Ich fand mich sehr unverschämt dabei. Doch er war sofort einverstanden, hatte freilich kein Geld und so einigten wir uns auf Ratenzahlung und ich ging, mir ein Kollektiv zu suchen. Ich fand auch schnell Bernd Hesse und Wolfgang Mehl (letzter Nachname geändert, weil ich ihn nicht mehr weiß) und in etwa fünf Wochen waren die sechs Aufsätze übersetzt. Erst nach der Übersetzung merkten wir, dass vierzehn Tage vorher bereits ein Aufsatz von B. B. in einer deutschen Soziologiezeitschrift erschienen war. (Den raubten wir gleich mit!) Nun, die Genossen vom LIBRESSO haben einen wunderschönen Raubdruck davon gemacht und haben uns in nur drei Monaten unser Geld restlos bezahlt. Im Nachhinein fiel mir auf: Als ich das erste Exemplar in Händen hielt, muss ich Blut geleckt haben:

Blut, Bücher zu machen! (Das war 1970)

Bereits 1971 folgte ein weiterer Band mit Arbeiten von Bernstein, aber auch von Oevermann, Roth und Reichwein.

Doch erst mein nächstes Projekt bereitete mir Kopfzerbrechen. Ich fand bei meinen Recherchen, dass es eine große Anzahl von Aufsätzen von Jürgen Habermas gab, die nur in sehr weit entfernten Zeitschriften publiziert waren, so dass sie oft noch nicht mal in der Unibibliothek zu bekommen waren. Und also setzte sich in mir der Plan fest, diese Aufsätze raubzudrucken!

Das war nun allerdings etwas anderes: Es machte einen Unterschied, einen britischen Gelehrten, der wohl gar nicht mitbekam, dass er übersetzt und "vergesellschaftet" wurde, zu drucken oder einen Gelehrten, der an der eigenen Uni saß und an dessen Seminaren ich teilnahm. (Adorno war noch in meinem ersten Semester an seinem Urlaubsort gestorben. Ich hatte bei dem traurigen Happening "Wir Frauen zeigen dir jetzt mal - ganz emanzipatorisch - unsere nackten Brüste" nur drei Meter von ihm entfernt gestanden und sein leichenblasses Gesicht und sein Schock sind mit heute noch - schuldbewußt - in Erinnerung.)

Mit viel Bangen und Zagen trat ich bei Habermas den Weg nach vorn an: Ich besuchte seine Sprechstunde und sagte zu ihm - bevor mich der Mut wieder verließ: "Herr Habermas, ich bin hier, weil es noch so viele Schriften von ihnen gibt, die keiner kennt, auch, weil keiner sie in die Finger bekommt. Also möchte ich von ihren weit verstreuten Aufsätzen einen Raubdruck machen!" (Puhh! Ich rechnete fest damit, dass er mich sofort rauswarf oder Schlimmeres und sah schon die Schlagzeile "Raubdrucker gefasst!" Manche Verlage hatten schon Anzeige erstattet!)

Habermas' Reaktion erstaunte (und erfreute) mich sehr. Er war völlig überrascht und sagte: "Glauben sie wirklich, das interessiert jemanden?" Er konnte sich das gar nicht vorstellen. Als jedoch dieser Gedanken in ihm platz griff, lief er wieselschnell durch seine Schubladen und brachte mir strahlend einen Stapel (z. T, sogar unpublizierter) Arbeiten.

Und schon wieder hatte ich einen Raubdruck!!!

Nun, dieses Spiel des (verbotenen) Drucks von Büchern hätte noch einige Zeit so weitergehen können, doch mittlerweile hatte das Studium mich auch wieder gepackt. Ich lernte die Schriften des Psychoanalytikers Alfred Lorenzer und eines engen Vertrauten von ihm (Mitarbeiter am Sigmund Freud Institut namens Klaus Horn) kennen und war endlich wieder - von meinem Studium - begeistert. D. h. der Geist der Psychoanalyse hatte mich endgültig befallen. Ich lernte diese beiden Menschen auch persönlich kennen und hier stimmten Schriften und Charakter überein. Relativ rasch war ich so angetan von ihren Texten, dass ich - wir ahnten es schon - von ihren weit verstreut erschienen Aufsätzen sehr schnell die Idee zweier Raubdrucke ins Auge fassten. Und auch hier waren beide Wissenschaftler ganz ebenso begeistert (und in ihrer Arbeit geachtet) und so gaben sie mir gern ihre Einwilligung.

Beide Texte erschienen 1972. Aber im Gefolge dieser Texte geschah noch etwas für mich sehr besonderes: Ich schrieb zu den Texten von Klaus Horn eine relativ lange Einleitung und sie war auch mein erster gedruckter Text und - mehr noch - dieser Text schien ihm gefallen zu haben. Denn drei Wochen später geschah Folgendes: Es klingelte und an der Tür stand ein Herr Hepp vom Kohlhammer Verlag. Er käme auf Empfehlung von Klaus Horn. Sein Verlag plane eine Buchreihe mit dem Titel "Theorie und soziale Praxis", die sich an Sozialarbeiter und -pädagogen wenden sollte und der Verlag wollte Klaus Horn gewinnen als Herausgeber zu fungieren. Horn konnte (oder wollte) nicht, weil er bereits zwei ähnliche Buchreihen herausgab.

