Der Zerstörer

      

01 Der Zerstörer – Teil I

Jeder Archetypus ist – wie wir wissen – eine Potenz im Inneren des Menschseins, die so alt ist wie die Welt. Mit der Gestalt des Zerstörers beginnt der Reigen des Lebens. Heraklits Diktum, “der Krieg sei der Vater aller Dinge” ist damit aller Dinge Anfang. Es sagt auch, Kriege gehören unabdingbar und unzerstörbar zum Menschsein. Wer sie abzuschaffen bemüht ist, ist edel, aber zerstört die Ordnung der Welt.

Wir wollen uns als erstes eine Art Bild verschaffen über das ungefähre Aussehen dieses Stückchen Menschseins im Inneren des ganzen Menschen. Die Eigenschaften und Attribute, die zu diesem Archetypus des Kämpfers gehören, lauten:
– der Krieger –
– die Energie der Durchsetzung –
– der Täter –
– die Rücksichtslosigkeit –
– der Neubeginn –
– die Aktivität –
– das Machen –
– die Tat –
– die Triebhaftigkeit –
– das sexuelle Ausgehungertsein –
– die Körperlichkeit –
– das Machotum –
– das Feuer –
– der Streithammel –
– die Gewalt –
– die Hitzigkeit –
– der Heißsporn –
– die Ungeduld –
– die Kopflosigkeit –
– die Blindwütigkeit –
– das Drauflos –
– die Bauernschläue –
– das Weiterziehen –
– der wagemutige Held –
– der Freier –
– Odysseus –
– von keines Gedanken Blässe angekränkelt –
– manche sagen auch: dämlich –

Die knappe Auflistung der Attribute dieses Archetypus mitsamt seinen (nicht zu unterschätzenden) bildlichen Darbietungen der Künstlerin Thea Weller sollen dem Leser helfen, ein inneres Bild zu gewinnen über das, was das Urbild, wenn es angeschaut werden will (oder muss), mit sich bringt.

Natürlich enthält gerade dieser Archetypus Material, vor dem jeder – vernünftige – Mensch erst einmal zurückscheut. Hat dieser Typus doch im Laufe der Jahrtausende in der Seele eines jeden Volkes unendliches Grauen, Entsetzen und Leid zutiefst versammelt. Und “zutiefst” heißt hier: So tief, dass wir mit ihm so gut wie niemals etwas zu tun haben wollen.

Aber noch heute – auch in zivilisierten Demokratien – geistert der Typus durch die Hallen der Seele und verbreitet Schrecken, wenn z.B. die Bilder von U-Bahnstationen (also tief unten) gezeigt werden, in denen jugendliche Heißsporne meist ältere Passanten in die Nähe des Todes treten. (Siehe das Titelbild vom 2. Mai 2011 Copyright: DER SPIEGEL).

Der Zerstörer Teil II

Er ist der "Zerstörer", der sich als einer der am tiefsten verborgenen Kräfte enthüllt und sich zum Vorschein bringt. D.h. auch, er ist einer der (in unserer Gesellschaft) am meisten verpönten Archetypen, gegen den alle gesellschaftlichen Kräfte der Abwehr mobilisiert (sic!) werden, damit er nicht oder nur dosiert in (tobenden) Fußballstadien ausbrechen darf.

Und es ist sorgfältig darauf zu achten, dass der Therapeut, der diesen Archetypus in seinem Aufstellungsraum zum Leben erweckt, seine Empörung gegen ihn weitestgehend abgelegt hat, sonst kann er nicht (in einem Raum mit ihm) arbeiten.

In welchem Fall ist es denkbar, in einer Aufstellung tatsächlich den Archetypus des Zerstörers auf den Stuhl zu stellen? (Wir erinnern uns, Archetypen, die sich ja von den Familienmitgliedern unterscheiden, stellen wir – bis auf weiteres – generell auf einen Stuhl. Auch um heraus zu streichen, dass sie in jedem Fall größer sind als der jeweilige Klient (mit seinen Absichten) und auch größer als der jeweilige Therapeut (mit seinen Absichten).

Beispiel einer Aufstellung des "Zerstörers": Ein Elternteil kommt in eine Gruppe und möchte für sein Kind aufstellen. Das Kind ist bereits mehrfach dadurch aufgefallen, dass es grundlos andere Kinder aggressiv attackiert hat. Oder – als das Gegenteil, aber in der Dynamik identisch – das Kind hat die Angst davor, grundlos von anderen Kindern attackiert zu werden (oder ist bereits attackiert worden)!

Natürlich gilt in jedem Fall (bevor wir uns zu einer Archetypen-Aufstellung entschließen), die – beinahe hätte ich gesagt "Unschuldsvermutung" – also die Überprüfung, ob nicht an diesen Aggressionen (oder der Angst vor den Aggressionen) andere Familienmitglieder beteiligt sind und das Kind diese Figur (des Täters oder des Opfers) nur übernommen hat, um etwas oder jemanden, dem Gewalt angetan worden ist, ans Licht zu bringen.

Doch angenommen, es stellte sich heraus, dass das Kind mit dem Uropa (Vater der Mutter der Mutter) verbunden ist, der gegen Ende des II. Weltkriegs wegen einer Lappalie (Wehrkraftzersetzung, weil er einen Witz erzählt hat) hingerichtet worden ist. Und über diesen Uropa deshalb in der Familie – aus Schande – nicht mehr gesprochen werden durfte. So kann es sein, dass dieser Urenkel die Wut über das ungerechte Urteil und über das Vergessenwerden in sich trägt, ohne dass irgendjemand davon etwas ahnt. Er wird so zum "Zerstörer".

Ich würde dann den "Zerstörer" als Archetypen freilich nicht für den Urenkel in den Raum stellen, sondern für die Großmutter und die Mutter (die das Thema aufstellt!). Damit es an dieser Stelle in der Sippe Frieden geben kann und der Urgroßvater endlich gesehen und gewürdigt werden kann.

Weiteres Beispiel für eine Aufstellung des "Zerstörers": Ein Klient kommt in die Gruppe, weil er ein Problem mit seinen Erektionen hat. (Das geschieht sehr selten: Nicht, dass ein Mann Erektionsstörungen hat, sondern dass er es laut vor dreißig Menschen als sein Anliegen verkündet. Das allein ist bereits ein Therapeutikum!). Auch in diesem Falle kann eine Aufstellung des Archetypus "Zerstörer" sehr hilfreich sein.

Nur als Hinweis: Manchmal muss sich ein Mann mit seinem animalisch-geilen Bock im eigenen Inneren erst einmal versöhnen. Besonders dann, wenn er sich schon lange als edel, hilfreich, gut und als "Frauenversteher" durch seine Welt träumt. (Vgl. die Aufstellung: "Der Rammler" in Peter Orban: Kursbuch Aufstellungsarbeit, München 2008, S. 221 ff.)

 

---> Vorschau auf den Archetypus »KORE (das Mädchen)«

  

Im Mythos ist KORE die Tochter der Fruchtbarkeitsgöttin DEMETER. Und ihre Geschichte beginnt damit, dass der Unterweltgott HADES (also ein älterer Mann, siehe: Archetypus Nr. 8: Der Verführer) sich in ihre jungfräuliche Anmutung verliebt.

Mit dieser Gestalt der KORE betritt das verborgen Sinnliche (beim Mädchen) und das offenkundig Sexuelle (beim Jungen) jene Bühne, auf der die zartesten Romanzen ebenso wie tödlichen Liebesdramen abgewickelt werden. Letztlich geht es dabei um die Frage: Wie betörend bin ich wirklich?

Mehr darüber am Do. 31.05.2012