Also gab Horn Hepp meine Adresse mit dem Satz: "Fragen sie Orban, der kann das! " Und so sagte Hepp zu mir: "Und deshalb bin ich hier!"

Innerhalb von drei Wochen legte ich Hepp ein Expose vor, wählte zwei Mitherausgeber, und war nicht nur Herausgeber, sondern auch der Autor des ersten Buches dieser Reihe mit dem schönen Titel "Sozialisation".

Zugegeben, das Ganze erschien mir ziemlich irreal. In meinem Studium befand ich mich gerade im Vordiplom (also beendete mit viel Schummeln den ersten Studienabschluß, denn Statistik und Empirie, waren wahrlich nicht meine Sache), ich hatte noch nie mehr als fünfseitige Seminarpapiere geschrieben und nur einmal zehn Seiten Vorbemerkung zum Raubdruck von Klaus Horn und jetzt hatte ich einen Vertrag über ein Buch von 198 Seiten in der Tasche.

Natürlich eines wußte ich definitiv: Ich konnte es nicht!

Nein, ich wußte nicht, wie es geht!

Aber noch eines wußte ich ebenfalls definitiv: Ich mache es dennoch! Ein dreiviertel Jahr später war ich klüger: Ich konnte es doch!

Zwar erschien das Buch jetzt nicht mehr in der Akademischen Verlagsanstalt, sondern bei Athenäum, da Hepp den Verlag gewechselt und die Buchreihe mitgenommen hatte.

Dennoch, als ich 1973 dieses Buch in Händen hielt, erschien es mir wie das Ende einer besonderen Schwangerschaft. Und ich wußte, diese Art der Zeugung von Kindern (ich hatte 1966 bereits einem lebendigen Sohn beim Weg in die Welt geholfen) würde mich weiter in Atem halten.

Dieses erste Buch verkaufte sich bis ca. 1980 und ging dann im Untergang des Verlages mit unter. Sechs Jahr später erlebte es in der renommierten Taschenbuchreihe "Geist und Psyche" des Fischer Verlages unter dem neuen Titel "Menschwerdung" eine Neuauflage.

Von 1973 bis 1976 standen mein Studium, meine Arbeit an der Buchreihe und meine Obsessionen die Comichefte betreffend im Vordergrund.

Als Buchautor war ich auf einmal an der Uni ein ganz besonderer Mensch. Die Kommilitonen, die Assistenten, ja, sogar die Professoren schauten auf mich, als wäre ich einer von ihnen. Ich bewarb mich um ein Tutorium und bekam es sogleich. Ab 1973 führte ich dann eigene Lehrveranstaltungen durch.

1976 erschienen zwei Bücher, die mein Doppelleben - das ich bis heute weiter führe - sehr genau auf den Punkt brachten. Zuerst kam als zweites Kind, meine Diplomarbeit (die ich gleich als Buch für meine Buchreihe konzipiert hatte) unter dem Titel "Subjektivität" heraus und als zweites der erste deutsche "Comic-Buch-Katalog". Das muss man sich vorstellen wie einen Briefmarkenkatalog, der Auskunft darüber gab, welche Hefte in Deutschland erschienen waren.

Nachdem ich drei Jahre lang Comic-Hefte gesammelt hatte, lag es nahe, endlich einen Katalog zu machen, der alle Hefte, die es deutschsprachig seit 1945 gab, auflistete - und zwar mit Angabe ihrer Sammlerpreise. An der Uni wußte natürlich keiner, dass ich mittlerweile der größte Sammler von Comic-Heftchen deutschlandweit war (ich hatte es einmal im Kreise der Mitstudenten erzählt und wurde daraufhin angeschaut, als würde ich täglich Heintje- und Heino-Platten hören - also sprach ich nicht mehr darüber). Mittlerweile sammelte nicht nur ich Comics und zwar jene Hefte, die ich in meiner Kindheit zwischen 1950 und 1970 gelesen hatte, sondern auch noch viele andere Männer (ja, es waren zu 95% Männer, die diese Bilderheftchen aufhäuften. Heute mit den Mangas ist das völlig anders!) und als dann relativ schnell klar wurde, dass diesen "Kinderheftchen" ein relativ hoher Wert beigemessen wurde ("Micky Maus" Heft Nr. 1 von 1951, stand im Katalog mit DM 500,-, in heutigen Katalogen steht es mit 5000,- Euro), lächelte allerdings keiner meiner Kommilitonen mehr - und etliche fingen an, ebenfalls Comics zu sammeln.

Es war schon ziemlich eigenartig: Durch das Erscheinen dieses Katalogs und des Festsetzens der Sammlerpreise wurde ich auf einmal zu einer Institution. Wenn es um Comics ging, fragten die Sammler jetzt - wenn sie den Wert der Hefte wissen wollten - nicht mehr nach der Zahl, sondern nach dem "Orban".

Also "Was steht im Orban?", oder "Was sagt der Orban?" Da kann man leicht den Größenwahn bekommen - wenn man ihn nicht schon hätte.

P.S.: "Subjektivität" wurde gerade wieder aufgelegt.